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Sinclair Lewis (1885-1951), der nonkonformistische Querkopf und Eigenbrötler, gilt als der amerikanische Chronist des kleinstädtischen Marktschreiers und aufgeblasenen Wichtigtuers. Mit seinen Werken wurde der Romancier zum getreuen Darsteller und Kritiker des Normal- und Schmalbürgertums, das er hier liebenswürdig humorig, dort mit beißender Satire schilderte.
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Axel von Cossart
SINCLAIR LEWIS
UND SEINE GESTALTEN
IMPRESSUM
Axel von Cossart
Sinclair Lewis
und seine Gestalten
Axel von Cossart
© 2014
Die Wahrheit ist kein bunter Vogel
Den man zwischen Felsen jagt
Und am Schwanz packt,
Sondern eine skeptische Sicht des Lebens.
Truth is not a colored bird
To be chased among the rocks
And captured by its tail,
But a skeptical attitude toward life.
“Arrowsmith”
(Person, Werk und Leben des Literaten)
Die Selbstfindungsphase der USA traf zeitlich mit dem Übergang zu einer erstrangigen Industriegesellschaft und Weltmacht sowie dem Durchbruch der kulturellen Moderne zusammen. Dadurch entstand - wie auch für andere Länder - eine schwierige Statuspassage. Die zwanziger Jahre waren - neben den Sechzigern - eine Dekade, in der Amerika und die Welt am meisten ökonomisch expandierte.
Schon nach dem im Lande geführten Bürgerkrieg mußte sich die Nation Amerika darüber im Klaren sein, daß eine Zukunft schwerlich denkbar war.
Kennzeichen des Amerikanismus waren die vielfach genutzten Chancen, nicht nur die Immigranten, sondern auch vieles andere zu amerikanisieren. Dazu gehörten Räume und Zeiten, Demokratie, Moral und Religion, Ästhetik und Charaktere sowie Kunst und Architektur.
Der Autor verliert einen Sohn: Leutnant Wells Lewis fiel bei Piedmont Valley einem deutschen Heckenschützen zum Opfer (Frankreich, bei Elsaß-Lothringen). Nach der Vorlage eines ersten Romans hatte dieser an den Kampfhandlungen teilgenommen. Im Stil seines Vaters versuchte er sich an eigenen Novellen.
Mit seinen Werken wurde Sinclair Lewis der getreue Darsteller und Kritiker des amerikanischen Klein- und Großbürgertums, das er hier liebenswürdig humorig dort mit beißender Satire schilderte. Der Gesellschaftskritiker und „harte“ Realist der zwanziger und dreißiger Jahre wurde vor allem mit seinen – gerne als böswillig interpretierten – „Vorführungen“ des Normal- und Schmalspurbürgertums bekannt.
In einem Selbstporträt gibt Lewis sein aufschlußreiches Glaubensbekenntnis: "Ob meine Bücher irgendeinen Wert haben oder nicht, weiss ich nicht und bekümmert mich nicht sehr, nachdem ich die etwas erschöpfende Aufregung, sie zu schreiben, gehabt habe. Aber - gut oder nicht - in ihnen ist alles enthalten, was ich dem Leben entnehmen oder was ich zum Leben bringen konnte."
Farm oder Fabrik - sich ändernde Gesellschaftsstrukturen aufgrund neuer Wirklichkeiten brachten teils exzentrische, neurotische, ja perverse Menschenbilder hervor.
Und an späterer Stelle schreibt er dann von sich selbst in der dritten Person: Er habe einen wirklichen wilden, fast rücksichtslosen Widerwillen gegen Heuchelei - gegen zum blossen Schein im Selbstinteresse geschwätzte leere Worte ... Ebenso hasst er Politiker, die unter dem Mantel windiger und banaler Rhetorik lügen, terrorisieren und stehlen, Doktoren, die unnötiger- aber sehr einträglicherweise ihre Patienten davon überzeugen, dass sie krank sind; Kaufleute, die über ihre Ware falsche Angaben machen, Fabrikanten, die als Philanthropen posieren, während sie ihre Arbeiter schlecht bezahlen, Professoren, die in Kriegszeiten den Beweis zu erbringen versuchen, dass die Feinde alle Teufel sind, und Romanciers, die sich fürchten, das zu sagen, was ihnen als Wahrheit erscheint."
Dieses Selbstporträt akzentuiert Sinclair Lewis als Schrittmacher einer neuen amerikanischen Erzählweise, die sich der nationalen Selbstkritik verschrieben hat, eine Literatur, die sich als zeitlos und zeitbestimmend erweisen sollte.
Sinclair Lewis ist weder Dichter noch Musiker, sondern ein Romanschriftsteller, der für den neuen Kontinent eine Tradition dieser Kunst erfolgreich fortsetzt.
„Aber ich habe gelesen; und ich habe etwas entdeckt – Ihnen kommt es vielleicht albern vor, es so zu nennen, aber für mich waren es die größten Entdeckungen meines Lebens: daß die Menschen einfach Menschen sind, alle - daß der kleinste bescheidene Büroangestellte ein Held und der Held ein Niemand sein kann – na und so weiter. Finden Sie das auch?” („Falkenflug“) Es bleibt bei der amerikanischen Zuversicht in die Rolle des Menschen in dieser Welt und in die Machbarkeit aller Dinge.
