Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Chaos hat Silvas Leben fest im Griff. Heimat, Sinn und Ziel sind gänzlich verloren. Während Silva im Außen mit den Folgen der Rechtlosigkeit zu kämpfen hat, kämpft er im Innern gegen den Zwang, den das Gift ihm auferlegt, seit er in Central der Horde begegnet war. Er reist umher auf der Suche nach Erlösung von all seinen Miseren. Als er auf Laras und Stings Heimatwelt ein altes Gemäuer betritt, findet er dort die Memoiren von Faun, dem ersten Nephilim. Silva macht in den alten Schriften eine erstaunliche Entdeckung. Zudem hält auch Tigo eine überaus interessante Mitteilung für Silva bereit. Möglicherweise bringt beides zusammen zum ersten Mal Hoffnung und Zuversicht für Pergamons früheren Wächter. Silva - Das Erbe des ersten Nephilim ist der dritte Teil von Silvas Geschichte
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1275
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über das Buch …
Das Chaos hat Silvas Leben fest im Griff. Heimat, Sinn und Ziel sind gänzlich verloren. Während Silva im Außen weiterhin mit den Folgen der Rechtlosigkeit zu kämpfen hat, kämpft er im Innern gegen den Zwang, den das Gift ihm auferlegt. Er reist umher auf der Suche nach Erlösung von all seinen Miseren. Als er auf Laras und Stings Heimatwelt ein altes Gemäuer betritt, findet er dort die Memoiren von Faun, dem ersten Nephilim. Silva macht in den alten Schriften eine erstaunliche Entdeckung. Und als auch Tigo eine Mitteilung für ihn hat, die ihn ebenso überrascht wie die Begegnung mit dem Ersten, schöpft Silva neuen Mut und Hoffnung.
Doch die Zwänge im Innen und Außen binden ihn sehr, sodass dem früheren Wächter ein Leben nach den Gesetzen seiner Art nicht weiter möglich ist. Er entscheidet daher in einer düsteren Stunde, Pegaso einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen und den Blondschopf in das letzte seiner Geheimnisse einzuweihen, das große Geheimnis um Silvas eigene Herkunft.
Die schreibende Hand
K.C. Obermann begann 2010 ihre Ausbildung in mentaler Wahrnehmung und spirituellem Arbeiten. Ihre eigene Reise führte sie aus dem Saarland ins Rheinland. Dorthin, wo sich Rhein und Mosel begegnen. Dann weiter mit dem Lauf des Wassers bis Remagen, wo sie fünf eindrucksvolle und prägende Jahre erlebte. 2018 kehrte sie in ihre alte Heimat zur Saar zurück. Sie lebt seither in Quierschied. Mit Familie, Freunden und Liebgewonnenen.
Ihre berufliche Welt gilt dem spirituellen Arbeiten mit Mensch und Tier sowie der Kampfkunst WingTsun.
Für Elisa, Sabine, Ingeburg
Für all unsere Abende, die wir mental zusammensaßen.
Für die unzähligen Tassen Kaffee und die ebenso unzähligen Stücke
Pfefferminzschokolade. Für eure Ohren und eure Herzen.
Ohne euch wäre ich niemals über das letzte Kapitel hinausgekommen.
Und für Pega
Weil er mehr noch als einen zweiten Dank verdient hat.
(Silva)
Vorwort
Zwischenspiel: Zeit
Kapitel:
Die Ruhe nach dem Sturm
Kapitel:
Licht
Kapitel:
Schaten
Kapitel:
Nichts als die Wahrheit
Kapitel:
Stings Gechichte
Kapitel:
Die alte Akademie
Kapitel:
Der Aufrag
Kapitel:
Miss Vianne und das Stück Normalität
Kapitel:
In Seenot
Kapitel:
In de Tiefe
Kapitel:
Aurums Entscheid
Kapitel:
Shivar – Vater
Nachwort
Hallo Freund,
seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, ist viel geschehen. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich bereits am Ende meiner Suche angelangt.
Aber du bist es noch nicht.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist mir das Erzählen meiner Geschichte ein Erinnern.
Aber du bist noch mittendrin.
Und weil du mir beigestanden hast, werde ich nun dir beistehen. Wir werden noch einmal gemeinsam hineingehen in meine Geschichte. In die Tiefen und die Höhen. In die Höhlen und die Abgründe in mir.
Ich habe dir ein Licht am Ende des Tals versprochen, und ich halte mein Wort.
Also los …
Wusstest du, lieber Freund, dass das Aufstehen unsagbar mühsamer und beschwerlicher ist als das Fallen selbst? Vermutlich wusstest du das. Vielleicht bist du sogar geübter darin, als ich es bin.
Nun, dann lass uns mal aufstehen und losgehen, uns den Staub aus den Kleidern klopfen, den Stab nehmen und sehen, was noch so kommen mag auf unserem trügerischen Weg ins Licht. Und vielleicht, wenn du magst, nur wenn du magst … würdest du mir dann deine Hand reichen?
Es war einmal …
… ein Prinz. Der wohnte hoch oben, weit über den Wolken in einem Schloss. Das Schloss war so schön, dass es Traumschloss genannt wurde. Jeden Tag trat der Prinz auf die Mauern des Schlosses hinauf, stellte sich mit seinen Füßen fest auf den Mauersims und schaute in die Weite. Er schaute Täler und Hügel, Flüsse und Seen, manch reißenden Strom, manch sanft dahingleitendes Bächlein. Er schaute Gebirge, höher als das Auge blicken konnte, und allesamt waren sie weiß. Wolken aus Milliarden kleiner Wassertröpfchen, die in der Sonne glitzerten. Und er liebte sein Wolkenreich.
Bis eines Tages, als er so auf der Mauer stand und schaute, hinter ihm eine Gefahr drohte. Er spürte sie ganz deutlich. Aber er konnte nicht sehen, woher sie kam oder was sie war. Lebte er doch in einem Reich des Friedens. Nicht einmal die Donner der schwarzen Riesen konnten ihm einen derartigen Schauer über den Rücken jagen wie dieses Gefühl. Da wurden Schritte hinter ihm laut. Die Schritte seines Königs. Er hatte sie gleich erkannt. Daneben ging ein Diener, ein treuer Vertrauter. Der König war alt, aber noch kraftvoll, und so hallten seine Schritte kraftvoll auf dem Boden. Die seines Dieners waren kaum zu hören. Der Prinz wunderte sich, und in genau diesem Moment stockten beider Schritte. Ein eiskalter Strahl erwischte das Herz des Prinzen, als er auf der Mauer stand, und er wirbelte auf dem Fuße herum, um zu sehen, was dies zu bedeuten hatte. Da stand der Diener mit seinen schwarzen Augen und einem ebenso schwarzen Dolch in der Hand. Der Prinz wollte seine Hand zum Protest erheben, aber der seltsam kalte Strahl hatte bereits seinen ganzen Körper erfasst und ihn eingefroren. Und so stach der Diener dem König den schwarzen Dolch ungehindert mitten ins Herz. Der Prinz taumelte, als hätte der Dolch ihn getroffen statt seines Königs Herz, und sein rechter Fuß trat ins Leere. Und ehe er sich versah, ehe er wusste, wie ihm geschah, stürzte er ab.
Er stürzte lange. Sehr lange. Denn es war ein weiter Weg von den Zinnen des Schlosses bis ganz nach unten. Bis zum Boden. Bis zu jenem Teil seines Königreiches, der nicht aus Wolken bestand. Er wusste, dass es diesen Teil gab, aber er war noch niemals zuvor dort gewesen.
In seinem Fallen kam ein Falke in seine Nähe. Der Vogel legte die Flügel an und schoss eine Weile neben ihm her. Aus eisblauen Augen betrachtete er still den Fallenden. Bis zu jenem Punkt, an dem der Falke verstand, dass dieses seltsame Geschöpf ohne Flügel, dieses fallende Ding, dem Untergang geweiht war, dem Unausweichlichen entgegentrieb. Daher spannte er seine Schwingen weit auf und flog im Wind davon.
Der Prinz aber schlug hart auf, als er unten ankam. Er landete mit dem Rücken auf dem staubigen Boden. Seine Knochen brachen, und er spürte die Splitter seiner eigenen Rippen sich in sein Fleisch hineinbohren. Betäubt blieb er liegen, als Wellen aus Schmerz durch seinen Körper rasten. Er ließ den Kopf zur Seite sinken. Ein kleines, rotes Rinnsal aus Blut bahnte sich seinen Weg aus seinem Mundwinkel und tropfte zu Boden in den feinen, sandigen Staub.
So lag der Prinz, während die Sonne, die ihm so vertraut war, von sehr weit oben auf ihn hinabsah. Die letzten verbliebenen Reste an Glanz und Glorie vergingen. Das einstige Silber seiner Haare wurde grau, die einst goldenen Knöpfe seiner Tracht verstumpften. Die kristallenen Waffen an seinen Seiten wurden zu Stein.
Wie ein Fremder lag er hier in diesen Gefilden, in dieser irdischen Region. Wie ein Engel vom Himmel gefallen. Traurig und schön, schaurig und berührend.
