Sigmund Freud - Hans-Martin Lohmann - E-Book

Sigmund Freud E-Book

Hans-Martin Lohmann

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sigmund Freud (1856-1939) hat wie kaum ein anderer die Debatte um das Selbstverständnis des modernen Menschen bereichert. Auch wenn Befürworter und Gegner über seine Erfindung, die Psychoanalyse, erbittert streiten mögen, auch wenn die Revision zeitgebundener Anschauungen in seinem Werk notwendig sein mag, die grundlegenden Einsichten der Wissenschaft vom Unbewussten haben ohne Zweifel Bestand. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 210

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans-Martin Lohmann

Sigmund Freud

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sigmund Freud (1856-1939) hat wie kaum ein anderer die Debatte um das Selbstverständnis des modernen Menschen bereichert. Auch wenn Befürworter und Gegner über seine Erfindung, die Psychoanalyse, erbittert streiten mögen, auch wenn die Revision zeitgebundener Anschauungen in seinem Werk notwendig sein mag, die grundlegenden Einsichten der Wissenschaft vom Unbewussten haben ohne Zweifel Bestand.

 

Über Hans-Martin Lohmann

Hans-Martin Lohmann, geboren 1944 in Bergneustadt im Oberbergischen, aufgewachsen in Düsseldorf und Bad Godesberg, lebte als freier Lektor und Autor in Frankfurt a.M. Von 1992 bis 1997 war er leitender Redakteur der psychoanalytischen Fachzeitschrift «Psyche». Für die Reihe «rowohlts monographien» schrieb er 1987 den Band über Alexander Mitscherlich (rm 50365). Er starb 2014 in Frankfurt.

1 Der Mann und sein Werk

Ein biographischer Abriss als Abriss der Psychoanalyse

Ein jugendlicher Ödipus. Lehrjahre des Gefühls (1856–1886)

Die äußere Biographie Sigmund Freuds – sehr im Gegensatz zu seiner inneren, die alle Züge des Dramatischen trägt – war aufs Ganze gesehen wenig spektakulär und auffällig. Zehn Jahre vor seinem Tod erklärte er Edward Bernays gegenüber, sein Leben sei äußerlich ruhig und inhaltslos verlaufen und mit wenigen Daten zu erledigen[1]. Freuds Biograph Peter Gay ergänzt diese Mitteilung lakonisch: «Er wurde geboren, er studierte, er reiste, er heiratete, er praktizierte, er hielt seine Vorlesungen, er publizierte, er disputierte, er alterte, er starb.»[2] Dazu passt, dass Freud praktisch sein gesamtes Leben, 78 Jahre, in Wien verbrachte, in einer Stadt, der er in einer heftigen Hassliebe verbunden war. Als er sie kurz vor seinem Tod verlassen musste, schrieb er: Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauerarbeit, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt.[3] Dem Unspektakulären in Freuds beruflicher wie privater Existenz entspricht die stets präsente wienerische Urbanität, in deren Atmosphäre ein Werk heranwuchs und reifte, das zwar nichts spezifisch Wienerisches an sich hat, das aber nun einmal in einer europäischen Metropole wurzelt, für die Freud ungewöhnlich intensive Gefühle hegte.

 

Sigismund Schlomo Freud, so der väterliche Eintrag in die Familienbibel, wurde am 6. Mai 1856, im Todesjahr seines Lieblingsdichters Heinrich Heine, in dem mährischen Städtchen Freiberg (heute Příbor) geboren. Sein Vater Kallamon Jacob Freud, ein ärmlicher jüdischer Wollhändler, hatte 1855 in dritter Ehe[4] die zwanzig Jahre jüngere Amalia Nathanson geheiratet, die ihm nach Sigmund (wie er sich bald nannte) sieben weitere Kinder schenkte.

