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Archive sind nicht nur die Schatzkammern der Kultur, sie sind Herausforderungen an die Art, wie wir denken, handeln - und vielleicht auch fühlen. Ein erweitertes Verständnis des Archiv-Begriffs, der nicht mehr nur das passive Reagieren, sondern das aktive Eingreifen, Fragen und Forschen meint, steht im Zentrum dieser vielschichtigen Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen unseres Erinnerns, Bewahrens und Vergessens. Ohne fordernde ethische oder politische Fragen auszublenden, wird anhand zentraler Beispiele der Film- und Mediengeschichte dem Verstehen von Quellen nachgespürt.
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Seitenzahl: 263
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Thomas Ballhausen
Über die Arbeit am Archiv
Vorbemerkung/Dank
1. Aufrisse und Plateaus
1.1 Aufblende: song (or: on the different meanings of being framed)
1.2 Spur und Schmutz
1.3 Theorie, Geschichte und Funktion der (Film-)Archive
1.3.1 Konditionen des Bewahrens
1.3.2 Erinnerungsdiskurs und Archivsystem
1.3.3 Zum Beispiel der Filmarchive
1.3.4 Audio-visuelle Bestände
1.3.5 Zur Politik des Archivs
1.3.6 Preservation und Präsentation
1.3.7 Der Brighton-Effekt
1.3.8 Narrativität und Temporalität
1.4 Historische, mediale und choreografische Vorbedingungen filmischen Denkens und Wirkens
1.4.1 (Hier) und (Jetzt)
1.4.2 Geschichte(n)
1.4.3 Körper/Relationen/Codes
1.4.4 Sehen (lassen)
1.4.5 Freiheit vs. Tugend
2. Regeln und Relationen
2.1 Korrektiv und Bildverschiebung: 1895, Pöch, Freud, Röntgen und Kino
2.1.1 Geister sehen. Zur Veränderung der visuellen Kultur und ihrer (Seh-)Räume um 1895
2.1.2 Sichtbarkeit
2.1.3 Lebendigkeit
2.1.4 Unsterblichkeit
2.2 Regulativ: Filmzensur als historisches und quellenkundliches Element
2.2.1 Spannungsverhältnisse
2.2.2 Historische Entwicklungslinien
2.2.3 Zwischenergebnisse
2.3 Konstitution 1: Körper als Austragungsort (Der lauernde Horror)
2.3.1 Konditionen und Konzepte
2.3.2 Körperspektakel
2.3.3 Zur Konstruktion des Monströsen
2.3.4 Das Fremde als das Barbarische
2.3.5 Die Industrialisierung der Attraktionen
2.3.6 Das neue Spektakel: Kino
2.3.7 Ikonophagie und Schaulust
2.3.8 Katharsis: Furcht und Schrecken
2.3.9 Theaterkonzepte und Wechselbeziehungen zum frühen Horrorfilm
2.3.10 Wandel und Kritik
2.4 Konstitution 2: Ort- und Medienwechsel
2.4.1 Verbrechen zahlt sich aus
2.4.2 Urbanität und Mythologie
2.4.3 Tönende Stille
2.4.4 Fantômas lebt!
2.5 Konstitution 3: Begehren und Inszenierung (Saturn-Film)
2.5.1 Differenzen und Differenzierungen
2.5.2 Archiv und Geschichte
2.5.3 Kontrakte und Kontexte
2.6 Konstitution 4: Avantgarde und Kanon
2.6.1 Avantgarde/Film/Österreich
2.6.2 Sterben nach Vorlage
2.6.3 Post-Apokalypse(n)
2.6.4 Exit/No Exit
2.7 Rechte Flanke: Film Noir (Archivgespeiste Ästhetik 1)
2.7.1 Im Zwielicht
2.7.2 Düstere Passagen
2.7.3 Ästhetisches Prinzip
2.8 Linke Flanke: Punk Film (Archivgespeiste Ästhetik 2)
2.9 Inkubation und Metaphysik: 28 Days Later
2.9.1 Bioterror
2.9.2 Zyklen
2.10 Latenz und Aktualisierung
2.10.1 Gewöhnliche, lackschwarze Dunkelheit
2.10.2 Spirale und Labyrinth
3. Prophetie und Poetik
3.1 Choreografie und Archiv
3.1.1 Verknüpfungsversuche
3.1.2 Denken ist Pflicht
3.1.3 Decodierungsstrategien
3.1.4 Lesen und Anwenden
3.2 Abspann: song (or: on the different meanings of being framed)
4. Quellenverzeichnis
4.1 Literaturverzeichnis
4.2 Filmverzeichnis
Die vorliegende Arbeit wurde von vielen Menschen begleitet, die mich auf sehr unterschiedliche Weisen unterstützt haben. Manchen wird gar nicht bewusst sein, dass dem so war. Andere wiederum waren ganz direkt eingebunden:
Prof. Elisabeth von Samsonow hat mich in ihr Seminar aufgenommen. Sie hat mich einerseits bestärkt, zu meinen zentralen Fragen und bereits bearbeiteten Themen zurückzukehren, mich andererseits ermutigt, weitzudenken, weiterzuspringen und wagemutiger zu sein. Ohne ihre Geduld, ihr kritisches Feedback und ihre Anregungen wäre die vorliegende Arbeit nicht, wie sie ist. Prof. Ruth Sondegger und Prof. Diedrich Diederichsen danke ich für die spontane, unkomplizierte Unterstützung. Meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Seminar danke ich für ihre Fragen, ihr Interesse und ihre freundschaftliche Toleranz.
