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Silvas Leben steht ziemlich auf dem Kopf. Der Wächter hat einen Verlust zu überwinden. Er ist rechtlos geworden, vogelfrei, heimatlos noch dazu. Im Innen wie im Außen. In Central trifft er auf eine schaurige Horde junger Wilder, die nicht ganz unschuldig ist an der misslichen Lage aller. Kennen diese jungen Wilden ja nicht einmal die Gesetze ihrer eigenen Art! Silva versucht, sie zu lehren, versucht, zu retten, was noch zu retten geht. Er begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung der Verfehlungen. Doch das Wissen fordert von Silva selbst einen unerwarteten Preis. Furchtlos muss Silva sich diesen Dingen stellen. Aber zu seinem Glück kämpft er nicht allein. Zu seinem Glück ist Pegaso noch an seiner Seite. Silva - Die Gesetze der Nephilim ist der zweite Teil von Silvas Geschichte.
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Seitenzahl: 1188
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Silvas Geschichte Teil 2
Was tut ein Wächter ohne den, den es zu bewachen gilt?
Silvas Leben steht ziemlich auf dem Kopf. Die Nephilim sind rechtlos geworden. Vogelfrei. In Central trifft Silva auf eine schaurige Horde junger Wilder, die nicht ganz unschuldig sind an der rechtlichen Misslage aller. Kennen sie doch nicht einmal die Gesetze ihrer eigenen Art! Silva nimmt sich ihrer an und versucht, sie zu lehren, versucht, zu retten, was noch zu retten geht. Er begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung der Verfehlungen und findet sich bald selbst in einer äußerst prekären Situation wieder. Denn das Wissen hat einen unerwarteten Preis. Doch zu seinem Glück kämpft Silva nicht allein. Zu seinem Glück ist Pegaso noch immer an seiner Seite …
„Diese Geschichte zu erzählen erforderte Mut, sie zu lesen wird das ebenfalls tun.“ ( Silva, mit einem Zwinkern)
K.C. Obermann wurde 1982 im schönen Saarland geboren. Mit 20 Jahren zog sie in die Welt hinaus und ins sagenumwobene Mittelrheintal hinein, wo sie 16 Jahre lang lebte, lernte, arbeitete und wirkte - von Koblenz, den confluentes, an bis nach Remagen und ins Ahrtal hinein. Wobei ihr einige Orte dieser Region im Lauf der Jahre besonders ans Herz wuchsen.
2018 kehrte sie ins Saarland zurück, weil ihre alte, schöne Heimat sie rief.
Ihr Herz gilt ihrem Arbeiten, ihrem Leben, den Tieren, den Menschen, den Liebgewonnenen. Sie arbeitet als mentale Tierkommunikatorin, geistige Heilerin und Trainerin für WingTsun.
(Der zweite Teil von Silvas Geschichte entstand 2012 in Koblenz und ging 2016 erstmals in Veröffentlichung.)
Diese Geschichte zu schreiben, erforderte Mut,
sie zu lesen, wird es wohl ebenfalls tun.
Für Pegaso
(Silva)
(eigene Übersetzung von - 'The invitation' by Oriah Mountain Dreamer)
Es interessiert mich nicht, was für ein Leben du führst.
Ich will wissen, wonach du dich sehnst
und ob du zu träumen wagst, zu begegnen deiner Herzens-Sehnsucht.
Es interessiert mich nicht, wie alt du bist.
Ich will wissen, ob du es riskierst, wie ein Dummkopf dazustehen
für die Liebe
für deinen Traum
für das Abenteuer, lebendig zu sein.
Es interessiert mich nicht, welche Planeten in welchem Quadranten
deines Mondes stehen.
Ich will wissen, ob du die Mitte deines eigenen Kummers berührt hast,
ob du geöffnet wurdest von den Vertrauensbrüchen des Lebens
oder zusammengeschrumpft und verschlossen
aus Angst vor weiterem Schmerz.
Ich will wissen, ob du im Schmerz sitzen kannst,
meinem oder deinem eigenen,
ohne Bestreben, ihn zu verbergen, abzuschwächen
oder wieder gutmachen zu wollen.
Ich will wissen, ob du mit Freude sein kannst,
meiner oder deiner eigenen,
ob du mit Wildheit tanzen kannst und Ekstase dich erfüllen lässt
bis zu den Spitzen deiner Finger und deiner Zehen,
ohne uns zu ermahnen, vorsichtig zu sein, realistisch zu sein,
ohne uns zu erinnern an die Begrenzungen des menschlichen Lebens.
Es interessiert mich nicht, ob die Geschichte, die du mir erzählst, wahr
ist. Ich will wissen, ob du einen anderen enttäuschen kannst,
um dir selbst treu zu sein,
ob du ertragen kannst den Vorwurf des Verrats
und nicht deine eigene Seele verrätst.
Ob du treulos sein kannst und darum vertrauenswürdig.
Ich will wissen, ob du Schönheit sehen kannst,
auch wenn es nicht schön ist
jeden Tag.
Und ob du dein eigenes Leben aus ihrer Gegenwart
entspringen lassen kannst.
Ich will wissen, ob du mit Fehlern und Versagen leben kannst,
meinem oder deinem eigenen,
und noch immer am Ufer des Sees stehst
und zum Silber des Vollmondes schreist: 'Ja'.
Es interessiert mich nicht, wo du lebst oder wie viel Geld du hast.
Ich will wissen, ob du aufstehen kannst
nach einer Nacht voll Kummer und Verzweiflung,
müde und zerschrammt bis auf die Knochen
und tust, was getan werden muss,
um die Kinder zu ernähren.
Es interessiert mich nicht, wer dich kennt oder wie es dazu kam,
dass du nun hier bist.
Ich will wissen, ob du in der Mitte des Feuers stehen wirst
mit mir
und nicht zurückschreckst.
Es interessiert mich nicht, wo oder was oder bei wem du studiert hast.
Ich will wissen, was dich trägt
von innen heraus,
wenn alles andere wegfällt.
Ich will wissen,
ob du allein sein kannst
mit dir
und ob du wirklich magst
die Gesellschaft, die du dann erhältst
in diesen leeren Momenten.
Vorwort
Kapitel:
(K)ein neue Leben
Kapitel:
Gefährliche Wisen
Kapitel:
Die Geete der Nepilim
Kapitel:
Lektionen in Versehen
Kapitel:
Pergamons Erbe
Kapitel:
Durch de Himmel und de Hölen
Kapitel:
Das Leid eine Älteten
Kapitel:
Wandel
Kapitel:
Das Parlament der Welten
Kapitel:
Geprochene Recht
Kapitel:
Die inneren Strukturen de Kämpens
Kapitel:
(N)irgndwo
Nachwort
Werter, geduldiger Leser,
mein erster Gruß gilt Dir. Ich freue mich, Dir aufs Neue zu begegnen, denn ich hatte Dir ja versprochen, Dir meine Geschichte ganz zu erzählen, und genau das werde ich auch tun.
Ich muss Dich aber warnen, werter Leser, gleich zu Beginn. Wenn Du Dir nämlich eine lückenlose Aufklärung aller Umstände und Widrigkeiten erhoffst, so kann ich Dir nichts versprechen. Denn dies hier ist keine jener Geschichten, Spionage- oder Agententhriller, keiner jener Kriminalromane, die derzeit auf Deiner Welt so beliebt sind. Dies hier ist mein Leben.
Aber ich werde mein Bestes tun und bitte auch Dich daher, meine Worte mit genauso viel Ehrlichkeit, Schonungslosigkeit und Wahrheit zu lesen, wie sie geschrieben sind und wie es mir nur irgend möglich war, sie zu schreiben.
Denn ist es nicht so, dass Ehrlichkeit bei sich selbst beginnt und auch endet, Schonungslosigkeit abhängt von den Reserven an Kraft, die noch zur Verfügung stehen, und Wahrheit, nun, letztendliche Wahrheit allein in den Weiten des Kosmos liegt, der ursprünglichen Ordnung des Lebens, die allein die Sterne am Himmel kennen?
Ich weiß, dass es zu dieser Zeit auf Deiner Welt ein vorherrschendes Prinzip des Schreibens gibt. Flüssig. Ein gutes Buch ist ein Buch, das flüssig zu lesen ist. Als würdet auch Ihr Euch nach dem Lebensfluss sehnen, dem Leichten, dem Widerstandslosen, ohne Hindernis, ohne Stau und Stopp. Dem sanft Dahingleitenden, dem Glitzern des Wassers, dem Spaß und der Freude an seiner Bewegung. Ich könnte noch so viel mehr aufzählen, denn ich kann es Euch so gut nachempfinden, dieses Bedürfnis. Mehr noch als das.
Nun, werter Leser, ich habe Dir aber Ehrlichkeit und Wahrheit versprochen, und daher wirst Du mehr als nur einen Stein in meinem Wasser finden, wenn der Fluss des Schreibens wie der Fluss des Lebens ins Stocken gerät. Wenn er sich darum verfängt, um jenen Stein, sich im Kreise dreht und strudelt und nach unten ziehen lässt, um erst den tiefen Grund des Flusses erkunden zu müssen, bevor er wieder emporsteigen und seinen Weg fortsetzen darf.
