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Als die Weltraumpionierin Sil den neu entdeckten Planeten Thera zur Erschließung erreicht, ahnt sie nicht, in welch große Gefahr sie und ihre Kameraden geraten sind. Auf ihrer Erkundungstour stößt sie nicht nur auf die zahlreichen Rätsel der therischen Vergangenheit, sondern auch auf die Erkenntnis, dass trotz seiner wüstenhaften Oberfläche ein mystisches Wesen aus uralter Zeit überlebte. Schnell merkt sie, dass diese fremdartige Lebensform alles andere im Sinn hat, als ihre Mission zu unterstützen ...
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Seitenzahl: 423
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Die Saat des Lebens
Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ich lege größten Wert darauf, keinen Bezug zum aktuellen Tagesgeschehen, Orten, Themen oder Personen herzustellen.
Mein Dank gilt allen Personen und Ereignissen, die diesem Buch zur Geburt verhalfen.
Peter Rupprecht
Kapitel 1 Wenn ein Küken schlüpft
Kapitel 2 Tell Omega
Kapitel 3 Im Feld
Kapitel 4 Der goldene Mann
Kapitel 5 Der Nukleus
Kapitel 6 Himmelwärts
Kapitel 7 Erwachen
Obwohl wir frei denken und handeln können, werden wir doch, wie die Sterne am Firmament, mit Verbindungen untereinander untrennbar zusammengehalten. Diese Verbindungen kann man nicht sehen, aber wir spüren sie.
(Nikola Tesla, Erfinder, Physiker und Elektroingenieur)
Golden bricht sich das Licht der Sonne in Dir.
Einst aus Tränen von Bäumen geboren,
getrocknet an Luft und Wind,
versteinert im Schoß der Erde,
freigelegt von der Kraft des Meeres
und von dessen Strömung an Land getragen
wartest du, halb versunken im Sand der Zeit,
auf deine Wiederkehr,
nur um im Feuer unterzugehen.
Peter Rupprecht
Sil fühlte sich hundeelend. Sie glaubte, dass in jedem Moment ihr Schädel in tausend Teile zersprang, als sei er ein pfeifender Teekessel mit kochendem Wasser über dem Feuer. Überdies war ihr speiübel. Innerlich kreiselte es, wie in einer kleinen Windhose, in die sie einmal als Kind hineingeriet, als sie in der Wüste unweit ihres Elternhauses mit einem frisch geschnittenen Baumzweig nach einer Wasserader suchte. In der nächsten Zeit bekam sie ohnehin keinen Fuß hoch. Geschweige denn, dass sie zu einem klaren Gedanken fähig wäre. Dennoch wusste sie, dass dieses absonderliche Gefühl ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung in ihrer gegenwärtigen Situation völlig normal war.
Auf der Akademie von Ceti e bereitete man sie intensiv auf den Moment ihrer Landung auf Thera vor. Einem Planeten, den es für die Besiedlung durch Kolonisten zu erschließen galt. Sie wusste um die Wirkung der Kryoniktechnik auf ihre Befindlichkeit und auch, was sie zu tun hatte, wenn die Planetenpioniere sie aus dem nach seiner Form benannten Kryonikei bargen.
Nur allmählich wich das entsetzliche Pochen aus ihrem Gehirn, den der unangenehme Aufwachprozess nach ihrer Reise durch den ewigen Raum verursachte. Seit sie vor etwa zwei Jahren den Planeten Ceti, genauer gesagt Ceti e, verlies und in den kryonischen Tiefschlaf versetzt wurde, unterdrückte eine Droge ihr Schmerzempfinden. Nun aber, seit der Mutterwirbel im Orbit des Planeten Thera ihr Transportmittel wie der Fänger eines Baseballs aufnahm, leitete die automatische Steuerung des Eis ihren Aufwachprozess ein. Das von den Planetenpionieren so genannte „Schlüpfen“ begann.
Die Bezeichnung des „Auftauens“ traf die Prozedur wohl eher. Es fühlte sich körperlich an, wie wenn man zu schnell zu viel Speiseeis verschlang und sich der Leib gegen das massive Kälteempfinden mit heftigen Kopfschmerzen wehrte. Den Eintritt ihres Kryonikeis in die Atmosphäre von Thera selbst spürte sie hingegen nicht. Auch nicht die enorme Hitzeentwicklung, die die Reibung der äußeren Lufthülle Theras auf der dünnschaligen Oberfläche ihres Reisemittels verursachte. Erst als der Fallschirm ihres Kryonikeis den Sturz durch die einzelnen Luftschichten abbremste, spürte sie wieder etwas. Zuerst einen kleinen Ruck, ausgelöst von dem sich rasch entfaltendem Fallschirm. Dann ihren abgebremsten Fall selbst und jene höllischen Kopfschmerzen, die immerhin allmählich abflauten. Letztere hätten sie normalerweise laut aufstöhnen lassen, wenn nicht das glitschige Kryonikgel in ihren Mund hineinlief. Eingelegt in dieser durchsichtigen Paste verbrachte jeder Reisende so seinem Transport durch das All. Sein Vorteil lag nicht nur in seiner Schutzwirkung vor der kosmischen Strahlung. Wurde das Ei während des Fluges undicht, verschloss das Gel die Risse und es hielt vor allem der Hitzeentwicklung beim Eintritt in die Atmosphäre des Ankunftsplaneten stand. Beim Öffnen ihrer Lippen schwappte die bitter schmeckende Isolierpaste unversehens in ihren Schlund hinein und erreichte sogar ihren Magen. Die dadurch verursachte Übelkeit brachte jeden Reisenden nach seiner Landung zum Erbrechen. Wenn ihr Ei auf die therische Oberfläche auftraf, handelten ihre bereitstehenden Kameraden allein aus diesem Grund sehr schnell. Alleine und ohne Hilfe von außen, befreite sich die Weltraumreisende nicht aus dem Ei.
Ein ähnliches Gefühl wie jetzt erfasste Sil schon einmal in ihrem Leben. Nämlich an dem Tag, als sich herauskristallisierte, dass sie eine sogenannte „Wasserfühlige“ war. Dieser seltenen Begabung verdankte sie auch ihre Reise nach Thera. Als sie vor gut zwanzig Jahren auf Ceti e das Licht der Welt erblickte, deutete noch nichts auf ihr späteres Talent hin. Ihren Eltern selbst fielen in ihren ersten Lebensjahren lediglich ihre kaminroten Haupthaare auf. Auch die ungewöhnliche Blässe ihrer samtweichen Haut sowie eine ausgeprägte Temperatur- und Feinfühligkeit ihres Körpers waren als besondere Merkmale zu nennen. Aber in welchem Zusammenhang es mit ihrer Wasserfühligkeit stand, zeigte sich erst im weiteren Verlauf ihrer Kindheit. Das Schicksal vertraute ihr für wahr einen einzigartigen Schatz an. Eine äußerst eigenwillige Gabe. Was eine „Wasserfühlige“ zu einer „Wasserfühligen“ machte, beschreibt sich am Besten mit dem tiefgreifenden Erlebnis, das zu Sils späterer Berufung beitrug.