Günter Krenn, Paolo Caneppele, Michael Achenbach, Alessandro Barberi, Christina Krakovsky und Karin Moser danke ich für Ratschläge, Streitgespräche, Kaffee und Witze im jeweils richtigen Moment. Ohne sie wäre ich nicht der Wissenschaftler, der ich heute bin. Meinen Kolleginnen Valerie Strunz und Raffaela Rogy danke ich für die genaue Lektüre meiner Ausführungen und die Geduld im Umgang mit mir.
Thomas BallhausenWien, März 2015
I. sourcing
following hints
to something
which might have been
a body
(bodies maybe)
half-drowned in the river Lethe
or even worse
missing, believed lost
but beloved always
what a description
what a loss
breathtaking first glances
is this the comfort of being afraid
it all depends on your look
the eye of the beholder
don’t blinkdon’t blinksimply don’t
just: hold on, everything will be fine
(I guess)
I’m no hero
I’m just doing my job with all that’s left of my heart
II. preservation
this is no foreign country
just something a little spooky
the possessed beloved ones
around the corner
and at the same time: far away
let me take a closer look:
illegible lines of time
an unreadable character
and a look that could kill
cut and paste
and add
(of course)
a bit of black magic
to the ever-changing surface
of your silvery soul
transforming
turning like a glove
is this
the sour smell of your love
the bitter taste of your kiss
the promise you may keep in the end
the balance of life and sleep
needs to be mastered
for
tinned loves and curses
likewise
excavate this archived smile
because
death shall not be reinvented here
just keep him lingering outside the door
barking and howling
(t.b.)
Am Anfang stand (und steht) ein riskanter Wunsch, der Wunsch nach Verlebendigung und vitaler Balance zwischen Bewahren und Zugänglichmachung im Sinne einer intellektuellen Logistik, die sich als neue, neu zu denkende und zu rahmende Praxis des Archivs fassen lässt. Gekoppelt ist dieses Begehren an die Aufgabe gegenüber dem Arbeitsgegenstand konstruktiv-kritisch und doch auch, im Sinne einer selbstreflexiven, wiederkehrend inventarisierenden Haltung, demütig zu sein. Es ist der Ansatz aus einem Leben heraus zu schreiben, das in einem permanenten Spannungsverhältnis existiert. Ein Schreiben aus dem Agieren und Handeln heraus, das in einen unabgeschlossenen (und unabschließbaren) Prozess verflochten ist, der in seiner als schizophren zu bezeichnenden Praxis einerseits die aktuelle Verfügbarkeit von Quellen zu berücksichtigen hat, andererseits in der Bewahrung und Aufarbeitung der jeweiligen Quellen über die eigene, erbärmlich kurze Lebensspanne hinausreichend gedacht und angesetzt werden muss. Besagtes Agieren und Handeln, das sich nicht zuletzt auch in einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem Vergänglichen und dem Vergessen (und einem mitunter unbequemen Erinnern daran) manifestiert, benötigt m. E. eine philosophische Rahmung, die im Folgenden anhand konkreter Analysen umrissen und angedeutet werden soll. Ergänzend muss das Eingeständnis stehen, dass hier unter den Bedingungen des Arbeitens als Wissenschaftler und Archivar formuliert, spekuliert und versucht wird, aber auch unter den Konditionen erlittener und anzunehmender, noch kommender Verluste. Das Eingeständnis des Persönlichen soll hier nicht als Zeichen argumentativer Schwäche missverstanden, sondern vielmehr als vitaler Ausdruck ernstgemeinter Durchdringung von Leben, Haltung und Arbeit gelesen werden. An die Stelle der naiven Nostalgie – die aber, das muss an dieser Stelle erwähnt sein, nicht immer nur naiv sein muss (Boym, 2001) – tritt die produktiv gewendete Melancholie (Holly, 2013, 1–24).
Der nur im ersten Moment so simpel wirkende Umstand, dass die Dinge, was auch immer wir darunter verstehen und zusammenfassen wollen, komplex sind, verleitet uns zu ihrer Theoretisierung – was, so ist anzustreben, eine (neue) Praxis der Analyse und der Anwendbarkeit zeitigt. Gute Theorie verträgt Anwendungen nicht nur, sie verlangt förmlich danach. Theorie kann selbst eine Praxis sein, etwa ein Hinarbeiten auf Verwerfungslinien, ein Aufruf der Zuarbeit, des wechselseitigen Referenzierens und Apostrophierens. Die neuen Anforderungen diskursiver Anschlussfähigkeit – die gleichermaßen den im Begriff des Archivs eingelagerten Anfang aufrufen (Höffe, 2002, 197ff.) als auch an die Todesverhaftetheit der Materie und unseres Existierens erinnern lassen (Derrida, 2010, 1) – verlangen nach einer Philosophie des Archivs, die, in ihrer theoretischen Skizzierug und gelebten Praxis, die Welt mit größtmöglichem Interesse betrachtet, sie interpretiert und möglicherweise verändern hilft. Das Archiv soll und muss dabei auch als Denkmodell verstanden werden, das Aspekte seiner Geschichte, Theorie, Form und Funktion berücksichtigt, das eine Kultur des Epistemischen einrechnet und eine notwendige, richtige ethisch-politische Akzentuierung erfährt. In der Folge möchte ich mich bei der Auseinandersetzung mit (Film-)Archiven und der damit verbundenen Herausforderung einer intellektuellen Logistik, samt der Verantwortung für Sammlung und Öffentlichkeit, für eine dreifaltige Interpretation aussprechen, die in Institution, Sammlung(en) und gelebte Praxis zerfällt. Das Ansetzen des Archivs als Denkmodell, das eine Kultur des Epistemischen miteinrechnet, stützt sich dabei auf Forschungen der Kunstwissenschaft und Philosophie (z. B. Martin, 2011; Tauschek, 2013), die in der Auseinandersetzung mit kulturfeldrelevanten Institutionsformen auf Felder wie Sammlung, Körper (und damit auf die physische Beschaffenheit der jeweiligen Quellen bzw. Objekte) und eine Kartografie von Orten und Räumen setzen. Die Aufwertung der räumlichen Dimension auf Kosten des Faktors Zeit erlaubt ein begrüßenswertes Fortführen der kritischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Realität und Repräsentation und der damit verbundenen Konsequenzen für Forschung, Lehre und Vermittlung; es befürwortet aber auch eine geschichtsphilosophische Diskussion, eine Haltung des Hackens von Geschichte abseits von Progressionslinearität und starren Prinzipien klassischer Hermeneutik.