Ganz langsam schob der Prinz seine Arme unter seinen Körper und stemmte sich hoch. Staub rieselte von seinen einst makellosen Kleidern und aus seinem einst makellosen Haar. Doch immerhin konnte er atmen. Es gelang ihm unter Mühen, aber es gelang. Er wunderte sich, dass er noch lebte.
Und nun lag vor ihm eine neue Welt. Es war schwer hier unten. Er war schwer. Keinesfalls würde er aufstehen können. Und wer konnte es ihm da verdenken, dass sein erster Blick nach oben glitt, zu dem Weg, den er gekommen war. Ganz nach oben bis in die Sonne hinein. Er hob seinen Kopf und starrte ins Licht, bis die blendenden Strahlen Tränen in seine Augen trieben. Irgendwo dahinter, weit hinter diesen hellen Strahlen - oder vielleicht auch daneben, von hier unten konnte er das unmöglich sagen - lag sein Schloss, seine Heimat. Und lag sein König tot.
Den Eisstrahl indes, der das Herz des Prinzen erfasst hatte, konnte selbst die Sonne nicht wieder tauen, denn sie wusste, dass der Prinz sein Reich weit über den Wolken, seine alte Heimat, nie wiedersehen würde. Und der Prinz wusste das auch.
Aber dieser Gedanke war so unerhört, so abstrus, so absolut schaurig, dass der Prinz alles daran tat, ihn zu verdrängen und zum Schweigen zu bringen. Unter Mühen stand er auf. Klopfte hier und da den Staub aus den Kleidern. Versuchte, nicht allzu sehr zu schwanken, um nicht noch einmal zu fallen. Auch wenn der Weg diesmal nicht einmal nennenswert lang gewesen wäre. Er wollte es nicht! Er wollte … nach Hause. Und er schwor sich in diesem Moment, alles zu tun, was auch immer erforderlich war, um eines Tages zu seinem König zurückkehren zu können.
Obwohl sein Herz tief in seinem Inneren wusste, dass dieser Tag niemals kommen würde, obwohl die Sonne über ihm, die Himmel und die Welten alle wussten, dass dieser Tag niemals kommen würde, so tat er doch den ersten Schritt in diese Richtung. Und aus dem Schwur wurde ein Zwingen. Und aus dem Zwingen wurde ein Stock, auf den er sich stützte. Er ging los, in eine ihm unbekannte Welt hinein, um seinen Heimweg zu suchen.
Während Sonne, Himmel und alle Welten den Atem anhielten, weil niemand wusste, wie lange dieser Stock halten würde, mit dem er ging. Es war keine einfache Sache, wenn Engel fielen …
Silva
(Remagen am Rhein, im Mai, im Erdenjahr 2017 n.Chr.)
Er saß an einem der Tische des Gastraums in Briannas Unterkunft. Pega war irgendwo draußen unterwegs mit Rani und vermutlich Mike im Gefolge. Brianna ging in den oberen Zimmern ihres Hauses irgendwelchen Tätigkeiten nach, Hugo ebenso. Und alle anderen waren nicht hier. Nicht in diesem Raum, nicht in diesem Haus, nicht in dieser Stadt und auch nicht auf dieser Welt.
Genaugenommen war der ganze untere Gastraum an diesem Morgen, von Silvas eigener Anwesenheit einmal abgesehen, vollkommen leer. Was für Brias Gasthaus recht ungewöhnlich war. Silva nutzte daher die Gunst dieser Stunde und genoss die Stille und das Alleinsein.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich nach Stille und Alleinsein gesehnt. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich vor Stille und Alleinsein gefürchtet. Nun war er irgendwo dazwischen. Zwischen Sehnen und Furcht. Man konnte sagen, das Verhältnis war derzeit ausgeglichen.
Nun, das Gute an der Stille dieses Morgens war, dass Silva sicher sein konnte, sie würde nicht ewig dauern. Und ja, genau deshalb konnte er sie genießen.
Vor ihm stand ein Glas auf dem hölzernen Tisch, und gleich daneben stand eine zugehörige Flasche. Beide waren noch halb voll. Oder schon halb leer. Je nachdem, von wo aus man die Dinge betrachtete.
Die Flüssigkeiten in Glas und Flasche hatten beinahe die gleiche Farbe wie die Platte des Tisches: goldbraun. Sie schimmerten im Licht der Morgensonne. Silva hatte eines der leicht erhöht liegenden Fenster des Gastraumes weit geöffnet und ließ die hellen Strahlen herein.
Die Sonnenstrahlen brachten außer Licht auch noch allerhand Geräusche mit. Die Geräusche einer Stadt, die auf der anderen Seite der Gemäuer von Briannas Gasthaus lag.
Silva konnte sie nicht sehen, diese Stadt auf der anderen Seite, und die Stadt konnte ihn nicht sehen. Was an der ungewöhnlichen Höhe der Fenster lag. Aber das war ihm zu diesem Zeitpunkt nur recht so. Das Leben drang auch so bis zu ihm durch.
Vielleicht war Pegaso mit Rani und Mike zum Markt gegangen, um einzukaufen. Für die Küche des Hauses, in der Pega nun arbeitete.
'Pega und kochen', das passte zusammen wie 'Pega und essen': perfekt.
Silva nahm das Glas in die Hand und schwenkte es leicht hin und her. Die Flüssigkeit darin schwappte nach rechts und nach links. Sie tat das so lange, bis er es unterließ, ihr Schwung zuzufügen. Er wartete, bis sich die Wellen im Glas gelegt hatten, und gönnte sich dann einen Schluck dieses überaus aromatischen Getränks. Wobei die Hand, die das Glas führte, ganz leicht zitterte.
Er betrachtete sie mit Missmut.
Das taten seine beiden Hände nun schon eine ganze Weile: unablässig zittern. Ganz leicht nur und kaum merklich, doch im Grunde genommen seit jenem Tag, an dem sein alter Meister vor seinen Augen ermordet worden war. Und er hatte noch immer keinen Weg gefunden, sie wieder zur Ruhe zu bringen.
Die Hände eines Wächters, die eigentlich immer ruhig und besonnen sein sollten.
Nun, allerdings war er gar kein Wächter mehr. Jetzt nicht mehr.
Er hatte bloß noch keine Ahnung, was er stattdessen war.
Im oberen Stockwerk wurden Schritte laut. Silvas Augen hefteten sich an ihre Fersen, als könnten sie durch die Mauern des Hauses hindurchsehen.
Natürlich konnten sie das nicht, aber die Person, die zu den Schritten gehörte, hatte Silva auch so schon längst erkannt. Es war Bria. Sie ging den Flur entlang in Richtung der Treppe, dann kam sie die Treppe hinab und gesellte sich mit einem höflichen Gruße zu Silva in den Gastraum. Geradewegs ging sie auf ihn zu.
„Guten Morgen“, sagte sie dabei. Bria war immer überaus höflich und niemals weniger herzlich. „Darf ich?“, fragte sie, als sie an seinem Tisch ankam, und sie deutete auf den Stuhl, der Silva gegenüberstand.
„Klar.“ Sie durfte. Warum auch nicht?
Brianna zog den Stuhl vom Tisch weg und ließ sich darauf nieder. Sie betrachtete ihren Gast auf ihre sanftmütige, stille Art. Jeder andere hätte ihn nun gefragt, wie es ihm gehe, was er heute so vorhabe, was ihn beschäftige und überhaupt. Aber Bria nicht. Bria saß einfach nur da und sah mit ihm zusammen in den Morgenhimmel hinaus.
Jedem anderen hätte man irgendwann angemerkt, dass das Nichtfragen Disziplin erforderte und Willenskraft abverlangte. Aber Bria war die geduldigste Person, der er je begegnet war.
Ein kleines Schmunzeln stahl sich auf Silvas Lippen. Er musste sogar leise lachen, weil es ihn amüsierte, dass er so sehr dieser Erwartungshaltung eines Gespräches unterlegen war, dass es nun ihn selbst Disziplin und Willenskraft kostete, nicht von sich aus zu erzählen oder irgendein belangloses Zeug zu fragen.
Bria hatte etwas unglaublich Einladendes an sich, ohne aufdringlich zu sein. Er mochte sie wirklich gerne.
Er stellte daher das Glas beiseite und legte beide Hände auf den Tisch, mit den Handflächen nach oben, so, dass sie ihre Hände in die seinen hineinlegen konnte, wenn sie wollte.
Brianna blickte verwundert erst auf Silvas Hände und dann in Silvas Gesicht. Sie wartete, bis er ihr ganz leicht zunickte. Dann legte sie tatsächlich ihre Hände in die seinen.
Sie hatte ihn schon oft berührt. Eine Umarmung zur Begrüßung. Ein Schulterklopfen zur Nachtruhe. Doch wann immer sie ihn berührt hatte, das fiel ihr jetzt auf, war eine Schicht Stoff zwischen ihnen gewesen, oder der Augenblick der Berührung hatte kaum länger als eben nur einen Augenblick gedauert.
Diesmal nicht. Ihre Hände lagen Haut an Haut. Bilder schossen in Brias Kopf hinein und mitten zwischen ihre eigenen Gedanken. Bilder, von denen sie definitiv wusste, dass es nicht die ihren waren. Nicht ihre Erinnerung, nicht ihre Gedanken, nicht ihre Wünsche, nicht ihr Sehnen. Sie wusste es so, wie sie wusste, dass das Herz, das in ihr schlug, genau ihres war. Aber jetzt war da beinahe noch ein zweiter Herzschlag, ein zweiter Puls überall in ihrem Körper zu spüren. Dieses Gefühl überraschte sie. Doch es erschreckte sie keineswegs, ganz im Gegenteil, es fühlte sich warm an und gut. Es pochte nach Abenteuer und Leben.