Der Ort auf Ceti e, an dem Sil ihre ersten Schritte tat, lag in einem der dicht bewaldeten Gebirgszüge des doch sehr klimatisch abwechslungsreichen Planeten. Ceti e glich in vielen Umständen dem Ursprungsplaneten Gaia. Sein Zentralgestirn, auch Tau Ceti genannt, bestrahlte den Planeten in einem ähnlichen Licht, wie die irdische Sonne. Unweit ihres Hauses stürzte ein reißerischer Gebirgsbach durch eine enge Klamm talwärts. An dessen schroffen Ufern standen hohe Kiefern und Fichten, die durch ihren dichten Schatten das kristallklare Gewässer in der Schlucht auf seinem Weg ins Tal kühl hielten. Der Bach selbst entsprang unterhalb eines ausladenden Gletschers weiter oben in den Bergen und führte neben dem kieseligen Sediment folglich zu Beginn seines Weges ein sehr klares aber auch recht kaltes Wasser mit sich. Seine facettenreichen Verwirbelungen und das glitzernde Lichterspiel Tau Cetis auf seinem unruhigen Wassern faszinierten das Mädchen schon, seit sie seinen Lauf zum ersten Mal erblickte. Gerade das morgendliche Licht der Sonne schillerte funkelnd hell darin, weswegen sie nicht selten bei Sonnenaufgang dem wirbelnden Gewässer auf ihrem Weg zur Schule ihre Aufmerksamkeit schenkte. In ihrer freien Zeit verweilte Sil oft stundenlang an ihm, um seinem lebhaften Element bei dieser Etappe auf seiner Reise bis zum großen Meer zuzusehen. Eingenebelt von dem rauschenden Donner und den feinen Wasserspritzern, die seine unmittelbare Luft erfüllte. Den Endpunkt des bis dahin zum Strom angeschwollenen Baches, das Meer, kannte sie bis dahin nur von den Bildern und den Erzählungen ihrer Eltern, wenn sie ihr den digitalen Atlas von Ceti e zeigten. Um die unheimlichen Kräfte des Gewässers zu ergründen, warf Sil zuerst dünne Zweige oder Laub in seinem reißerischen Lauf hinein. Interessiert sah sie dann mit ihrem scharfen Blick den schwimmenden Stückchen bei ihrem wirbelnden Tanz auf der unruhigen Oberfläche des Gewässers zu. Ihr kam es vor, als spielte der Bach mit ihnen wie ein Kind und ihr war, als ob eine unergründliche alte Seele in ihm ruhte.
Sil besaß ohnehin eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe für Bewegungen. Vor allem für das fließende Wasser. Sie beäugte mit ihren kristallblauen Augen von oben seine zahlreichen Verwirbelungen, seine energetische Strömung, sein säuselndes Plätschern, seine vielschichtige Emotion, sein tiefes Gefühl. Schon immer faszinierte es sie, wie es die kleinen Fische in diesem schnell fließenden Gewässer schafften, gegen die starke Strömung anzuschwimmen. Auch verharrten sie, scheinbar problemlos an Ort und Stelle, während gut sichtbar das Wasser an ihnen in einem atemberaubenden Tempo vorbei zog. Interessanterweise gab es auch eine, wenn auch schwache, gegenläufige Strömung der Fließrichtung, deren Ursache sie bis da noch nicht kannte.
Obwohl es ihre Eltern streng verboten, folgte sie seinem Lauf bis zur Quelle unterhalb des Gletschers. Nur, um von dort aus fasziniert seiner Geburt aus dem mineralhaltigen Gestein der Tiefe zuzusehen.
Diese Zuneigung an sich erklärt zwar noch nicht, was Sil zu einer „Wasserfühligen“ machte. Dies ist jedoch wichtig zu verstehen, um die Wirkung des Unfalls nachzuvollziehen, der ihr im Alter von etwa zehn Jahren widerfuhr. Er brachte sie gewaltsam mit den kalten Fluten des Rinnsaals in Verbindung und beinahe auch zu ihrem vorzeitigen Ableben. Ihr leichtsinniger Erforscherdrang ließ das Mädchen öfter den Bach auf seinen schlüpfrigen Steinen queren, was aufgrund der hohen Anzahl nicht immer glücklich verlief. Meist aber stand sie nur bis zu den Knöcheln im Bachbett oder einmal riss sie sogar die Strömung etwas mit. Bei diesen heftigeren Fehltritten zog sie sich aber mit einem Griff nach einer Baumwurzel selbst wieder aus dem Bachlauf hinaus. Klatschnass geworden und frierend, nahm sie widerwillig von ihren Eltern zu Hause eine Gardinenpredigt entgegen. Sie solle aufhören, mit dem Bach herumzuspielen. So ein kühles Gewässer ist gefährlich und unberechenbar. Aber gerade das weckte umso mehr die Neugier in ihr. Ihre Eltern begannen sich Sorgen um die Furchtlosigkeit ihres Kindes, hinsichtlich des wirbelnden Wassers zu machen. Ihr Forschungseifer an dem kalten Gewässer erwies sich stärker, als die Achtung vor seinen Risiken.
An dem Tag ihres Unfalls stand die Sonne zu diesem Zeitpunkt tief am Horizont. Die Schatten der hohen Kiefern verdeckten den Lauf des Baches, was ihn zu dieser späten Stunde besonders kühl machte. Sil befand sich auf dem Rückweg von der Gletscherquelle und freute sich gewisserweise auf eine heiße Schokolade zu Hause vor dem Kamin. So war sie mit ihrem Kopf nicht da, wo sie sich gerade befand. Es war schon spät, weshalb sie sich auch eilte. Ihr Ausrutschen auf dem glitschigen Stein in der Mitte des Baches, als sie versuchte seinen Lauf zu queren und ihr Hineinfallen in die rauschende Flut, machte da nur den geringsten Anteil ihrer einprägenden Erfahrung an jenem Tag aus. Ein Gefühl, ähnlich wie in der Aufwachphase heute auf Thera, lief ihr damals das kalte Wasser in die Kehle hinein und füllte ihre Lungen. Die Wärme ihres Körpers entwich schnell und sie passte sich der Temperatur des Baches an. Es raubte ihr die Luft. Hätte sie ihr Vater nicht bereits gesucht und intuitiv bachaufwärts nach ihr gesehen, wäre es um sie geschehen. So fand er sie rechtzeitig und fischte seine Tochter mit starkem Griff aus dem kühlen Bach hinaus. Fast so, als wollte eine Fügung, dass sie noch leben sollte, packte ihr Vater sie an den Füßen und holte sie ans rettende Ufer. Er klopfte ihr mit heftigen Schlägen das kalte Wasser aus den Lungen und brachte sie mit derben Ohrfeigen wieder ins Leben zurück. Er drückte sie an sich, um ihr Wärme zu geben. Dem kalten Gewässer entkommen, kehrte die Lebenswärme in ihren Leib wieder ein und sie vernahm die aufbrausende Stimme ihres Vaters, welche voller Sorge und Vorwürfe wegen ihres Leichtsinns erklang. Doch seine schmerzliche Wut war es nicht, was Sil in den nächsten Tagen im Geiste umtrieb. Vielmehr war es ihr kurzes Erlebnis während ihres langsamen Ertrinkens in jenem Bach, dessen Bedeutung für ihr künftiges Leben sie in diesem Alter noch nicht zu deuten wusste.
Als ihr die Kühle des Gewässers in den Kopf stieg und ihr Bewusstsein schwand, glaubte sie ihren Geist in ihm zu verlieren. Er versuchte sich, mit dem des Wassers zu verbinden. Aber der Bach wollte ihn nicht. Er sprach zu ihm. Mit seinem mystischen Säuseln. Seinem verfremdeten Geräusch, seiner fidelen Lebendigkeit. Seinem leisen Wispern. So, als ob diese Flüssigkeit reines Blut, ja Teil des Organismus des Planeten Ceti e und somit des Lebens auf ihm oder vielleicht sogar darüber hinaus wäre. Die unverkennbare Handschrift eines unendlich tiefen und vielschichtigen Charakters. Sehr Alt. Ein einziges lebendiges Wesen, ein einziger Organismus mit großem Gefühl und unendlicher Empathie. Doch als Sil fühlte, dass das Wasser ihren Geist verschmähte, wusste sie, dass es noch nicht Zeit war, bei ihm zu bleiben, sich mit seiner Seele zu verbinden und hinauf zum Gletscher und in den Himmel zu ziehen. Gerade in diesem Moment zog ihr Vater sie aus dem Wasser heraus und reanimierte sie mit seinen wuchtigen Schlägen. Sil fühlte dessen furchtbare Angst. Seine große Sorge um sie. Und als er wütend mit seinen Ermahnungen über sie hereinbrach, so wusste Sil doch, dass er dies aus reiner Liebe zu ihr tat. Noch ehe sie sich auch zu Hause vor ihrer Mutter für ihren Leichtsinn rechtfertigte, erhielt sie von ihr einen Klaps, um anschließend von ihr vor Erleichterung in den Arm genommen zu werden. Sie weinte vor Sorge. Dabei erzählte ihre Mutter von einer uralten Sage, die einst die Pioniere mit dem kalten Gebirgsbach vor ihrem Haus verbanden. Demnach zögen die Seelen der Toten in ihm zu der Quelle in den Bergen hinauf, um von dort in den Himmel zu gelangen. Wäre ihr Vater nicht gewesen, hätte sie mit ihnen ziehen müssen. War dies nicht genau auch die Botschaft des Baches an sie? Es stimmte, was sie von dem Blut des Lebens selbst vernahm. Gegen den Strom ziehen? Nach oben in den Himmel? War dies überhaupt möglich? Wenn man mit der physikalischen Seite dies bedachte, verkäme er zum Ansatz der Unmöglichkeit. Aber hier ging es um den Geist des Lebendigen, der nach dem Tod körperlos entgegen der elementaren Fließrichtung wanderte.