Im Zugriff auf die in der Folge vorgestellten Einzelbeispiele soll der Duktus literarisch-essayistischer Ambition mit den Ansprüchen wissenschaftlich-philosophischer Analyse ausgesöhnt werden. Dieser fordernde Selbstanspruch ist Versuch einer methodologischen, kategorischen Positionsbestimmung und kann mehr eine Richtungsvorgabe sein denn eine in aller Totalität eingelöste Vorgabe. Der mittlerweile vielstrapazierte Begriff künstlerischer Forschung soll hier als Rahmung für den betriebenen, ernstgemeinten Spaziergang – eine Folge von Essays, wenn man so will – dienen. Auf die Möglichkeit und Machbarkeit einer Vermittelbarkeit und Darstellbarkeit von Theorie anhand konkreter Beispiele setzend, möchte ich eine literarisch geerdete Sprache mit einer philosophischen (oder auch: philosophisch motivierten) Analyse zusammenführen. In den Formulierungen, die Erkenntnis befördern möchten, wird eine positiv gemeinte Literarisierung vorangetrieben; im Kontext einer solcherart angelegten Unternehmung endet die jeweilige Forschung nicht zwingend dort, wo die Kunst beginnt (Konsuth, 1991; Bergdorff, 2012). Vielmehr reicht die Philosophie in die Kunst hinein; der Text einer schreibend-denkerischen Praxis schlägt, so der Versuch, als künstlerische wie auch forschende Tätigkeit eine Brücke.
In einschlägigen Forschungsarbeiten wird richtigerweise eine Annäherung zwischen Institutionen und wissenschaftlichen Disziplinen gefordert. Über die Formulierung dieser Notwendigkeit geht es aber selten hinaus. In meinen Ausführungen – die sich als partikulare Untersuchung, als spezifische Probebohrungen im angepeilten Feld verstehen – versuche ich, dieser Forderung eingedenk, Praxis und Parapraxis auf reflexive Weise einander anzunähern, also das Vergessene, das Unterdrückte, das Gewollte einzurechnen; etwas wie eine psychopathologische Parapraxis und eine ethisch-philosophische, politische Praxis anhand interpretierter Beispiele und Rahmungen miteinander in einer Verbindung zu denken. Im Versprechen, im Verlegen, im Verhören, in den kleinen Fehlern und Unschärfen werden die Freude, die Lust und auch der Schrecken des Archivs deutlich. Hier artikuliert sich ein Umstand, der von der klassischen Archivwissenschaft nicht gezähmt werden kann und nach einer kontextorientierten, in ihrer Letztbegründung philosophischen Theorie und Praxis ernsthafter Verspieltheit ebenso verlangt wie nach einer Hingabe der Verantwortlichen als Beispiel des Eingeforderten (Kafka, 2012, 139–142). Auch an diesem Punkt muss in letzter Konsequenz die idealgeprägte Richtungsvorgabe vor der völligen Einlösbarkeit stehen. Eine permanent inventarisierte Haltung aus Neugier und Demut, die das beschriebene Gleichgewicht arbeitspraktischer Balance in choreografischer Manier immer wieder neu hält (und auch: zu halten lernt), erweist sich dabei jedoch keineswegs als Unmöglichkeit. Der Umgang mit den Quellen braucht den Erhalt einer kontextbewussten Dialogfähigkeit, die sich der Kunst des Denkens und der Arbeit an der Erkenntnis bewusst ist. Die Notwendigkeit, zu wissen, wie sie etwa Martha Nussbaum in positivem Bezug zu John Rawls darstellt, muss einhergehen mit „an important distinction to be drawn between having views about an institution or profession and leading the way of life characteristic of that institution“ (Nussbaum, 1985, 136). In der erwähnten dualen Verantwortung gegenüber einer sich wandelnden, fordernden artikulierenden Öffentlichkeit und heterogenen Sammlungen liegt die Option, einem vernutzenden Denken zu begegnen, das entweder die Archive (und den daran gekoppelten Diskurs) auf die Rolle des Zulieferers limitiert oder gar die Sammlungen nur unter dem Aspekt zu realisierender Öffentlichkeit sieht. Es bedarf keines Hangs zu Materialfetischismus oder Animismus, um die Gefahren solcher Limitation zu erkennen.