Brias Geist wanderte.
Mit einem Mal stand vor ihr ein Pferd. Ein pechschwarzes. Ein wahrer Koloss. Mit bernsteinfarbenen Augen. Es schien beinahe so, als loderten Feuer in diesen Augen. Doch Bria war von der Gesamterscheinung dieses Geschöpfs zu sehr beeindruckt, um weiter auf die Details zu achten. Sie war sich nämlich gar nicht sicher, ob das wirklich ein Pferd war, das da vor ihr stand. Sie hätte schwören können, es hatte Flügel.
Silva löste behutsam die Berührung ihrer Hände, und das Bild verschwand.
„Schade“, seufzte Bria. „Ich hätte es sehr gerne noch etwas länger betrachtet.“
Silva zog eine Augenbraue nach oben. „Was betrachtet?“
„Das Pferd.“ Brianna musste lachen. Über sich selbst und über diese skurrile Situation. „Ist das immer so, wenn dich jemand berührt? Dass er dann Bilder von Pferden sieht?“
Silva sog tief Luft ein. Er kannte Bria nun schon eine ganze Weile, aber er mochte es überhaupt nicht, wenn dieser eine unbewusste Teil in ihm eigene Entscheidungen traf. Ohne sein willentliches Zutun, ohne seine Erlaubnis und ohne sein Einverständnis. Von Kontrolle ganz zu schweigen. Er hasste das. Doch ganz offensichtlich hatte jener innere Teil sich dazu entschlossen, Bria vorbehaltlos zu vertrauen … und ihr von der Begegnung mit dem Schwarzen zu erzählen.
'Das Pferd.' Er hatte sofort gewusst, von welchem Pferd sie sprach.
'Und ob das immer so sei, wenn man ihn berührte?' … Nun, da fragte sie nach nichts Geringerem als einem seiner zutiefst gehüteten Geheimnissen. Da hätte Pega ihn ebenso gut ein weiteres tausendstes Mal nach dem zweiten Teil seiner Herkunft fragen können.
Silva stieß die Luft wieder aus.
Ihm war klar, dass er vielleicht beiden irgendwann einmal auf all ihre Fragen würde Rede und Antwort stehen müssen. Aber er brauchte eben Zeit. Einfach nur Zeit. Er war niemand, der leichtfertig Vertrauen fasste.
Er brauchte sehr viel Zeit.
Bria bekam daher, so als kleines Geschenk für diesen wundervollen Morgen, ein kleines Nicken auf ihre Frage hin.
Briannas Mund formte ein 'U' vor Verwunderung. „Uh!“, sagte auch ihre Stimme, als ob sie das wirklich verstehen könnte. „Und kannst du das willentlich beeinflussen?“
Silva nahm das Glas wieder in die linke Hand. Wie unangenehm, dass Bria ausgerechnet auf diese Frage nun kam. Er ließ die Flüssigkeit kreisen, bevor er einen großen Schluck davon nahm.
„Im Moment nicht.“
Das war zumindest die halbe Wahrheit und eine äußerst diplomatische Antwort, wie er fand. Der Geschmack des Getränks verscheuchte das unangenehme Gefühl, und Brias ernst gemeintes Interesse berührte ihn. Der unbewusste Teil in ihm, jener Teil, der Bria den Schwarzen gezeigt hatte, mochte es nämlich gerne, gefragt zu werden. Er mochte es sogar sehr gerne, und Silva konnte sich diese kleine Ausschweifung an diesem Morgen leisten.
Diese Welt hier, Botega, und insbesondere diese Stadt hier, Leonde, waren durch und durch seltsam. Ein alter Ort aus Staub und Gold. Eine Randwelt. Ihre Bewohner verschroben und unbeugsam. Eigensinnig und stur genug, dass Silva sich hier tatsächlich heimisch fühlte.
Und sicher.
Er fühlte sich so sicher, dass er nun hier saß, in Brias Gasthaus, und betrunken war, und zwar am frühen Morgen. Einfach so. Einfach nur, weil er es konnte. Einfach, weil er es sich erlauben konnte.
Noch niemals in seinem ganzen Leben zuvor hatte er sich derartige Dinge erlaubt. Er hatte es gehasst, Kontrolle abzugeben. Aber hier und jetzt war es in Ordnung. Es war sogar beinahe schon befreiend.
Kontrolle war doch sowieso nur eine Illusion. Hatte er sie nicht ohnehin schon vor langer Zeit verloren? Sollten sich doch andere um die wichtigen Dinge kümmern. Die Belange seines Volkes, den Gang der Welten, das Fortbestehen des Universums. Ihm war es egal. Seit Tagen schon. Und es würde ihm vielleicht auch morgen noch egal sein. Auch das war ihm egal.
Seine grauen Augen musterten Bria, wie sie ihm so gegenübersaß und ihn ihrerseits ansah.
Vielleicht hatte er in letzter Zeit einfach viel zu oft die Kontrolle über sein Leben eingebüßt. Das mochte schon sein. So viele Entscheidungen hatten nicht mehr bei ihm gelegen. Entscheidungen über das, was ihn umgab und ihm begegnete. Über das, was er tun konnte oder lassen konnte. Oder tun musste oder lassen musste. Geschweige denn über das, was er wollte! Er hatte doch sowieso keinen Einfluss mehr. Nicht einmal auf seine eigenen Entscheidungen. Und das war schmerzhaft.
„Ich war das Abenteuer seines Lebens“, erklärte er daher lieber, und Bria brauchte einen Moment, um den Zusammenhang zu verstehen.
„Du seines?“, lachte die Frau, während ihre braunen Locken fröhlich wippten und sich um das betagte Gesicht kringelten.
Brias braune Kringel waren viel kleiner geringelt als Pegas blondes Chaos.
„Oder war er vielmehr deines?“, fragte Bria weiter.
Silva legte noch einmal seine Hände auf den Tisch. Also gut, wenn sie unbedingt wissen wollte …
Bria legte die ihren noch einmal hinein. Sofort war sie wieder in jener Welt, in der der Schwarze ihr gegenüberstand. Dann saß sie auf seinem Rücken und galoppierte mit dem Wind um die Wette. Oder vielmehr saß jemand auf ihrem Rücken, während ihre vier Beine über den staubigen Sand nur so dahinflogen. Während die Landschaft an ihr vorbeisauste. Während der Wind in ihren Ohren sang. Der Herzschlag der Person auf ihrem Rücken war in ihrem eigenen Puls deutlich zu spüren, wild und frei. Sie hatte noch niemals zuvor jemanden auf ihrem Rücken getragen und noch niemals zuvor sich freiwillig mit einem anderen Geschöpf verbunden. Aber dieses Geschöpf hier, dieser Reiter, war besonders. Er hatte gar keine Angst vor ihr. Dieses Geschöpf, das sie da auf ihrem Rücken durch den Wind trug, das war so wie sie: dämonisch.
„Huch!“, sagte Bria laut.
Sie hatte Stallwände zertreten. Sie hatte den Menschen, die es gut mit ihr meinten, die dünnen Knochen ihrer schwachen Körper gebrochen. Sie hatte alle verjagt. Weil alle anders waren als sie selbst.
Er jedoch war der Erste, der Einzige, der sie … verstand.
Ganz leicht atmete Bria aus. Das Pferd oder wer auch immer da zu ihr sprach, verschwand.
Bria verstand ebenso. Die inneren Dämonen, die Kämpfe, die Zwänge, die Ängste, sogar die Verurteilungen der eigenen Person, all das kannte auch sie nur zu gut. Sie war nicht immer die gutmütige, sanfte Frau gewesen, die sie nun war. Sie war ihren persönlichen Höllenweg nur schon vor langer Zeit gegangen. Beinahe bis zu seinem Ende. Sie hatte ihren eigenen Dämonenpfad bereits vor langer Zeit beschritten.
Und sie hatte ihn verlassen.
Silva hatte den seinen jedoch noch vor sich.
Ganz langsam öffnete Bria die Augen und lächelte Silva zu. „Ja, du warst definitiv das Abenteuer seines Lebens. Das ist beeindruckend.“ Dann stand sie auf, kam um den Tisch herum und ließ sich neben ihm nieder.
Silva zog die Stirn kraus. Hatte er ihr nicht gerade einen guten Grund geliefert, der Distanz mehr als rechtfertigte?
Ganz vorsichtig nahm sie eine seiner Hände vom Tisch und hielt die Hand fest. Ziemlich fest, während sie Silva aus ihren tiefbraunen Augen heraus geradewegs anblickte.
Für einen Moment erinnerte sie ihn an Lara.
„Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als wir beide uns zum ersten Mal begegnet sind“, begann Bria und schickte nun ihm Bilder in seine Erinnerung hinein. Oder vielmehr hoffte sie, das zu tun. Sie hatte keine Ahnung, wie diese Art der Kommunikation funktionierte, aber sie war sich ganz sicher, dass eine einseitige Weise keinen Sinn machen würde.