Seither betrachtete Sil den geheimnisvollen Bach vor ihrem Haus mit anderen Augen. Sein säuselndes Plätschern glich einem mystischen Lied, seine verschiedenen Strömungen der reinen pulsierenden Lebensenergie. Seine einzelnen Spritzer wirkten wie die Tropfen des Blutes des ganzen planetaren Organismus Cetis. Ähnlich des Blutkreislaufs in ihren Adern, hielt sich auch der Wasserkreislauf zwischen Himmel und Erde in Schwung. Als Pumpe und Antrieb dienten da die Sonne Tau Ceti und durch ihre Einstrahlung von ihr erzeugten Winde Cetis, welche das Wasser nach seiner Verdunstung zu Wolken, über den Planeten verteilten. Lange hielt die Aufnahme der neuen Eindrücke über den Geist des Baches nicht an, denn ihre Eltern beschlossen, wegen ihres Leichtsinns umzuziehen. Sie setzten ihr Kind nicht weiter einer solchen trügerischen Gefahr aus. Erst recht, wenn sie direkt vor der eigenen Haustüre lag.
So verschlug sie es in eine trockene Gegend auf Ceti e, die nun sehr ihrem gegenwärtigen Ankunftsort auf Thera glich. Hier gab es keine hohen Berge, keine reißenden Bäche, keine tiefen Seen oder tosende Wasserfälle. Und erst recht keinen Gletscher mit dazugehörigem Gebirgszug. Eher porösen Fels, feinkörnige Sanddünen und eine nur spärlich vorhandene Vegetation. Hauptsächlich bestehend aus Kakteen verschiedenster Größen und Formen. Lediglich die an dem blanken Fels anhaftenden Flechten erinnerten entfernt an Wasser, denn jene lebten von dem feuchten Nebel, der sich am Morgen über die wüstenhafte Landschaft legte. Und das auch nur deshalb, weil fein zerstäubter Dunst vom entfernten Meer aufstieg und ihn der böige Seewind weit ins Landesinnere hinein trug. Die genügsamen Gewächse stellten sich auf ihre karge Nahrung aus der Luft ein und trotzten mit ihrer Anhaftung an den Felsen den warmen Winden, der aus der Wüste kam und die zahlreichen Sanddünen vor sich hertrieb. In ihrer neuen Heimat vermisste Sil den lebendigen Bach. Ihr fehlte dessen ungebändigte Energie, seine Vitalität und Fröhlichkeit. Vergeblich danach suchend wanderte sie zeitverloren zwischen den großen Sanddünen in der Nähe ihrer Siedlung umher. Hoffend so etwas wie ein fließendes Gewässer oder gar eine Oase zu finden, dass es in dieser Wüste so nicht gab. Lediglich die großen Sanddünen erinnerten sie entfernt an Meereswellen. Nur, dass der scharfe Wüstenwind sie formte und bei Sturm einen regelrechten Schleier aus den einzelnen Körnern webte.
Gerade hier in dieser trostlosen Einöde lernte Sil zum ersten Mal die „Baumfühligen“ kennen. Eine andere Art der Fühligen, von denen sie damals noch nicht wusste, dass ihr von der Natur mitgegebenes Talent eine Gemeinsamkeit in sich trug. Die Baumfühligen betrieben hier eine Plantage und züchteten dort Bäume groß, die sich für die Kultivierung in trockenen Gebieten eigneten. So eine Anlage in einer lebensfeindlichen Umgebung zog zwangsläufig Sils Interesse auf sich. Neugierig bestaunte sie an dem grobmaschigen Sicherheitszaun der Baumschule, die mit lederartigen Blättern bedachten Gewächse. Sie bogen sich im launischen Wind der Wüste und trotzten wacker mit ihren mächtigen Wurzeln seinen Kräften. Vor allem fielen ihr die zerfurchte Rinde und der gedrehte Stammwuchs auf. Einige Stämme überzog ein weißer Kalkanstrich, um sie vor einem Sonnenbrand zu schützen. Für einen Wüstenbaum erreichten sie eine doch recht ansehnliche Dicke und Höhe. Die Namen der ungewöhnlichen Gewächse kannte sie zwar nicht, aber sie fühlte förmlich auf der Distanz zu ihr das wenige Wasser, das die Bäume dicht unter ihrer Rinde bis in die Spitzen ihrer Zweige und somit in ihre ledrigen Blätter hineinzogen. Dort verdunstete es und half dem Baum bei seinem Wachstum. Mithilfe der Sonne Tau Ceti erschuf der Baum einen Sog und förderte so das Wasser über seinen Stamm himmelwärts. Ähnlich ihres Gefühls beim Ertrinken im Bach.
Sie verweilte ziemlich lange am Zaun, was einen der Gärtner auf sie aufmerksam machte. Er näherte sich dem jungen Mädchen und sie kamen ins Gespräch miteinander. Eine Furcht vor dem Fremden besaß Sil nicht, denn in der Wüste bekam eine jede Seele Demut und war froh, sich überhaupt mit jemandem zu unterhalten. Als der Gärtner ihr Interesse an den Pflanzen bemerkte, bot er ihr an, die Bäume aus nächster Nähe zu sehen. Sil sagte dazu nicht nein, denn instinktiv fühlte sie in diesem Moment, dass sie beide etwas miteinander verband. Ihr Blick in die Augen offenbarte, dass Sil vor dem Erkennen ihrer Lebensbestimmung stand. Dem verschloss sich der Baumfühlige nicht, so wie er sich selbst nannte. Daher begegnete er dem Mädchen mit großem Verständnis. Mit einem Lächeln öffnete der Baumwirt ihr das Tor und führte sie durch die ausgedehnte Baumzucht. Er zeigte ihr die dünnen schwarzen Rohre, durch die sich das Wasser zur Bewässerung der Bäume leitete. Rasterförmig verband ein ganzes Netz dieses Leitungssystems die gesamte Anlage. So lies sich das Wasser gleichmäßig und somit wirksam verteilen. Der Baumfühlige erklärte, dass die Plantage, ähnlich einer Schule, den Jungbäumen lehrte, mit Wasser sorgsam zu haushalten. Gab man ihnen zuviel Wasser, gingen die Jungbäume zu verschwenderisch damit um. Die Tröpfchenbewässerung, wie man dieses Verfahren nannte, lies zwar die Bäume langsamer wachsen, aber zäher und wesentlich krankheitsresitenter werden. Das Wasser selbst schöpften die Baumfühligen aus einem gebohrten Brunnen mit einer Zisterne, welches bei der Einrichtung der Plantage eine „Wasserfühlige“ mit dem „Wurm“ durch die Gesteinsschichten grub.
An der Apparatur des „Wurmes“ wurde Sil auch später auf der Akademie ausgebildet. Vor allem, um damit auf Thera die Brunnen und Zisternen zur Bewässerung zu erschaffen. Hier hörte sie zum ersten Mal davon. Der Gärtner zeigte ihr ein Bild des Wurms aus einem Prospekt, der etwaige Besucher über die Entstehung der Einrichtung informierte. Einmal im Jahr war es Außenstehenden möglich die Plantage an einem Tag der offenen Tür zu besuchen. Sil fühlte regelrecht die Energie des Wassers, als sie am Bohrloch des Brunnens stand und ihre Hand auf seine Leitung legte. Innerlich lud es sie auf, als sie das strömende Nass darin erfühlte. Sie bemerkte aber auch, dass da etwas mit ihm nicht stimmte. Das wusste sie aber noch nicht zu deuten. Sie erzählte dem Gärtner davon, was dieser grinsend zur Kenntnis nahm. Er schien von dem Problem mit dem Wasser zu wissen. Erst später auf der Akademie erfuhr sie, was sie da eigentlich erfühlte. Dem Wasser fehlte es in den engen Rohren an seiner Wirbelfähigkeit. Seine Ursache lag in der Konstruktion der Leitungen selbst.