Ich bitte Dich also um ein wenig Nachsicht, denn ich muss gestehen, dass es mir nicht leicht fiel, jene Steine meiner Geschichte in Worte zu fassen. Denn Erzählen ist auch Erinnern und lässt die Geschehnisse alter Zeiten wieder genauso lebhaft vor Augen treten, als passierten sie gerade jetzt.
Aber sagt man nicht auch, dass erzählen hilft, das Vergangene zu verarbeiten? Ist es nicht so, dass, wenn eine Geschichte geschrieben ist, man sie in Gedanken getrost beiseitelegen kann? Weil sie nun fest auf Papier gebannt ist oder an einem anderen sicheren Ort gut aufgehoben? Dass dann der Geist Ruhe finden kann, weil die Erinnerung außerhalb seines Selbst aufbewahrt wird?
Nun, finden wir es doch heraus!
Ich erzähle, K.C. schreibt und Du kannst sie lesen, die Erinnerung.
Wo wir waren:
Mitten in der Geschichte, mitten in den Zeiten, mitten in den Welten.
Mein alter, geliebter Meister war tot und mit ihm eine Großzahl seiner Wächter, meine Freunde. Was mein bisheriges Leben, von dem ich tausend Jahre an seiner Seite verbracht hatte, tief erschütterte.
Pegaso war gewissermaßen über Nacht in mein Leben hineingetragen worden, was mich ebenfalls tief erschütterte, aber auf eine andere Art und Weise.
Der Baron, einer unserer größten Widersacher der damaligen Zeit, fand durch meine Hand den Tod. Und ich habe dafür einen Preis bezahlt, dessen Folgen für mich damals noch in keinster Weise überblickbar waren.
Dazu gab es innerhalb unserer eigenen Art Grenzüberschreitungen und seltsame Entwicklungen, die Konsequenzen für uns alle brachten. Etwas war im Gange. Die alten Gesetze der Nephilim standen auf dem Spiel und die damals aktuellen genauso: Unsere Art wurde aberkannt. Wir wurden für rechtlos, vogelfrei erklärt.
Was das bedeutet, ist Dir vielleicht zumindest zu einem Teil bewusst, lieber Leser. Denn es gab und gibt auch auf Deiner Welt Völker, die rechtlos waren oder es noch sind. Wusstest Du, dass eines dieser Völker Deiner Welt Nehalem oder auch Nekelim genannt wird? Aber darüber möchte ich Dir nichts erzählen. Darüber erzählen andere.
Ich möchte Dich nun viel lieber wieder mitnehmen in meine Welt. Dir ganz offen und ungeniert schildern, wie es mit diesem nicht allzu rühmlichen Helden weiterging.
Ich frage dich also:
Gehst Du mit mir durch dieses tiefe, finstere Tal der Erinnerung, Schritt für Schritt, wenn ich Dir zumindest das versprechen kann: einen kleinen Lichtblick am Horizont?
Ich wünsche es mir.
Silva
Freier Fall
Es ist schon ein seltsames Gefühl, sich im freien Fall zu befinden, wo man doch eigentlich Flügel besitzt. Du rennst mit vollem Lauf auf den Abgrund zu und springst ab. Und erwartest den Wind in deinen Flügeln. Jenen Wind, der dich emporträgt. Du erwartest ihn in den Spannen deiner Flügel, wie er hineinweht, sie aufbläht, spannt, sie zu einer Kraft antreibt, die dich leicht macht, dich spielen lässt, schwerelos in der Luft, dich dem Himmel näher bringt als dem Boden. Und genau als du das erwartest, stellst du fest, dass es nicht eintritt, dieses Gefühl des Fliegens. Stattdessen stürzt du ab. Mit rasender Geschwindigkeit dem Grund entgegen. Und während du noch darüber nachdenkst, warum und wann um alles in den Welten du vergessen hast, wie man fliegt, wird dir Eines klar: dass nur ein Teil von dir unsterblich ist. Aber auch, dass jener Teil zum Fliegen gar keine Flügel braucht.
Über Centrals Straßen ging die Sonne auf. Sie erfüllte die netzartigen Wege zwischen den Häusern der Stadt mit ihrem warmen, orangefarbenen Licht. Milliarden und Abermilliarden kleiner Lichtpunkte brachten die Spiegelbauten, auf deren Fassaden ein zweiter blauer Himmel lag, weit oben zum Glitzern, während weit unten in den Straßen der Stadt Milliarden und Abermilliarden Wesen unterschiedlicher Arten geschäftig durch diesen freundlichen Morgen eilten. Wind wehte entlang ihrer Wege und zauste an allem, was zart und weich genug war, um sich von ihm berühren zu lassen. Als wolle er alles, was an Vergangenem daran anhaftete, aufschütteln und zerstreuen. Er wühlte in Pegasos blonden Locken und blies Silva die silbrigen Strähnen seiner Haare ins Gesicht, als die beiden Nephilim vom Dach eines dieser endlos hohen Häuser still auf die Stadt hinabsahen.
Der jüngere der beiden Nephilim hatte das Gefühl, nach langer Zeit endlich wieder zu Hause angekommen zu sein. Obwohl dies eigentlich gar nicht sein Zuhause war. Aber es war seine neue Wahlheimat. Ein Ort voller Möglichkeiten und neu gewonnener Freunde. Und obwohl schreckliche Geschehnisse jüngst hinter ihm lagen, war er glücklich, hier zu sein. Aber vielleicht war er auch gerade deswegen glücklich, weil sie hinter ihm lagen. Voll Zuversicht blickte er auf die Stadt hinaus.
Neben ihm streckte Silva sich ausgiebig. Ein paar Wirbel und Gelenke in dessen Rücken und Schultern knackten bedenklich. Das Dach des Hauses war ein unbequemer, harter Schlafplatz gewesen.
„Lass uns nach unten gehen und nachsehen, ob ich gegen den gesperrten Türöffner etwas ausrichten kann“, schlug Silva vor. „Lass uns mal nachsehen, ob wir irgendwie in Laras Wohnung hineingelangen können.“
Pegaso nickte zustimmend.
Sie fuhren mit dem Lift zur einundvierzigsten Etage des Spiegelbaus hinab und gingen zu der Tür mit der Nummer dreiundzwanzig darüber.
'Konfisziert - Eigentum der Stadt Central City' stand auf dem Schild, das an der Tür angebracht war.
„Das muss noch immer ein übler Scherz sein“, dachte Pegaso vor sich hin und betrachtete ein wenig mürrisch das Schild mit den schwarzen Lettern darauf. Es war schon schlimm genug, dass ihre Art aberkannt worden war, auch wenn er sich noch überhaupt nicht vorstellen konnte, was das genau für ihn bedeutete, aber ihnen den Zutritt zu ihrer Gastwohnung zu verwehren war eine Dreistigkeit sondergleichen.
Silva legte seine Hand auf das Erkennungspaneel an der Tür, um sie wie gewohnt zu öffnen, aber wie zu erwarten, geschah nichts. Er verzog nun ebenfalls das Gesicht und hieb mit dem stumpfen Ende seines Kristalldolches so lange auf das Paneel ein, bis die Tür mit einem leisen Klicken aufsprang. Ein hämisches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, auch wenn er ein wenig den Umstand bedauerte, gerade den Eintrittsmechanismus zur Wohnung seiner Freunde zerstört zu haben. Sting wäre da sicher eine elegantere Lösung eingefallen, doch sein Freund war noch nicht hier, und daher nahm Silva sich vor, den Mechanismus später ersetzen zu lassen. Vorerst aber stieß er mit einem leisen „Geht doch!“ die Tür vorsichtig auf.
Sie traten beide ein und fanden die Wohnung völlig unverändert vor. Das Schild draußen an der Tür war zunächst scheinbar alles, was auf die Konfiszierung hindeutete.
Aus einer der Schubladen der Küche kramte Silva einen Holzkeil hervor, den er von innen behelfsmäßig unter die Tür schob, um ihre Gastwohnung vorsorglich vor ungebetenen Gästen wieder verschließen zu können.
Er befürchtete schon, dass sie in der nächsten Zeit viel würden improvisieren müssen, denn in ihrer beider Leben war, mal abgesehen vom Mobiliar dieser Wohnung, nichts mehr an seinem gewohnten Platz.
Doch jetzt musste er als Erstes Lloyd und Boreo erreichen. Sofort und unter allen Umständen. Denn auch die beiden anderen Wächter aus Pergamons Gefolge, die einzigen, die, außer ihm selbst, noch lebten, waren auf dem Weg nach Central City, und das Schiff des verstorbenen Meisters, mit dem die beiden unterwegs waren, würde ganz sicher ebenso wie Silvas Schiff direkt nach der Landung von der Hafensicherheit beschlagnahmt werden. Und das galt es zu verhindern.
Eilig tippte er ein paar Zeichen in die alte Kommstation ein, die noch im Wohnzimmer ihrer Gastwohnung stand, aber das Gerät blieb stumm.
Überhaupt, stellte Silva stirnrunzelnd fest, schienen alle elektrischen Geräte außer Betrieb zu sein.
Er betätigte einen Lichtschalter, ohne Erfolg.
Silva seufzte und nahm dann sein eigenes, kleines Kommgerät zur Hand. Er hoffte nur, dass das Datennetz der Stadt stark genug war, dieses schwache Signal über Welten hinweg zu tragen.
Tatsächlich erschien nach einer halben Ewigkeit auf dem kleinen Display Boreos Gesicht.