Wenn man sich klarmacht, welche Rolle familiäre Beziehungen und Verstrickungen, das ödipale Dreieck und die später damit verknüpften Phantasien in Freuds ausgearbeiteter psychoanalytischer Theorie spielen, verwundert es nicht, dass die familiären Verhältnisse, unter denen das Kind Sigmund aufwuchs, äußerst kompliziert waren. Seine Mutter Amalia war jünger als Emanuel, der älteste Sohn Jacobs aus erster Ehe, der bereits verheiratet war und seinerseits Kinder hatte, und nur wenig älter als Sigmunds zweiter Halbbruder, der Junggeselle Philipp. Aus der Sicht des Kindes mochte es plausibel scheinen, dass die ungefähr gleichaltrigen Emanuel, Philipp und Amalia eher zueinander passten als der wesentlich ältere Jacob zu seiner jungen und attraktiven Frau. Tatsächlich hat Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens den Hinweis geliefert, dass der noch nicht Dreijährige bei der Geburt seiner Schwester Anna die Vorstellung hatte, dass nicht Jacob, sondern Philipp das Schwesterchen, die Rivalin bei der Mutter, in deren Leib hineinpraktiziert[5] haben könnte. Für das Kind muss es verwirrend gewesen sein, dass seine beiden Halbbrüder der Mutter irgendwie näher standen als der Vater, dass dieser ohne weiteres sein Großvater hätte sein können und dass einer der Söhne Emanuels, John, Freuds erster Spielgefährte, ein Jahr älter war als er, der Onkel. Das, wahrlich, bildete Stoff genug für einen Familienroman[6], und die Freud-Biographik hat sich diesen spannenden Casus denn auch nicht entgehen lassen.[7]

Zu den familiären Verwicklungen, die Freuds Freiberger Jahre prägten, zählt zweifellos auch der Umstand, dass die Eltern eine Kinderfrau einstellten, jene prähistorische Alte[8], von der Freud in der Traumdeutung berichtet. Diese Monica Zajíc, eine katholische Tschechin, war, so erinnerte sich Freud in einem Brief an Wilhelm Fließ vom 3. Oktober 1897, also zur Zeit seiner «Krise», als er die Verführungstheorie aufzugeben bereit war, meine Lehrerin in sexuellen Dingen und hat geschimpft, weil ich ungeschickt war, nichts gekonnt habe […]. Außerdem hat sie mich mit rötlichem Wasser gewaschen, in dem sie sich früher gewaschen hatte […], und mich veranlaßt, «Zehner» [10-Kreuzer-Stücke] wegzunehmen, um sie ihr zu geben.[9] Freuds geliebte Kinderfrau füllte jene Lücke aus, die seine Mutter hinterließ, als sie ihren zweiten Sohn Julius zur Welt brachte, der ein halbes Jahr später, im April 1858, starb. Einen Monat früher war Amalias jüngerer Bruder Julius in Wien gestorben. Noch im selben Jahr kam Freuds Mutter mit ihrer Tochter Anna nieder. Wenn man sich vor Augen hält, dass Amalia damals, während Sigmund im zweiten und dritten Lebensjahr stand, durch zwei Schwangerschaften, zwei Geburten und zwei Todesfälle belastet war, dann ist evident, dass die Kinderfrau eine regelrecht lebensrettende Funktion für Freud gehabt haben muss. Durch ihre Zuwendung half sie dem Kind, mit der Tatsache, eine zeitweise depressive «tote Mutter» (André Green) zu haben, an der sein Bedürfnis nach Halt und Sinn abprallte, besser fertig zu werden. Die Kinderfrau wurde um die Zeit der Geburt Annas wegen Diebstahl angezeigt und von der Familie entlassen. Ihr Weggang traf den noch nicht dreijährigen Sigmund unvorbereitet, und er weinte wie verzweifelt[10], zugleich fürchtend, auch seine Mutter könnte ihm verloren gehen – fort sein und gestorben sein[11] sind für ein kleines Kind gleichbedeutend. Rund vierzig Jahre später sollte Freud schreiben, er werde dem Andenken des alten Weibes dankbar sein, das mir in so früher Lebenszeit die Mittel zum Leben und Weiterleben vorbereitet hat[12].

