Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten - Jutta Hajek - E-Book

Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten E-Book

Jutta Hajek

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Beschreibung

Jutta Hajek erzählt die wahre bewegende Geschichte einer blinden Familie, die der lebende Beweis dafür ist, dass man jedes Hindernis im Leben bewältigen kann – mit starkem Willen und Gottvertrauen. Maria Müller ist bei ihrer Geburt fast blind. Als während des Zweiten Weltkriegs zwei Männer der Gestapo zum Hof der Familie kommen, um sie abzuholen, kann sie gerade noch fliehen. So entgeht sie dem Schicksal vieler anderer Menschen mit einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung, die nach Hadamar gebracht und dort ermordet werden, weil ihr Leben als »unwert« gilt. Marias Einschränkung hält sie nicht davon ab, sich ins Leben zu stürzen: In der Handelsschule verstößt sie gegen sämtliche Regeln, bekommt trotzdem ihren Abschluss, ergattert einen gefragten Job, baut ein selbst entworfenes Haus und trifft Josef – die Liebe ihres Lebens. Ihre Kinder, Stefan und Christof, werden ebenfalls fast blind geboren. Doch haben sie zum Glück nicht nur den Gendefekt, sondern auch den unbedingten Lebensmut ihrer Eltern geerbt – was sie ebenso eindrucksvoll unter Beweis stellen. Stefan wird als erster Blinder in Deutschland zum Priester geweiht. Sein Bruder Christof studiert ebenfalls Theologie – allerdings nicht, um Pfarrer zu werden, sondern um Religionsunterricht zu geben. Glaube ist die Kraftquelle, die ihnen hilft, die Steine auf ihrem Lebensweg aus dem Weg zu räumen – ohne diejenigen zu verurteilen, die sie ihnen vor die Füße werfen.

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Jutta Hajek

Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten

Eine blinde Familie als lebender Beweis, dass man jedes Hindernis überwinden kann

Knaur e-books

Über dieses Buch

Jutta Hajek erzählt die bewegende Geschichte einer blinden Familie, die der lebende Beweis dafür ist, dass man jedes Hindernis im Leben bewältigen kann – mit starkem Willen und Gottvertrauen.

 

Maria Müller hat einen Gendefekt und wird fast blind geboren. Als während des Zweiten Weltkriegs zwei Männer der Gestapo zum Hof der Familie kommen, um sie abzuholen, kann sie gerade noch fliehen. So entgeht sie dem Schicksal vieler anderer Menschen mit einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung, die nach Hadamar gebracht und dort ermordet werden, weil ihr Leben als »unwert« gilt.

 

Marias Einschränkung hält sie nicht davon ab, sich ins Leben zu stürzen: In der Handelsschule verstößt sie gegen sämtliche Regeln, bekommt trotzdem ihren Abschluss, ergattert als Sehbehinderte einen gefragten Job, baut sich ein selbst entworfenes Haus und trifft Josef – die Liebe ihres Lebens.

 

Ihre Kinder, Stefan und Christof, werden ebenfalls ohne Augenlicht geboren. Doch haben sie zum Glück nicht nur den Gendefekt, sondern auch den unbedingten Lebensmut ihrer Mutter geerbt – was sie ebenso eindrucksvoll unter Beweis stellen. Stefan wird als erster Blinder in Deutschland zum Priester geweiht. Sein Bruder Christof studiert ebenfalls Theologie – allerdings nicht, um Pfarrer zu werden, sondern um als blinder Lehrer sehenden Schülern Religionsunterricht zu geben. Glaube ist die Kraftquelle, die ihnen hilft, die Steine auf ihrem Lebensweg aus dem Weg zu räumen – ohne diejenigen zu verurteilen, die sie ihnen regelmäßig vor die Füße werfen.

Inhaltsübersicht

Dieses Buch beruht auf [...]Das war knappMARIECHENSTEFANCHRISTOFJUTTANachwortDankeHilfreiche Websites
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Dieses Buch beruht auf wahren Begebenheiten. Es entspricht jedoch nicht in jedem Detail der Realität, da die Erinnerungen der Hauptpersonen – Maria, Josef, Stefan und Christof Müller – individuell gefärbt sind und beim Erzählen einige Episoden frei nachempfunden wurden. Die meisten Namen wurden geändert, um die handelnden Personen zu schützen.

 

Jutta Hajek

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Das war knapp

Die Stiefel knirschen auf dem Sand in der Auffahrt. Zwei Männer. Sie schlagen mit ihren Fäusten an die Haustür und rufen laut: »Aufmachen.«

Die Tante, von den Kindern nur Godi genannt, öffnet die Haustür einen Spalt, schaut misstrauisch auf die Uniformen, bevor sie die Tür ganz öffnet, und kommt zögernd heraus.

»Guten Morgen. Was wollen Sie?«

»Wir kontrollieren.«

»Was denn?«, fragt sie forsch zurück. »Lisa, guck mal, die zwei Herren wollen was kontrollieren«, lacht sie ihrer Schwester entgegen, die inzwischen ebenfalls herausgekommen ist.

»Es wurde Anzeige erstattet, dass hier ein blindes Kind ist.«

Vorsichtig schielt die Godi in Richtung Innenhof, wo Mariechen, die fünfjährige Tochter ihrer Schwester, mit den Nachbarskindern spielt. Mariechen ist nicht blind, nur stark sehbehindert und ihr Liebling, weil sie Godis stotternden Sohn immer in Schutz nimmt.