„Silva! Wie geht es dir?“, fragte der alte Veteran sofort.
Silva schenkte Boreo ein gut gemeintes, aber schlecht gelungenes Lächeln und kam lieber gleich zur Sache.
„Ihr dürft unter gar keinen Umständen nach Central kommen“, befahl er knapp. „Die Bestimmungen haben sich für uns hier drastisch geändert. Sie werden Pergamons Schiff beschlagnahmen, sobald ihr einreist, und euch die Ausreise verwehren. Habt ihr eine andere Möglichkeit unterzukommen?“
Boreo besprach sich mit jemandem außerhalb des Kamerafeldes, Lloyd vermutlich, und wandte sich dann wieder Silva zu.
„Das haben wir fast schon befürchtet“, antwortete der Veteran brummend, „nachdem selbst die Randwelten bereits so einen Aufstand darum gemacht haben. Wir werden zu Aurum fliegen und bei ihm erst einmal untertauchen, bis die Lage sich etwas beruhigt hat.“
Aurum und untertauchen?
Beide Worte lösten Widerwillen in Silva aus.
„Der verrückte Kerl hat uns Jobs angeboten. Für jeden einen“, witzelte Boreo jedoch weiter. „Dir doch auch, oder?“
Silvas Miene verfinsterte sich deutlich. Er erinnerte sich noch zu gut an das letzte Gespräch mit dem Magier, in dem dieser auch ihm einen Platz an dessen Seite angeboten hatte.
„Ja und ich habe dankend abgelehnt“, erklärte er Boreo. „Sagen wir, seine Wortwahl war …“ Beinahe hätte er verletzend gesagt, sagte aber stattdessen: „Verwirrend.“
„Ach, nimm das nicht so ernst“, winkte der Krieger ab. „Er ist etwas eigen. Auch in seiner Wortwahl. Aber wer ist das nicht in zunehmenden Jahren. Also wir jedenfalls werden ihm dann wohl einen vermutlich längeren Besuch abstatten.“
Silva nickte.
Er war schon erleichtert darüber, dass seine beiden Freunde gut unter sein würden, auch wenn er selbst dieses Angebot niemals angenommen hätte.
„Kommt gut an!“, wünschte er den beiden daher ehrlich und verabschiedete sich von ihnen.
„Silva!“, rief jedoch Boreos Stimme aus dem Kommgerät, bevor die Verbindung enden konnte. „Es tut mir leid, dass wir zu spät am Landhaus waren. Wir hätten mit dir geteilt. Ich könnte mir in den Arsch beißen, dass wir so lange mit dem Abflug gezögert haben.“
„Schon okay. Ich werd's überleben“, antwortete Silva knapp.
Boreos üblicher Humor verschwand aus dessen Stimme völlig, als er sagte: „Ja, bitte tu das.“
Die Verbindung endete.
Als Nächstes versuchte Silva, auch Sting und Lara zu erreichen, um sie ebenfalls vor den Umständen zu warnen, die sie in Central erwarten würden, aber diese Rufanfrage blieb unbeantwortet. Vielleicht war aber auch nur die Energie des kleinen Gerätes erschöpft. Silva legte es daher auf den Wohnzimmertisch in die Sonne und überlegte, wie er auch die übrigen Gerätschaften der Wohnung wieder zum Leben erwecken konnte. Sie ließen sich leider nicht ebenso leicht mit Licht in Betrieb nehmen. Sie waren auf das örtliche Energienetz angewiesen, und er würde die fehlende Zufuhr aus dem Netz irgendwie ersetzen müssen.
Ebenso behelfsmäßig, wie der Keil nun die Tür verschloss.
Auch hierbei wäre Sting sicher eine gute Lösung eingefallen. Denn das war sein Metier. Silva hingegen … Er brauchte den Rat eines Fachkundigen und beschloss daher, in die Stadt zu gehen.
„Pega!“, rief er laut in den Raum hinein, erhielt aber keine Antwort.
Etwas verwundert blickte Silva sich um und fand den jungen Nephilim unter einem Berg von Decken im Bett ihres Gästezimmers verborgen.
Tief und fest schlafend.
Sie hatten beide in den letzten Wochen und Monaten nicht besonders viel Schlaf finden können. Nicht einmal Ruhe. Eigentlich konnte Silva sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal überhaupt richtig geschlafen hatte. Das musste in einem anderen Leben gewesen sein. Aber nun musste er leider auch Pegaso wieder aufwecken, denn er wollte und konnte nicht aus der Wohnung gehen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Pegaso musste den Keil wieder von innen unter die Tür schieben.
„Pega!“
Er rief erneut den Namen des Jungen und rüttelte sanft an dem Deckenberg. Ein Arm kam darunter hervorgekrochen und versuchte, den ungebetenen Störenfried zu verscheuchen wie eine lästige Fliege. Eine Hand fuchtelte blind vor Silvas Nase herum.
Der Wächter fing die Hand geschickt ein und konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Wecken musste er Pegaso leider dennoch.
„Komm schon! Wach auf! Ich muss ein paar Besorgungen machen. Du musst die Tür wieder hinter mir schließen.“
„Hm?“ Nun kam auch Pegasos Kopf unter den Decken hervor.
Eine Weile betrachteten zwei himmelblaue Augen Silva stumm, als müsse der Kopf dahinter noch darüber nachdenken, was eben gesagt worden war. Dann stand der junge Nephilim gehorsam auf, schlurfte halb schlafend zur Eingangstür, zog den Keil darunter heraus, wanderte damit in die Küche, kramte aus einer der Schubladen von irgendwoher ein Stück dünne Schnur hervor, band die Schnur längs um den Keil fest und drückte ihn dann Silva in die Hand.
„Kannst von außen zuziehen“, empfahl er dabei wie selbstverständlich, als hätte er das schon hundert Mal so gemacht, und verschwand wieder im Bett.
Silva starrte fassungslos auf den Keil und dann Pegaso hinterher.
Etwas verwirrt von so viel Einfallsreichtum trotz halbschlafenem Zustand, tat er aber wie ihm geheißen. Er verließ die Wohnung, führte den Faden unter der Tür durch und zog damit den Keil von außen ganz vorsichtig fest. Dann schob er die Schnur in den winzigen Spalt unter die Tür zurück, um sie dort zu verbergen.
Pegasos Erfindung funktionierte perfekt.
Er hoffte nur, dass der Junge wach sein würde, wenn er von seinen Besorgungen zurückkam, um ihn auch wieder hineinzulassen.
Pegaso war nicht wach, als Silva schwer beladen und schweißgebadet an der Wohnung ein paar Stunden später wieder ankam. Der Wächter zog daher eines seiner Wurfmesser hervor, die sich in seinem Waffengurt, verborgen unter seinem Hemd und einer Weste, eng an ihn schmiegten. Es war ein schmales, feines Messer ohne Griff.
Das Tragen von Waffen war in dieser Stadt eigentlich streng verboten. Unter anderen Umständen hätte er eigentlich all seine Waffen bei der Einreise nach Central City ablegen und in einer eigens dafür vorgesehenen Sicherheitsbox verwahren müssen. Er hätte diese Box zwar mit sich führen dürfen, doch ein unerlaubtes Öffnen hätte sofort per Funk im nächstgelegenen Haus der Sicherheit einen Alarm ausgelöst. Die Leute von der Hafenkontrolle hatten dieses Mal aber schlicht vergessen, ihn dazu aufzufordern, als sie ihn und Pegaso abgefangen hatten, um sie über die neuen Bestimmungen zu informieren und sein Schiff zu beschlagnahmen.
Unter anderen Umständen hätte er sie auf ihre Vergesslichkeit hingewiesen und die Waffen freiwillig abgegeben. Aber jetzt gerade war er froh darüber, dass er dies nicht getan hatte.
Er schob das schmale Wurfmesser an einer ganz bestimmten Stelle unter der Tür durch und drückte den Keil ein wenig nach innen hin weg. Auf diese Weise schob er die Tür einen Spaltbreit auf. Dann schlüpfte er durch den Spalt der leicht geöffneten Tür hindurch, öffnete sie von innen ganz und begann, ein schweres Energieaggregat und zwei Taschen voll unverderblicher Lebensmittel in die Küche zu schleppen.
Blut gehörte leider nicht dazu.
Ein Umstand, den er missmutig bedauerte, als er sich schweißgebadet eine kleine Pause auf einem der Hocker am Küchentisch gönnte. Selbst wenn das Kühlfach wieder funktionierte, würde das auch nichts daran ändern, dass er in Central kein Blut mehr kaufen durfte.
Er atmete ein paar Mal tief durch und machte sich schließlich daran, einige Küchengeräte an das Aggregat anzuschließen. Als er fertig war, funktionierte das Kühlfach, eine der Heizkacheln zum Erwärmen von Speisen, eine kleine Lampe und die Maschine für den Kaffee. Mit einer Tasse voll dieses schwarzen, leicht bitteren Getränks ließ er sich erneut am Küchentisch nieder und dachte nach.
Die letzten Monate waren ereignisreich gewesen. Sehr ereignisreich. Und in bedrohlichem Maße besorgniserregend. Zuerst war Pegaso ganz unvermittelt in sein Leben getreten und hatte es bis in sein Innerstes hinein gehörig durcheinandergebracht. Dann war ein Krieg über sie alle hereingebrochen und hatte, neben einigen seiner Freunde, auch das Leben seines alten Meisters gefordert, an dessen Seite Silva die letzten tausend Jahre verbracht hatte. Ein Krieg, geführt von einem aus ihren eigenen Reihen. Es war ihm zwar gelungen, dem Baron das Handwerk zu legen, aber diese Tat hatte ebenfalls von ihm einen hohen Preis gefordert.