Wenn diese biographische Episode hier so relativ ausführlich gewürdigt wird, so einmal deshalb, weil sie in der «Krise» der Freud’schen Theoriebildung von 1896/97, nach dem Tod von Freuds Vater, eine bedeutsame Rolle bei der «Erfindung» der Psychoanalyse spielte, zum anderen, weil auffällig ist, dass sich Freud später für Männer interessierte und sich mit ihnen identifizierte, die zwei Mütter hatten: Ödipus, Leonardo da Vinci, Michelangelo und Moses[13]. Ödipus wurde aufgrund eines Orakelspruchs von seiner Mutter entfernt und wuchs an einem fremden Königshof auf. Leonardo wurde von seiner Mutter vielleicht nur in den ersten Lebensjahren versorgt und dann einer Ersatzmutter in Obhut gegeben. Michelangelo kam einen Monat nach seiner Geburt zu einer Stillamme, seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war. Moses wurde von seiner Mutter ausgesetzt, von der Tochter des Pharao gefunden und am Hof großgezogen. Allen diesen mythologischen und historischen Gestalten hat Freud in seinem Werk eindringliche Reflexionen gewidmet und ihnen Bedeutungen zugeschrieben, die Rückschlüsse auf sein Bild sowohl von Väterlichkeit und Männlichkeit zulassen als auch von Mütterlichkeit und Weiblichkeit.[14]

Wenn der Verlust der Kinderfrau für den präödipalen Jungen womöglich traumatischer Natur war, so werden es seine Erfahrungen mit der zeitweise abwesenden oder überforderten Mutter nicht minder gewesen sein. In der Literatur wird Amalia Freud einesteils als liebevolle, mütterliche, Wärme spendende Person charakterisiert und daraus der Schluss gezogen, die Beziehung zwischen Mutter und Sohn sei ebenso liebevoll und warm gewesen[15]; andererseits gibt es Darstellungen, die Zweifel daran aufkommen lassen und auf Amalias fordernde, egoistische und dominante Art und auf starke Ambivalenzgefühle des Kindes gegenüber der Mutter hinweisen.[16] Fest steht, dass Freud sich verhältnismäßig selten und zurückhaltend über seine Mutter geäußert hat – und wirklich liebevoll noch seltener. Eher herrscht bei ihm ein Ton der Distanz vor: Nicht Freud liebte seine Mutter, sondern sie ihn, den begabten Erstgeborenen: Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht.[17] Und in einer später in die Traumdeutung aufgenommenen Fußnote heißt es: Ich habe gefunden, daß die Personen, die sich von der Mutter bevorzugt oder ausgezeichnet wissen, im Leben jene besondere Zuversicht zu sich selbst, jenen unerschütterlichen Optimismus bekunden, die nicht selten als heldenhaft erscheinen und den wirklichen Erfolg erzwingen.[18] Eine «herzliche Ehrerbietung von seiten des Sohnes», wie sie Freuds Vertrauensarzt Max Schur bezeugt[19], ist keineswegs gleichbedeutend mit Liebe, und auch andere Quellen sprechen eher von Distanz und Respekt als von starken Liebesgefühlen. Schon der Sechzehnjährige formulierte in einem Brief an den Freund Eduard Silberstein erhebliche Zweifel an den mütterlichen Qualitäten Amalias: Andere Mütter – und warum verbergen, daß die unsrigen darunter sind? […] – kümmern sich nur um die leiblichen Angelegenheiten ihrer Söhne, über die geistige Entwicklung derselben ist ihnen die Kontrolle aus der Hand genommen.[20] Schließlich darf die denkwürdige Tatsache nicht unterschlagen werden, dass der Sohn, als Amalia im Jahre 1930 hochbetagt starb, sich weigerte, beim Begräbnis persönlich anwesend zu sein. Stattdessen schickte er seine Tochter Anna zur Beerdigung, woraus man den psychologischen Schluss ziehen kann, dass der Sohn gemäß dem Talionsgesetz ebendas vollstreckte, was seine Mutter ihm einst angetan hatte: Er schickte einen «Ersatzsohn», so wie seine Mutter ihn während einer entscheidenden Phase seiner Kindheit vorwiegend der Obhut einer Ersatzmutter anvertraut hatte – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Vielleicht darf man aus diesen Zeugnissen den vorsichtigen Schluss ziehen, dass Freud seine unbewussten Bindungen an diese stets ambivalent besetzte Mutterfigur[21] nie wirklich durchgearbeitet hat und dass die in seinem Werk eigentümlich fehlbelichtete Weiblichkeit, die er als alter Mann in die Metapher des dark continent[22] bannte, Konsequenz jenes mythologischen Geheimnisses war, welches er mit der Gestalt der Mutter und der Frau zeitlebens verband. Ist es Zufall, dass er seine Verlobte Martha Bernays einmal Cordelia[23] nannte, seine Tochter meine treue Anna-Antigone?[24] Der Mann Freud – «ein schwacher, kind’scher, alter Mann», ein Blinder.[25]