Mariechen, du sollst nicht lügen, aber du darfst nie sagen, dass du nicht gut siehst. Wenn sie dich holen, sperren sie dich ein.

Wie oft hatten sie das dem Mädchen eingeschärft. Ist es umsonst gewesen? Ist es jetzt so weit?

 

Die Männer schauen der Tante ins Gesicht, warten auf eine Antwort. Zum Glück drehen sie den spielenden Kindern, die inzwischen mitbekommen haben, dass etwas nicht stimmt, und gespannt herüberstarren, den Rücken zu.

Die Godi macht eine unauffällige Handbewegung in Richtung der Kleinen, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. Die Männer bemerken es nicht. Die Tante kann nur leise beten, dass Mariechen versteht, was sie ihr sagen will. Wenn sie es denn gesehen hat. Eigentlich kaum möglich, so schlecht, wie ihr Augenlicht ist.

Doch das Wunder geschieht. Mariechen begreift sofort. Sie schlüpft in ihre Schuhe, die sie zum Spielen ausgezogen hat, und saust zum Hoftor hinaus, so schnell die kleinen Füße sie tragen.

 

Als sie um die Ecke biegt, hört sie ihre Tante noch sagen: »Also, wenn Sie hier ein blindes Kind finden, dürfen Sie es mitnehmen.«

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MARIECHEN

Heller ist besser

»Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der liest sie auf, der bringt sie nach Haus, der leert sie aus, und der Kleine, der isst sie alle auf.«

 

Mama hat mich im Kinderwagen mit nach draußen genommen. Sie hält mir ihre Hand vor die Augen, wackelt mit einem Finger nach dem anderen, während sie mir den Reim vorsagt. Die Sonne scheint mir ins Gesicht; ich strecke meine Arme in die Höhe, drehe meine Händchen hin und her und lache, wenn Mama ihre Finger bewegt.

Wenn ich draußen bin, wo die Sonne scheint, kann ich Umrisse erkennen. Hier spiele ich am liebsten. Wenn ich in der Küche auf der Eckbank im Halbdunkel sitze, werde ich still. Ich bin noch kein Jahr alt.

»Das Kind hat was mit den Augen«, sagte Mama zu ihrer Schwester.

Das hat sie mir später haarklein so erzählt. Es war das erste Mal, dass sie merkte, dass ich nicht war wie alle anderen, weil ich nicht richtig sehen konnte.

 

Wir wohnten im Erdgeschoss des großen Bauernhauses, das meine Patentante von ihren Eltern übernommen hatte. Wir Kinder nannten sie die »Godi«. Wenn man zur Haustüre hereinkam und in den Flur trat, ging man direkt auf die Küche zu. Links neben der Küche lag unser Schlafzimmer. Papa, Mama, meine drei Jahre ältere Schwester Anneliese, Rita, drei Jahre jünger, und ich – wir alle schliefen in diesem Zimmer: vier Betten nebeneinander, dazu eine Frisierkommode und ein Schrank mit Anziehsachen.

Auf dem Schrank standen Gläser mit Kirschen, Mirabellen, Apfelmus, Erbsen und Karotten. Äpfel und Kartoffeln kamen ins »Äbbelbett«, auf die Regale in dem Vorratslager unter der Küche. Einen tiefen Keller gab es nicht, weil das Haus nahe am Bach stand. Den Lagerraum nutzten Mama und ihre Schwester gemeinsam. Mama half manchmal bei anderen Familien im Garten oder auf dem Feld, und was sie geschenkt bekam, kochte sie ein, wenn wir es nicht gleich brauchten. In der Küche wurde gegessen, gespielt und gebadet. Am Samstag kam die große Wanne herein; Mama wärmte auf dem Kohleherd Wasser, und dann schrubbten sich mindestens zwei von uns darin, bevor sie es wechselte.

 

Die Godi und ihr Mann wohnten mit ihren vier Kindern im ersten Stock. Sie hatten zwei ältere Töchter und Zwillinge: ein Mädchen und einen Jungen. Der Bub stotterte.

 

1939 – ich war gerade zwei Jahre alt – brachten meine Eltern mich ins Krankenhaus, um meine Augen untersuchen zu lassen. Die Krankenschwester zog mir die Kleider aus. Ich musste für Untersuchungen bleiben und Krankenhauskleider anziehen. Meine Sachen gab die Schwester meinem Vater mit. Nach zehn Tagen durften mich meine Eltern wieder abholen.

Als sie kamen, baten die Ärzte sie zu einem Gespräch. »Sie ist blind«, erklärten sie meinen Eltern.

»Nein«, wehrte sich meine Mutter, »das stimmt nicht. Sie sieht etwas.«

Sie wusste, wie gefährlich eine körperliche Behinderung im Dritten Reich war. Das war der Grund, warum sie beweisen musste, dass ich nicht blind war. Also knipste sie die Taschenlampe an, die sie mitgebracht hatte, und legte sie in eine Ecke auf den Boden. »Mariechen, bring mir die Taschenlampe«, befahl sie. Weil sie hell leuchtete, fand ich die Lampe schnell. Der Arzt notierte, dass ich nur einen Sehfehler hatte, und wir durften nach Hause.