Es gelang ihm jetzt gerade selbst unter größter Mühe nicht, die Tasse ruhig in seinen Händen zu halten. Den Händen eines Wächters, die eigentlich immer ruhig und besonnen waren. Aber jetzt gerade zitterten sie ganz leicht, beinahe unablässig.
Außerdem hatte er, trotz dieser Tat, dennoch eine äußerst unangenehme Entwicklung der Umstände nicht verhindern können: Ihre Art war aberkannt worden.
Sie waren jetzt rechtlos, vogelfrei, ohne Schutz und ohne Lebensgrundlage innerhalb einer Gesellschaft. Alle Versorgungsnetzwerke waren für sie zusammengebrochen, und sie mussten sich gut überlegen, wie sie die nächste Zeit hier überstehen konnten. Das galt nicht nur für ihn und Pegaso, sondern für alle Nephilim.
Er konnte noch immer nicht glauben, dass das alles wahr war. Es erschien ihm wie ein schlechter Traum. Er hoffte noch immer, dass er jeden Moment aufwachen würde, dass das alles nur ein Missverständnis gewesen war und die Räte des Universums sich schon längst wieder eines Besseren besonnen hatten.
Sollte sich diese Hoffnung allerdings als vergeblich erweisen, dann waren die üblen Machenschaften des Barons, dieses geisteskranken Irrläufers, ihr geringstes Problem gewesen.
Die Tür zum Gästezimmer ging auf, und Pegaso kam heraus. Er blickte noch immer völlig verschlafen drein, lächelte aber tapfer, als er Silva sah, ging geraden Weges zu ihm, nahm sich freudig ebenfalls eine Tasse voll des schwarzen Getränks und setzte sich dem Wächter gegenüber.
Mit einem Finger strich er ganz nebenbei über Silvas Handrücken.
Der verschlafene Blick verschwand sofort aus den himmelblauen Augen, und Pegaso zog die Stirn in Falten. Er löste eine von Silvas Händen von dessen Tasse ab und hielt sie zwischen seinen eigenen fest.
Silva betrachtete ihn stumm. Die Berührung erschien ihm fremd, aber nicht unangenehm. Doch Pegaso ließ gleich wieder von der Hand ab, stand auf, kam um den Tisch herum, quetschte sich zwischen die Tischplatte und den Hocker, auf dem Silva saß, und noch ehe Silva sich versah oder auch nur dagegen protestieren konnte, schlang der junge Nephilim beide Arme um ihn und küsste ihn. Sehr lange und sehr innig.
Es war das erste Mal seit Monaten, das erste Mal überhaupt seit diesem schrecklich verheerenden Tag in Anuar, dass Silva diese Nähe zuließ, ohne vor Pegaso zurückzuweichen. Sie jagte beiden einen Schauer über den Rücken, obwohl sie sich beide doch eigentlich schon länger vertraut waren. Aber auch das schien in einem anderen, beinahe vergessenen Leben gewesen zu sein.
Pegaso ließ schließlich von seinem Gegenüber ab, lehnte sich mit dem Rücken lässig gegen die Tischplatte und lächelte zufrieden vor sich hin. Er strich mit seinen Händen an Silvas Armen hinab und vergrub seine Finger tief zwischen denen des Wächters.
„Sag mal“, fragte er, ohne Silva anzusehen, „was bedeutet es eigentlich, einen Teil seiner Seele abgeben zu müssen?“ Er starrte stattdessen auf ihre ineinander verflochtenen Finger. „Das habe ich noch nicht so ganz verstanden. Ich habe darüber nachgedacht, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das ist.“
„Nun“, antwortete Silva und betrachtete ebenfalls ihre Hände, „das ist auch nicht so einfach zu erklären.“
„Willst du es denn nicht wenigstens mal versuchen?“
Aber so sehr Silva auch überlegte, mehr als die Worte, die er Pegaso darüber bereits gesagt hatte, wollte ihm einfach nicht einfallen. Aber vielleicht war sein Geist auch nur zu müde und noch zu aufgewühlt nach all den Strapazen. Er konnte ein Gähnen, das ihn plötzlich überkam, nicht ganz unterdrücken.
„Lass mich erst noch mal ruhen“, bat er Pegaso daher.
Der junge Nephilim nickte und ließ es sich nicht nehmen, sich ebenfalls noch einmal in das gemütliche Bett ihres Gästezimmers zu kuscheln. Einen Arm schob er unter Silva durch, mit dem anderen zog er eine Decke über sich und seinen Freund. Ein Seufzen erklang. Dann wurde alles still, und es dauerte keinen weiteren Augenblick, bis beide Nephilim ins Reich der Träume sanken.
Silva schreckte mitten in der Nacht ganz plötzlich aus seinem Schlaf hoch. In seiner linken Hand war einer seiner Dolche, mit dem er blind in die Luft vor sich gestochen hatte. Der Dolch kribbelte schmerzhaft in seiner Hand, als wäre er mit dieser Art von Führung nicht einverstanden.
Im Zimmer war es still. Allein das Licht der Nacht fiel durch das Fenster. In sanften Blau-Orange-Tönen spiegelte es sich in seiner Waffe und erhellte das Zimmer genug, um Schatten und Schemen bis in die Ecken hinein sehen zu können. Pegaso schlief tief und fest neben ihm, mit der Nase halb unter einem Kissen verborgen. Niemand sonst war im Raum. Keine reale Bedrohung zu erkennen. Silva lauschte zu den anderen Räumen hin. Aber auch hier war alles ruhig.
Leise zischend blies er Luft zwischen seinen Lippen hindurch. Er hatte nur geträumt. Erleichtert sank er in die Kissen zurück und schob auch den Dolch wieder auf seinen Platz unter dem Kissen. Kein Wunder, dass die Waffe in seiner Hand protestiert hatte. Für den Kampf gegen schattenhafte Traumgeister war sie nicht gemacht.
Silva stieß noch ein zweites Mal Luft zwischen den Lippen hindurch. Erleichtert war er nämlich vor allem auch darüber, dass Pegaso neben ihm lag und sich nicht, wie er es sonst hin und wieder tat, im Schlaf halb auf ihn gelegt hatte. Er wollte sich nicht vorstellen, was in diesem Falle passiert wäre.
Mit einem Ärmel seines Hemdes wischte Silva sich kalten Schweiß vom Gesicht. Er musste diese nervigen Anwandlungen, die ihn seit dem Tod seines Meisters und noch einmal mehr seit dem Tod des Barons immer wieder überkamen, so schnell wie möglich unter Kontrolle bringen. Bevor er tatsächlich jemanden aus Versehen verletzen würde.
Er versuchte, sich zu erinnern, was er in seiner Ausbildung darüber gelernt hatte, aber sein Geist war zu aufgewühlt, um die Bilder klar genug sehen zu können.
Und das lag nur zu einem sehr geringen Teil an dem Traum, der ihm gerade einen Schrecken durch die Glieder gejagt hatte. Es lag eigentlich vielmehr an dem Preis, den er für den Mord an dem Baron gezahlt hatte.
Ja, Mord.
Denn nichts anderes war es gewesen. Auch wenn der Baron sich der schwersten Verbrechen seinem Volk gegenüber schuldig gemacht hatte, so hatte es Silva dennoch nicht zugestanden, derart über ihn zu richten.
Vor allem nicht so!
Einer unbewaffneten Person außerhalb eines Kampfes den Kopf abzuschlagen, konnte wohl mit nichts anderem als Mord bezeichnet werden. Vorsätzlicher Mord. Denn er hatte sich genau in diesem Moment bewusst dazu entschieden zu töten, statt zu bewahren.
Es war ein Fluch, die Motivationen, Beweggründe, Entschlüsse und Vorhaben einer Person sehen zu können, ohne Einfluss auf diese Bilder zu haben.
Bei seinem Seelenspiegeln war es etwas anderes. Wenn er auf diese Weise in der Seele eines Wesens las, hatte er die Kontrolle über das, was er sah. Jederzeit. Und er konnte das Lesen auch jederzeit beenden. Aber in solchen Momenten wie in dem Landhaus übernahmen seine Instinkte und inneren Sinne das Sagen. Er war völlig machtlos dagegen. Es war wie beim Kämpfen, wenn seine Hände die Waffen führten, bevor er darüber nachdenken konnte. Im Kampf war das ein Segen, denn schließlich sicherte diese Art der Vorgehensweise sein Überleben. Aber außerhalb eines Kampfes war es ein Fluch.
Er hätte diese Tat vielleicht mit aller Macht verhindern können, aber er hatte seinen Instinkten nur allzu bereitwillig nachgegeben. Sie in diesem Moment sogar gutgeheißen und auch den Preis dafür in Kauf genommen. Damit musste er nun leben.
Als Ausgleich für das Trennen einer Seele von ihrem Körper hatte er einen Teil seiner eigenen gegeben, und in diesem Fall war es ein sehr großer Teil. Er hatte noch nicht die geringste Ahnung, wie er nun damit umgehen sollte.