«Es hat merkwürdig auf mich gewirkt, dies große Ereignis. Kein Schmerz, keine Trauer […]. Ich war nicht beim Begräbnis. Anna hat mich auch dabei vertreten. Sie ist heute mit ihrer Freundin Dorothy auf eine schweizer-italienische Tour gegangen, zu der ich ihr nur besseres Wetter wünschen muß», vermerkt Freud zum Tod seiner Mutter.

Das Verhältnis Freuds zu seinem Vater scheint weniger opak gewesen zu sein als das zu seiner Mutter. Jacob, ein alles in allem eher erfolgloser Geschäftsmann, der offenbar fast ständig auf die finanzielle Hilfe anderer – etwa der nach England ausgewanderten Söhne Emanuel und Philipp – angewiesen war, selber zwar jüdisch-orthodox erzogen, aber in späteren Jahren ein Freigeist, wird vom Sohn als Mann von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn beschrieben, als ein interessanter Mensch, innerlich sehr glücklich, mit Anstand und Würde.[26] Als Sigmund älter war und die Familie längst in Wien lebte, nahm ihn der Vater auf seine Spaziergänge mit, um mir in Gesprächen seine Ansichten über die Dinge der Welt zu eröffnen. So erzählte er mir einmal, um mir zu zeigen, in wieviel bessere Zeiten ich gekommen sei als er: Als ich ein junger Mensch war, bin ich in deinem Geburtsort am Samstag in der Straße spazieren gegangen, schön gekleidet, mit einer Pelzmütze auf dem Kopf. Da kommt ein Christ daher, haut mir mit einem Schlag die Mütze in den Kot, und ruft dabei: Jud, herunter vom Trottoir! «Und was hast du getan?» Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben, war die gelassene Antwort.[27] Der Sohn sollte diese gelassene Demut nie erwerben, stets bekannte er sich stolz und militant zu seinem Judentum, auch wenn er ein «Atheist strengster Observanz» war.[28] Freuds frühe Identifizierung mit dem Punier (das heißt dem Semiten) Hannibal hängt mit diesem Vorfall zusammen. Bekanntlich ließ Hannibals Vater seinen Sohn schwören, an den Römern Rache zu nehmen – Freud tat sich lange schwer, nach Rom zu reisen, an jenen Ort, der das Zentrum der – antisemitischen – Christenheit bildet. Man kann seine Hannibal-Phantasie auch dahin gehend deuten, dass er sich auf diese Weise mit einer mächtigen Gestalt identifizieren konnte, deren Ruhm größer war als der ihres Vaters – das ödipale Moment, der Triumph des größeren Sohnes über den großen Vater, ist deutlich auszumachen.[29]

Jacob Freud muss ein umgänglicher und freundlicher Mann gewesen sein, aber er war auch der Patriarch der Familie, der über alles bestimmte – ein Zug, den der Sohn ziemlich ungebrochen fortsetzte. War der Vater für ihn auch eine strafende und drohende Instanz? Es gibt die Spekulation, dass Jacob dem kleinen Sigmund verbot, an seinem Genital zu spielen, und ihm womöglich die Kastration androhte, auch, dass Jacob seine älteren Söhne nicht zuletzt deshalb nach England schickte, um Philipp und Amalia auseinander zu bringen, das heißt, um Philipp für seine Triebhaftigkeit zu bestrafen.[30] Mag sein, dass in diesen familialen Szenen jenes Thema schemenhaft aufscheint, das in der entfalteten psychoanalytischen Theorie Freuds einen Eckpfeiler bildet: die Macht der Sexualität, die Tatsache geschlechtlicher Bedürfnisse bei Mensch und Tier[31] und die sich daraus für den Ersteren ergebende Notwendigkeit, seine Triebe zu zügeln, um der Kastration und Vernichtung durch den Vater zu entgehen. So ist es nicht unplausibel zu vermuten, Freuds in Totem und Tabu entworfenes Bild der Urhorde, der sich gegen die sexuelle Diktatur des Vaters auflehnenden Söhne, gehe auf Erfahrungen in der eigenen Familie zurück.[32]