Doch was sollte ich anziehen? Meine Kleider hatten meine Eltern mitgenommen ‒ und vergessen wieder mitzubringen. Da ging Papa in den Ort und kaufte ein Leinenkleid für mich. Es hätte einer Sechsjährigen gepasst. Papa sorgte vor. Pudelnackt steckte er mich in das viel zu große Kleid, band es unten zu und nahm mich Bündel auf den Arm. Meine Eltern wussten sich immer zu helfen.

 

 

Wenn sie dich holen

Papa musste weg. Das Deutsche Reich hatte den Krieg gegen Polen begonnen, und Hitler brauchte Männer zum Kämpfen. Papa war eigentlich Schneider. In Bad Kreuznach wurde er zum Soldaten ausgebildet. Ich war gerade drei Jahre alt, als er gehen musste.

Die Godi unterstützte Mama, die nun mit uns drei Mädchen alleine war. Mama half ihr mit Näharbeiten, darin war sie gut. Beide versuchten, mir alles im Hellen zu zeigen, und behandelten mich wie ein normales Kind. Mama erzählte öfter, dass sie mir, als ich drei war, vorschlug: »Du kannst im Schuppen Holz holen.« Sie zeigte mir, wie ich die Scheite für den Ofen in einen Weidenkorb schichten und dann in die Küche tragen sollte. Ab diesem Tag war das meine Aufgabe, und ich wurde stärker und stärker.

Übermütiger auch. »Ihr sollt mich mitnehmen«, bettelte ich bei Anneliese und den Nachbarsmädchen: »Ich will das auch ausprobieren.«

»Na gut, heute nehmen wir dich mit«, versprach meine ältere Schwester. Mama und die Godi waren einkaufen gegangen. Hinter dem Haus lag unser Garten, daneben ein Misthaufen, auf dem immer schwarze Käfer krabbelten. Zwischen unserem Grundstück und dem gegenüber floss ein Bach. Darüber hatten die Erwachsenen eine Holzbohle gelegt, eine Verbindung zu den Nachbarn, deren Garten tiefer lag. Wir schoben uns zu viert, eine nach der anderen, Hand in Hand, die Füße quer auf dem Brett, Richtung anderes Ufer. Die vier Meter lange Bohle bog sich unter unserem Gewicht und schwankte wie eine Hängebrücke.

Da wurde mir schwindelig, ich verlor das Gleichgewicht und riss die anderen fast zwei Meter tief in den Bach. Genau als Mama und die Godi heimkamen, krabbelten wir mit tropfnassen Haaren und dreckigen Kleidern die Böschung hoch. Anneliese hat Peng – also Schläge – für uns alle gekriegt, weil sie die Älteste war.

»Gut sein ist brüderlich, zu gut ist liederlich«, hieß Mamas Motto, und danach hat sie gehandelt.

Sie konnte aber auch weich sein. An Winterabenden, wenn wir im Dunklen in unseren Betten lagen und uns aneinanderkuschelten, erzählte sie uns Geschichten von Räubern, Zauberern und Feen, die in unserem Wald lebten. Sie dachte sich immer neue für uns aus. Wir durften in dieser Zeit abends kein Licht anschalten, damit die Flieger uns nicht fanden und die Bomben uns nicht auf den Kopf fielen.

 

Mariechen saß auf einem Stein,

einem Stein, einem Stein.

Da ging die Türe, klingeling.

Da trat der böse Ritter ein.

Der Ritter zog den Säbel raus.

Da ging die Türe, klingeling.

Da trat die liebe Mama ein:

Mariechen, warum weinest du?

Ich weine, weil ich sterben muss.

Der Ritter steckt den Säbel ein.

Jetzt lasst uns alle lustig sein![1]

 

Ich war etwa sechs Jahre alt, saß im Klohäuschen und sang. Dabei hielt ich mir die Ohren zu. Über den Hof zurück ins Haus durfte ich noch nicht. »Warte, bis die Flieger weg sind«, hatte Mama mir herübergerufen. Bei Fliegeralarm läuteten die Kirchenglocken für die Leute auf dem Feld. Noch gab es keine Entwarnung. Da kam schon der nächste mit einem Pfeifen, dass es in den Ohren stach. Jetzt saß ich hier und hoffte, dass das Klohäuschen nicht in die Luft flog. Die Flak stand in sechs Kilometern Entfernung und donnerte. Unter meinen braunen Ledersandalen knirschte es. Zwischen meinen Zehen pikste der Sand. Noch immer gab die Sirene keine Entwarnung.

Mein Blick fiel auf die Inschriften auf den Wänden. Großvater hatte das Klohäuschen aus alten Grabsteinen gebaut: »Ruhe in Frieden« – »Hier ruhen in Gott« – »Ruhe sanft«.

Meine Klassenkameraden konnten nicht glauben, dass wir kein Häuschen aus Holz hatten wie alle anderen, sondern eines aus Grabsteinen.

Es war nicht das einzige Mal, dass ich wegen der Flieger mehr Zeit im Klohäuschen verbringen musste, als ich wollte. Geduldig blieb ich sitzen und wartete, bis das Kreischen über meinem Kopf aufhörte und keine großen Vögel mit dumpfem Knall mehr vom Himmel fielen.

Manchmal träumte ich nachts, eine Bombe wäre in mein Bett gefallen, und dann wachte ich von meinem eigenen Geschrei auf und konnte nicht wieder einschlafen.