Er fühlte sich leer und ausgebrannt und völlig erschöpft. Im Grunde fiel ihm jede Bewegung schwer. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte. Auch wenn er sich diese Dinge natürlich nach außen hin nicht anmerken ließ.
Er hoffte nur, in nächster Zeit nicht kämpfen zu müssen. Seine Reaktionen wären sicher nicht die besten gewesen. Zudem zitterten seine Hände noch immer beinahe unablässig.
Keine guten Voraussetzungen, um eine Waffe zu führen.
Aber das Schlimmste waren die Erinnerungslücken. Sie waren hier und da, zogen sich durch sein gesamtes Leben, vor allem aber durch seine jungen Jahre. Er wusste, dass er damals gelernt hatte, mit den Albträumen, die manche Taten mit sich brachten, umzugehen. Er wusste, dass er gelernt hatte, die Unruhe und Rastlosigkeit in seinem Herzen zum Schweigen zu bringen, aber er wusste einfach nicht mehr wie. Die Erinnerung war da, doch so verschwommen, dass sie völlig unbrauchbar war.
Er versuchte, sich zu entspannen und wieder Ruhe zu finden.
Vergeblich.
Also stand er auf, weckte kurz Pegaso, um ihm mitzuteilen, dass er noch einmal in die Stadt gehen würde, zog Schuhe und ein warmes Cape an und ging.
Die kalte Nachtluft schnitt in sein Gesicht und kühlte sein aufgewühltes Gemüt herunter. Für ein paar Augenblicke ließ er sich mit geschlossenen Augen wieder den Wind um die Nase wehen, wie zu Beginn des Tages auf dem Dach. Dann wandte er sich Richtung Süden und marschierte in die Nacht hinaus.
Wie immer waren die Straßen belebt, die Geschäfte offen und das Leben am Pulsieren. Sonst waren ihm die Massen an Leuten und der ständige Lärm zuwider gewesen, aber jetzt gerade fühlte er sich in diesem Treiben wohl. Es füllte seine innere Leere und überdeckte seine Rastlosigkeit.
Diese Leere hatte er nicht nur dem verlorenen Seelenanteil zu verdanken, das war ihm durchaus bewusst. Sie kam zu einem großen Teil auch von der Trauer um seinen Meister. Er hatte Pergamon ins Herz geschlossen, und dieser Teil seines Herzens fühlte sich nun an wie eine klaffende Wunde.
Doch hier, inmitten dieser Ansammlung von Leben, musste er über all diese Dinge weder nachdenken noch nachfühlen. Der Lärm vertrieb die nagenden Gedanken aus seinem Kopf. Er hätte nie gedacht, dass er einmal die vollen Straßen Centrals begrüßen würde. Aber manche Dinge änderten sich eben.
Diese Erkenntnis schuf ein leichtes Schmunzeln auf seinem Gesicht. Wenn er das nächste Mal vor einem Albtraum fliehen wollte, konnte er die Nächte ja auch auf die gleiche Weise verbringen wie diese.
Er kaufte sich einen Kaffee und schlenderte eine Weile ziellos durch die Straßen.
Dennoch war ihm klar, dass er irgendwann schlafen musste. Denn Schlafentzug war letztendlich tödlich. Doch ihm war noch immer völlig schleierhaft, wie er das ohne Pergamons Hilfe bewerkstelligen sollte. Der Meister hätte da sicher Rat gewusst, aber dieser Rat stand ihm auf schmerzhafte Weise nicht mehr zur Verfügung.
Pegaso hatte zwar auch eine unglaublich beruhigende Art an sich, trotz aller Lebhaftigkeit, aber die half nur beim Einschlafen und nicht beim Durchschlafen. Er musste also vorerst auf andere Hilfsmittel zurückgreifen. Auf herkömmliche. Wenn er nicht in den nächsten Tagen vor Erschöpfung zusammenbrechen wollte, musste er seinen Körper eben zum Schlafen zwingen.
Er ging in eine der Drogerien, um ein Schlafmittel zu kaufen. Die Dame am Verkaufstresen fragte ihn, aus welchen Gründen auch immer, nach seinem Pass.
Silva stutzte.
Das war ihm neu. Er hatte schon oft Verbände oder auch Medikamente für seinen Meister in Central besorgt, wenn dieser krank gewesen war oder einfach nur, um den Vorrat für seine Gefolgschaft wieder aufzufüllen. Aber er war noch nie zuvor dafür nach seinem Ausweis gefragt worden.
Missmutig schob er ihn der Dame über die Theke hin zu. Sie zuckte kaum merklich zusammen, als sie seinen Pass betrachtete, und gab ihm das Dokument mit hochrotem Gesicht wieder zurück.
„Ich darf Ihnen nichts verkaufen. Tut mir leid“, sagte die Dame mit dem roten Kopf.
Silva fiel das Kinn nach unten. Er blinzelte verwundert. War er wach, oder war das wieder ein Traum, der ihm einen Streich spielte? War er wirklich in Central City? Dem Herzen des Universums?
„Wie bitte?“, fragte er ungläubig.
Die Dame wiederholte ihre Worte. „Ich darf Ihnen nichts verkaufen.“
„Wieso?“, wollte Silva von ihr wissen.
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Neue Bestimmungen bezüglich Ihrer Artenzugehörigkeit.“
„Seit wann?“ Er konnte es immer noch nicht fassen.
„Seit heute.“
Silva sah, dass sie sich mit den Handballen auf den Rand der Theke abstützte. Ihre Finger waren dabei nicht zu sehen, sondern verschwanden hinter der Kante.
„Geht das nicht völlig gegen den Eid der Heilung?“, wagte er zu fragen.
Ihre Gesichtsfarbe wechselte von Rot zu Weiß.
Der Nephilim hielt noch immer diese beiden Hände im Blick. Er konnte zwar nach wie vor ihre Finger nicht sehen, aber eine Bewegung des rechten Zeigefingers zeichnete sich deutlich auf dem Handrücken ab. Es folgte ein leises Klicken. Die Betätigung eines Schalters.
Silvas Augen verengten sich zu Schlitzen, und er funkelte die Frau mit dem jetzt blassen Gesicht böse an. „Das war nicht notwendig gewesen“, zischte er ihr leise zu, wohl wissend, was sie gerade getan hatte.
Sie hatte einen stillen Alarm ausgelöst.
Empört drehte er sich um und stapfte aus dem Laden. Er kam genau bis zur Tür, wo er bereits zwei Sicherheitsleuten in die Arme lief, als hätten sie nur auf ihn gewartet.
Das war nicht sein Tag! Nicht seine Nacht. Ganz und gar nicht. Er hätte im Bett bleiben sollen!
Einer der Männer warf der Frau in der Drogerie einen Blick zu, und Silva konnte im Spiegelbild einer gegenüberliegenden Scheibe ihr Nicken sehen.
„Bitte begleiten Sie uns!“, befahl ihm der Mann, der ganze zwei Köpfe kleiner war als er selbst.
„Warum?“ Silva rührte sich nicht vom Fleck. Er stand direkt in der Eingangstür. Wenn nun niemand mehr hinein oder hinaus gehen konnte, war das nicht seine Schuld. Nicht sein Problem. Er hatte gerade ganz andere Sorgen.
„Ihren Pass bitte!“
Schon wieder!
Silva drückte dem Mann seinen Pass in die Hand und erhielt ihn nach einem weiteren missmutig prüfenden Blick zurück.
„Bitte folgen Sie uns zum nächsten Haus der Sicherheit. Wir werden Ihnen dort alles erklären.“
„Nein! Ich will die Erklärung jetzt und hier haben!“ Silva trat vorsichtig nun doch einen Schritt zur Seite und aus dem Laden heraus, weil die Leute im Laden aufgrund des versperrten Durchgangs bereits langsam nervös wurden. Die beiden Sicherheitsleute legten sofort ihre Hände an die Waffen, aber Silva hob seine beschwichtigend in die Luft.
„Warum?“, fragte er noch einmal.
„Sie wurden als potenziell gefährlich eingestuft“, erklärte einer der Sicherheitsleute, noch immer mit der Hand an seiner Waffe.
„Ich? Ich persönlich?“ Silva zog beide Augenbrauen nach oben.
„Ihre Art. Die Nephilim“, erklärte der Mann. „Bitte folgen Sie uns nun.“
Silva seufzte laut. Er hätte fliehen oder kämpfen können, aber er wollte keinen Ärger haben und zudem gerne etwas mehr über diese neue Bestimmung erfahren. Und um diese Informationen zu bekommen, musste er wohl oder übel mitgehen. Er hoffte nur, sie würden ihn nicht allzu lange festhalten.
Im Haus der Sicherheit, einem schlichten, aber nicht wenig imposanten Gebäude, brachte man ihn in einen kleinen, kargen Raum. Ausgestattet mit einem Tisch und zwei Stühlen, einem Fenster nach draußen und einem nach drinnen. Zwei neue Männer kamen herein. Sie baten Silva, auf einem der Stühle Platz zu nehmen und klärten ihn darüber auf, dass die Übergriffe der Nephilim auf andere Lebewesen in der letzten Zeit drastisch zugenommen und daher sowohl die Gerichtshöfe als auch das Parlament der Welten beschlossen hatten, dass die Nephilim sich ab sofort und auch künftig nicht mehr frei in Centrals Straßen bewegen durften. Im Grunde auf keiner Welt, die den interstellaren Gesetzen folgte. Jeder, der ihrer Art angehörte, wurde, sobald seine Artenzugehörigkeit bekannt war, vorsorglich in Gewahrsam genommen. Für vorerst unbestimmte Zeit.