Aufgrund wachsender wirtschaftlicher Schwierigkeiten Jacobs zog die Familie, nach einer kurzen Leipziger Episode, 1860 nach Wien um. Freiberg, der Ort seiner frühen Kinderjahre, blieb für Freud ein Traum. Noch 1931, anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel an seinem Geburtshaus in Příbor, bekannte er: […] tief in mir überlagert, lebt noch immer fort das glückliche Freiberger Kind, der erstgeborene Sohn einer jugendlichen Mutter, der aus dieser Luft, aus diesem Boden die ersten unauslöschlichen Eindrücke empfangen hat.[33] In der Hauptstadt der k.u.k. Monarchie, die in den 1860er und 1870er Jahren vom Geist eines reformerischen Liberalismus durchweht war, der nicht zuletzt der jüdischen Bevölkerung zugute kam, besuchte Freud offenbar zunächst eine Privatschule, um sodann auf das Leopoldstädter Communal-Realgymnasium zu wechseln, an dem er mit siebzehn das Abitur ablegte – mit Auszeichnung, wie es sich für einen frühreifen Klassenprimus gehörte. Schon der Gymnasiast beherrschte, was auch seinen Lehrern auffiel, die deutsche Sprache in bemerkenswerter Vollendung, von Freud in einem Jugendbrief ironisch so kommentiert: Mein Professor sagte mir […] – und er ist der erste Mensch, der sich untersteht, mir das zu sagen –, daß ich hätte, was Herder so schön einen idiotischen Stil nennt, das ist einen Stil, der zugleich korrekt und charakteristisch ist.[34] Bereits damals zeichnete sich augenscheinlich ab, dass Freud das Zeug zu einem bedeutenden Schriftsteller hatte, der er dann ja auch wurde. Die deutsche Sprache war das Haus, in dem Freud zeitlebens wohnte und dem er sich tief und leidenschaftlich verbunden fühlte.

Der stolze und selbstbewusste Erstgeborene erlebte jene Förderung seiner Talente, welche ehrgeizige und von den Fähigkeiten ihres Sohnes überzeugte Eltern zu entfalten pflegen. Dahinter standen die jüngeren Geschwister, allen voran die Schwestern, in jeder Hinsicht zurück. Freuds Schwester Anna hat überliefert, dass der Jüngling stets ein eigenes Zimmer hatte, so beschränkt die Lebensumstände der Familie auch sein mochten. Als deren erklärter Liebling, dem Großes zugetraut wurde, genoss Freud allerhand Privilegien.

Den Wunsch, angeregt durch seinen Jugendfreund Heinrich Braun – später ein bekannter österreichischer Politiker –, in die Politik zu gehen, gab Freud rasch zugunsten des Medizinstudiums auf. Im Herbst 1873 schrieb er sich an der Wiener Universität ein, wo er spät, im März 1881, promoviert wurde. In die frühen siebziger Jahre fällt auch Freuds erste Liebe, seine juvenile Zuneigung zu Gisela Fluss, der Schwester seines Schulfreundes Emil Fluss. Die Korrespondenz mit dem Jugendfreund Silberstein lässt freilich erkennen, dass diese Gefühle weniger dem Mädchen als vielmehr ihrer Mutter galten, von deren Reizen er in einer Art verspäteter ödipaler Verliebtheit ausführlich schwärmte und die er sogar gegen seine eigene Mutter ausspielte.[35] Dass die in den Silberstein-Briefen als Ichthyosaura[36] verschlüsselte Person, für die der adoleszente Freud ebenfalls starke Worte fand, identisch mit Gisela Fluss ist, gehört in den Bereich der Legende.[37] Es war noch eine andere junge Frau im Spiel, von der wir kaum etwas wissen, eine Frau, die für Freud die handfest-irdische Seite der Liebe verkörperte – eine für ihn bedrohliche Seite, die er abwehren und bekämpfen musste.