Ich fühlte mich nicht wohl dabei, wenn ich nachts im Dunkeln über den Hof aufs Klo musste. Aber bei meiner kleinen Schwester Rita war es noch schlimmer, sie hatte richtig Schiss. Wenn wir abends im Bett lagen – Rita und ich schliefen im selben – und Mama mahnte: »Jetzt wird nicht mehr geredet, jetzt wird geschlafen«, flüsterte Rita mir ins Ohr: »W – W – W – W – A.« Das war unser Code für: »Wer wach wird, weckt die andere.« Ich weckte sie nie, wenn ich musste, sie hätte mir leidgetan, aber wenn sie musste, ging ich nachts mit ihr über den Hof und leuchtete ihr den Weg mit der Taschenlampe.

 

Einen Sommer zuvor wäre fast etwas Schlimmes passiert. Erna und Gisela, Hans und Ingrid waren wie jeden Nachmittag aus dem Nachbarhaus zum Spielen herübergekommen. Der Sandhaufen an der Mauer bei uns im Hof war unsere Burg, die wir mit Stöckchen und Steinen verzierten. Den Burggraben hatte ich ausgehoben. Ich konnte schleppen wie ein Gaul. Ich hievte die Eimer voller Sand weg, damit der Graben noch tiefer wurde. Die anderen wollten auch schaufeln, wir hatten aber nur eine große Schaufel, und die gab ich nicht her. Rita saß neben der Burg und lutschte am Daumen. Sie war zwei. Karl und Christel, die Zwillinge meiner Tante, stritten um die kleine Schippe. »Gggggibbb mir endlich dddddie Schippppe«, stampfte Karl und zerrte. Doch Christel hielt sie fest. Ich war mit meinen fünf Jahren die Älteste, stand breitbeinig im Burggraben und gab an wie ein Sack Flöhe: »Ich habe den Sand gut auf die Seite geschaufelt, schaut mal, ich steh schon bis zu den Knien drin.«

So hatte ich mit nackten Füßen im Sand gestanden, als ich Stiefel in der Auffahrt knirschen hörte. Zwei Männer. Sie schlugen mit ihren Fäusten an die Haustüre und riefen »Aufmachen«.

Tante öffnete die Haustüre und kam heraus:

»Guten Morgen, was machen Sie hier?«

»Wir kontrollieren.«

»Was denn?«, konterte die Godi. »Lisa, guck mal, die zwei Herren wollen was kontrollieren«, lachte sie meiner Mutter entgegen, die inzwischen zu ihr herausgekommen war. Meine Mutter stand mit dem Rücken zu uns und räusperte sich. Die Godi hatte uns im Blick.

»Es wurde Anzeige erstattet, dass hier ein blindes Kind ist.«

Ich ließ die Schaufel fallen, Christel schnappte sie sich. Langsam hob ich einen Fuß aus dem Graben, dann den anderen. »Backe, backe Kuchen.« Christel patschte mit der roten Plastikschaufel auf der Mauer der Sandburg herum, um sie zu plätten, bevor wir den Burggraben mit Wasser füllten. Ich starrte zur Haustür.

Die Godi schaute zu mir herüber. Ich war ihr Liebling. Wenn sie bei anderen Familien im Ort arbeitete, durfte ich mit. Dann hörte ich den Frauen zu. Mit den Händen war ich flink, ich konnte rasend schnell Bohnen entkernen, deshalb mochten sie mich.

Du sollst nicht lügen, aber du darfst nie sagen, dass du nicht gut siehst. Wenn sie dich holen, sperren sie dich ein, hatte die Godi mir eingetrichtert. Eingesperrt werden war das Letzte, was ich wollte. Ich wollte draußen sein und spielen.

Die Männer standen neben Mama, mit dem Rücken zu uns. Die Godi machte eine Handbewegung, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Ich verstand sofort, schlüpfte in meine Schuhe und sauste, die Schnallen noch offen, zum Hoftor hinaus. Als ich draußen war, hörte ich sie noch sagen:

»Also, wenn Sie hier ein blindes Kind finden, dann dürfen Sie es mitnehmen.«

 

Schneller. Um die Ecke, am Tante-Emma-Laden vorbei, wo ich sonst einkaufte, den Hohlweg hinauf, der Friedhof rechts, wo ich sonst spielte, heute nicht. Zum Turnplatz. Der Nussbaum in der Sonne, bald würde ich reife Walnüsse knacken. »Weiter«, trieb ich mich an. Mein Magen knurrte. Trotz meiner kurzen rachitischen O-Beine konnte ich schneller rennen als alle anderen. Ich strengte mich einfach mehr an. Ein paar Minuten später kam ich am Turnplatz vorbei: die Sandgrube für Weitsprünge; die Stange, an der ich sonst mit dem Kopf nach unten hing; die Wippe, auf der ich mit Anneliese in die Höhe hüpfte und wieder aufdotzte.

Im Schuppen lagen Medizinbälle neben dem Rasenmäher und warteten darauf, dass jemand sie herausholte und mit ihnen spielte. Außen am Häuschen waren zwei Latten lose. Durch diese Lücke zwängten wir uns oft, die Bretter quietschten, wir schauten immer, dass uns keiner sah, und dann spielten wir drinnen.

Ich schnaufte.

Heute war das nicht das richtige Versteck. Wenn sie mich da finden würden, wäre ich gefangen. Gefangen sein wollte ich auf keinen Fall.