Das Archiv als Untersuchungsgegenstand reflektiert auf den Umstand einer sich schon länger abzeichnenden Entwicklung, die die Archive aus ihrer bürokratisch-verwalterischen Zuspitzung herauslösen. Die in einen erweiterten Archivbegriff eingeschriebene (potentielle) semantische Leistung darf, bei aller Wertschätzung des Archvis als Raum bzw. Ort der Begegnung und Erkenntnis, nicht die Option ausblenden, das Archiv als Möglichkeit und Gesetz der laufenden Diskurse zu begreifen. Diese Stiftungsmacht verjüngt sich in der Auseinandersetzung mit dem Medium Film beispielsweise zur Frage nach der Erinnerung. Für die folgenden Analysen soll dabei aber darauf hingewiesen werden, dass sich hier Film nicht nur als Speichermedium des Kollektiven begreifen lässt, sondern vor allem als Medium, anhand dessen Erinnerung exemplifiziert werden kann. Archive als historiografische Registratur der Geschichte erlauben auf diesem Wege ein Einrechnen von Heimsuchungen, vom Unerwünschten, vom Symbolischen und nicht zuletzt vom Gespenstischen. Das Denken über das Archiv wird hier, im Sinne einer Philosophie als Möglichkeit der Begriffsfindung und semantischen Metamorphose, zum Denken mit dem Archiv.
In den vorliegenden Ausführungen ist es mir daher ein Anliegen, einen erweiterten Archivbegriff denkbar und operationalisierbar zu machen. Zu diesem Zweck wird beim Partikularen, mitunter auch beim sogenannten Lokalen angesetzt. In der konkreten Auseinandersetzung mit einer Vielzahl kaum bis gar nicht verhandelter Beispiele soll das Archiv in seiner praktischen Anwendung und Anwendbarkeit vorgestellt werden. Die analytischen Einzelstudien werden zeigen, wie die oben angedeuteten Verpflichtungen und Potentiale ausgespielt werden können, ohne einem bedenklichen hegemonialen Diskurs, z. B. in Bezug auf das Filmische, aufzusitzen. Vielmehr soll hier das Spannungsverhältnis aus Erinnerung, Schichtung und Materialität in den Vordergrund rücken. In der vertikalen wie horizontalen Strukturierung der gesamten Arbeit ist das Moment der Relation dominant: So stehen die Einzeluntersuchungen in einer aufbauenden, sich entfaltenden Verhältnismäßigkeit zueinander, ohne ihre Funktion als herauslösbare Glieder zu beeinträchtigen. Die Gewichtung des Verhandelten ist einerseits der sich ständig weiterschiebenden Front der Forschung und der von ihr gezeitigten Literatur geschuldet, andererseits der Notwendigkeit, ausgewählte Fragen in geeigneteren Kontexten zu adressieren. So ist der erschöpfend beforschte Bereich der Digitalisierung zwar berücksichtigt, doch aufgrund vorliegender Publikationen nicht neu begründet (vgl. dazu z. B. Witten, Bainbridge & Nichols, 2010; transfermedia, 2011; Ballhausen & Stöger, 2013). Die erwähnten spezielleren Fragestellungen, die den Fokus der vorliegenden Arbeit gesprengt hätten, habe ich an anderer Stelle untersucht: Thematisch fallen hierin beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Archiv und Autonomie (Ballhausen, 2012a), die Ausarbeitung von Strategien zur Veränderung des Archivs zum erweiterten Lernraum (Ballhausen, 2012b) oder die Beschreibung des Archivs als dynamisches System und Institutionsform mit gesamtgesellschaftlichen Verantwortungen (Ballhausen, 2014). Ergänzt wird die vorliegende Arbeit um eine bewusst umfassend gehaltene Bibliografie, die sowohl die verwendete Literatur nachweist als auch, im Sinne eines deutlich werdenden Mehrwerts, weiterführende Titel listet. Neben der wissenschaftlich korrekten Nachweisbarkeit des Herangezogenen soll hier eine Einladung zum Weiterlesen und Weiterdenken ausgesprochen sein. Für die eigene Arbeit am Archiv, die einem sensiblen, doch hoffentlich nicht idiosynkratischen Vorsatz gehorcht, steht ein Hinarbeiten auf eine Kritik des Archivs – in all ihren Mehrfachbedeutungen – an. Nachdem das geforderte unbedingte Archiv niemals das bedingungslose sein kann, kann ich, so hoffe und vermute ich, dahingehend gar nicht zu viel wollen. Die gute Wissenschaft ist immer (auch) lustvoll.
Foto: © Josef Navratil
Fangen wir nicht mit dem Anfang an, beginnen wir doch stattdessen mit der Wiederholung des Anfangs im Rahmen eines bemerkenswerten Beispiels, Peter Tscherkasskys L’Arrivée (1998). Dieser
„[…] besteht aus einzeln kontakt-kopierten und im Kopiervorgang bearbeiteten 35mm-Filmstücken. Aber bevor noch ein richtiges Abbild zu sehen ist, sehen wir das Abbild von Blankfilm: nichts – bzw. nur das, was idealer Blankfilm gewiss nicht aufweisen soll: Schmutz, Fehler, Schrammen, vorbeihuschende Schriftzeichen des Unvollkommenen. Speziell im Ton vermittelt sich diese Wahrnehmung: Wir hören eine composition automatique, die aufregende ‚Musik‘, die aus der Unreinheit jedes mechanischen Vorganges entsteht, lange bevor eine bewusste Note, eine bewusste Abbildung gesetzt wird. Dieses ‚Grammophon‘ spielt eine Platte, auf der sich das Eigengeräusch der Maschine zeitgleich aufzeichnet und als kunstfähiges Ereignis darbietet. In weiterer Folge verwendet L’Arrivée Material aus einem in Wien gedrehten Spielfilm namens Mayerling, mit Catherine Deneuve als Mary Vetsera. Man sieht – flüchtig und in Schwarz-weiß – die Ankunft eines Zuges in der Station. Man sieht also, zum zweiten Mal bei Tscherkassky, einen gefälschten Lumière-Film (L’Arrivée d’un train à La Ciotat). Man sieht den ‚Zug‘ der Perforationslöcher, der aus den Schienen springt und gegen andere Züge gejagt wird. Und man sieht den unglaublich, lichterloh psycho-physischen ZUG, den das Kino von seinem ersten Moment an gehabt haben muss […]“ (Horwath, 2005a, 41).