Mit der noch freien Hand ergriff Silva das Glas und trank es leer. Er ließ neue Flüssigkeit einlaufen. Ja, er erinnerte sich an jenen Moment. Damals, als er Bria zum ersten Mal begegnete. Damals, als der Baron noch lebte. Weil Silva ihm noch nicht den Kopf abgeschlagen hatte.
Silva schluckte hart. „Wie lange ist das her?“, fragte er, bevor Bria ihn fragen konnte, was damals geschehen war. Denn dann würde er mit seinen üblichen Gegenfragen antworten. Bria würde ihn bitten, nicht mit Gegenfragen zu antworten, sondern richtige Antworten zu geben. Sie würden beide vielleicht darüber lachen, vielleicht aber auch nicht.
Er hasste das.
Die plötzlich unangenehme Stimmung in ihm erforderte ganz unbedingt und dringend noch ein paar weitere Schlucke dieses Getränks.
„Fünf Jahre“, antwortete Bria und knetete ein wenig Silvas Hand, die sie zwischen ihren eigenen Händen noch immer gefangen hielt.
Das Kneten machte die Gefangenschaft durchaus angenehmer, die Antwort hingegen nicht. „Das klingt viel“, befand Silva. „Nach dieser Zeit bemessen?“
„'Dieser' Zeit?“ Bria zog ein fragendes Gesicht auf.
Silvas Mundwinkel zuckten nach oben. Er musste schmunzeln, denn nun war sie es, die Gegenfragen stellte. Sehr charmant. „Nach der hier gültigen Zeit bemessen“, erklärte er ihr.
„Nach welcher denn sonst?“, fragte Bria erstaunt.
Sein Schmunzeln wurde breiter, und er fügte dem erneut aufkommenden Genuss ihrer Unterhaltung noch den Genuss eines weiteren Schlucks hinzu. Sie hatten ein neues Thema. Sehr gut!
„Erzähl mir nicht“, begann er, „dass du von Rani nicht weißt, dass andere Welten andere Zeiten haben.“
„Weißt du“, antwortete Bria in ihrem gekonnt warmen und herzlichen Tonfall, „ich habe diese Sache mit der Zeit noch nie so ganz verstanden. Für mich gibt es nur die eine. Ich dachte immer, es gibt überhaupt nur die eine.“
Nun musste Silva laut lachen. Er konnte nicht anders. Er wollte sie nicht beleidigen, auch nicht auslachen oder dergleichen, aber irgendwie hatte dieses Gespräch erneut eine unerwartete Wendung genommen. Eine erheiternde. So sehr, dass kleine Tränen Silvas Wangen hinabliefen, und um seinen Mund herum bildeten sich kleine Lachfalten ebenso wie um seine Augen.
Bria lachte zwar mit ihm, weil sie es liebte, ihn so herzhaft lachen zu sehen, aber sie konnte nicht ganz verbergen, dass sie den Witz nicht verstanden hatte.
„Okay“, sagte Silva schließlich und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. Er ließ sogar zu, dass Bria ihm dabei half und ganz unbewusst seine zweite Hand wieder freigab.
„Bereit für eine Lektion?“ Er grinste Bria schelmisch an.
„Moment!“ Bria stand auf und brachte ein Glas für sich mit zum Tisch. Mit Wasser darin, denn um derartige Genussmittel, wie Silva sie derzeit bevorzugte, machte Bria einen großen Bogen. Solcherlei Dinge waren zu gefährlich für sie. Eine Zeit lang war sogar ihr Leben davon bedroht gewesen. Bevor sie Hugo kennengelernt und dieses Haus eröffnet hatte. Bevor Rani in ihr Leben getreten war. Im Grunde waren es diese beiden gewesen, Hugo und Rani, und auch die Verantwortung, die ihr dieses Haus zugetragen hatte, die ihr klar gemacht hatten, dass es etwas gab in ihrem Leben, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Immer und jeden Tag.
Und vielleicht hing es mit genau diesem Umstand zusammen, dass sie Silva keine einzige Frage dazu stellen musste. Sie verstand ihn auch so.
Auf die Worte, die jetzt kommen mochten, war sie hingegen in der Tat hoch gespannt.
„Ich bin bereit“, nickte Bria tapfer. Sie setzte sich wieder an Silvas Seite. Ja, durchaus nah, aber das musste er nun ertragen.
Silva machte überraschenderweise nicht die geringsten Anstalten, sie wie üblich auf Abstand zu bringen. Er betrachtete stattdessen jede noch so kleine Regung in Brias Erscheinungsbild. Er duldete Bria nicht nur neben sich, er rückte sogar freiwillig noch näher zu ihr hin, während ein Viertel des Inhalts seines Glases in seinem Mund und seinem Magen verschwand. Silvas blassblaue, beinahe graue Augen musterten Bria unverhohlen.
Auf dieser Welt gab es die Augenfarbe 'grau' nicht, und daher bildete Bria sich immer ein, sie seien im Grunde nur blassblau. Die silbernen Pfützen darin kamen ganz sicher von den Lachtränen. Ihr Glitzern ließ sich jedoch nicht abstreiten. Fasziniert spähte sie hinein.
Silva blinzelte und brach den Bann, bevor er zur Gänze entstehen konnte. Ein weiterer Teil der goldbraunen Flüssigkeit verschwand in seinem Mund, während sein Verstand sich darauf konzentrierte, das Silber aus seinen Augen fernzuhalten.
„Zeit“, erklärte er mit einem kleinen Bemühen um klare Aussprache, „ist immer individuell. Sie ist nicht subjektiv und schon gar nicht objektiv. Sie ist niemals allgemeingültig. Sie ist nicht einmal messbar.“
„Nicht messbar? Doch ist sie!“ Dieser verwundert trotzige Satz war aus Bria heraus, bevor sie ihn überhaupt hatte denken können. Wie ein Reflex, den sie nicht hatte verhindern können. Sie deutete, um ihrem überraschenden Widerspruch Rückhalt zu verschaffen, auf eine alte Wanduhr. Diese Kostbarkeit war mit einem dicken Pendel versehen, das unermüdlich hin und her schwang, und mit eisernen Zeigern auf einem weißen Ziffernblatt, die ebenso unermüdlich Stunden und Minuten anzeigten.
Um Silvas Augen herum entstanden wieder jene kleinen Falten, die sich immer nur dann zeigten, wenn er wahrhaft amüsiert war.
Er hatte Geduld mit Bria. Viel Geduld. Sehr gnädig war er. Aber das erforderte zwei weitere Schlucke des Getränks.
„Man kann Zeit nicht messen“, erklärte er noch einmal. „Deine Uhr da an deiner Wand misst nicht Zeit. Sie misst Bewegung.“
Brianna blickte ratlos drein, und sie sah nun auch Zögern in Silvas Gesicht aufkommen. So, als müsste er eine Entscheidung treffen. Eine, die nicht leicht zu treffen war. Er nahm sein Glas und leerte es in einem Zug. Er goss nach und drehte sich samt Glas in der Hand ganz und gar zu Bria hin.
Er war ein ganzes Stück größer als sie, er ragte gewissermaßen vor ihr auf, selbst noch im Sitzen, und in seinem Blick lag nun etwas derart Ernstes, dass es ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
„Möglicherweise zerstöre ich dein Weltbild. Möchtest du wirklich, dass ich weitermache?“, fragte er bar jedes Amüsements.
Sie nickte ihm ebenso ernsthaft zu. „Möglicherweise zerstörst du aber auch nur mein Bild der Zeit. Vielleicht wird es aber ohnehin Zeit“, sie schmunzelte kurz, „dass ich mal ein bisschen von dem verstehe, was meine Tochter so während ihrer Reisen erlebt.“
Silva sah sie noch einen Moment lang prüfend an.
„In Ordnung“, sagte er schließlich. Er nickte ihr zu und wiederholte dann noch drittes Mal: „Zeit ist nicht messbar.“ Er hob das Glas mit der Flüssigkeit auf Brias Augenhöhe an und drehte es leicht hin und her, so, dass die Flüssigkeit darin zu schwimmen begann. „Bewegung ist messbar. Veränderung ist messbar“, erklärte er währenddessen. „Stillstand hingegen nicht. Stillstand ist nicht messbar. Aber um überhaupt etwas messen zu können, braucht man eine Bezugsgröße. Einen Vergleichspunkt.“ Er selbst brauchte einen Schluck aus diesem Glas. Obwohl die Worte langsam kamen, weil sein Mund Konzentration brauchte, um sie zu formen, arbeitete sein Verstand nach wie vor ungehindert klar.
Er war weit entfernt von jenem Punkt, an dem die Unklarheit seinen Verstand erreichen würde. Oder vielmehr war es so, dass sein Verstand schon so lange mit allem im Unklaren war, dass es eigentlich gar keinen Unterschied mehr machte, in welchem Zustand er sich nun befand.
Wie auch immer.
„Der Vergleichspunkt.“ Das war entscheidend. „Stell dir Wind vor. Oder vielmehr: Stell dir Windstille vor. Von hier aus gesehen, von dieser Welt aus, von diesem Platz aus ist Windstille nicht spürbar. Nicht zu messen. Aber nun stell dir vor, dass du von außen auf deine Welt blickst. Dann ist deine ganze Welt in Bewegung. Und mit ihr die Luft, ob sie nun hier steht oder nicht. Von außen gesehen gibt es keine Windstille, weil die Luft sich mit deiner Welt bewegt.“
Bria nickte. Soweit verstand sie.