 

Mit meinen fünf Jahren kannte ich die Umgebung wie meine Hosentasche. Manchmal ging ich allein in den Wald und baute mir aus Moos und Zweigen ein Haus. Darin spielte ich Mutter, Vater, Kind. Ich kochte meinem Kind eine Suppe aus Erde und Windröschen, nahm ein Stück Rinde als Tisch, Aststücke als Besteck. Mama wusste, dass ich zum Essen wieder zurück sein würde.

Ich muss essen, schoss es mir trotz aller Angst durch den Kopf, mein Magen zog sich zusammen. Am Rech, dem Hang zwischen Turnplatz und Waldweg, wuchsen Hecken aus Schlehen, Himbeeren und Brombeeren.

Da kroch ich hinein.

Autsch. Die Widerhaken der Ranken verfingen sich in meinem Kleid und stachen mir in die Finger, als ich sie auf die Seite ziehen wollte. Ich hockte mich in eine Kuhle im Gebüsch und horchte.

Kein ungewohnter Laut weit und breit.

 

Unten auf der Straße knatterte ein Traktor. Sonst war es still. Ich begann, nach Beeren zu tasten. Sehen konnte ich sie nicht. Wenn gutes Wetter war, konnte ich den Feldberg als dunklen Fleck vor dem hellen Himmel erkennen, aber Beeren direkt vor meiner Nase, die sah ich nicht. Es war, als hätte ich ein dünnes Tuch vor dem Gesicht. Ich fingerte im Gebüsch herum, fand ab und zu eine und steckte sie mir in den Mund. Doppelt so oft wie ich eine Brombeere erwischte, piksten mir die spitzen Dornen in die Finger. Mein rechter Zeigefinger blutete. Ach, was sollte es, ich leckte ihn ab. Es schmeckte nach Hoftor. Ich futterte so viele Beeren, wie ich erwischen konnte, und das Knurren im Bauch ließ langsam nach.

Die Kirchenglocken bimmelten: zwölf. »Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist …« Ich wisperte das Angelus-Gebet, wie ich es gewohnt war.

 

Essenszeit. Ich musste nach Hause.

Ich traute mich nicht aus dem Versteck. Ich sah sicher schlimm aus mit Brombeerflecken auf dem Kleid, halb aufgelösten Zöpfen und blutverschmiertem Mund. Mama würde schimpfen. Und außerdem hatte ich immer noch Angst, dass die Männer nach mir suchten. Ich blieb hocken, ohne einen Mucks, horchte, wie Bienen und Hummeln auf der Wiese summten und zwischen Gras und Sauerampfer Löwenzahnblüten suchten – oben im Wald eine Axt, die so oft auf einen Baum sauste, bis er zu Boden krachte. Unten im Ort krähte ein Hahn, ein Kind plärrte. Die Sonne wärmte meine Haare.

 

»Mariiiechen, Mariiiechen.«

Ich hatte lange so dagesessen, sehr lange. Da hörte ich die Stimme meiner Schwester. »Mariiiechen, komm raus, ich such dich.« Sie kam näher. Sicher hatten die Männer Anneliese gezwungen, mich zu suchen. Ich biss mir auf die Lippen und blieb still sitzen. »Mariechen, ich weiß genau, dass du hier bist, komm endlich raus.« Sie kam immer näher, aber ich traute mich nicht. Ich konnte nicht sehen, ob jemand bei ihr war. Ich drehte mein Ohr in die Richtung, aus der die Stimme kam, und horchte. Sie war nur noch ein paar Meter von der Stelle weg, wo ich in der Dornenhecke saß. »Du kannst herauskommen, die Männer sind weg, ich bin alleine«, lockte sie.

Da hielt ich es nicht mehr aus.

»Hier bin ich.«

Ich war so in die Dornen verheddert, dass ich nicht alleine herauskam. Anneliese half mir. »Na Gott sei Dank, dass ich dich gefunden habe. Ich suche dich schon, seit ich aus der Schule zurück bin. Komm her, ich muss dich erst sauber machen, so kann ich nicht mit dir heimgehen.« Sie zupfte Blätter aus meinen Haaren, wischte mein Gesicht mit Spucke ab und klopfte mein Kleid aus. Zerrissen war es zum Glück nicht. Dann packte sie mich bei der Hand und zog mich zum Weg: »Nun komm, Mama hat vor Sorge nichts gegessen. Sie dachte, die Männer hätten dich gefunden und mitgenommen. Aber die Godi hat gesagt, das glaubt sie nie und nimmer.«

Unsere Beine flogen bis an den Bobbes, und unsere blonden Zöpfe wippten, so schnell sausten wir den Berg hinunter, am Laden vorbei, links um die Kurve und dann rechts durch das Hoftor. »Mama steht am Fenster«, rief Anneliese. Wir rannten ums Haus zur Türe, fielen fast über die Stufe in den Flur und wetzten weiter in die Küche. Vor lauter Eile vergaßen wir, die Schuhe im Flur auszuziehen. Mama schimpfte nicht, nahm mich in die Arme, drückte mich fest an ihre Brust, ließ mich nicht mehr los. Sonst war sie eigentlich nicht so. Ich spürte, wie ein Schluchzen ihren Hals hochstieg und ihren Körper schüttelte. Dann liefen ihr Tränen übers Gesicht, sammelten sich am Kinn und tropften auf meine Stirn.