Einen Teil des Wassers leiteten die „Baumfühligen“ in die Aufzuchthäuser. Treibhäuser, in denen die Baumsetzlinge ihre ersten Monate nach dem Keimen verbrachten. Waren sie groß genug, verlud man sie auf ein Dreibein und grub sie an einem geeigneten Standort, meist am Rand der Wüste ein. Dadurch, dass die Bäume mit der Wärme und dem Wind klarkamen, drängten die Pioniere die Wüste allmählich weiter zurück. Vom Baumfühligen erfuhr Sil, dass solche trockenen Einöden nicht zwangsläufig vorkamen. Meist entstanden Wüsten aus einem Ungleichgewicht der Wasserverteilung und der Bewirtschaftung des Bodens. Gerade, wenn Vieh zu lange an einem Ort weidete oder nicht umherzog, fanden die Samen der Pflanzen keinen vorbereiteten Boden zum Auskeimen vor. Eine andere Ursache der Wüstenbildung lag an hohen Gebirgszügen, die einen Luftströmungsaustausch verhinderten. Ein Wüstenboden enthielt nicht von vornherein keine Nährstoffe. Er war das Ergebnis einer Ausschwemmung, der von dem wenigen Regen kam, der hin und wieder in der Einöde niederging. Es wäre daher möglich, so der Baumfühlige, Wüsten wieder grün zu machen, wenn man das ökologische Gleichgewicht wieder herstellt. Einer Herausforderung, die es nun auch auf Thera zu meistern galt.
Am Ende ihrer Führung durch die Plantage schenkte der Baumfühlige ihr etwas, das sie sogar noch heute, bei ihrer Landung auf Thera um den Hals trug. Ein schlichtes rundes Symbol. Ein aufklappbarer Anhänger mit einer goldenen Gravur der Blume des Lebens auf der Oberseite. Von dem Gärtner erfuhr sie, dass dieses Zeichen aus der heiligen Geometrie stammte. Die ineinandergreifenden Kreise stellten die geistige Verbundenheit des Kosmos dar. Die einzelnen Kreise veranschaulichten dieses Gefüge. Im Zentrum, der innerste Kreis, befand sich das Bewusstsein. Der Kreis des lebendigen Seins. Der Kern, die Sonne oder auch die Lebensenergie. Von hier aus reiste sie überall zu den anderen Kreisen hin. Die Einstichstelle in seiner Mitte symbolisierte Gott.
Der anschließende, obere Kreis stand für die Teilung. Der Polarität. Das daraus entstehende Muster nannte sich die Fischblase und symbolisierte die Dualität der gegenwärtigen Welt. Das Ei oder auch die Frucht des Lebens. Das Symbol für Helligkeit und Dunkelheit. Für Oben und Unten. Für Innen und Außen. Für Himmel und Erde. Die Veranschaulichung der Gegensätze zeigte deren Zusammengehörigkeit. Die Überschneidung der Linien lies in seiner Mitte ein Auge entstehen. Das Symbol der Wahrnehmung, der Sinnesorgane, mit der die Gegensätze der Dualität erkannt wurden. Wie sieht das Auge Helligkeit, wenn es keine Dunkelheit gibt? Wie hielt sich das Oben von dem Unten auseinander, wenn es keine Fixpunkte gibt? Wie unterschied es Innen von Außen? War denn das bloße Existieren auf einer Planetenoberfläche nicht auch ein Innen? Nämlich innerhalb der Atmosphäre eines Planeten? Das Außen wäre der Weltraum. Selbiges übertrug sich auch auf den eigenen Leib. Wie erkennt das Auge den Himmel, wenn es nichts gibt, was es erdet? Wie nimmt es das Männliche wahr, wenn es nicht das Weibliche erfasst?
Der dritte Kreis steht für die Verknüpfung. Für den Kreislauf. Es bedeutet, dass es weder einen Anfang noch ein Ende gibt. So, wie eine Sonnenblume ihren Samen in der Blüte trägt, trägt sie bereits die Wiedergeburt in sich. Wenn sie den Samen wirft, kann die alte Pflanze sterben, da sie sich durch ihre Kinder erneuert hat. Der Samen keimt erneut auf, bis sie wieder zu blühen beginnt, um ihrerseits ihre Samen zu werfen. So setzt sich das Leben durch die Zeit fort. Auf den Tag folgt die Nacht. Auf die Nacht der Tag, um wieder der nächsten Nacht zu weichen.
Der vierte Kreis lässt ein Quadrat an den Überschneidungen der einzelnen Kreise entstehen. Es zeigt die Materie. Der Geist transformiert sich durch die Zugabe des vierten Kreises in eine feste Form. So wie es vier Himmelrichtungen gibt, so stellt das nun entstandene Gefüge die vier Elemente dar. Die Luft stand für den Gedanken, dem Planen. Das Wasser stand für die Emotion, der Entscheidungskraft. Das Feuer stand für die Energie, der Verwirklichung. Die Erde für das Erschaffen. Das Werk.
Der fünfte Kreis lässt aus der Figur ein Trapez entstehen. Nach der Numerologie steht das Symbol für die Zahl fünf. Also dem Menschen, da er an jeder Hand fünf Finger und an jedem Fuß fünf Zehen zählt. Ein weiteres Element floss nun in das Symbol ein: der Äther. Dieses Element stand für das Subtile, den elektromagnetischen Einfluss auf die übrigen vier Elemente, die Strahlung, dem Schall, die Frequenz und die Schwingung. Auf die Sinneswahrnehmung übertragen, bedeutete dies nicht nur die Fähigkeit des Hörens, sondern auch die Eigenschaft Verbindungen und zwischenmenschliche Beziehungen eingehen zu können. Liebe und Geborgenheit auszustrahlen sowie sie auch zu geben.
Der sechste Kreis bringt eine wellenförmige Strömung in die Zeichnung. Sie verkörpert den Lebensstrom und steht für die Sonne.
Der siebte Kreis schließt das innere Muster der Blume des Lebens ab und macht das Symbol zu der Saat des Lebens. Die Seele tänzelt nun um den zentralen Kreis herum und vervollkommnet so das entstandene Muster. Sieben ineinander verschränkte Kreise. Den Prozess der Zellteilung. Das Symbol der Schöpfung. Die Baumfühligen nannten die nun entstandene Figur auch den Nukleus. Die Zahl Sieben versinnbildlicht die Mystik. Die Verschränkung der materiellen mit der geistigen Welt.
Der abgeschlossene Ring um das Symbol zeigte, dass alles Eins war und in diesem einen sich die Verschränkung der Ordnung des Seins vollzog. Gleich der Eizelle, bevor sie sich nach der Befruchtung durch die Erbinformation teilt. Die geöffnete Saat, symbolisiert durch die angefügten Kreise, glich einer austreibenden Blume. Einer Blume, die ihre Blüte öffnet, um die Energie, also das Licht der Sonne zu empfangen. Die Darstellung der Blume des Lebens entsprang der Überzeugung von der heiligen Ordnung, dessen Ursprung am Beginn der Zeit liegt.
Als der Baumfühlige Sil ihre Bedeutung ausführte, verstand Sil diese Weltsicht noch nicht. Der Gärtner fand das aber nicht schlimm und sagte nur: „Das Schöne dran ist, dass du es von selbst spüren und entdecken wirst. Jedes einzelne Sein muss seinen eigenen Weg zu seinem inneren Selbst finden. Es ist deine Lebensaufgabe. Die Blume des Lebens ist nichts anderes, als die grafische Darstellung der bisherigen Erfahrungen, welche die Seelen vor dir mit ihrer Erkenntnis machten. Es gibt keinen anderen Grund, warum wir hier sind. Die Blume selbst liefert keine Antworten. Sie zeigt nur, was ist.“
Sil bedankte sich bei ihm und sie hängte sich das Medaillon um ihren Hals. Der Baumfühlige führte weiter aus, dass auch bei ihm die Erkenntnis zu seinem eigenen Selbst sich erst während einer Wanderung als Junge durch die noch unerschlossenen Wälder von Ceti e vollzog. Er blieb oft lange von zu Hause weg, schwänzte die Schule und trieb sich lieber in den Gehölzen der Urwälder herum. Er lebte dort alleine eine Zeitlang in ihnen und von ihnen. Seine Eltern ließen ihn suchen und nach großem Aufwand brachten sie ihn wieder in die Zivilisation zurück. Es zog ihn dennoch immer wieder in den Wald. Dort beobachtete er den Flug des Laubes von den Baumkronen zur Erde, fühlte das Pulsieren des Wassers in den Adern der Bäume hinauf zu den Blättern und erkannte die Symbiose, die das Gewächs mit seiner Umgebung einging. Er erforschte die Wurzeln und die Früchte der einzelnen Arten, wusste um die Sensibilität des Klimas und auch, welche Gase für sein Wachstum von Nöten waren. Seine Eltern mussten erkennen und annehmen, dass ihr Kind den Gewächsen des Waldes näher stand, als einem Leben in einer versiegelten Stadt.