Denn der Wille zum Wissen und der Wunsch, ein berühmter Mann oder doch wenigstens ein ordentlicher Professor zu werden, waren bei Freud stärker. Mehr Forscher als Student, ein gottloser Mediziner und Empiriker[38], der sich nach einem episodischen Ausflug in die Philosophie rasch ganz von solcher Art «Spekulation» abkehrte, weshalb er auch später gewisse Probleme damit hatte, den Einfluss von Philosophen, namentlich von Nietzsche, auf seine Theorien einzubekennen[39], wandte Freud sich zunächst dem Gebiet der Zoologie zu, auf dem er offenbar so Beachtliches leistete, dass ihm vom Unterrichtsministerium zwei Mal ein Stipendium gewährt wurde. Das Geld floss in zwei Studienreisen nach Triest, wo er an der Zoologischen Station eine Untersuchung über männliche Flussaale durchführte, deren Ergebnis 1877 publiziert wurde und die einen Gedanken, den der Intersexualität, enthielt, über deren Folgen weder er selbst noch seine Lehrer sich im Klaren waren.

Unzufrieden mit seinen zoologischen Forschungen, vielleicht auch mit seinem Lehrer Carl Claus, der in Freuds autobiographischen Schriften nirgends auftaucht, wechselte der Student die Richtung und schloss sich zwischen 1876 und 1882 dem Physiologischen Institut an, das von dem berühmten Gelehrten Ernst Wilhelm von Brücke geleitet wurde. Brücke, ein führender Vertreter der Helmholtz-Schule und radikaler Verfechter eines medizinischen Positivismus, der sich erfolgreich gegen den um die Mitte des Jahrhunderts blühenden Vitalismus wandte, war eine der wenigen Figuren, die Freuds wissenschaftliche Anschauungen lebenslang bestimmten. Im physiologischen Laboratorium von Ernst Brücke fand ich endlich Ruhe und volle Befriedigung, heißt es in der «Selbstdarstellung» von 1925[40]; Brücke sei die größte Autorität gewesen, die je auf mich gewirkt hat[41]. Freuds Bindung an Brücke überlebte selbst seine Wendung von den physiologischen zu den psychologischen Erklärungen geistig-seelischer Phänomene, und wenn er noch 1932 schreiben konnte, die Psychoanalyse sei ein Stück Wissenschaft und kann sich der wissenschaftlichen Weltanschauung anschließen[42], so ist dies als eine späte Hommage an seinen Lehrer Brücke zu verstehen. Freuds gesamte Psychologie – das ist später oft heruntergespielt worden – steht im Bann eines Wissenschaftsverständnisses, wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Männern wie Darwin, Du Bois-Reymond, Helmholtz, Brücke und Virchow geprägt und propagiert wurde. Man wird sehen, wie sich dies auf die Konzeption der Psychoanalyse auswirken sollte.

Die glücklichen Jahre an Brückes Institut wurden lediglich durch den einjährigen Militärdienst unterbrochen, den Freud 1879/80 ableisten musste. Die Langeweile des Militärlebens verkürzte er sich nicht zuletzt damit, dass er einige Schriften von John Stuart Mill ins Deutsche übersetzte, darunter dessen Essay über die Frauenemanzipation, vor dessen Inhalten er seine spätere Frau dringend warnte.