Zwei Hauptthemen des Kinos werden in Tscherkasskys Kurzfilm zusammengeführt: einerseits die Zugreise und die damit verbundene Dynamik der Bewegung, dieser dampfend-erschreckende Ausgangspunkt der Kinematografie, und, andererseits, das nicht weniger erschreckende Phantastische, das sich in den Dreißiger- und Vierzigerjahren zu den unterschiedlichsten Genres des Phantastischen Films ausdifferenzierte. Beide Aspekte verbinden sich darüber hinaus mit dem Archiv, dem Bewahrten. Die Avantgarde – hier mit diesem Beispiel als Beleg – entdeckt die Filmgeschichte auf dem Weg des Archivierten für sich; sie kehrt zu den Ursprüngen des Films zurück, um sich mit den Anfängen der Filmgeschichte und den Traditionen des Mediums zu konfrontieren. Peter Tscherkasskys Arbeit bringt das Publikum dabei an den Geburtsort des Films zurück – einen Bahnhof. Diese Schnittstelle – mal Ankunftsort, mal Startpunkt – ermöglicht es ihm mittels zufällig gefundenen Materials, das subversive Potential und die Qualität des frühen Films in Erinnerung zu rufen. In seiner Re-Memoria mengen sich das Material und auch die Materialität des Films – auf die später noch eingegangen werden wird – in das Dargestellte, beanspruchen einen Platz abseits des dafür vorgesehenen Raums. Im Sinne des Films, des Bahnhofs und des Archivs lässt sich somit sagen: Hier endet es, hier beginnt es – erneut.
Archiv – das ist nicht nur das zu bewahrende und zu reanimierende Material, sondern eben auch das strukturierende Ordnungsprinzip hinter den ebenfalls mit diesem Begriff bezeichneten, durchaus recht unterschiedlichen Institutionsformen. In der Folge soll deshalb nun in acht Passagen ein philosophischer Spaziergang durch die traditionellen und aktuellen Überlegungen und Ansätze unternommen werden: von den Konditionen des Bewahrens, über Fragen der Archivtheorie und des Erinnerungsdiskurses, über die Geschichte und Aufgaben der Filmarchive, schließlich hin zu Fragen der Narrativierung der bewahrenden Strukturen und die Eingebundenheit all dessen in die Dimension der Zeit.
Der Kulturphilosoph Roberto Calasso beschreibt in seinem Buch Der Untergang von Kasch das Verhältnis zwischen Natur und Kultur über die Notwendigkeit des Auswählens und Bewahrens als Akt der Kulturstiftung:
„Der Überschuß ist das Mehr der Natur im Verhältnis zur Kultur. Er ist jener Teil der Natur, den die Kultur zu verspielen, zu verbrauchen, zu zerstören und zu weihen genötigt ist. Im Umgang mit diesem Überschuß zeichnet jede Kultur ein Bild der eigenen Physiognomie. Das Gesetz neigt zur Monotonie, seine Variationen sind kläglich, wenn man sie mit der üppigen Vielfalt der Formen vergleicht. Und die Formen bilden den Fächer der Opferspielmöglichkeiten. Das Opfer ist unserer Physiologie eingeschrieben: Jede Ordnung – ob biologischer oder sozialer Art – beruht auf einer Aussonderung, auf einem gewissen Quantum verbrannter Energie, denn die Ordnung muß kleiner sein als das Ordnende. Die einzige Ordnung ohne sichtbare Aussonderung wäre eine, die dem pflanzlichen Stoffwechsel gliche. Das wäre eine Kultur, die Bestand hätte, ohne sich auf einen Unterschied zu gründen, also ohne sich überhaupt auf etwas zu gründen: eine Kultur, die vom Rascheln eines Baumes nicht zu unterscheiden wäre“ (Calasso, 2002, 180).
Besagte Tätigkeit lässt sich aber auch als Archivstiftung lesen, in der die Natürlichkeit des Materials (das Ordnende bzw. das zu Ordnende) und das Archiv als System (die Ordnung) miteinander verschaltet werden. In der zitierten Passage sind das Verspielen, das Verbrauchen und das Zerstören besonders auffällige Schlagworte; Calasso denkt an dieser Stelle seines bemerkenswerten Werkes von der Position des Opfers und der Opferung her. Dieser Prozess der (Auf-)Opferung, der immer häufiger auch eher wirtschaftlich denn kulturell gedacht wird, beeinflusst mit seiner Beschleunigung die „Dauer des Erbes“ (Derrida, 2005, 41) durchaus auch ungünstig. Wesentlicher und auch positiver für vorliegende Ausführungen ist das von ihm ebenfalls beschworene Weihen, also eine im Sinne Heideggers sinn- und kunststiftende Funktion des Bewahrens, die im Wechselverhältnis zur Beschaffenheit des zu bewahrenden Gutes steht: Auch das Material gibt die Konditionen des Bewahrens vor (Heidegger, 1963, 56–58).