Erst nach dieser Offenbarung des Gärtners öffnete auch Sil sich und erzählte von ihrem Erlebnis im Gebirgsbach, während ihr die Lunge voller Wasser lief. Der Baumfühlige hörte ihr sehr interessiert zu und antwortete Sil mit einer Erklärung ihres Unfalls, an den sie bisher so gar nicht dachte.
„Könntest du dich mit dem Gedanken anfreunden, dass dies kein Zufall war, als du in den Bach gefallen bist?“, fragte er hintersinnig und setzte nach einer kurzen Pause nach.
„Könntest du dich damit anfreunden, dass dieser Unfall dazu diente, dir deine Lebensaufgabe zu zeigen? Vielleicht bist du auch eine Fühlige. Eine Wasserfühlige. Es liegt an dir herausfinden, ob es wirklich so ist. Wenn du das tust, höre nicht auf das, was dir von außen gesagt wird. Wir Fühligen folgen immer unserer inneren Stimme und unserer intuitiven Wahrnehmung. Deswegen nennen wir uns auch so. Dir wird von außen so viel gesagt, damit du ja nicht dein eigenes Leben lebst. Du sollst immer das Leben eines Anderen leben. Das muss nicht zwingend das Leben sein, dass deine Eltern für dich ausersehen. Es könnte genauso eine Ideologie von jemandem sein, der schon vor vielen Jahren himmelwärts gegangen ist. Das ist uns Fühligen nicht bestimmt. Wir dürfen unsere Begabung selbst ergründen und sie in unser Leben einbringen. Das gehört zu unserem Reifeprozess. Daher stehst du nun mit dem Wissen dieser Tatsache vor der Wahl, was du in deinem weiteren Leben tun wirst. Willst du es verdrängen oder dich deiner Gabe öffnen? Wenn du dich davor fürchtest, mehr über dich selbst zu erfahren, so verbringe dein restliches Leben in der Ungewissheit und am Ende deines Lebens in Wehmut, dem nicht nachgegangen zu sein. Aber egal wie du dich entscheidest, was du auch künftig tust, du wirst immer wieder über diese Frage von neuem stolpern. Je mehr du es von dir abstößt, umso mehr wird es dich anziehen. Ich spreche da aus meiner eigenen Erfahrung zu diesem Thema.“
„Kennst du auch eine Wasserfühlige?“
„Nicht persönlich. Die, die damals den Brunnen mit dem „Wurm“ bohrte, stammt nicht von hier. Die Wasserfühligen sind im Gegensatz zu uns Baumfühligen sehr unstet. Woran das wohl liegt? Leider lebt hier in der Nähe keine von ihnen und ich kann dir auch keine Begegnung mit einer Wasserfühligen vermitteln. Aber auf der Akademie an der Küste gibt es bestimmt welche. Selbst wenn sie sich dort mit ihrer Gabe erst noch vertraut machen. Dieses Talent ist nicht so dicht gesät, wie das der Baumfühligen. Meist haben diese Gabe eher Frauen als Männer, was bei uns Baumfühligen wiederum umgekehrt ist. Aber du kannst dein Talent zur Wasserfühligkeit hier und jetzt selbst ausprobieren. Ich gebe dir etwas dafür mit“, sagte er abschließend zu ihr.
Sogleich schnitt er ihr eine Baumrute von einem der austreibenden Bäume ab und gab ihr dies in die Hand. Wenn sie wirklich eine Wasserfühlige war, müsse sie nur auf ihre Intuition vertrauen. Der Anbindung zur kosmischen Weisheit. Dann fände sie selbst in dieser trostlosen Gegend mehrere Wasserquellen. Unter dem Dünenmeer befindet sich ein fossiler See, der seinerzeit von der Wasserfühligen angebohrt wurde. Über Wasseradern dringt ein Teil von ihm an die Oberfläche, was auch das Entstehen von Oasen erklärt. Der Baumfühlige merkte zum Schluss als Hinweis an, dass das Wasser in den Zweigen der Bäume nach der Verbindung zu seinem Element, zu seinem Organismus suchte. Sie als Wasserfühlige könne das fühlen, wenn sie ihre Handfläche an der Schnittstelle auflegte und das andere offene Ende auf die vermeintliche Wasserquelle ausrichtete. Wenn ihre Eingebung anschlug, dann müsse sie an dieser Stelle graben und das Wasser sprudelte ihr nur so entgegen. Sie müsse jetzt gleich mit der Wassersuche beginnen, denn der frisch geschnittene Baumzweig trocknet im warmen Wüstenwind schnell aus, verliert an Elastizität und gebrauchte sich im dürren Zustand nicht mehr zur Wassersuche. Sil nahm den Zweig neugierig auf und ging mit ihm, wie vom Gärtner angeleitet, in die Wüste hinaus.
Da sie bisher noch nie von dieser Art nach Wasser zu suchen hörte, geschweige denn es je selbst ausprobierte, tobten keine Vorbehalte oder Denkverbote in ihrem Geist. Auch keine, die dieses Vorgehen als Scharlatanerie oder als Einbildung abtaten. Intuitiv mit dem Bauch verbunden und als Verlängerung ihre Hände mit dem Zweig vorneweg, schritt sie über den feinkörnigen Sand des Dünenmeeres. Sie legte ihren Geist über die Handflächen in den frisch abgeschnittenen Zweig hinein und fühlte seine fließenden Säfte. Sie fanden keinen Halt in dem Zweig mehr und liefen aus seinen durchgetrennten Adern hinaus. Der abgeschnittene Zweig rief nach dem Wasser, wie ein Kind nach seiner Mutter. Er hoffte, so würde er wieder in das Blut der Erde gestellt, um sich erneut auszuwurzeln. Sich wieder mit seiner Mutter zu verbinden. Sil fühlte sein jämmerliches Flehen und es tat ihr innerlich weh, dass er so brutal von seinen Vorfahren getrennt wurde. Sich in einzelne Objekte, ja sogar abgeschnittene Zweige hineinzuversetzen bereitete Sil keine Probleme. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, dessen Empathie ihren meisten Zeitgenossen fremd blieb. Worum es sich dabei handelte, fühlte Sil im Augenblick ihrer Suche ohne es selbst näher erklären zu können. Erst auf der Akademie gab man diesem Wesensmerkmal ein Gesicht. Eine Beschreibung. Sie nannten es dort „sich im Strudel des Lebendigen verlieren.“
Mit diesem Eindruck lief sie mit dem nach Wasser rufenden Zweig in der Hand eine Weile zwischen den hohen Sanddünen umher, nur um die Antwort seiner Mutter, dem Wasser, dem Blut der Erde zu erhaschen. Im Geiste vereinte sie sich mit dem Zweig, der in dieser trockenen Gegend, wie ein Freund wirkte. Wie ein geliebter Körper, der genau wie sie, das Element des Lebens in sich trug. Sie respektierte diesen Zweig dafür. Er schien ihre Liebe zu erwidern. Dort, wo dieses Gefühl ihrer Verbundenheit am Stärksten bis in ihre Seele hineindrang, blieb sie stehen. Die Blume des Lebens aus ihrem Geist in die Materie förmlich greifbar wurde. An dieser Stelle vermutete niemand auf den ersten Blick eine Wasserader. Der feinkörnige Boden unter ihr zeigte dort von außen auch keinerlei Feuchtigkeit an. Sie kniete sich hinab und schob mit bloßen Händen den feinen Sand zur Seite. Er rieselte ihr zunächst trocken durch die Finger, aber das legte sich schnell. Nach wenigen Schüben mit ihrer Hand erreichte sie im Untergrund feuchtere Sandschichten und je tiefer sie schürfte, umso mehr nahm es an Nässe zu. Das Wasser, es rief dort unten förmlich nach ihr und tatsächlich, es sickerte bis zu ihr an die Oberfläche hindurch, was Sil innerlich sichtlich bewegte. Mit Tränen in den Augen vernahm die Wasserfühlige seine Freilegung. Es schien auf sie zu warten. Sie dankte der Quelle im Sand und stellte ihren Rutenzweig hinein. Um sicher zu gehen sich nicht getäuscht zu haben, grub sie einen Meter neben dieser Stelle erneut in den Sand hinein. Diesesmal musste sie wesentlich tiefer graben, um so etwas wie eine Feuchtigkeit zu erspüren. Das lag nur daran, dass die von ihr zuvor gefundene Wasserader in der Nähe ihr Wasser bis hierhin durchsickern lies. Mit dieser Genugtuung setzte sie ihre Beobachtungen mit dem Zweig fort und testete ihre intuitive Kraft an weiteren Stellen in der Wüste aus. Auch an Orten, die zunächst keine Wasserquellen vermuten ließen.