Wie Mama weinte! Warum nur? Es war mir doch gut gegangen in der Hecke am Turnplatz. Ich hatte dafür gesorgt, dass mein Bauch nicht leer geblieben war. Ich war schon fünf und konnte gut auf mich aufpassen.

Die Godi fragte später herum und brachte heraus, wer unsere Familie angezeigt hatte. Mama sagte: »Wir danken dem lieben Gott, dass nichts passiert ist.« Sie vergab dem Mann und ließ die Sache auf sich beruhen, weil sie wusste, wie schlimm es für seine Familie gewesen wäre, wenn die Leute davon erfahren hätten.

 

In dieser Zeit versteckten Eltern ihre behinderten Kinder. Zum einen, weil sie Angst hatten, dass sie abgeholt würden, aber auch, weil sie sich schämten: »Dass uns das passieren musste.« Sie gaben sie in Verwahranstalten, wo man sie versorgte, aber nicht förderte. »Die armen Behinderten«, »die Hilflosen« nannte man sie. Manche Eltern trösteten sich mit der Geschichte von der Heilung eines Blinden aus dem Johannes-Evangelium. Jesus sagt auf die Frage, ob der Blinde selbst oder seine Eltern gesündigt hätten: »Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden« (vgl. Johannes 9,3).

Eines Abends 1944 verschwand aus unserem Dorf ein 16-jähriges Mädchen, das nach einem Unfall geistig beeinträchtigt war, im Hof ihres Elternhauses. Es wollte nur raus zum Klohäuschen und tauchte nie wieder auf. Vier Tage lang suchten die Nachbarn und die Polizei es mit Hunden. Die Felder und den Wald durchkämmten sie, bis in die Dunkelheit. Keine Spur. Es war wie vom Erdboden verschluckt.

Der Kaplan hielt während des Kriegs »Heimabende« für Mütter, bei denen sie Lieder sangen, Spiele spielten, Geschichten vorlasen und er den Frauen berichtete, was er über den Kriegsverlauf gehört hatte. »Passt gut auf eure Kinder auf«, warnte er die Frauen.

Als Mama, hochschwanger mit meiner jüngeren Schwester, auf die Zwillinge der Godi aufpasste, weil die Tante und der Onkel beide im Krankenhaus lagen, kamen Leute – angeblich vom Müttergenesungswerk – und wollten die Zwillinge, die mit 40 Fieber im Bett lagen und husteten, abholen. »Die sind mir anvertraut; die gebe ich nicht her«, bäffte Mama und knallte die Türe wieder zu, die sie nur einen Spaltbreit geöff-net hatte. Die Leute gingen. Hätte meine Mutter ihnen die Zwillinge mitgegeben, hätte niemand sagen können, was mit ihnen geschehen wäre. Zurückgekommen wäre Karl wahrscheinlich nicht mehr, weil er stotterte. Es waren schlimme Zeiten!

Auch die geistig beeinträchtigten Kinder aus unserem Dorf waren in Gefahr.

 

Meine Oma akzeptierte es als gottgewollt, dass ich schlecht sah. Meine Mutter machte sich Vorwürfe, dass sie in der Schwangerschaft noch Rad gefahren war.

»Des, waste kannst, machste«, sagte meine Mutter immer zu mir. Ich durfte alles so machen, wie ich es konnte. Sie ließ mich backen, spülen, einkaufen gehen, Schuhe putzen. Sie quälte mich nicht. Sie nahm mich auf den Schoß und brachte mir die kompliziertesten Dinge bei. Wenn ich drinnen nicht genug sah, wie beim Stopfen von Strümpfen, nahm sie mich mit nach draußen in die helle Sonne. Bekam ich es nicht schön hin, dann ribbelte sie es wieder auf: »Jetzt machst du es noch mal, du musst das üben.«

 

Das Kleid von Papa war da, als ich eingeschult wurde, aber er selbst nicht. Im Sommer 1943 war das. Mama kämmte mich an diesem Morgen noch länger als sonst, flocht meine dicken Haare zu Zöpfen, und ich zog das Leinenkleid an, das Papa mir gekauft hatte, als ich zwei gewesen war. Es passte noch, und es war das schönste, das ich hatte. Als es später zu kurz wurde, setzte Mama an der Taille ein Stück geblümten Stoff ein. Es hing schon am Vorabend der Einschulung am Schrank. Ich drehte mich hin und her. Der Stoff flog mir um die Beine. Glatt und kühl fühlte er sich an.

Den Lehrer mussten wir jeden Morgen mit »Heil Hitler« begrüßen. Wer schwätzte, bekam eine Strafarbeit. Er merkte, dass ich schnell kapierte und meine Hausaufgaben machte, deswegen mochte er mich. Wenn ich nicht fit gewesen wäre, hätte er mich nicht in der Schule geduldet. Er musste über hundert Schüler in zwei Klassen unterrichten. Ständig rannte er zwischen den Räumen hin und her. Im Sommer fehlten immer Kinder wegen der Feldarbeit.