„Um Bewegung zu messen, brauchst du auch den Weg, der zurückgelegt wird. Wie wird Bewegung hier gemessen? In Geschwindigkeit?“
„In Metern und Sekunden.“
Silva stockte. Er konnte nicht verhindern, dass ein kleines Lachen ihm entfuhr. „In Metern und Sekunden“, wiederholte er und zog eine Augenbraue nach oben. Himmel! Das passte nicht sehr gut zusammen. War doch in Central die Messung von Minuten schon abgeschafft worden, weil sie zu genau, zu kompliziert gewesen war. Aber Sekunden?
Die Himmel mögen bewahren!
Nun gut, hier in Leonde war eben alles ein bisschen anders.
„Bewegung bringt Veränderung“, fuhr er fort und konzentrierte sich. „Und Veränderung bringt Bewegung. Du kannst die Strecke messen, die durch Bewegung geschaffen wird, wenn du einen Vergleichspunkt hast. Nehmen wir mal an, wir stehen mitten in Leonde. Dann sind deine Vergleichspunkte für die Bewegung dieser Welt beispielsweise die Sterne am Himmel. Man muss nun davon ausgehen, dass sie stillstehen, diese Vergleichspunkte, oder man wiederum ihre Bewegungen kennt.“ „Weißt du …“ Silvas Augen wurden plötzlich groß wie die eines Kindes. Er beugte sich zu Bria hin, als wollte er sie an etwas Besonderem teilhaben lassen. „Es gibt Welten, da ist das Messen der Zeit, also der Bewegung der Welt, aufgrund von Sternen als Vergleichspunkten ziemlich schiefgegangen. Ich war mal auf einer solchen Welt gewesen. Da hatte man in Vierjahren gemessen. Und man hatte erst vorwärts und dann ein Stückchen rückwärts gezählt und dann wieder vorwärts. Das kam daher, dass man irgendwann erkannt hatte, dass das Vergleichsobjekt, das man all die Jahre über zur Berechnung der Zeit zurate gezogen hatte, am Himmel gar nicht so stillstand, wie man ursprünglich angenommen hatte. Diese unverschämte Erkenntnis brachte allgemein große Verwirrung und ebenso große Veränderung mit sich. Und von da an war für jene Welt die Zeit wahrhaft anders verlaufen.“
Er brauchte eine kurze Pause, einen kurzen Stillstand. Um zu atmen, zu trinken und Brias Kopf Zeit für die Umstrukturierung zu gewähren.
Bria nickte. Soweit so gut.
Daher fuhr er fort mit seiner Lektion und seiner Konzentration auf die Worte. Damit sie nicht allzu verschwommen kamen. Was die Aussprache betraf, nicht die Wahrheit dahinter. „Der erste Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels ist der Vergleichspunkt. Der zweite Schlüssel ist der Standpunkt der Betrachtung.“ Er betrachtete Bria eingehend. „Nun, du willst es ja wissen: Ja, es gibt andere Zeitmessungen als die hier übliche. Natürlich gibt es die! Jede Welt hat ihre Zeit und ihre eigene Messung. Es gibt sogar Messungen, die weltenübergreifend sind. Schon mal von IST gehört?“
„Ja, von Rani hin und wieder.“
„Interstellar Standard Time“, erklärte Silva. Er tunkte einen Finger in sein Glas und markierte mit einem goldbraunen Tropfen eine Stelle auf dem Tisch. „Das ist die Mitte. Die Mitte unserer Galaxis. Unseres Teils des Universums.“
Um diese Mitte herum zeichnete er mit weiterer Flüssigkeit etwas, das wie ein Windrad aussah. Mit kleinen, gebogenen Ärmchen als Speichen.
Ein weiterer Tropfen auf einer der Speichen markierte Botega.
„Deine Welt hier dreht sich um sich selbst. Wenn du einen Stern dir merkst, nur so als Beispiel, und dieser Stern eine Weile später wieder an exakt dem gleichen Punkt am Himmel steht, ist ein Kreis geschlossen. Du hast 'ein Mal'. Wenn du eine Sonne beobachten kannst, von der du weißt, dass sie im Vergleich zu deiner Welt stillsteht, und von der du weißt, dass deine Welt sich um sie herum bewegt, und du dann irgendwann wieder den exakt gleichen Sonnenpunkt beobachten kannst, dann hast du 'ein Mal'. Du hast 'ein Mal' die Wegstrecke zurückgelegt und bist wieder am Startpunkt angekommen. Das sagt noch nichts über die Einteilung der Zeit bis dahin aus, aber du hast einen Anfang und ein Ende gefunden, das wiederum einen neuen Anfang darstellt. Klar soweit?“
Bria nickte.
Sie war beeindruckt. Denn Silva war beeindruckend. Wie er so dasaß vor ihr und vor dem Fenster, durch das in genau diesem Moment ein Sonnenstrahl hereinkam und Silvas Platz erhellte. Wie er so dasaß, die Sonne im Rücken, die nun auf ihn schien und einen schimmernden Kranz um ihn herum bildete, die seine hellen, fast farblosen Haare nun beinahe golden schimmern ließ mit ihrem Licht. Wie Silva dasaß, mit dem Glas in der Hand, halb voll mit dieser goldschimmernden Flüssigkeit, die gerade dazu diente, ein ziemlich nasses Bild der Galaxis auf einen von Brias braunen Holztischen zu zeichnen.
„Denke größer!“, sagte Silva und zeichnete die Speichen des Windrads nochmals nach, sodass sie nun alle gleich nass waren. „Nicht nur deine Welt, Bria, alle diese Welten! Sie sind miteinander verbunden. Und man weiß, dass sie in dieser Struktur angeordnet sind. Man weiß das, weil man sie von außen gesehen hat. So, wie wir jetzt hier sitzen und diese kleine Galaxis auf dem Tisch betrachten. Und daher weiß man auch, dass alle Welten, die sich darin befinden, von außen gesehen zum gleichen System gehören. Sie bewegen sich gemeinsam um diese Mitte.“
Er tippte in die Mitte der Galaxis und sah ein Aufblitzen in Briannas braunen Augen.
„Nicht fragen!“, unterbrach er das Blitzen sofort. „Noch nicht fragen, was da ist.“ Denn das würde seine ganze Logik unterbrechen, seine schöne, mühevoll aufgebaute und hart erarbeitete Logik. Er fixierte Bria mit einem Blick, der sich ihre volle Aufmerksamkeit sicherte. Sie waren noch nicht am Ende angekommen. Noch nicht ganz.
Ein kleines Stück fehlte noch.
„Nur von außen kannst du einen zuverlässigen Punkt festlegen. Von außen gesehen.“ Er fügte einen weiteren Tropfen am Ende einer der Speichen hinzu, sodass nun ein dicker, nasser Fleck diese eine Speiche markierte. „Wenn das Rad sich weiterdreht, bis dieser Punkt wieder an genau jener Maserung des Tisches angelangt ist, neben der er sich jetzt befindet, ist 'ein Mal' um. Genau das ist IST.“
Jetzt waren sie am Ende angekommen. Und er sah, dass Bria nun eine ganze Weile Zeit und einige Schlucke Wasser brauchte, um diese Information zu verarbeiten. Er ließ ihr beides.
„Im Grunde“, redete er so ganz beiläufig weiter und nun vielmehr zu sich selbst, während Bria noch mit Denken beschäftigt war, „ist diese äußere Messung der Zeit jedoch völlig unerheblich. Jedes Lebewesen besitzt sowieso seine ganz eigene. Wenn man von 'besitzen' überhaupt sprechen kann. Zeit ist nämlich … empfunden.“ „Eingebildet“, hätte er beinahe gesagt.
Er gönnte sich einen kleinen Seufzer und rechnete damit, dass Bria ihn noch nach der Mitte fragen würde, denn jeder andere würde ihn noch nach der Mitte fragen. Ganz gewiss. Aber Bria war nicht jeder andere. Sie fragte ihn zwar, doch nach etwas ganz anderem. Und das überraschte ihn zutiefst. Nicht nur, weil er der Meinung war, dass sein Erklären in seinem derzeitigen Zustand etwas zu wünschen übrig gelassen hatte - an Schärfe, Ausdruck, wohlüberlegter Wortwahl und dergleichen - sondern auch, weil Bria weitaus tiefer zwischen den Zeilen gelauscht hatte, als er für möglich gehalten hatten. Vielleicht sogar tiefer, als ihm lieb war.
Es war nicht so leicht, mit dem eigenen Verstand das System, in dem man lebte, zu verlassen. Besonders dann nicht, wenn man kein anderes kannte. Aber Bria tippte mit einem Finger auf den dicken Punkt am Rand der Galaxis, während sie Silva mit einer Ernsthaftigkeit fixierte, die er so an ihr noch nie zuvor gesehen hatte.