„Ihr wollt alle Nephilim einsperren, die hier in Central sind?“, fragte Silva die beiden Sicherheitsmänner noch immer völlig ungläubig. Sobald er aus diesem grauenhaften Traum erwachen würde, würde er sich über so viel Dummheit seitens des Parlaments im Nachhinein sehr amüsieren.
„So viele sind das nicht“, konstatierte der Sicherheitsmann, der ihm nun gegenüberstand, auf eine sehr herablassende Art und Weise, wie Silva fand. Er war ein großer, hagerer Mann mit ausdruckslosem Gesicht. Sein Partner hingegen warf Silva einen eher mitfühlenden Blick zu. Er war in einem betagteren Alter, etwas untersetzt und ebenfalls gut zwei Köpfe kleiner als der Nephilim.
Silva verstand.
Der Hagere hieß den Entschluss gut, der andere nicht. Was für ein Chaos, wenn sich nicht einmal die Sicherheitsleute selbst untereinander einig waren.
„Und was wird jetzt aus mir?“, wagte er die beiden scheinbar leicht überforderten Sicherheitsmänner zu fragen.
„Sie bleiben im Arrest“, konstatierte nun der nettere der beiden. „Vorerst.“ Aber das machte es auch nicht besser.
Silva schenkte ihm ein leicht bedauerndes Kopfschütteln. „Nein. Das könnt ihr vergessen. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Gegen kein Gesetz verstoßen. Nur einer bestimmten Art anzugehören, ist kein Grund für einen solch drastischen Eingriff in meine persönliche Freiheit.“ Einmal davon abgesehen, dass er wirklich nicht hier bleiben konnte.
„Sie haben keine Rechte mehr“, entgegnete der weniger Nette schlicht.
Silva stand von seinem Stuhl auf, auf dem er geduldig bis jetzt ausgeharrt hatte. Der hagere Mann richtete unvermittelt seine Waffe auf ihn. Silva ignorierte die Waffe, aber seine Worte schnitten durch die Luft wie Metall.
„So wahr ich hier vor Ihnen stehe, bin ich ein freies Individuum.“
Der Spaß war zu Ende. Er hatte erfahren, was er hatte erfahren wollen, und musste nun zusehen, dass er hier wieder wegkam. Ganz sicher würde er sich nicht einsperren lassen, auch wenn das bedeutete, dass er sich jetzt und hier tatsächlich der Ordnungsmacht dieser Männer widersetzen musste.
„Kümmert euch um diejenigen, die das Ganze hier zu verantworten haben!“, riet er den beiden Männern in einem derart bestimmenden Tonfall, dass beide einen großen Schritt von ihm wegtraten. Dann drehte er sich um und ging.
Oder vielmehr wollte gehen.
Ohne Vorwarnung schoss ihm der weniger Nette eine Kugel direkt in den Rücken knapp oberhalb seines Herzens. Silva wirbelte im Bruchteil einer Sekunde herum und schlug dem Mann noch in der gleichen Bewegung mit einer Hand die Waffe aus den Fingern. Mit der anderen verpasste er ihm eine Ohrfeige, die den Mann sicher von den Füßen geholt hätte, hätte Silva ihn nicht bereits im nächsten Moment am Kragen gepackt und festgehalten. Der betagtere Kollege richtete nun ebenfalls seine Waffe auf Silva, allerdings zögernd und mit leicht zitternden Händen. Silva ließ den geohrfeigten zu Boden gleiten und wandte sich langsam und mit Bedacht dem anderen zu. Die Kugel brannte in seiner Schulter und hinterließ einen roten Fleck auf seinem Hemd, der ziemlich schnell größer wurde. Doch darum musste er sich später kümmern.
„Du weißt, dass deine Kugeln mir nichts anhaben können?“, fragte er mit einer ebensolchen Ruhe in der Stimme, wie sie in seinen Bewegungen lag. Und er hoffte inständig, dass seine Lüge überzeugend war.
Der Mann nickte.
„Dann lass es sein und spar dir deine Munition.“
Diese verdammten nicht mehr vorhandenen Gesetze! Wie dreist, ihm ohne Vorwarnung in den Rücken zu schießen! Aber er war vogelfrei. Die beiden hier konnten mit ihm tun und lassen, was sie wollten.
Der arme Mann vor ihm, der wohl noch einen Rest Anstand besaß, weil er zögerte, statt sofort abzudrücken, hob die Waffe nun ganz langsam dennoch auf Silvas Kopfhöhe an. Und Silva konnte es ihm nicht einmal verdenken. Doch bevor der Mann reagieren konnte, riss er ihm die Waffe aus der Hand, ließ das Magazin herausgleiten und warf es angewidert beiseite. Es war gefüllt mit Kugeln. Altmodischen Kugeln. Das Einzige, was seine Flügel nicht aufhalten konnten. Das Einzige, was ihm wirklich gefährlich werden konnte.
Er seufzte.
Die Männer hier waren trotz der kurzen Vorbereitungszeit gut vorbereitet. Und in diesem Fall könnte sein Abgang sehr schmerzhaft werden, wenn er nicht aufpasste. Er begutachtete noch einmal die leere Waffe. Dann zielte er mit ihr auf den noch stehenden Sicherheitsmann, der nun, trotz des fehlenden Magazins, verwirrt die Hände hob.
Irgendwie war Silva diese Geste sympathisch. Er hatte beinahe Mitleid mit dem armen Mann. War er doch nur ausführende Hand und sich wohl irgendwie auch der Tatsache bewusst, dass er dem Geschöpf, das ihm gerade gegenüberstand, hoffnungslos unterlegen war.
Am Rande seines Sichtfeldes bemerkte Silva, wie die Kollegen des armen Mannes durch das Sicherheitsglas des innenliegenden Fensters die Szenerie verfolgten. Keiner von ihnen griff ein, und solange er mit der Waffe in der Hand auf den Mann zielte, würde sich daran vermutlich auch nichts ändern. Auch wenn sie ungeladen war. Aber das hatten die Kollegen wohl nicht mitbekommen. Nur die kleine Kamera in der Ecke würde später alles verraten, was geschehen war. Aber damit musste der Kerl vor ihm klarkommen. Silva war sich sicher, dass jeder seiner Kollegen ihm den Schock abkaufte, der gerade in seinen Augen stand.
Er ging zu dem Fenster, das nach draußen führte, ohne die Waffe von dem Mann zu nehmen. Es war ungesichert und ließ sich öffnen.
Natürlich war es ungesichert und ließ sich öffnen, schließlich waren sie im zweiundfünfzigsten Stock. Jeder Fluchtversuch hieraus wäre Selbstmord gewesen.
Für die meisten.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung ließ Silva die Waffe fallen, riss das Fenster ganz auf und sprang nach draußen. Wie ein Stein fiel er Richtung Boden. Erst kurz vor dem Aufschlag öffnete er seine Flügel, bremste den Fall und rollte sich hart auf dem Boden ab. Dann verschwand er, so schnell er konnte, in der Menge der belebten Straße. Er rannte durch die Massen hindurch und verlangsamte erst etliche Kreuzungen später das Tempo, nachdem er sich sicher war, dass niemand ihm folgte. Zum zweiten Mal in dieser Nacht war er froh darüber, dass Centrals Straßen zu jeder Zeit so belebt waren. Er passte sein Tempo dem hier üblichen an und schlenderte wachsamen Auges weiter, während er still dafür dankte, einigermaßen glimpflich aus dieser Situation entkommen zu sein.
Es war schon interessant, was seine Intuition so alles bedachte und entschied, bevor ihm diese Dinge bewusst wurden. Er war nun froh darüber, die Flucht nach unten in die belebte Straße und nicht nach oben in den freien Himmel hinein angetreten zu haben. Denn er war sich sicher, so im Nachhinein, dass mindestens einer der Sicherheitsmänner dumm genug gewesen wäre, im zweiten Fall auf ihn zu schießen. Und niemand hätte dann sagen können, welchen Schaden die ins Nichts gefeuerten Kugeln angerichtet hätten. Eine solche Gefahr hätte Silva keinem Wesen dieser Stadt gewünscht.
Er verwendete ein paar Augenblicke darauf, seinen Herzschlag wieder zu beruhigen und per Willenskraft die Wunde in seinem Rücken behelfsmäßig zu schließen. Allein der rote Fleck blieb sichtbar auf seinem weißen Hemd zurück sowie die Kugel schmerzhaft in seiner Schulter.
Als die Aufregung sich allmählich legte, begann die Kälte der Nacht nun unangenehm unter seine Kleidung zu kriechen. Mit Bedauern stellte Silva fest, dass sein Cape noch im Haus der Sicherheit lag. Er hatte keine Zeit gehabt, es wieder an sich zu nehmen. Leicht frierend und mit beiden Armen um sich geschlungen sann er darüber nach, was er als Nächstes tun sollte. Tun konnte.
Wenn es ihm nach den neusten Erlassen nun nicht einmal mehr zustand, Waren auf dem freien Markt zu kaufen, dann hatte er keine andere Wahl. Wenn der rechtmäßige Markt ihm nicht mehr zur Verfügung stand, dann blieb nur noch der Markt in der Grauzone.