Mit 26 Jahren war Freud beides, arm und verliebt – ein unhaltbarer Zustand. Auf Brückes wohlmeinenden Rat hin, die theoretische Laufbahn aufzugeben[43] (und damit auch seinen Professorenwunsch), entschloss er sich vermutlich nicht leichten Herzens, eine Stelle am Wiener Allgemeinen Krankenhaus anzutreten, zunächst als Aspirant, dann als Sekundararzt. Freuds allgemein schlechte materielle Lage[44] mochte ein Grund sein, Geld zu verdienen. Ein anderer, und wohl gewichtigerer, war, dass er Martha Bernays kennen gelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Martha, fünf Jahre jünger als Freud, stammte aus einer alten und kultivierten jüdischen Familie in Hamburg. Ihr Großvater Isaak Bernays war Großrabbiner von Hamburg gewesen; zu ihrer Familie zählten bedeutende Gelehrte wie der Altphilologe Jakob Bernays. Da Martha, mit der Freud sich im Juni 1882 verlobte, aus einer zwar angesehenen, aber ebenfalls mittellosen Familie stammte, führte kein Weg an einer beruflichen Tätigkeit vorbei. So wurde Freud Kliniker, und gewiss kein begeisterter, um dereinst einen bürgerlichen Haushalt gründen zu können. Ein Bohemien-Dasein ohne Regelmäßigkeiten und Sicherheiten, wie es etwa Jenny und Karl Marx führten, kam für einen konventionellen Mann wie Freud nicht infrage.

Mit seiner Tätigkeit am Allgemeinen Krankenhaus, zwar schlecht bezahlt, verfolgte Freud vor allem das Ziel, sich durch den Erwerb klinischer Praxis auf eine Existenz als niedergelassener Arzt vorzubereiten. Neben dieser Tätigkeit blieb ihm, dem ambitionierten Forscher und Wissenschaftler, immer noch genügend Zeit, seinem Wissensdrang zu gehorchen und seine Kenntnisse auf verschiedenen Feldern der Medizin zu vertiefen – wobei freilich die Spezialisierung auf die Neuropathologie deutlich im Mittelpunkt stand. Zunächst arbeitete Freud in der Abteilung des renommierten Internisten Hermann Nothnagel und wechselte im Mai 1883 an die Klinik des nicht minder renommierten Hirnanatomen und Psychiaters Theodor Meynert – von beiden wohlwollend gefördert. Wie selbstbewusst Freud, der doch erst am Beginn einer noch unsicheren beruflichen und wissenschaftlichen Karriere stand, zu jener Zeit bereits war, geht aus einer brieflichen Äußerung gegenüber seiner Verlobten hervor: Ich weiß aber, […] daß ich unter günstigen Bedingungen mehr leisten könnte als Nothnagel, dem ich mich weit überlegen glaube.[45] Solches Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl sollte Freud sein Leben lang begleiten, und wir haben gesehen, dass er es gerne mit seiner frühen bevorzugten Stellung bei seiner Mutter in Verbindung brachte. Als er im Januar 1885 die Habilitation und damit die Stellung eines Privatdozenten an der Wiener Universität anstrebte, hatte er denn auch keinerlei Probleme, sich der Empfehlungen seines alten Lehrers Brücke sowie Meynerts und Nothnagels zu versichern. Das Ministerium zögerte nicht, Freuds Ernennung zum Dozenten umgehend zu bestätigen. Sein weiterer Weg schien nun klar vor ihm zu liegen. Die Dozentur versprach eine gut gehende spezialärztliche Praxis und stellte wissenschaftlichen Gewinn in Aussicht.

Es waren gleichwohl harte, entbehrungsreiche Jahre, die Freud durchmachte. Nicht als «other Victorian» (Steven Marcus) wie jener anonyme Autor von «My Secret Life», der sich glaubwürdigen Untersuchungen zufolge alle von ihm beschriebenen sexuellen Eskapaden selber geleistet haben soll, eher als streng erzogener Wiener Viktorianer, für den vor-, später außereheliche geschlechtliche Freuden tabu waren, durchlitt der angehende Nervenarzt vier endlos lange Verlobungsjahre in, so gibt es Grund zu vermuten, vollkommener Enthaltsamkeit. Wie viel Zorn und Erbitterung der Zwang zur Unterdrückung seines sexuellen Begehrens in Freud hervorrief, wissen wir aus seinen Brautbriefen: […] ich bin ja nur ein halber Mensch im Sinne der alten platonischen Fabel, die du gewiß kennst, und meine Schnittfläche schmerzt mich, sobald ich außer Beschäftigung bin. Und fast im selben Atemzug, in einer Aufwallung von Empörung und Verachtung gegen die, die ohne Skrupel und Gewissen ihren Vergnügungen nachgehen, heißt es: Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen, wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht für was – und diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. […] So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuß zu verschaffen, und in der höchsten Potenz sind wir Menschen wie wir beide, die sich mit den Banden von Tod und Leben aneinander ketten, die jahrelang entbehren und sich sehnen, um einander nicht untreu zu werden […].[46] Freuds leidenschaftlicher Ausbruch, von tiefer Verzweiflung und stolzer Überlegenheit gleichermaßen geprägt, enthält eine Reihe von emotionalen Elementen, die in seinen späteren Theorien eine zentrale Rolle spielen. Als er in den neunziger Jahren seine Gedanken zur sexuellen Ätiologie der Neurosen niederlegte und dann mit sexualreformerischen Bestrebungen nach freizügigerem Umgang mit der Sexualität sympathisierte, hatte er die harten Erfahrungen seiner Verlobungszeit im Rücken. Als er das Konzept der Sublimierung der Triebe formulierte, konnte er auf diese reale Lebenserfahrung zurückgreifen. Das Motiv schließlich, nicht so sehr eigene Lust zu suchen als vielmehr Unlust zu vermeiden[47], ist nachgerade ein Leitmotiv des gesamten Freud’schen Werkes.