Erinnerungsdiskurs und Archivsystem – das sind die beiden Gesichter eines janusköpfigen Kindes der Moderne, die uns im besten und vielfältigsten Sinne des Wortes als Depots unterschiedlicher, doch miteinander verknüpfter Wirkungsweisen entgegentreten. Basierend auf antiken Quellen hat die Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung zwar eine lange Tradition, doch wesentliche Veränderungen kamen hier – ebenso wie die aus ihrem wirtschaftlichen oder juristischen Primärumfeld herausgelösten Archive – erst im frühen 20. Jahrhundert. Bedingt durch zeitgeschichtliche Zäsuren und die Entwicklungen auf dem Feld der Technik sind diese beiden Bereiche wieder verstärkt in den Blickpunkt unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen gerückt – geprägt nicht nur von konstruktiven Auseinandersetzungen, sondern auch von oft schwierigen, doch dringend notwendigen Diskussionen um wissenschaftsgeschichtliche Aspekte der wesentlich weniger erfreulichen Art: Vergessen, Verdrängung, Verzerrung.
Der Wunsch nach einer Verlebendigung des Bewahrten und einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in unserer (Diskurs-)Gegenwart, die auf eine angenommene Zukunft hinarbeitet, durchaus unterstützenswert:
„Der Wunsch von Individuen oder Gemeinschaften, sich eine andere Vergangenheit zu geben oder Teile der eigenen Vergangenheit neu zu entdecken und zu bewerten, macht aber auch auf eine andere Möglichkeit der Archive im Umgang mit Vergangenheit aufmerksam, nämlich jene, die Teile des kollektiven Gedächtnisses, über die sie verfügen, neu anzuordnen und in einen neuen Sinnzusammenhang einzufügen“ (Auer, 2000, 62).
Diese Arbeitsweise war besonders für Aby Warburg, der neben Maurice Halbwachs als einer der wichtigsten Vertreter des uns heute vertrauten Erinnerungsdiskurses gelten kann, von Bedeutung. Während der Soziologe Halbwachs in seinen Schriften zum Erinnerungsdiskurs die soziale Bedingtheit des kollektiven Gedächtnisses in das Zentrum seiner Überlegungen stellte, vertrat der Kunsthistoriker Warburg die Auffassung einer auf Symbolen basierten Kultur, deren daran angeschlossenes kollektives Gedächtnis je nach Zeit und Ort aktualisiert und verändert werden würde. In seiner induktiven, vom Material diktierten Herangehensweise kann Warburgs Ansatz als postmodernes Vorzeichen eines – im homonymen Sinne – überaus modernen Vertreters gelten, auf den auch noch neueste erinnerungsspezifische Theorien rekurrieren. Besonders deutlich wird dabei die Methode einer fächerübergreifenden Herangehensweise, die sowohl Halbwachs als auch Warburgs Methoden kennzeichnet und auch das Verhältnis von Erinnerungsdiskurs und Archivsystem ganz deutlich mitbestimmt:
„Gedächtnis und Depot verweisen aufeinander, so wie Erinnerung und Exponieren aufeinander verweisen. Das aber heißt, daß Akte des aktiven Erinnerns in Form des Exponierens und des Aktivierens von gespeichertem und magaziniertem Material eines aktuellen Rahmens […] bedürfen. Mit der Rahmung erfolgt eine Redimensionierung von Relikten der Vergangenheit aus der Sicht und der Interessenskonstellation einer jeweiligen Gegenwart: Erst das Exponieren macht aus dem Zeugs den Zeugen, erst in der Auf- und Gegenüberstellung wird der Zeuge aussagefähig, erst im Kreuzverhör der Ex-, Juxta- und Kontraposition wird der Zeuge zur Auskunft veranlasst“ (Korff, 2000, 45).
Das Archiv steht für eine geordnete Sammlung, die, abseits ihrer stark auf den wirtschaftlichen Bereich fokussierten Ausrichtung, in den letzten Jahrzehnten immer häufiger in konstruktiver Verbindung zu den Bereichen des Museums und der Bibliothek gedacht und konzipiert wird. Dies liegt neben der Praktikabilität der Verknüpfung wohl zu einem Gutteil auch daran, dass diese Institutionsformen zumeist ebenfalls interne Archive ausbildeten, um heterogene Teilbestände adäquat aufarbeiten und verwalten zu können. Abseits der klassischen Sammlungsinhalte, wie etwa dem Medium Buch (für die Bibliothek) oder dem mehr oder minder singulären Objekt (für das Museum), fanden etwa Nachlässe oder nicht-publiziertes Material ihren Weg in diese Institutionen. Die Herausforderung der Datenerfassung, der Bewahrung und sachgerechten Aufarbeitung verlangte und verlangt nach einem archivalischen Zugang innerhalb erwähnter sammlungsspezifischer Strukturen. Die Bewahrung der Bestände kann dabei als die wohl dringlichste Aufgabe verstanden werden:
„Ungeachtet aller Zufälle und Wechselfälle der Überlieferung bleibt das Bewahren natürlich konstitutives Element und wesentlichste Funktion der Archive. Darin besteht ihr wichtigster Beitrag zur Bewahrung von Gedächtnis, daß sie Vergangenes erhalten und Vergessenes neu ans Licht bringen“ (Auer, 2000, 61).
Dieser wissenschaftlich unterfütterte Vorgang der Rückgewinnung des Vergessenen, Vergangenen und auch Verdrängten kann nur im Sinne einer Balance zwischen Bewahren und Zugänglichmachen der Bestände – so ihre Beschaffenheit dies zulässt – gedacht und gelebt werden.