Erst viel später auf der Akademie erfuhr die Wasserfühlige, was da genau bei ihrer Suche mit der Rute geschah und wie sich ihr Empfinden erklären lies. Überall, wo das Wasser floss, entstand eine Reibung. Diese Reibung richtete wiederum Moleküle in die Fließrichtung des Wassers aus, wodurch sich ein schwaches Magnetfeld erzeugte. Sils körperliche Beschaffenheit fungierte als der Gegenpol. Dadurch, dass sie die abgetrennte Baumrute in der bloßen Hand hielt, stellte sie durch ihren Leib eine Verbindung mit dem Wasser und dem Zweig her. Zusammen mit der Reibung des Wassers im Untergrund und ihrer eigenen magnetischen Eigenschaft, verstärkte sie beim Näherkommen an eine Wasserader während des Rutengehens den magnetischen Effekt. Die gegenseitige Anziehung der abgeschnittenen Baumrute mit der Wasserader bekam eine Wasserfühlige deutlich in ihrem Körper zu spüren. So stieg die Anziehungskraft durchaus so stark an, dass ihr Ausschlagen die Haut von ihren Händen schabte. Auf der Akademie lernte sie dieses Feingefühl weiter zu perfektionieren. Bald fand sie nicht nur die Wasserader, sondern bestimmte sogar in etwa, wie tief ihr Austrittspunkt unter der Oberfläche verborgen lag. Auch lernte sie den Umgang mit weiteren Rutenarten, die je nach Aufgabe ihre Verwendung fanden. Für ihre ersten Erfahrungen mit der neu entdeckten Begabung baute sie sich nach einer ausgiebigen Recherche im digitalem Lexikon eine primitive Winkelrute aus zwei Kupferdrähten nach. Schon alleine, um sich nicht ständig schuldig für die gewaltsame Trennung des Zweiges von seinem Stamm zu fühlen.
Natürlich erzählte sie erst nach mehreren Rutengängen ihren Eltern von der Begabung, Wasseradern in der Wüste aufzuspüren und den richtigen Standort für einen Brunnen zu finden. Zunächst nahmen sie ihr das nicht ab. Wie um alles in der Welt schaffte es eine rein intuitive Kraft, mit zwei simplen Kupferdrähten Wasseradern in der Wüste ausfindig zu machen? Sil führte ihre Eltern in die Wüste und zeigte dort mit Erfolg das Aufspüren weiterer Wasseradern. Erst diese sichtbare Demonstration überzeugte ihre Eltern, weswegen sie das Talent bald als bewundernswert empfanden. In ihrer Begeisterung erzählte Sil von dem Baumfühligen auf der Plantage und auch was sie von dem Gärtner über die Wasserfühligen hörte. Dass es eine Akademie gab, die diese Begabung förderte. Auch ihre Eltern hörten schon einmal etwas von so einer Schule. Aber für sie genügte es zu wissen, dass die dort ausgebildeten Wasserfühligen als die Brunnenbohrer des Planeten galten. Wie genau sie suchten oder nach welchem Schema sie arbeiteten und ihre Brunnen bauten, interessierte sie da nicht. Weil aber nun ihre Tochter über die Gabe jener Brunnenbohrer verfügte, Wasser in der Wüste zu finden, informierten sich ihre Eltern mit ihren Möglichkeiten näher über das Wesen der Wasserfühligen. Aber was sie im Anschluss darüber erfuhren, verunsicherte sie zusehends und es lies die außergewöhnliche Begabung ihrer Tochter bald in einem anderen Licht erscheinen. Denn sie brachten bei ihrer Suche in Erfahrung, was es bedeutete, der Förderung dieser Begabung ihrer Tochter nachzugehen. Daher waren sie sich bald unschlüssig, ob dies nun wirklich ein Vorteil wäre, denn dies brachte unweigerliche Folgen für ihr weiteres Leben auf Ceti e mit sich. Mit dem Bekanntwerden ihres Talents käme die Berufsgruppe der Weltraumpioniere auf Sil zu. Gerade solche Menschen wie Sil suchten sie für die Erschließung von neuentdeckten lebensfreundlichen Planeten. Eine Fühlige, die den Umgang mit dem „Wurm“, auf der Akademie erlernte, die Brunnen bohrte und Leitungen zur Bewässerung für Plantagen der Baumfühligen legte.
Auf jedem kolonisierten Planeten, also auch auf Ceti e, gab es eine Ausbildungsstätte der Planetenpioniere. Nach außen präsentierte sich die Einrichtung zwar wie eine gewöhnliche Schule. So wie auf den vielen anderen der bereits besiedelten Planeten auch. Aber die dort eingeschriebenen Kinder erhielten eine zusätzliche Ausbildung für ihre Reise durch das All mit dem Kryonikei. Sie endete auf einem lebensfreundlichen Planeten, welcher von ihnen für die Besiedlung durch weitere Siedler vorbereitet wurde. Um auf so einer Akademie lernen zu dürfen, benötigten seine Absolventen ganz besondere Fähigkeiten. Fähigkeiten, die für manche Zeitgenossen an schiere Zauberei grenzte, aber es dennoch nicht war. Ein Talent, dessen Kernelement aus nichts anderem bestand, als der menschlichen Intuition und einer ausgeprägten Empathie. Eine dieser Talentformen, wie Sils Wasserfühligkeit, ermöglichte dort einen Besuch. Die anderen drei geförderten Zweige nannten sich die Luftfühligen, die Baumfühligen und die Erdfühligen. Über diese Gaben verfügten auch Sils Kameraden auf Thera, da sie für eine erfolgreiche Erschließung unerlässlich war. Sie flehte ihre Eltern regelrecht an, diese Schule kennenzulernen, von der ihr der Gärtner der Plantage erzählte. Denn dort lernte sie endlich Gleichartige ihres Talents kennen. Heranwachsende und Lehrer, die ebenso wie sie die Wasserfühligkeit in ihren Adern trugen. In ihrer bisherigen Schule legte man auf derlei charakterliche Ausprägungen keinen sonderlichen Wert. Die dortigen Lehrkräfte wussten zwar von der Existenz der Pionierschule, besaßen aber nicht das Verständnis, eine derartige Besonderheit in ihren Schülern zu erkennen. Denn dann empfahlen sie Sils Eltern ganz von selbst eine Umschulung in diese Einrichtung. So aber lag es oft an den Schülern selbst, ihre Eltern darauf anzuspitzen.