Er traf seinen Entschluss mit einer Mischung aus Trotz und weiterem Bedauern und machte sich auf den Weg zu Simon.
Sehr zu Silvas Verdruss war sein zweifelhafter Bekannter allerdings an keinem der ihm üblichen Orte anzutreffen. Lediglich einer seiner Freunde steckte Silva, dass man ihn abends neuerdings hin und wieder an einem geheimen Ort finden könne: In seiner neuen Lieblingsbar an der Grenze zur Oststadt. Doch es war gerade kurz vor Sonnenaufgang, und daher beschloss Silva, zu Laras Wohnung zurückzukehren. Er musste zuerst Pegaso dringend über die neusten Bestimmungen in Kenntnis setzen, bevor sein junger Freund losziehen und in eine ebensolch unangenehme Situation geraten konnte wie er selbst einige Stunden zuvor.
Und ihn darum bitten, die Kugel aus seinem Rücken zu entfernen. Sie brannte noch immer höllisch in seinem Fleisch.
Pegaso war bestürzt über Silvas Bericht und noch mehr über die Kugel.
„Heißt das jetzt, wir haben eine Karte, mit der wir alles kaufen können, was wir wollen, dürfen aber nichts mehr kaufen? Gar nichts mehr?“, fragte Pegaso so nebenbei, während er vorsichtig mit einem Messer nach der Kugel fischte.
Silva verzog das Gesicht. „Ich denke nicht, dass wir beim Kauf von Lebensmitteln oder derartigen Dingen nach dem Pass gefragt werden, aber wenn jemand fragt, solltest du sofort gehen“.
Pegaso nickte und stellte fest: „Blut kaufen können wir aber so oder so vergessen, richtig?“
Silva nickte ebenfalls. Er zuckte kurz zusammen, als die Kugel sein Fleisch verließ.
„Zappel nicht so rum!“, tadelte Pegaso ihn und drückte etwas unsanft ein Stück Tuch auf die Wunde. Der Wächter drehte sich auf dem Hocker halb zu ihm um und wollte den Tadel gerade erwidern, als er in ein verwirrend zuversichtliches Gesicht blickte.
„Das mit dem Blut lass mal meine Sorge sein“, schlug Pegaso vor und klang dabei genauso zuversichtlich, wie er aussah. „Darum werde ich mich kümmern. Mach du den Rest.“
Silva zog zweifelnd eine Augenbraue nach oben, aber Pegasos Zuversicht blieb standhaft. Was auch immer er vorhatte, ein Plan war besser als kein Plan. Und Silva wusste natürlich insgeheim, dass sein junger Freund von dem Konservenblut ohnehin noch nie begeistert gewesen war. Vielleicht kam ihm diese Entwicklung ja sogar ganz recht.
„Sei nur vorsichtig, egal was du tust“, ermahnte Silva ihn streng. „Ich selbst werde heute Abend noch mal versuchen, Simon zu erreichen. Vielleicht kann er uns derzeit tatsächlich weiterhelfen.“
„Mach aber keine Dummheiten!“, befahl Pegaso mit der gleichen Strenge, und Silva verzog erneut das Gesicht. Beschämt dieses Mal.
Als es Abend wurde, waren beide bereit, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Silva nahm seine Suche nach Simon wieder auf, während Pegaso einen ersten Versuch unternahm, von irgendwoher Blut zu beschaffen.
„Ich werde vorsichtig sein“, versprach der junge Nephilim noch einmal eindringlich seinem zweifelnd dreinblickenden Gegenüber, als sie vor dem Eingang des Hochhauses standen. „Ich werde nach Osten gehen. Eine ganze Zeit lang. Selbst wenn was schief geht, sie werden wohl kaum die ganze Stadt nach mir absuchen können.“ Seine Zuversicht in seinen Plan war noch immer keinen Deut ins Wanken geraten.
Silva seufzte nur als Antwort.
„Willst du hier verhungern?“, beharrte Pegaso. „Mitten in der Stadt? Ohne was zu tun? Ohne wenigstens was versucht zu haben?“ Er nahm Silvas Kopf zwischen seine Hände und sah ihn ernst an.
„Nein, schon gut“, lenkte Silva schließlich ein. „Versuche dein Glück.“ Er tat es dem jungen Nephilim gleich, legte beide Hände an Pegasos Wangen und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.
Pegaso gluckste leise, löste grinsend Silvas Hände von seinen Wangen und machte sich eilig von dannen.
„Wir treffen uns später wieder hier!“, rief Silva ihm nach, bevor der junge Blondschopf ganz in der Menge verschwunden war. Sein Herz schlug laut, was aber durchaus auch von dem Hunger kommen konnte, den er verspürte. Sein Körper verlangte dringend nach neuer, frischer Energie. Er hoffte daher sogar, dass Pegasos Plan erfolgreich sein würde, denn sonst würde es allmählich gefährlich für sie beide werden. Und er hoffte auch, dass Simon sich in dieser Sache als ebenso nützlich erweisen würde. Er seufzte noch einmal laut und ging dann zu der Adresse, die Simons Freund ihm verraten hatte.
Dass sie ebenfalls im Osten lag, hatte er vor Pegaso lieber erst einmal verschwiegen. Sonst wäre der Blondschopf noch auf die Idee gekommen, sich ihm anzuschließen. Aber Silva wollte diese Sache lieber alleine regeln. Denn so weit reichte sein Vertrauen in Simon und den grauen Markt dann doch nicht.
Als der Wächter das Innere der Bar betrat, empfing ihn eine düstere Atmosphäre. Obwohl es draußen noch einigermaßen hell war, drang dennoch nur wenig Licht in den Raum hinein, was an den fast geschlossenen Holzläden vor den Fenstern des 'Inn' lag. Ein paar kleine, gelbliche Lampen brannten hier und da und verstreuten ihren diffusen, schummrigen Schein so gut sie konnten. Trotz der geringen Größe des Raumes sah man kaum vom einen Ende zum anderen. Geschweige denn, dass man Gesichter erkennen konnte, die weiter weg als ein paar Tische waren. Silva ging zur Theke, dem einzig hell erleuchteten Platz, und setzte sich auf einen der freien Hocker. Die Wirtin stellte ihm unaufgefordert ein halb volles Glas mit einer Gold schimmernden Flüssigkeit hin.
„Ich warte nur auf jemanden“, erklärte er ihr.
Sie musterte ihn von oben bis unten. Er musste wohl einen ziemlich mitleiderweckenden Eindruck machen, denn sie schob das Glas noch näher zu ihm hin.
„Schon gut. Geht aufs Haus.“
„Danke“, sagte Silva verwundert, aber artig, und zog die Stirn in Falten. So viel Gastfreundschaft hätte er in dieser Spelunke gar nicht erwartet. Doch die Wirtin lächelte ihm weiterhin freundlich zu, was Silva dazu bewog, sich ein Herz zu fassen und sie nach Simon zu fragen.
„Er ist ein alter Bekannter von mir“, erklärte er ihr. „Und ich muss ihn dringend sprechen.“
Die Frau zog eine Augenbraue nach oben, nickte erst kaum merklich und schüttelte dann langsam den Kopf. „Tja, ich schätze, da kannst du lange warten“, erklärte sie nun ihrerseits ihrem Gast. „Soweit ich weiß, ist er nicht mehr in der Stadt.“
Silva versuchte krampfhaft, seine Bestürzung über diese Aussage zu verbergen. Er nahm das Glas, roch an dem Getränk und trank einen Schluck davon. Es war süß und scharf. Es erinnerte ihn an sein eigenes Blut. Aber vermutlich hätte alles ihn derzeit an irgendein Blut erinnert.
„Aber der Typ da drüben“, fuhr die Dame fort und zeigte auf einen Tisch unweit von ihm, an dem ein einzelner Mann saß, der Spielkarten vor sich auslegte, „der kennt Simon recht gut. Vielleicht kann er dir weiterhelfen.“
Silva drehte sich ein wenig zu dem Kerl hin. „Danke“, sagte er dabei erneut zu der Wirtin, ohne den Blick von dem Mann zu nehmen. Er zog auch erneut die Stirn leicht kraus und starrte den Fremden eine ganze Weile lang an.
Irgendetwas stimmte mit dem Kerl nicht. Silva hatte den Eindruck, er gehöre zu seiner Art, aber der Eindruck war verschwommen. Als läge ein Schleier über ihm, ein Schatten. Ähnlich wie bei Simon, nur stärker und irgendwie anders.
Der Wächter blinzelte ein paar Mal, aber der Schleier blieb.
Vielleicht war er aber auch einfach nur zu erschöpft, um sich angemessen konzentrieren zu können.
Er nahm noch einen Schluck des süßscharfen Getränks und all seinen Mut zusammen, stand dann auf und ging zu dem Mann hin. Ungefragt zog er einen Stuhl an dessen Tisch beiseite und ließ sich darauf nieder. Sein Gegenüber sah ihn recht unbeeindruckt aus grauen Augen an. Grau wie Silvas, nur ohne die silbernen Sprenkel darin. Sein Alter war schwer einzuschätzen, genauso wie die Zugehörigkeit seiner Art, aber er mochte etwas älter als Pegaso sein. Er hatte pechschwarzes Haar, das auf der einen Seite seines Kopfes etwas länger war als auf der anderen. Auf der Seite mit den kurzen Haaren zog sich eine graue Strähne wie ein Pfeil von der Schläfe bis zum Hinterkopf. Seine Kleidung war ebenso schwarz. Und überhaupt ging etwas sehr Düsteres von ihm aus.