Die Bauern brachten dem Lehrer Brot und Speck, deswegen behandelte er ihre Kinder besser als den Rest. Ich fand das ungerecht. »Bauerntrampel«, schimpfte ich den Lehrer daraufhin, und ich nahm es auch nicht zurück. Es war das einzige Mal, dass er sich bei Mama über mich beschwerte. Meine Familie konnte dem Lehrer nichts geben. Wir mussten alles zusammenkratzen, damit wir selbst genug zu essen hatten. Wir waren sieben Kinder daheim: Mamas drei und die vier von der Godi. Papa schickte Pakete aus dem Krieg, einmal mit schönen Schuhen. Mama verschrottelte sie – tauschte sie gegen Kartoffeln.

Mit dem Lehrer hatte ich mich bald wieder zusammengerauft. »Ich hol euch das Mariechen, die zeigt euch das«, sagte er zu den Fünftklässlern, wenn die mal wieder nichts kapierten. Ins Zeugnis schrieb er mir: »Maria ist stark sehbehindert, deshalb sind ihre Leistungen und Teilnahme am Unterricht besonders anzuerkennen.«

 

 

Die nehmen wir net mit

Meine Klassenkameraden testeten immer wieder, wie viel ich sah. Einmal mussten wir im Kunstunterricht einen Mann malen. Ein Junge kritzelte an meine Zeichnung einen Penis, bevor ich das Bild dem Lehrer gab. Dafür habe ich eine Strafarbeit gekriegt. Die hat mein Klassenkamerad dann für mich gemacht.

Ein Mädchen vertauschte mir einmal die Farben. Da wurde mein Himmel grün statt blau.

Ein Mitschüler behauptete vor dem Lehrer, ich wäre mit dem Fahrrad auf der falschen Straßenseite gefahren, was überhaupt nicht stimmte.

Ich nahm es ihnen nicht übel. Ich war auch kein Engel.

Im Winter, wenn es morgens dunkel war, brachte Mama mich zu einer Klassenkameradin. Die lief dann mit mir in die Schule. Wenn es dunkel war, sah ich überhaupt nichts. Ich hatte eine Brille, die wenigstens etwas half, aber die konnte ich draußen nicht aufsetzen, weil es gefährlich war, als sehbehindert erkannt zu werden. Dienstag und Freitag mussten alle Schulkinder zum Morgengottesdienst in die Kirche. Danach gingen wir heim, einen Malzkaffee trinken und Marmeladenbrot essen. Die Schule fing an den beiden Tagen später an. Wenn ich im Gottesdienst ein Lied nicht konnte, sang Mama es mir zu Hause so lange vor, bis es saß, damit ich beim nächsten Mal nicht auffiel, weil ich den Text nicht einfach ablesen konnte. Wenn sie mit Anneliese Gedichte übte, saß ich dabei und hörte zu und lernte mit. Mama bestand darauf, dass ich die Hausaufgaben selbst erledigte. Im Zimmer konnte ich es an trüben Tagen nicht. Deshalb trug sie mir – egal, wie kalt es war – nach der Schule einen Stuhl als Tisch vors Haus. Ich wickelte mir den braunen Wollschal um, den die Godi für mich gestrickt hatte und der kratzte, den ich aber trotzdem mochte, weil er von der Godi war, und zog die Mütze über den Kopf. Dann packte ich den Schemel, schleppte ihn hinaus und setzte mich darauf. Mama stellte sich manchmal neben mich und sah mir zu. Wenn ich nicht weiterkam, half sie mir, damit es nicht so lange dauerte. Meine Jacke war zu kurz, und meine Hände wurden schnell lila und fingen an zu bitzeln. Ich hauchte sie an und schrieb weiter. Mama kannte kein Pardon. Nur einmal bat sie den Lehrer für mich um eine Extrawurst: Wir sollten für ein Projekt einen Bericht von jedem Schultag in Schönschrift schreiben. Mir passierte es aber, wie ich mich auch anstrengte, dass die Zeilen ineinanderliefen. Ich durfte daher Mama die Protokolle diktieren, die sie mir dann ins Heft schrieb. Einmal schrieb sie »hoffendlich«, und ich kriegte vom Lehrer Peng. Ich war froh, als das Projekt vorbei war.

»Mariechen, hilf deiner großen Schwester doch mit den Hausaufgaben, damit es schneller geht«, bat Mama mich öfter. Ich war gut in Mathe. Dafür war Anneliese praktischer und konnte schon mit fünf Jahren Strümpfe stopfen. Meine Mutter hat mich wie ein normales Kind aufgezogen und mich gefördert, wo sie konnte. Sie hat mich nie zum Stopfen gezwungen, weil sie wusste, dass ich davon Kopfweh kriegte. Ich hatte oft Kopfweh.

Wenn wir im Garten Johannisbeeren rupfen sollten, schüttete Rita heimlich von ihren Beeren in mein Kännchen. Anneliese hänselte sie dann: »Du bist so langsam, sogar Mariechen hat schon so viele.« Rita und ich grinsten. Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

Wegen der Bomben und des Kriegs fiel der Unterricht oft aus. Wenn die Sirenen heulten, rasten wir aus der Schule ins Haus gegenüber in den tiefen Keller. Wir durften erst wieder raus, wenn Entwarnung kam. Oft hatten wir nur drei Tage die Woche Unterricht.

»Heil Hitler«, schmetterte ich dem Lehrer am 9. Mai 1945, wie an jedem Morgen, entgegen. Da fing ich eine: »Guten Morgen, heißt es ab jetzt.« Das Deutsche Reich hatte kapituliert. Der Krieg war vorbei. Eigentlich hatte ich das gewusst. Ich hatte es bloß kurz vergessen. Nun mussten wir uns nicht mehr vor Bomben fürchten.