„Warst du da gewesen?“, fragte sie mit Ehrfurcht in der Stimme. „Da draußen? Da, wo wir jetzt sitzen?“
Silva blickte ebenso ernst zurück. Seine Hände zitterten leicht, was sie seit Anuar stetig taten. Und daher fiel es gar nicht weiter auf, dass diese Erinnerung ziemliche Erregung in ihm verursachte. Weil sie so machtvoll war. Bilder huschten hinter seinen Pupillen vorbei, während er Bria anstarrte, die ebenso zurückstarrte und auf seine Antwort wartete. Bilder längst vergangener Zeiten. Zeiten, die noch weit vor Anuar gelegen hatten. Zeiten, denen eine kraftvolle Magie innegewohnt hatte. Zeiten, in denen er selbst …
Beinahe erinnerte er sich. Aber nur beinahe.
Dann musste er schmunzeln. Es ging nicht anders. Wie Bria da so vor ihm saß und ihn anstarrte. Keineswegs unangenehm, wie er fand. Ganz im Gegenteil. Er mochte es, wenn sie ihn auf diese Weise ansah, wenn sie auf ihre Weise lauschte und ihn dann diese Dinge fragte, die sonst niemand fragte. Nur sie. Vor allem aber mochte er, wie sie ihn fragte. Ganz ohne Zwang. Er mochte das sehr.
Aus dem Schmunzeln wurde ein Lächeln, und Bria lächelte ebenso zurück, angesteckt von dem Charme, der Silva nun umfloss wie das Licht der Morgensonne. So saßen sie da und lächelten einander zu.
Bis Silva nickte. Ein klein wenig nur und genau ein Mal.
Es mochten Tage, Wochen, ja sogar Monate vergangen sein, in denen Silva nichts weiter getan hatte, als in diesem wundervoll weichen Bett zu liegen und sich die Federdecke bis weit über die Nase zu ziehen. Die weiße Decke dieses gemütlichen Bettes, das in Brias Unterkunft in Leonde stand, in jener kleinen, unbedeutenden Stadt auf jener kleinen, unbedeutenden Welt, auf der das Leben völlig unspektakulär über den staubigen Sandboden stapfte und kleine, kaum wahrnehmbare Abdrücke hinterließ.
Abdrücke, die nicht von ihm stammten. Man hinterließ keine Abdrücke im Staub, wenn man im Bett lag.
Goldenes Licht fiel durch die Fenster in den Raum hinein und ließ die Staubkörnchen in der Luft glitzern und tanzen. Silva betrachtete sie von seinem Bett aus und streckte sich ausgiebig. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so wohlgefühlt hatte. Es war himmlisch, hier zu liegen, himmlisch, hier zu sein.
Sollten sich die Jäger, falls welche in der Stadt waren, doch die Füße nach ihm wund laufen. Sie hätten schon durch die Fenster des oberen Stockes blicken müssen, um ihn zu finden. Sollten sie ihn doch suchen, wo immer sie wollten. Hier war er sicher.
Das Zimmer war kleiner, als die Zelle in Main es gewesen war, aber dennoch nicht zu vergleichen. Denn erstens: Er war ganz und gar freiwillig hier drinnen. Und zweitens: Hier ging es ihm gut.
Es klopfte an der Tür.
Er hatte die Schritte im Flur längst gehört und auch erkannt, bereits, als sie noch auf der Treppe nach oben gewesen waren. Die Tür ging einen Spaltbreit auf und Pegaso schlüpfte hindurch, ohne auf ein Herein zu warten. Er balancierte ein Tablett auf seinen Händen, das sogleich Silvas Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Hallo, du Schlafmütze“, rief Pegaso ihm freudig zu, er tänzelte quer durch den Raum und ließ sich gekonnt neben Silva auf der Bettkante nieder. Das Tablett stellte er mitten auf der Bettdecke ab.
„Zimmerservice“, sang Pegaso fröhlich.
Ein süßer Duft stieg Silva in die Nase. Auf dem Tablett befanden sich ein Teller voll Brot mit Honig, ein zweiter Teller voll Früchte, die verdammt lecker aussahen, und eine Tasse mit einem Getränk, das entfernt an Kaffee erinnerte, würzig, aromatisch und heiß. Silva lief das Wasser im Mund zusammen. Er hob seinen Blick, um Pegaso zuzulächeln.
Auf Pegasos Gesicht lag ein ungewöhnlich unsicherer Ausdruck.
Unsicherheit gab es nur ganz selten im Leben des jungen Nephilim. Im Leben seines jungen Partners.
Silva betrachtete Pegaso fragend und riss dann ungläubig die Augen auf, als er sah, was diesen unsicheren Ausdruck hervorrief. Wo einst ein sonnengelbes Wirrwarr an Locken geprangt hatte, war jetzt nichts mehr. Die Locken waren weg. Abgeschnitten, kurz geschoren bis auf einen kleinen, nicht mehr ganz so blonden Rest.
„Weißt du“, begann Pegaso zögerlich eine Erklärung, „deine Taktik, in dieser Stadt nicht aufzufallen, ist natürlich unübertroffen. Einfach nicht vor die Tür zu gehen … also das ist …“ Pega lachte leise. „Aber, weißt du, ich für meinen Teil, nun, ich dachte, eine kleine Veränderung würde nicht schaden.“ Er lächelte weiterhin unsicher. „Was sagst du? Ist es so schlimm?“
„Nein!“, beeilte sich Silva zu antworten und versuchte, den Schock aus seinem Gesicht fernzuhalten. „Nicht schlimm, nur … ungewohnt.“ Er dachte daran, wie gerne er seine Finger in diese blonden Locken grub, seine Nase hineinsteckte, immer dann, wenn Pegasos Kopf auf seiner Schulter ruhte. Zwei Gesten, die unglaublich tröstend und Halt schenkend waren, die er nun aber nicht mehr tun konnte. Er fragte sich kurz, wo er nun Halt finden sollte. Doch er schenkte Pegaso einen aufmunternden Blick und fügte hinzu: „Und ein kleines bisschen schade.“
„Teilst du dein Blut trotzdem noch mit mir?“
Silva musste lachen über diese Frage. Er konnte nicht anders, trotz des kleinen Stiches, den das Fehlen der Locken ihm versetzt hatte. Pegaso kam hierher, stellte ihm sein neues Äußeres vor, und das war die Frage, die ihn eigentlich beschäftigte?
„Ja, natürlich!“, sicherte Silva ihm zu.
Offensichtlich war das wirklich alles gewesen, was Pega von Silva hatte wissen wollen, denn die Unsicherheit verschwand vollkommen aus Pegasos Gesicht. Ganz wieder er selbst beugte er sich zu Silva hin und strich Silva vergnügt eine Haarsträhne hinters Ohr. Eine jener Strähnen, die beinahe silbern schimmerten und unverschämterweise immer wieder einen Weg nach vorne fanden, um eines von Silvas Augen hinter sich zu verbergen. Diese Strähnen reichten Silva nun fast bis auf die Schultern.
Als sie sich kennengelernt hatten, waren sie ein kleines bisschen mehr als kinnlang gewesen. Daran konnte Pegaso sich genauestens erinnern.
„Brauchst du noch was?“, fragte er Silva.
„Noch ein paar dieser Tage“, antwortete Silva schmunzelnd.
„Kannst du haben.“ Pegasos Augen blitzten auf. Jetzt, wo sie ganz frei lagen, wo keine Locken mehr sie abschirmen konnten, leuchteten sie umso klarer. In Himmelblau. „Ich bin dann mal weg. Mit Rani“, erklärte Pega. „Ich vermute, du magst lieber hierbleiben statt mitzukommen?“
Das war natürlich eine rein rhetorische Frage.
Silva nickte.
Also drückte der junge Nephilim ihm eilig einen nassen Kuss auf den Mund und verschwand aus dem Raum. Silva blickte ihm nach, bis die Tür wieder ins Schloss gefallen war. Dann ließ er sich in die Kissen zurücksinken, seufzte tief, schob sich ein Stück Honigbrot in den Mund und kehrte mit seinen Gedanken zu den Dingen zurück, mit denen er eben noch beschäftigt gewesen war. Dinge, die ihm bei Weitem nun nicht mehr so düster und qualvoll vorkamen wie einst.
Pegaso hatte ihren Zwangsaufenthalt in Main erstaunlich gut überstanden. Viel besser als Silva selbst.
„Übung macht den Meister“, hatte Pega ihm erklärt, als Silva ihn auf diese Tatsache hin angesprochen hatte.
Sarkasmus war vielleicht nicht immer das beste Mittel der Wahl, was das Verarbeiten unliebsamer Erfahrungen betraf, sicher aber auch nicht das schlechteste. Vor allem angesichts der wahnwitzigen Tatsache, dass Pegaso ihm freiwillig nach Main gefolgt war. Obwohl Pegaso es hasste, gefangen zu sein. Obwohl er geschlossene Räume an sich schon hasste.
Es war ein seltsames Gefühl, Pega so nahe und zuverlässig an seiner Seite zu wissen, befand Silva. Ein seltsam gutes.
Eine einzige Sache bereitete ihm allerdings große Sorgen. Er hatte in Main mit Pega sein Blut geteilt und tat dies auch weiterhin. Und deshalb war er nicht sicher, ob oder inwieweit er seinen jungen Freund in diese eine Sache mit hineingezogen hatte. Denn mit dem Teilen des Blutes teilte er mit Pega auch das Gift, das sich darin befand.