Jahrzehnte später schrieb Freud in einem Brief an James Putnam, in dem es um das Thema größerer sexueller Freiheit in der Jugend ging, für die er sich als erwachsener Mann immer stark gemacht hatte: «Ich vertrete ein ungleich freieres Sexualleben, wenngleich ich selbst sehr wenig von solcher Freiheit geübt habe.»

Das bißchen Cocain, was ich genommen habe, macht mich geschwätzig, Weibchen.[48] Auch im Abstand von mehr als einem Jahrhundert hat die sogenannte Kokain-Episode nichts von ihrem skandalisierenden Effekt verloren, und die Freud-Biographen – von Bernfeld über Jones und Eissler bis hin zu Gay – tun sich seit jeher schwer damit, sie angemessen zu würdigen, gilt sie doch als einer der wenigen Makel in Freuds ansonsten tadelloser wissenschaftlicher Biographie. Dabei hat es zunächst einmal wenig Auffälliges, wenn er, der angehende Praktiker der Nervenheilkunde, sich mit der Erforschung eines neuen antineurasthenischen Medikaments beschäftigte. Freuds 1884 begonnene Experimente mit dem damals weithin unbekannten Alkaloid Kokain eröffneten ihm die Chance, auf einem Forschungsgebiet zu reüssieren, das außerhalb dessen lag, was Freuds akademische Lehrer interessierte, und die Aussichten standen nicht schlecht, sich mit einer Aufsehen erregenden wissenschaftlichen Leistung einen Namen zu machen, einen Namen, den er um Marthas und seines Ehrgeizes willen auf Teufel komm raus zu erwerben trachtete. Dass er die antidepressiven, euphorisierenden Wirkungen des Kokains nicht zuletzt im Selbstexperiment untersuchte, geht aus den Brautbriefen deutlich genug hervor und hat ihm gelegentlich die Kritik eingetragen, er sei zumindest eine Zeit lang kokainabhängig gewesen. Dass er einem Kollegen und Freund, dem begabten Ernst Fleischl von Marxow, mit Hilfe der psychotropen Droge (deren Drogencharakter seinerzeit freilich kaum jemand ahnte) beisprang, seine Morphiumsucht zu bekämpfen, haben ihm manche Historiker verübelt. Ein Zeitgenosse, der Arzt Albrecht Erlenmeyer, der Freuds veröffentlichte Ansicht, Kokain sei ein geeignetes Mittel beim Morphinentzug, vehement bezweifelte, hielt ihm gar vor, er habe mit dem Kokain eine «würdige dritte Geißel», neben Alkohol und Morphium, auf die Menschheit losgelassen.[49] Fest steht, dass Freud zwischen 1884 und 1887 fünf Arbeiten über Kokain publizierte, die bis heute als frühe Beiträge zur modernen Psychopharmakologie gelten, dass er im Falle Fleischl von Marxows nicht rechtzeitig genug die suchterzeugende Potenz der Droge erkannte und dass er später seine Kokainstudien als Allotrion[50] und Jugendsünden[51]