»Heute gehen wir auf die Schulwiese«, kündigte der Lehrer an, und wir juxten. Inzwischen war ich fast acht. Wir drängelten und schubsten. Ich ließ mich mittreiben, je enger, desto besser. Schnell hatten wir den Durchgang zwischen zwei Häusern hinter uns und sprangen auf die Bleichwiese, ein Feld mitten im Dorf, auf dem alle Familien ihre mit der Hand gewaschene weiße Wäsche auslegten und mit Wasser aus dem Bach bespritzten, damit Flecken von der Sonne herausgezogen wurden. Am Abend leuchtete die Wäsche dann und roch nach Gras.

Die Schulwiese lag gleich hinter der Bleichwiese. Wir spielten Völkerball, bis unsere Köpfe rot waren wie Tomaten und fast platzten. Dann sprangen wir ins Wasser und spritzten uns nass. Als ich zu frieren begann, kletterte ich über die breiten, flachen Steine heraus und schmiss mich auf die Wiese. Ich lag auf dem Rücken und blinzelte in die Sonne. Auf meinem Bauch glitzerten Wassertropfen, und ich kicherte, als Manfred mich mit einem Grashalm an der Fußsohle kitzelte. Da packten Hermann und Heinrich, die Zwillinge, ihn von hinten, warfen ihn um und nahmen ihn in den Schwitzkasten, bis Manfred sich schreiend ergab. Die Mädchen, die gerade nicht Ball spielten, pflückten Gänseblümchen und bastelten Ketten daraus, die sie sich aufsetzten. Ich kletterte auf den Apfelbaum, der am Rand der Wiese stand. Hier war ich unsichtbar, aber ich kriegte alles mit.

Ich hörte die Mädchen auf dem Völkerballfeld schreien, wenn sie abgeworfen wurden, und die Buben einander anfeuern. Die Grillen zirpten in der Mittagshitze. Der Ast, auf dem ich saß, knarzte, aber das störte mich nicht. Ich war leicht. Wenige Meter vor mir plätscherte der Bach, und ich sah einen Fleck am Ufer: Anneliese in ihrem roten Badeanzug. Sie brauchte immer ein wenig länger, um ins Wasser zu kommen. Sie tastete sich vorwärts, tauchte Hände und Arme hinein, frischte sich ab, trat wieder zurück und wartete.

Da sah ich zwei blaue Badehosen auf sie zuspringen: die Zwillinge. Sie stürzten sich von hinten auf Anneliese, schubsten sie ins Wasser, sprangen auf sie drauf und drückten sie runter. Sie gurgelte, rappelte sich auf, ging wieder unter, ruderte mit den Armen.

Wie eine Katze sprang ich vom Baum, machte einen Satz, schubste die drei Jahre älteren Jungen zur Seite, schnappte Anneliese an den Trägern vom Badeanzug und zog sie hoch.

»Lasst meine Schwester in Ruhe«, schrie ich.

Anneliese hustete und schüttelte sich, dass die Tropfen flogen. Die Zwillinge rannten davon, ich hinterher. Sie wetzten über die Schulwiese, die Bleichwiese, zum Durchgang und über die Straße zum Schuleingang, zwei blaue Punkte hüpften vor der Schultüre, rappelten an der Klinke. Abgeschlossen. Da kriegte ich sie. Ich packte sie an den Haaren und dotzte ihre Köpfe zusammen: »So, das kriegt ihr jetzt, damit ihr wisst, wie ertrinken ist.« Ein Mann aus dem Dorf führte eine Kuh an einem Strick vorbei und rief: »Hör auf, Mariechen, die Nase vom Heinrich blutet schon.«

Da hörte ich auf. Das wollte ich nicht. Die beiden Jungs schlichen nach Hause. An dem Tag hatten sie keine Lust mehr auf Streiche.

Ich war wie ein Bub. Ich konnte mich wehren und habe nie bei meiner Mama gejammert. Aber ich war froh, dass die Mutter der Zwillinge sich nicht bei meiner beschwert hat.

Über meine Defizite nachzudenken hatte ich keine Zeit. Es war immer etwas los. Ich habe meine Blindheit spielerisch erfasst. Indem ich mich wie ein Wildfang benahm, überspielte ich einiges. Ich genoss meine Freiheit in der Natur. Wenn ich Hunger hatte, ging ich ins Maisfeld, holte mir einen Kolben, biss hinein, dass es krachte, und zerquetschte die Körner mit den Backenzähnen. Süß spritzte der Saft in meinen Mund. Ich schluckte. Das Knurren in meinem Magen hörte auf. Hörte ich Bauern reden, hockte ich mich ins Maisfeld, bevor sie mich erwischten, und wartete, bis die Stimmen leiser wurden. An anderen Tagen legte ich mich auf eine frisch gemähte Wiese, roch das Gras und die Blumen, ließ mich von den Halmen in die nackten Beine piksen, spürte Käfer über meine Arme krabbeln, schaute hoch zu den Wolkenbergen und träumte, bis mir einfiel, dass ich Mama beim Gartengießen helfen sollte. Dann sprang ich auf und rannte heim. Unterwegs riss ich einen Grashalm ab, klemmte ihn zwischen beide Daumen und pfiff.