Vielleicht hätte er sich in dieser Sache auch um seinetwegen Sorgen machen sollen, tat er aber nicht. Sie galten derzeit allein Pegaso.
Wenn er allerdings den jungen Nephilim so ansah, wenn er sah, wie das Leben in ihm erblühte, dann wurden diese Sorgen gleich geringer.
Seit ihrer Flucht aus Main war viel Zeit vergangen. Tage und Nächte, Wochen und Monate, die ruhiger kaum hätten sein können. Die ihnen beiden gutgetan hatten. Monate, die Pega mit leben verbracht hatte und Silva mit ruhen.
Nur hin und wieder hatte Silva in dieser Zeit sich dazu durchringen können, aufzustehen und im oberen Stockwerk in Brias Haus umher zu gehen. Er hatte sich dabei mit Hugo angefreundet, Briannas Mann, der sich ebenfalls zumeist in den oberen Räumen aufhielt.
Sofern man von Freundschaft sprechen konnte, wenn man schweigend miteinander die Zeit verbrachte.
Hugo war ein stiller Zeitgenosse. Groß und stämmig gebaut und daher von beeindruckender Statur. Seine Augen blickten hell und wach, und Silva hatte den Eindruck, dass ihnen nicht die kleinste Kleinigkeit entging. Obwohl Hugo selten sprach und noch seltener seine Meinung kundtat, so lag doch in seinem Blick eine stets wachsame Intelligenz. Wenn Silva mit ihm in der Bibliothek des Hauses zusammensaß, dann war Hugo meist damit beschäftigt, irgendetwas zu reparieren, während Silva sich einem Buch widmete oder schlicht die Wände anstarrte.
Jemand anderes hätte ihr schweigsames Beisammensein vielleicht als bedrückend empfunden.
Pegaso zum Beispiel. Er hatte zwei, drei Mal bei ihnen gesessen, vor Langeweile allerdings schnell wieder das Weite gesucht. Im Gegensatz zu Silva brauchte er den Trubel. Pega war immer irgendwo beschäftigt. In der Küche des Hauses, wo er sich seit ihrer Ankunft nützlich machte. In der Stadt, wo er Bria und Rani täglich bei ihren Besorgungen half. Oder bei einem seiner ausgiebigen Ausflüge mit Rani und Mike.
So, wie heute.
Während Silva im Bett lag und sich noch einen Bissen Honigbrot in den Mund steckte, gefolgt von einem Schluck Beinahe-Kaffee. Damit war er vollends zufrieden. Silva für seinen Teil brauchte den Trubel nicht. Absolut nicht. Er brauchte nur das hier: liegen, ruhen und dieses überaus köstliche Frühstück.
Ja, es war himmlisch.
Selbstverständlich war ihm klar, während er noch das Frühstück genoss, dass er nicht für den Rest seines Lebens in Leonde, geschweige denn in diesem Bett bleiben konnte. Auch wenn er beides gerne getan hätte. Selbstverständlich war ihm klar, dass er sich früher oder später wieder den Belangen seines Volkes widmen musste. Den Belangen und all den ungeklärten Dingen. Aber eine Weile wenigstens wollte er sie noch genießen, diese stille, erholsame Zeit.
Erholung, die er und Pega dringend benötigt hatten.
Am späten Nachmittag des Tages gestattete er sich, aufzustehen und die Fenster seines Zimmers weit zu öffnen. Sofort wehten Wind und Sonne herein, gepaart mit den Geräuschen der Stadt, dem Rufen ihrer Bewohner, dem Knattern der Busse, dem Knirschen der Stiefel auf Sand und Holz, dem Quietschen der Räder der kleinen Handwagen, die die Straßenhändler hinter sich herzogen, und vielem mehr. Silva ließ sich die staubige Luft um die Nase wehen. Es roch nach Weite und Freiheit, nach Geheimnis und Verborgenem. Er liebte diese Stadt. Anders konnte er es nicht sagen. Er liebte sie mehr noch als Central und alle anderen Städte, die er bisher kennengelernt hatte. Er konnte sehr gut verstehen, warum auch Pegaso sich hier so wohlfühlte.
Zu Hause.
„Schenkst du mir einen Moment deiner Zeit?“, fragte die Hausherrin, als sie in Silvas Zimmer kam. Sie ging zu ihm hin, stellte sich neben ihn und sah mit ihm aus dem Fenster. Er hatte Bria längst kommen gehört und ließ sie gerne gewähren. Er mochte sie. Daher wandte er ihr den Kopf zu und schenkte ihr ein Lächeln. Der Frau mit den gütigen Augen, die jedem in ihrem Haus Ein und Aus gewährte, solange man ihr wohlgesonnen war. Bria lächelte ganz offen zurück. Sie trat dicht neben ihn, sodass sie nun Schulter an Schulter standen. Oder zumindest beinahe, denn Bria war ein ganzes Stück kleiner als er.
„Ist nicht so leicht, wieder ins Leben zu finden, was?“, fragte Bria, und eigentlich war diese Frage eher eine ziemlich treffende Feststellung.
„Ja“, antwortete Silva ihr daher.
Das letzte Mal, als er hier in Leonde gewesen war, hätten sie beinahe ein immens wichtiges Gespräch geführt. Aber er hatte seine Chance damals verpasst. Vielleicht bekam er nun eine neue.
Bria hatte ihn bisher noch nicht wieder darauf angesprochen, und er hatte auch nicht von sich aus begonnen, ihr Gespräch da, wo es damals abrupt geendet war, wieder aufzunehmen. Was nicht daran lag, dass er ihr nicht vertraut hätte oder so, denn das war nicht der Fall. Er vertraute ihr sehr. Es lag vielmehr daran, dass er nicht so genau wusste, wie er diesen ganzen Schlamassel überhaupt erklären konnte. Er hatte keine Ahnung, wie er all die Begebenheiten, die ihm widerfahren waren, auch nur ansatzweise in Worte fassen konnte. Aber er wollte es versuchen.
„Ja, ich schenke dir einen Moment meiner Zeit“, antwortete er daher ausführlich auf Brias anfängliche Frage und schenkte ihr dazu noch ein weiteres Lächeln. „Die Frage ist nur, wie viel Zeit hast du?“
„Ich? Oh!“ Brias Augen blinzelten erwartungsvoll. „Wieso das denn?“ Ganz offensichtlich war sie zwar mit einem bestimmten Anliegen zu ihm gekommen, aber sie war auch stets offen für Neues. In ihrem Haus war Improvisation ein gefragtes Talent und immer Teil des Alltags.
„Nun“, das Lächeln auf Silvas Gesicht verschwand, und er schluckte hart, um das aufkommende, ungute Gefühl hinunterzuwürgen. Das war Scham. „Wenn ich mich recht erinnere, dann haben wir noch ein Gespräch zu führen.“
Bria wusste gleich, wovon er sprach. „Ja, das haben wir.“ Im Gegensatz zu ihm blieb ihr Lächeln allerdings bestehen.
„Und? Wie viel Zeit hast du nun?“, hakte er nach. Vielleicht sagte sie ja: 'keine'.
Bria legte ihm eine Hand auf die Schulter, drückte sanft zu und bat ihn: „Komm mal mit.“
Er ließ sich von ihr in die private Küche des oberen Stocks führen.
„Kannst du kochen?“, fragte Bria nebenbei, als sie die Küche betraten.
Silva musste lachen. Trotz seiner Beklemmung. Von all den Fragen dieses Universums hatte er mit dieser am wenigsten gerechnet. „Nein“, gestand er ehrlich, „ich kann vieles, aber das ganz sicher nicht.“
„Dann setz dich und leiste mir einfach Gesellschaft. Du erzählst, und ich bereite schon mal das Abendessen vor. Rani und Pega werden sicher bald eintreffen. Mike vielleicht auch.“
Silva setzte sich an den großen Tisch Bria gegenüber und stützte sein Kinn in die Hände. „Tja, wo soll ich anfangen?“
„Die groben Fakten“, half ihm Bria. „Das ist immer ein guter Anfang.“
„Die groben Fakten“, wiederholte Silva, und seine Gedanken begannen zu wandern.
Nach Central.
Die Zeit in Central stieg in seiner Erinnerung empor. Damals hatte er wissen wollen, was diese jungen Nephilim umtrieb, die sich zu einer ziemlich verwahrlosten Horde zusammengerottet hatten. Er hatte wissen wollen, was so viel stärker war als die altehrwürdigen Gesetze seiner Art, denen zu folgen eigentlich auch diese Jungen verpflichtet waren.
Und warum hatte er das wissen wollen?
Weil etwas Grundsätzliches schiefgelaufen war. Weil einige seiner Art erheblichen Schaden angerichtet hatten. Sie hatten gemordet und den Ruf aller Nephilim in Missgunst gebracht. Ähnlich, wie es der Baron getan hatte. Nur auf andere Weise.
Darum hatte er wissen wollen. Es gab diese Entwicklung innerhalb seiner Art, die er nicht gutheißen konnte.
Diese Horde wäre niemals entstanden, hätten nicht einige wenige sie aus einem verdrehten Geist heraus erschaffen. Und es hätte diesen verdrehten Geist nicht gegeben, wäre Andalusius, einer der Ältesten, seinen Pflichten nachgekommen. Auch der Baron war sein Zögling gewesen.