Die Lage dieser Bildungseinrichtung auf Ceti e befand sich auf einer leichten Anhöhe über dem Meer. Unweit davon verlief ein hoher und zerklüfteter Gebirgszug mit einem erloschenen Vulkan. Ihn umgaben große Wälder mit kalten Gebirgsbächen und auf der anderen Seite eine weite, baumlose Ebene. Geografische Gegebenheiten, die für die Ausbildung der jeweils Talentierten von Bedeutung waren. Dies führte zwar zu einem weiteren Umzug ihrer Familie, was aber im Falle einer Aufnahme Sils auf der Akademie keinerlei berufliche Nachteile für ihre Eltern bedeutete. Dafür sorgte das Besiedlungsprogramm der Cetiverwaltung, die gerade die Rekrutierung der „Fühligen“ förderte. Der Interessent meldete sich bei der Verwaltung der Schule an, die einen Termin zur Besichtigung und sowie dem darauf folgenden Probeunterricht vergab. Nie vergaß Sil ihren ersten Besuch auf der Schule.
Die weitläufige Anlage umfasste ein großer Park, den die Baumfühligen mit ihrer Gartenkunst gestalteten. Es gehörte zu deren Ausbildung mit Bepflanzungen ein harmonisches Umfeld zu erzeugen, das sich perfekt in die klimatische Zone der örtlichen Umgebung einpasste. Da sie sich in Küstennähe und weit weg genug von niederschlagsarmen Gebieten befanden, standen auf dem Areal ausladende Laubbäume, die gerade im Sommer mit ihrer Beschattung ein angenehmes Klima erzeugten. Auf ihrem Weg zu den verschiedenen Gebäuden der Anstalt kamen sie an den üppigen Gewächshäusern und Aufzuchtstationen der Baumsetzlinge und Gemüsepflanzen vorbei. An strukturierten Blumenbeeten mit geometrischen Mustern, wohl gestutzten und geformten Büschen und Hecken. Sil sah den Gärtnern zu, wie sie mit Hingabe an ihr Werk gingen und den richtigen Umgang mit den Werkzeugen der Gartenkunst beherrschten. Um die Gewächse in Form zu bringen, verstanden die Baumfühligen es, ihre Schützlinge an den richtigen Stellen zu stutzen. Sie fühlte regelrecht ihre Liebe, die in ihrem Erschaffen einer freundlichen Atmosphäre lag. Die wichtigsten Akademiegebäude im Zentrum des Parks gruppierten sich um einen Versammlungsplatz. Dem morgendlichen Appellplatz, wie sie später erfuhr. An ihm schlossen sich die Wohnbereiche der Schüler, der Versorgungsbereich mit der Mensa und der medizinischen Station, der „Fuhrpark“ mit den Arbeitsgeräten der jeweiligen Fühligen und natürlich in die Schulungsräume und Freiluftplätze an. Auch gab es einen Trampelpfad zum eigens reservierten Strand der Akademie.
Eine hochgewachsene Frau mit reifen Gesichtsfalten und tiefschwarzen wallenden Haaren erwartete Sil vor dem Eingang des Hauptgebäudes. Sie stellte sich ihren Besuch als Frau Weidling vor, die als eine Art Moderatorin für ihren Talentkreis fungierte. In den nächsten Stunden führte sie Sil mit ihren Eltern durch die Anlage und zeigte ihr die Unterschiede der Einrichtung zu den anderen Schulen des Planeten auf. Schon als sich ihre Blicke zum ersten Mal trafen, flutete es förmlich in Sil hinein. Innerlich wusste sie da, dass sie mehr mit der Vermittlerin verband, wie sich ihre Empfangsdame zu ihrem Talent selbst verstand, als zu den übrigen Mitmenschen. Auch sie schien es zu merken, denn ein bewusstes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es stellte eine emotionale Verknüpfung zwischen ihnen her.
„Du merkst schnell, ob du hierher gehörst“, antwortete Fr. Weidling ihr nach der freundlichen Begrüßung am Empfang. Der tiefe durchdringende Blick, dem sie Sil weiterhin schenkte, sagte mehr als tausend Worte. Sil erfühlte, dass es einen tiefen Gleichklang zwischen ihren Herzen gab. Einer Resonanz, gleich eines Wassertropfens, dessen ringförmige Wellenbewegung sich bei dessen Auftreffen auf der Wasseroberfläche erzeugte. Sil erzählte ihr, wie sie seinerzeit beinahe in dem Gebirgsbach ertrank und auch, wie sie später in der Wüste erfolgreich mit dem abgeschnittenen Zweig nach einer Wasserader suchte.
„Nicht jeder Wasserfühlige erfährt auf selbe Art und Weise von seinem Talent. Die Meisten, die zu uns kommen, glauben, dass sie so eine Befähigung haben müssten. Sie reden sie sich oft ein, doch ob es wirklich so ist, erweist sich erst allmählich und es ist nicht gesagt, dass sie ein Leben lang hält. Leider stellen wir oft fest, dass die Schüler das nur behaupten, um an eine Förderung durch die Cetiverwaltung zu kommen. Sie glauben wirklich, dass es eine Art Manie wäre und man könne die echten Fühligen durch Schwindeln übertölpeln. Eine wirkliche Begabung auf diesem Sektor haben sie allerdings nicht. Ihnen fehlt das intuitive Gefühl. Daher nennen wir uns auch die Fühligen und nicht die Begabten, was unser Wesen sehr unkonkret beschreibt. Aber dieser Selbstbetrug kostet ihnen unnötige Lebenszeit. Sie sollten sich lieber ihren anderen Talenten widmen, die sie mit Sicherheit in sich tragen. Talente warten nur darauf, entdeckt zu werden. Wer bei uns auf der Akademie lernt, kennt bereits die Geheimnisse des Wassers, leitet sich schon von der Kraft des Windes, tauchte in die Vielschichtigkeit der Erde hinein und ist überzeugt von der Macht des Lebendigen. Dieses Wissen schlummert seit je her in ihm und wartet darauf zu erwachen. Die Intuition unterscheidet sich von dem Bauchgefühl dadurch, dass sie sich nicht aus einer schlechten Erfahrung heraus entwickelt. Sie ist eine Urkraft, die in jedem göttlichen Funken ruht, welche jegliche Lebendigkeit beseelt. Diese Wahrnehmungsintelligenz liegt uns Fühligen förmlich im Blut, wofür die „Dumpffühligen“ jahrzehntelang üben müssten, um ein ähnliches Niveau wie wir zu erreichen. Aber selbst dann sie ziehen ihre Schlussfolgerungen aus anderen Beobachtungen, als wir es tun.“
Frau Weidling gebrauchte vorhin ein Wort, mit dem die Feinfühligen ihre weniger empfindsamen Mitmenschen umschrieben. Auch ohne danach zu fragen, verstand Sil auf Anhieb, was mit dem Wort „dumpffühlig“ gemeint war. Diese Bezeichnung folgerte sich aus der logischen Konsequenz, dass die „Dumpffühligen“ solche Menschen wie Sil als empfindsam oder schlicht auch als Empath charakterisierten. Dass es tatsächlich welche unter ihnen gab, die versuchten auf sie näher einzugehen interessierte Sil näher. Wäre sie nicht vielleicht auch eher so jemand? Jemand, der an der Grenze zwischen Hochsensibilität und durchschnittlicher Empfindsamkeit stand? Sie fragte daher faustisch nach: „Welche Art von Beobachtungen machen sie? Tun wir das denn nicht auch?“
Fr. Weidling grinste ob ihrer Frage. Was Sil da noch nicht ahnte: Sie unterstrich mit genau dieser Frage ihre Empathie. Empathischen Menschen fiel es schwer zu verstehen, dass es Zeitgenossen gab, die ihre Empfindsamkeit nicht teilten. Sie erklärte es Sil mit einem einfachen Beispiel:„Du kannst die Unterscheidung unserer Wahrnehmung zwischen uns und ihnen mit einem trinkfertigen Filterkaffee vergleichen. Die Dumpffühligen halten dieses Endprodukt für die reelle Welt, weil sie ihn in dieser Beschaffenheit jeden Tag vorgesetzt bekommen. Sie klammern unbewusst aus, dass dieser Kaffee vor dem Servieren mit unterschiedlich temperiertem Wasser durch einen Filter, mit ungleicher Beschaffenheit und verschieden großen Poren, angefüllt mit uneinheitlicher Größe der zermahlenen Kaffeebohnen, mit abwechselnd hohem Druck lief. Das heißt, die Zubereitung des fertigen Getränks entreißt zwar dem zermahlenen Kaffee einige seiner Aromastoffe, aber die Art und Weise der Prozedur lässt immer ein anderes Ergebnis zum Vorschein kommen. Ja, dass es geschmacklich sogar darauf ankommt in welchem Gefäß es produziert und serviert wird. Aus dem Eindruck des Endprodukts ziehen sie ihre Schlussfolgerungen auf den Rest der Welt. Einschließlich ihrer eigenen Person.