Das Archiv – das gleichermaßen System der Ordnung und eigentliche Sammlung ist, die durch ein differenzschaffendes Scharnierelement administrativer, submedialer Prozesse verbunden sind – kann auf diesem Weg als Ort der intellektuellen Wertschöpfung begriffen werden, der durch seine heterogenen Bestände vor-geprägt ist. Die unterschiedlichsten Arten des Bestandes sind dabei eben nicht nur wesentliches Kennzeichen, sondern vielmehr auch eine positiv wirksame Rahmenbedingung für den Umgang mit dem jeweiligen Material und Vorgabe gewisser Grundlinien diskursiver Arbeiten und Herangehensweisen. So kann abseits von fälschlich unterstelltem Selbstzweck über eine andauernde Neubewertung nicht nur ein umfassenderes, besseres Verständnis der eigenen Disziplin und neuerer Entwicklungen, sondern auch ein kritisches Analyseinstrumentarium umfassenderer sozialer Prozesse gewonnen werden. Die konsequente Befragung der gegebenen Sammlungsbestände – was also etwa noch als Ausstellungsexponat tauglich ist oder aber eben schon Teil einer disziplinhistorischen Auseinandersetzung gilt – kann eben nicht im engen Verständnis einer als allumfassend missverstandenen Hermeneutik der endgültigen und immerwährenden Ergebnisse stattfinden. Vielmehr verlangt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Erinnerung und Archiv nach einer – im poststrukturalistischen Sinne – Kette miteinander verknüpfter Auslegungen, die auch die Geschichte des eigenen Arbeitsfeldes befruchten und vorantreiben. Trotz der mitunter kritisch zu betrachtenden Ausrichtung dieser interpretativen Verfahrensweise, ist diese doch die geeignetste, um die Veränderung des Stellenwertes des erfassten Materials in Bezug zu einer – im Sinne von Hans Robert Jauß – in narrativen Formen organisierten (Disziplin-)Geschichtsschreibung und hinsichtlich aktueller Fragestellungen aufzuzeigen: „Der wissenschaftliche Wert eines Untersuchungsgegenstandes erschließt sich erst in Bezug auf jenes Fragenfeld, auf das zu antworten es erlaubt und damit die Grenzen seiner Aussagekräftigkeit bestimmt“ (Ernst, 2002, 119). Zu berücksichtigen bleibt dahingehend auch die disziplininterne Bedeutungszuschreibung im Rahmen einer zweifachen Bewegung: Die erste dieser Bewegungen ist die Herausentwicklung des jeweiligen Artefakts aus einer der Entropie verhafteten Phase der Unordnung, des Chaos’, vielleicht sogar des Mülls (Thompson, 2003) in einen Zustand der Aufwertung. Die zweite, daran wohl zumeist anschließende Bewegung ist die einer – auch mnemotechnisch relevanten (Yates, 1990, 336ff.) – Zirkulation von Semantisierungsleistungen im Rahmen der Auseinandersetzung mit Sammlungsbeständen und Einzelobjekten, einem Diskurs im Sinne eines Oszillierens zwischen zwei Spannungspunkten: „Archivalien sind also keine Frage von Vergangenheit, sondern einer Logistik, deren Koordination quer zur Beobachterdifferenz von Gegenwart und Vergangenheit liegt – eine kybernetische Funktion von Latenz und Aktualisierung“ (Ernst, 2002, 120f.).
Diese intellektuell-logistische Leistung schließt auch Bedeutungsverschiebungen und (Neu-)Bewertungen mit ein: „Charakteristisch für diese Archivästhetik ist die Semantisierung einer institutionellen Organisation durch die Hermeneutik des Organismus, mithin also die Anthropomorphisierung eines Apparates durch Lebensphilosophie […]“ (Ernst, 2002, 88). Auch hinsichtlich der (metaphorischen) blinden Flecken, die sich durch die Eingebundenheit in ein System ergeben – also im weitesten Sinne eine quantenmechanische Bezüglichkeit im Sinne von Position, Beobachtung und zu verrichtender Arbeit –, kann das Erkennen dieser Position, ganz im Sinne einer weiterführenden Verbindung von Rationalität und Sammlung, zu einer Erkenntnis der Teilhabe an historischen bzw. historisierenden Prozessen führen. Dabei ist es ja durchaus erstrebenswert, die Gegenwärtigkeit dieser mnemotechnischen Archivarbeit dabei nicht aus den Augen zu verlieren, also an aktuellen Diskursen zu partizipieren und dem dringlichsten Wunsch der Archive nachzukommen: einem delirierenden Zustand zu entkommen und auf eine Ordnung zuzusteuern, die in der Lage ist, sich selbst kritisch zu befragen und der eigenen Disziplin sinnvolle Möglichkeiten der Unterstützung und der (Selbst-)Reflexion im Sinne einer metaphorischen Registratur bieten zu können. Dies gilt auch in einem umfassenden Sinne für die in den Institutionen tätigen Personen, die durch ihre Tätigkeit immer auch im Archivdiskurs mitgemeint und miteingeschrieben sind. Sie sind somit die Verantwortlichen, die mit ihrer Leistung dazu beitragen müssen, dass – ganz im Sinne des zitierten Calassos – Kultur und Blätterrauschen unterscheidbar bleibt:
„Archive stellen einen wichtigen Teil des kollektiven Gedächtnisses dar oder vielmehr, sie enthalten die Bausteine, aus denen dieses Gedächtnis immer wieder neu zusammengesetzt und zum Leben erweckt werden kann. […] Daß Archive nur einen wenn auch wichtigen Teil des kollektiven Gedächtnisses darstellen, gilt in mehrfacher Hinsicht. Sie teilen sich diese Funktion mit anderen Institutionen, mit Bibliotheken, Museen, der lebendigen Tradition, kurz mit allem, was Erinnerung stiften und bewahren kann. Teil sind sie aber auch in einem anderen Sinne. Archive bewahren den schriftlichen Niederschlag von Geschehenem, der, wie es in einer gängigen Definition heißt, bei Personen oder Institutionen in Ausübung ihrer Funktionen erwächst“ (Auer, 2000, 57).