Er passte perfekt zu diesem Ort.
„Ich suche Simon“, begann Silva, ohne jede Art von Begrüßung.
„Ich nicht“, antwortete der junge Mann prompt und wandte sich wieder seinen Karten zu.
„Es ist wichtig. Man hat mir gesagt, du kennst ihn. Was ist mit Simon? Wo ist er?“
„Abgehauen.“
Silva schluckte hart. Wenn Simon wirklich abgereist war, dann hoffte er umso mehr, dass Pegaso Erfolg haben würde.
Etwas betrübt saß er da, darüber nachsinnend, was er nun tun könnte, während der Fremde seine Karten einsammelte und sie zu einem Stapel geschichtet in die Mitte des Tisches legte. „Kann ich dir helfen?“, fragte er so ganz nebenbei, als wolle er doch noch ein Einsehen haben mit der Dringlichkeit des Anliegens seines ungebetenen Gastes. Der nächste Blick galt daher ganz und gar Silva. „Ich bin Vertigo.“
„Silva.“
Der Wächter reichte ihm eine Hand. Er hoffte, durch die Berührung etwas mehr Klarheit darüber zu erhalten, ob Vertigo nun ein Nephilim war oder nicht. Doch seine Hoffnung erwies sich als vergeblich. Denn auch als Vertigo die Hand annahm und sie kurz grüßend drückte, blieb der Eindruck verschwommen.
Aber Silva musste es wissen, und wenn alle konventionellen Methoden versagten, blieb ihm nur noch der direkte Weg.
Der Wächter blickte sich kurz zur Tür um.
Der Weg dahin war ohne ein Hindernis. Wenn er mit seiner Einschätzung richtig lag, dann konnte Vertigo ihnen beiden helfen. Aber wenn er falsch lag, dann war es gut zu wissen, dass einer Flucht nichts im Wege stand. Er griff in seine Tasche und legte seinen Pass auf den Tisch, mit der Seite, auf der seine Artenzugehörigkeit vermerkt war, nach oben.
„Bist du einer von uns?“, fragte er Vertigo leise, bereit, bei dem kleinsten Anlass diese Lokalität blitzartig zu verlassen.
Vertigo nahm den Ausweis an sich, sah ihn sich in aller Ruhe an und schob ihn Silva wieder zu. Er nickte.
Hoffnung keimte in Silva auf. Das Glück hatte ihn wohl doch noch nicht ganz verlassen. „Dann musst du uns helfen“, bat er Vertigo eindringlich.
Silvas Gegenüber schmunzelte kurz und sah an Silva vorbei, als suche er jemanden. „Uns?“
Silva drehte sich ebenfalls um. Aber da war niemand.
Die Nähe des jungen Nephilim war ihm in den letzten Wochen, ja Monaten, derart vertraut geworden, dass er jetzt völlig vergessen hatte, dass Pegaso gar nicht an seiner Seite war.
„Mir und einem Freund“, erklärte er daher, wandte sich wieder Vertigo zu und beugte sich noch näher zu ihm hin. Flüsternd bat er: „Gib mir dein Blut. Bitte.“ Es war einen Versuch wert.
Aber Vertigo verzog das Gesicht. „Du möchtest mein Blut nicht, glaube mir. Ich kann nicht mit dir teilen, Fremder. Tut mir leid. Das geht nicht.“
Silva war sprachlos. Völlig baff. Er hatte alle Arten von Ausreden erwartet, aber nicht das. Das war sein Satz!
„Wieso nicht?“, brachte er nur leicht irritiert hervor.
„Weil es nicht geht. Das wäre nicht gut für dich. Ganz sicher nicht.“
„Woher willst du das wissen?“ So also hatte wohl Pegaso sich damals gefühlt.
„Ich weiß es einfach. Lassen wir das Thema. In Ordnung? Kann ich dir sonst wie weiterhelfen? Was wolltest du denn von Simon?“
Silva traute seinen Ohren kaum. Er fühlte sich für einen Moment nach Anuar zurückversetzt, als er Pegaso erklärt hatte, dass er nicht mit ihm teilen könne. Er war sich damals sicher gewesen, dass er die einzige Ausnahme unter seinesgleichen war, und musste nun beinahe schmunzelnd feststellen, wie Neugierde in ihm emporstieg. Er sich fragte, was wohl das Geheimnis dieses jungen Kerls hier vor ihm war.
Aber es war besser, beim Thema zu bleiben.
„Du weißt, dass es unsereinem derzeit unmöglich ist, auf offiziellem Weg an gekauftes Blut heranzukommen?“, fragte er vorsichtig.
„Jepp.“
„Sag mir, was ich tun soll!“
Vertigo schenkte ihm ein halb amüsiertes Stirnrunzeln und begann erneut, die Karten auf dem Tisch auszulegen. „Ich welcher Beziehung?“
„Wie soll ich mich in Central ernähren, wenn die offiziellen Wege versperrt sind? Simon hat mir seine Hilfe angeboten, aber der ist, wie es aussieht, nicht mehr hier.“
„Hm. Tja. Das ist ein ernst zu nehmendes Problem“, sinnierte der Nephilim mit dem unsymmetrischen Haarschnitt vor sich hin. „Welche Art von Hilfe hat er dir denn angeboten?“
„Er sagte, es gäbe eine Art Ersatz für Blut. Nicht genau das Gleiche, aber ausreichend.“
„So so! Das hat er gesagt? Und wer sagte dir, du sollst mich damit belästigen?“
„Hat mir jemand zugeflüstert.“ Silva blickte kurz zu der Theke hin, um Vertigo verstehen zu lassen.
Dieser blickte ebenfalls zur Theke, seufzte dann leise und schob die Karten wieder zusammen. „Das Spiel geht nicht auf“, konstatierte er scheinbar zusammenhanglos. Dann sah er wieder Silva an. Blickte ihm direkt in die Augen. Und ließ auch Silva die seinen sehen.
Sie hatten etwas Stechendes, Scharfes an sich, etwas, das Silva einen Schauer über den Rücken jagte und ihn zu größter Vorsicht ermahnte. Der Fremde hatte, trotz seiner jungen Jahre, die Augen eines Killers. Kalt, abschätzend und ohne Emotion. Silva kannte diesen Blick nur zu gut. Von sich selbst.
Aber der Fremde sprach ruhig und gelassen, beinahe freundlich weiter.
„Komm morgen Abend in die alte Lagerhalle, die Simon bewohnt hat. Du weißt, wo das ist, oder?“
Silva nickte.
„Und komm allein.“ Vertigo legte die Karten aufs Neue aus. „Und jetzt verschwinde und lass mir meine Ruhe.“ Der Fremde wirkte nicht erbost oder erzürnt. Es war vielmehr eine sachliche Bitte, der nichts weiter entgegenzusetzen war.
Silva erhob sich von seinem Stuhl und ging. Auf eine gewisse Weise hatte er den Eindruck, abserviert worden zu sein. Und dieser Eindruck führte nicht gerade dazu, dass seine Stimmung sich besserte. Aber schließlich war er es gewesen, der etwas von dem anderen wollte. Also musste er bis hierhin auch nach dessen Regeln spielen.
Morgen also.
Er ging zu Laras Wohnung zurück und wartete dort auf Pegaso. Der Himmel über der Stadt färbte sich bereits wieder hell, und allmählich machten sich Ungeduld und Besorgnis tief in seinem Inneren breit. Pegaso hätte längst zurück sein müssen. Aber gerade, als er beschloss, sich auf die Suche nach dem jungen Nephilim zu begeben, hörte er, wie sich jemand an dem Türkeil zu schaffen machte. Pegaso grinste bis über beide Ohren, als er eintrat und Silva in der Küche erblickte. Er setzte sich zu ihm an den hohen Tisch, hielt ihm einen Arm hin und verzichtete sogar auf eine Begrüßung. Ganz offensichtlich wollte er viel lieber seinen Triumph auskosten.
„Wie war deine Jagd?“, fragte Silva daher und spielte mit.
„Erfolgreich“, grinste der Jäger noch breiter. „Wie war deine?“ Er hielt Silva seinen Arm noch deutlicher hin.
Der ältere Nephilim betrachtete ihn einen Moment lang missmutig, beschloss dann aber, dass er keine andere Wahl hatte, und nahm Pegasos Blut an. Es war süß und köstlich und nährte ihn, wie es für ihn notwendig war. Aber derart fundamental auf die Hilfe eines anderen, noch dazu weitaus jüngeren Nephilim angewiesen zu sein, hatte einen bitteren Beigeschmack.
„Danke“, sagte Silva dennoch artig und verschloss die kleine Wunde, als er genug genommen hatte, um sich wieder einigermaßen bei Kräften zu fühlen.
„Willst du denn gar nicht wissen, wie ich das angestellt habe?“ Pegaso schien sichtlich beleidigt darüber zu sein, dass sein Freund ihm so überhaupt keine weiteren Fragen dazu stellte.
„Doch, doch. Natürlich. Nur zu“, erwiderte Silva daher sogleich und fragte sich insgeheim, wie tief der Junge wohl noch in dieser Wunde herumbohren wollte.