Doch Andalusius die alleinige Verantwortung zuzuschreiben, wäre unfair und nicht rechtens. Schließlich war er nicht der einzige Älteste unter den Nephilim. Silva fragte sich noch immer, warum die anderen nicht eingegriffen hatten, als sie noch hätten eingreifen können. Warum hatten sie zugesehen? Warum hatten sie geschehen lassen? Oder hatten sie womöglich eingegriffen und waren bloß gescheitert? So, wie er selbst?
Fragen, auf die er noch keine Antworten kannte.
Jedenfalls waren Zusehen und Geschehenlassen zwei Dinge, die Silva nicht konnte. Sie waren ihm unmöglich. Auch Rückzug und Distanz waren damals nicht für ihn infrage gekommen.
Er hatte wissen wollen.
„Erinnerst du dich, weshalb Pega und ich in Leonde gewesen waren, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind?“, begann er schließlich. Das war vor den Geschehnissen in Central gewesen, und er hoffte inständig, dass ihm die passenden Worte für alles Weitere noch einfallen mochten.
Bria nickte. „Ihr wart hinter einem Mann her, der Pegasos Leben bedrohte und seine Familie getötet hat.“
„Ja, das waren wir, und wir haben ihn gefunden. Damals.“
„Rani hat mir erzählt, dass du ihn getötet hast. Sie hat es aus einem Bericht des Parlaments erfahren.“
Silvas Pupillen weiteten sich. Vor Schreck. Bria wusste darüber Bescheid? Schon die ganze Zeit über?
Seine Sinne suchten nach einem Vorwurf in Brias Stimme. Aber sie fanden keinen. Aus Brias Mund klangen diese Worte ziemlich neutral. Die schlichte Feststellung einer Tatsache.
Also nickte er nur still.
„Was war dann gewesen?“, fragte Bria. „Danach.“
Zum Glück fragte sie nicht nach den Details, nach keinem Warum, Weshalb oder Wie oder dergleichen.
Die groben Fakten, erinnerte sich Silva.
„Als wir in Central waren, also Pega und ich, da fanden wir dort eine Horde junger Nephilim vor, die völlig gegen unsere Gesetze lebten. Sie trugen von daher Mitschuld an jener gravierenden Veränderung unserer rechtlichen Lebensgrundlage. Du erinnerst dich sicherlich. Unsere Lebensrechte innerhalb der Welten waren damals aberkannt worden. Vom Parlament in Central selbst. Denn hier gab es nun mal diese Irrläufer, die … nun, wie soll ich sagen? Ihr Tun brachte verheerende Folgen für uns alle.“ Er schluckte hart. „Ich wusste nicht mehr, wie ich leben sollte“, gestand er leise. „Nicht mal in Central.“
Diese Stadt zu verlieren, hatte einen spürbaren Schmerz in ihm hinterlassen. Er hoffte sehr, Bria würde auch hierzu nicht nachfragen, und zu seinem Glück tat sie es nicht. Bria hackte nur behände weiter Gemüse klein und überließ es ihm zu erzählen.
„Die Nephilim leben nach strengen Gesetzen, die uns gebieten, das Leben zu achten. Aber diese Gesetze waren dieser jungen Horde völlig unbekannt. Da gab es ein paar Hundert von ihnen, die nach Herzenslust taten, was immer sie wollten, und andere dabei verletzten, ja sogar töteten. Sie waren sich anfangs keiner Schuld bewusst. Hatte man es ihnen doch genau so eingegeben.“
„Und du hast sie aufgeklärt.“
Auch das war mehr eine Feststellung denn eine Frage. Silva wurde das Gefühl nicht los, dass Bria ihn ziemlich gut kannte, obwohl sie weder des Blutlesens noch des Seelenlesens noch sonst eines Lesens fähig war, von Schriftsprache einmal abgesehen.
Er nickte und fuhr fort. „Ja, aber da war es schon zu spät gewesen. Da war schon zu viel geschehen.“
„Silva, kann ich dich kurz was Persönliches fragen?“, unterbrach sie seine Erzählungen. Das Messer, das eben noch Gemüse gehackt hatte, verharrte mitten in der Luft. Brias gütige, braune Augen trafen die seinen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte sie: „Hast du mein Geschenk bekommen, das ich Rani für dich mitgegeben hatte? Lag ich richtig? Denn falls nicht, dann möchte ich mich an dieser Stelle vielmals bei dir entschuldigen.“
Silva hatte Mühe, seinen Blick nicht von ihr abzuwenden. Er hätte sich lieber den Raum angesehen, die Maserung des Holztisches, die Farben der Bilder an den Wänden … aber er war ihr diese Antwort schuldig.
„Du hast mir damit das Leben gerettet“, gestand er kleinlaut. „Ja, du lagst richtig, und ich habe dir dafür zu danken.“ Auch das war er ihr schuldig. Mindestens das! Mindestens Dank.
Eigentlich war er ziemlich vielen Personen derzeit etwas schuldig. Er konnte spüren, wie sein Kopf heiß wurde. Scham ließ sich manchmal verdammt schwer verbergen.
Bria nickte und wandte sich wieder ihrem Gemüse zu.
„Du scheinst nicht sonderlich schockiert darüber zu sein“, stellte Silva fest und brachte seinen Kopf mittels Willenskraft auf eine gemäßigtere Temperatur zurück. „Vor allem nicht angesichts der Tatsache, dass einer vom Alten Volk sich zu solch einer Dummheit hat hinreißen lassen.“
Er erwartete ihr Urteil.
„Weißt du“, erklärte Bria, während ihr Messer unentwegt und gelassen sein Tock-Tock-Tock von sich gab, „ich kenne so viele Schicksale, habe so viele Geschichten gehört und erlebt ... Nein, ich bin nicht schockiert.“ Und als hätte sie seine Gedanken erraten, fügte sie noch hinzu: „Und du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich nicht vorschnell urteile.“ Ihre Stimme sprach sanft. Noch immer. „Und nun erzähl mir die Details.“
Silva wurde blass im Gesicht. „Während du Gemüse schneidest?“, fragte er scherzhaft.
Bria blickte zu ihm auf. „Soll ich damit aufhören?“, fragte sie ganz ernsthaft.
„Nein, nein, schon gut“, winkte er ab. „War nur der miserable Versuch, mich vor den Antworten zu drücken.“ Das gestand er ehrlich, und er erntete daraufhin ein Augenzwinkern sowie ein wissendes Lächeln.
Bria lächelte ziemlich oft. Ebenso wie Rani. Ganz unverkennbar gehörten die beiden zusammen.
Er holte tief Luft.
„Nun, ein wichtiges Detail ist, dass die meisten dieser jungen Horde bereits abhängig waren, als sie zu den Nephilim hinzugeholt wurden. Was an sich schon eine Unerhörtheit darstellt. Ein Sakrileg. Denn ihre Väter, also diejenigen, die sie auserwählt und unserer Art hinzugefügt hatten, hätte sie niemals auserwählen dürfen. Aber diese Väter waren selbst bereits ziemlich verwirrte und schlecht geleitete Geiste, was wiederum deren Vätern zur Last gelegt werden kann und so weiter und so fort. Eine komplizierte Abfolge von Dingen, die nicht hätten passieren dürfen.“ Er nahm noch einmal Luft. „Fakt ist aber, dass der Großteil dieser jungen Wilden nun mal abhängig war. Und zwar von einem Mittel, das ihrem Leben einen derartigen Zwang auferlegte, dass er unüberwindbar schien. Sie alle, ausnahmslos, waren nicht in der Lage, ihm wieder zu entsagen. Selbst dann nicht, als unser Blut in ihren Adern floss. Das Blut der Nephilim. Machtvoll und über alles erhaben.“ Sein Hals wurde trocken und zwang ihn zum Einhalt. Doch wenn er jetzt aufhören würde, dann wäre dies das Ende ihrer Unterhaltung. Und das wollte er nicht. Nicht an dieser Stelle. Daher zwang er sich selbst und beeilte sich fortzufahren. „Ich wollte wissen, warum dem so war. Ich wollte wissen, was diese Kinder so fest in Bann hielt. Ihre Erklärungen waren nicht ausreichend für mich. Ich konnte das damals absolut nicht verstehen. Also beschloss ich, am eigenen Leib herauszufinden, was so viel stärker sein sollte als das Gesetz, das Leben zu achten. Und es war überheblich von mir gewesen, zu glauben, dass ich so viel stärker sein würde als diese jungen Wilden. Denn ich war es nicht. Es mochte nun Zufall oder Schicksal gewesen sein, dass ich tatsächlich die Möglichkeit erhielt, zu testen, was sie umtrieb, aber wie auch immer, ich nahm also eines dieser Mittel, um zu wissen, was es tat.“ Er atmete aus. „Das war ein Fehler … denn es fühlte sich … verdammt gut an. Es nahm alle Schrecken der vorigen Zeit von mir und verschloss diese schmerzhafte Wunde.“
Bria blickte erneut zu ihm auf und verharrte noch einmal in ihrem Tun. Sie fragte: „Welche Schrecken? Welche Wunde?“
Noch immer konnte Silva nichts als ehrliches Interesse in ihrer Stimme vernehmen. Also erzählte er weiter.