Filmarchive waren in ihrer Urform, also während der frühen Jahre der Kinematografie, zumeist von Einzelpersonen getragen worden. Doch schon in der Prä-Kino-Zeit gibt es den Wunsch nach der dauerhaften Aufbewahrung: So fordert W. K. L. Dickinson, der Miterfinder des Kinetoskops, bereits 1894 eine Möglichkeit zur Erhaltung der von ihm projizierten vitalized pictures (Bottomore, 2002, 86). In Europa wurde ab Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt auch auf den Wert der Bewegtbilder aufmerksam gemacht. So brachte die Fachzeitschrift Kinematographische Rundschau bereits im Mai 1907 den Wiederabdruck eines Artikels des Berliner Tagblatts, in dem erstmals recht ausführlich die Vorteile sogenannter „Kinematographischer Archive“ vorgestellt wurden:
„Ernst v. Bergmanns Stimme ist der Nachwelt erhalten geblieben. Wenige Wochen vor seinem Tode hat der grosse Gelehrte ein Stück aus seiner Familienchronik in ein Grammophon hineingesprochen, und man ist nun imstande, immer wieder Ernst v. Bergmanns Stimme zu hören, der der akzentuierte baltische Dialekt eine so eigenartige Färbung gab. Um wieviel interessanter und vor allem für die Wissenschaft bedeutungsvoller wäre es, wenn man eine Operation Bergmanns kinematographisch festgehalten hätte, wenn in späteren Zeiten die Studenten der Medizin noch sehen könnten, wie der Meister der Chirurgie seinen Eingriff in den kranken Körper vollzog. Es gibt bereits in mehreren Staaten phonographische Archive, in denen die Stimmen vieler Grosser für die Nachwelt aufbewahrt werden. Es soll nun hier die Anregung gegeben werden, in entsprechender Weise auch kinematographische Archive einzurichten, in denen, wie dort die Grammophonplatten, Films, auf denen wichtige und interessante Ereignisse in lebendiger Beweglichkeit festgehalten sind, aufbewahrt werden. Der Phonograph ist über das Spielzeug bereits hinausgewachsen, und auch der Kinematograph hört jetzt auf, nur ein kurioser Apparat zu sein, dessen Wirksamkeit man im Variété oder in einem eigens zu diesem Zweck eingerichteten Theater bestaunt oder belacht. Das bewegliche Lichtbild ist vielmehr bei richtiger Auswahl der Objekte imstande, viel Aufklärung in der Gegenwart zu verbreiten und ausserordentliche Belehrung in die Zukunft zu tragen. Für die Kulturgeschichte würde mit dem kinematographischen Archiv eine neue Ära anbrechen. Wie blass sind die schönsten Beschreibungen vergangener Zustände gegenüber ihrer Aufbewahrung im lebendigen Bild. Wie heute auf einer grossen Station ein Zug abgefertigt, wie die Feuerwehr arbeitet, wie die Leipzigerstrasse an einem Geschäftsnachmittag aussieht – alle diese und ähnliche Momente aus der Entwicklungsgeschichte kann man den kommenden Geschlechtern durch den Kinematographen lebendig erhalten. Solche Aufnahmen zum Beispiel in Berlin systematisch durchgeführt, könnten noch nach Jahrhunderten ein völlig klares Bild von dem gegenwärtigen Zustand der Reichshauptstadt geben und damit den Forschern unendlich wertvolles Material in die Hände liefern. Für die Wirksamkeit des kinematographischen Archivs gibt es, wenn es ernsthaft angegriffen wird, gar keine Grenzen. Und sein Nutzen liegt so klar zutage, dass die Anregung wohl nur gegeben zu werden braucht, um geeignete Kreise dafür zu interessieren“ (o.A., 1907, 3).
Weiterführende Ansätze und Ideen zur möglichen Archivierung von Filmen formulierten der in Paris beheimatete Pole Bolesław Matuszewski und sein deutscher Kollege Hermann Häfker. Beide gelten zu Recht als Pioniere auf diesem Gebiet, die auf die gesellschaftliche Notwendigkeit der Aufbewahrung filmischer Quellen aufmerksam machen wollten. War Matuszewski, der bereits 1898 sein Buch Une nouvelle source de l’histoire – création d’un dépôt cinématographie historique vorlegte, noch mehr darauf bedacht, Film als historisch wertvolle Quelle zu etablieren, formulierte Häfker in seiner 1915 erschienenen Schrift Das Kino und die Gebildeten bereits mögliche Aufgaben und Probleme noch einzurichtender Archive und Depots. Seine klar formulierten Strategien waren vor allem Konzepte der Bewahrung, die, gemessen am technischen Stand seiner Zeit, als durchaus fortschrittlich gelten können. Während des Ersten Weltkrieges stand aus naheliegenden Gründen vor allem der physische Schutz des Materials im Vordergrund und weniger ein Ausbau der bestehenden Sammlungen. Die Überlieferungssituation dieser historischen Phase, mit der die Filmarchive konfrontiert sind, ist eine äußerst schwierige, wurden doch kurz nach dem Ende des Krieges in den besiegten Ländern umfangreiche Film- und Dokumentenbestände – vor allem aus den Bereichen der kriegsspezifischen (Film-)Berichterstattung – vernichtet.