Bei uns Fühligen ist es aber so, dass wir keinen Filter in dem Zubereitungsprozess haben. Und das Schlimme daran ist, wir merken das deswegen, weil die „Dumpffühligen“ es nicht bemerken. Folglich schmeckt unser Kaffee anders und vor allem ist er voller Kaffeesatz. Der Ursubstanz. Er ist tiefschwarz, sehr bitter und selbst wenn wir nur kurz daran nippen, hängt uns immer ein Teilchen des Kaffeesatzes zwischen den Lippen und im Mundraum. Folglich müssen wir ihn sehr vorsichtig trinken. Wenn wir das nicht tun, dann verschlucken wir uns. Das nennt man bei uns Fühligen „Überreizung“. Diejenigen der „Dumpffühligen“, die versuchen uns nachzuempfinden, bauen gedanklich den Zubereitungsprozess des ihnen vorgesetzten Kaffees zurück. Du kannst dir vorstellen, dass dieser Weg voller Fehlschlüsse und Irrtümer über uns ist, da ein jeder Fühlige aufgrund der Zubereitungsweise nicht gleich empfindet. Jeder von uns bereitet seinen Kaffee anders zu. Aber uns Fühligen ist gemein, dass wir keinen Filter haben. Was die „Dumpffühligen“ mit ihrem Verstand nicht erschließen, füllen sie mit Spekulationen ihrer Fantasie aus. Sehr bald sind wir die Spinner, die Verrückten und was es sonst noch für Umschreibungen für uns gibt. Würden die normalen „Dumpffühligen“, so ein verändertes Getränk wie wir ihn jeden Tag trinken, von einem Tag auf den Anderen serviert bekommen, spucken sie es wieder aus. Sie werden davon wahnsinnig, weil es sie schlicht überfordert. Sie fragen sich, wie man nur so etwas Ekelhaftes trinken kann. Ich verdenke es ihnen nicht. Wir Fühlige haben da leider keine Wahl, weil wir uns diese Art des Kaffees täglich neu einflößen. Für uns ist das die Normalität. Folglich sehen wir die reelle Welt anders und ungefilterter, was die Sinneseindrücke und unsere Schlussfolgerungen daraus angeht. Das erschöpft und fordert unseren Geist, weshalb wir oft viel Ruhe brauchen und uns selbst nicht vergessen dürfen. Wir müssen diese ungefilterten Eindrücke verarbeiten. Das braucht seine Zeit.“
„Ist es dann eigentlich ein Talent oder nicht eher ein Fluch?“
„Ich selbst betrachte es neutraler. Es ist ein Wesensmerkmal. Zu einem Fluch wird es erst, wenn man nicht lernt, damit umzugehen. Zu einem Segen und zu einem Talent wird es erst, wenn wir gelernt haben uns selbst anzunehmen und nicht versuchen, wie die „Dumpffühligen“ zu sein. Das kann nicht funktionieren. Uns fehlt der Filter. Jeder Fühlige muss anfangs lernen, dass es Unterschiede des Gefühlslebens seiner Zeitgenossen untereinander gibt. Er sitzt lange dem Irrtum auf, dass sein Umfeld die gleiche Gefühlswelt wie er selbst teilt. Diesen Irrtum zu erkennen und anzunehmen tut sehr weh, weshalb wir oft im Weltschmerz verfallen. Wir können uns einfach nicht vorstellen, dass es so große Unterschiede in der Empathiefähigkeit unter unseren Zeitgenossen gibt. Wenn wir aber unserem Umfeld erlauben, dass es seine Gefühle haben und auch leben darf, selbst wenn es in unseren Augen Schlechte sind, dann fällt es uns leichter, darauf zu antworten.“
„Wie sollen wir darauf antworten, ohne verletzend zu wirken?“
„Keinesfalls belehrend. Da die Dumpffühligen in der Mehrheit sind, werden sie dich sowieso nicht ernst nehmen und dich als die Spinnerin darstellen. Denke dir einfach, dass sie ihre Erfahrungen machen müssen. Dass es ein Teil ihrer Lebensaufgabe ist. Lass sie in ihrem Leid schmachten. Versuche nicht ihnen zu helfen, auch wenn du meinst, nicht anders zu können. Innerlich tut uns das weh, weil wir wissen, dass es eine universelle Verbundenheit aller lebendigen Geschöpfe gibt. Du wirst deine eigene Erfahrung zu dieser Sache gemacht haben.“
Da behielt Frau Weidling absolut Recht. An ihrer Schule erwarb Sil aufgrund ihres sensiblen Wesens früh den Ruf eines zu nah am Wasser gebauten Mädchens. Sie nahm schneller Anteil am Leid und an aufwühlenden Erlebnissen ihrer Schulkameraden. Wenn es zu Rangeleien oder bedrohlichen Situationen auf dem Schulhof kam, suchte Sil als Erste verschreckt das Weite und brach vor Angst in Tränen aus. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie sich wieder beruhigte. Auch durchstach sich Sil im Gegensatz zu ihren Schulkameradinnen nicht die Ohrläppchen für Schmuck, da sie auf jeglichen körperlichen Schmerz panisch reagierte. Fleischverzehr kam für Sil ohnehin nicht in Frage, da ihr das Leid der getöteten Tiere naheging, die es lieferten. Ihr war es, als ob dieser Schmerz noch im gebratenen Fleisch steckte und sich auf sie übertrug. Gerade, bei der Essensausgabe in der Mensa, fiel diese fleischlose Nahrungswahl ihren Schulkameraden auf. Als sie zudem erfuhren, dass Sil sich zu einem Probeunterricht an der Pionierschule einschrieb, kursierten abenteuerliche Gerüchte unter ihnen. Sie sei durchgedreht und nicht mehr ganz bei Sinnen. Dies tat ihr noch mehr weh. Wollte sie doch dazu gehören und nun ging es nicht mehr. Ihrer Fühligkeit mit dem Erkennen ihres Talents der Wassersuche ein Gesicht zu geben erleichterte sie ungemein, aber es taten sich folglich weitere Fragen auf.
„Kann man Empathie erlernen oder sich antrainieren?“, fragte Sil wie elektrisiert.
Fr. Weidling machte eine kurze Pause. Sie dachte angestrengt nach. Ihre Antwort viel einfach und knapp aus.
„Nein. Mit der Empathie verhält es sich wie mit der Liebe. Es gibt kein bisschen Liebe. Entweder es gibt sie oder es gibt sie nicht. Empathie ist der Zugang zum intuitiven Wesen und somit zur Liebe selbst, die von ihr getragen wird.“
„Wie hast du dein Talent erkannt?“, setzte Sil nun sichtlich neugierig geworden nach. Vielleicht erfuhr sie so, wie andere Fühlige mit diesem besonderen Umstand nach ihrem Erkennen verfuhren.
„Sehr unspektakulär“, erklärte Frau Weidling ungeniert und schmunzelte. „Ein Fühliger ist von Natur aus sehr empfänglich für Reize. Für mich war das schon immer normal. Ich wuchs in der Nähe von einem Kurort hier auf Ceti e auf. Die Bäder dort zapfen die heißen Thermalquellen für ihre Becken an. Ich lief oft im Quellgebiet der Gegend umher und erfühlte regelrecht die warmen unterirdischen Kanäle des Heilwassers mit ihren verzweigten Wasserläufen. Dann grub ich dort in die Tiefe und war schon bald klatschnass von dem heißen Solewasser. Mit meinen Grabungen nahm ich den Druck aus den Zuläufen der Thermen und sorgte dafür, dass dem Kurbad förmlich das Wasser ausblieb. Sie bekamen nie heraus, wer ihnen da das Wasser abgrub, aber meine Eltern nahmen mein Handeln zum Anlass, mein Talent näher zu untersuchen. So kam ich auf die Akademie und erschloss so manche Quellen hier auf Ceti e mit dem „Wurm“. Von mir lernst du, damit umzugehen.“
„Warum gibt es eigentlich mehr Dumpffühlige, als wir es sind?“