Sinclair Lewis ist literarisch als bedeutender humanistischer Realist, der mit seinen satirischen Charakteristiken aus dem Mittelwesten der USA eine breite Leserschaft fand, einzuordnen.
Zwar benannte der amerikanische Literaturkritiker Henry Hazlitt 1932 in der Zeitschrift ‘The Forum‘ eine Liste mit Namen beeindruckender amerikanischer Romanschriftsteller, aber die Frage, wer in einhundert Jahren noch geschätzt werden wird, beantwortete er dann doch mit der Nennung europäischer Schriftsteller, wie Marcel Proust, Thomas Mann und James Joyce. Den größten Anspruch auf lang andauernde Wertschätzung amerikanischer Autoren hätten seiner Meinung nach aber Theodor Dreiser und Sinclair Lewis.
Letzterer hat eine Reihe mittlerweile „klassischer“ Romane hinterlassen, die vor allem „heiße Eisen“, etwa Moralfragen, anpacken und aus der Entwicklung der modernen Prosaepik nicht wegzudenken sind.
Als erster Amerikaner erhielt Sinclair Lewis 1930 aufgrund "seiner eindringlichen und anschaulichen Darstellungskunst und seiner Fähigkeit, mit Verstand und Humor neue Charaktertypen zu gestalten" den Nobelpreis für Literatur.
Der Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker Malcolm Cowley, der zeitweise als „expatriate“ in Paris lebte, bezeichnete Lewis‘ Gegenwart sogar als zweite Blütezeit der amerikanischen Literatur, die mit dem ersten Hoch der 1840er und 1850er Jahre, also mit Hawthorne, Emerson, Melville und Whitman, verglichen werden könne. Zwar gab es auch weiterhin Kritiker der modernen (amerikanischen) Kunst, doch zahlreiche Publizisten, welche die Diskussionen der zwanziger Jahre bestritten hatten, zeigten sich schließlich im Verlauf der dreißiger Jahre gegenüber der (amerikanischen) Moderne aufgeschlossen - nicht zuletzt dank des Einflusses der europäischen Avantgarde-Künstler und Architekten, die wegen der NS-Herrschaft in die USA emigriert waren.
Am liebsten war den Amerikanern indessen nach wie vor eine amerikanisierte Moderne, um sie mit dem Etikett heimischer Kultur versehen zu können.
Auch den Literaturhistorikern sollte es nicht um die Suche nach Meisterwerken gehen, sondern darum, herauszufinden, wer sich in seinem Werk der Entwicklung zur neuen amerikanischen Gesellschaft aufrichtig gestellt habe. Sinclair Lewis nimmt mit seiner Art zu schreiben, zu veröffentlichen, zu leben aktiv teil am Reichtum und dem lebenserleichternden Fortschritt. Man denke nur daran, als wie wohltuend für Haut, Haare, das Gesamtempfinden er den Elektro-Rasierer preist, den etwa Neil Kingsblood sein eigen nennt. Die optimistische Haltung, daß die Gesamtentwicklung aufwärts strebt und daß jeder Mensch darin seine Chance wahrnehmen kann, bleibt erhalten. Angeprangert werden auch nicht der wissenschaftliche, technische und industrielle Fortschritt, sondern das damit beobachtbare Verkommen gewisser Grundhaltungen.
In seiner Essaysammlung „The Man From Sauk Centre“ klagt es Sinclair Lewis, daß Amerika nie einen bedeutenden Denker und Schreiber sein eigen nennen konnte. Zwar erwähnt er den Cambridge-Concord Zirkel, versieht ihn aber nicht mit dem ihm zukommenden Einfluß. Die Gestalten des vorigen Jahrhunderts scheinen Lewis Außenseiter, alleinstehende, nicht sonderlich geachtete Wesen. Doch wie bei diesen war nicht England- oder Europafeindlichkeit das Motiv, vielmehr sollte Europas kulturelle Überheblichkeit ein Ende finden. In England, dem politischen Mutterland, vertraten noch immer viele Kunst- und Literaturkenner die Auffassung, in den USA gäbe es keine gute Musik, keine lesbare Literatur und keine überzeugende Kunst.
Die Meinungen teilten sich in zwei Denkrichtungen: Die Isolation des Landes und der Schutz vor fremden Einflüssen, das Sich-Öffnen einer - vorwiegend europäisch - gestalteten Richtung.
Seit der Jahrhundertwende begann der Ruf nach kultureller Eigenständigkeit beträchtlich an Boden zu gewinnen. So wurde etwa in Van Wyck Brooks' Büchern „America's Coming-of-Age“ (1915) und „The Pilgrimage of Henry James“ (1925) einer Enteuropäisierung der amerikanischen Kunst das Wort geredet. Brooks forderte deshalb auch die amerikanischen Schriftsteller auf, das amerikanische Leben intensiver wahrzunehmen und zu verarbeiten, woraus sich dann eine eigene Literatur entwickeln könne.
Mit dem amerikanischen Schriftsteller William Dean Howells setzt Sinclair Lewis seinen eigenen Standard an, wenn ihm dieser Vergleich auch kein allzu zutreffender ist: “Die Sommerfrische früherer Zeiten, die sich häufig um ein einziges Hotel gruppierte, hatte sich mit einem gesellschaftlichen Leben begnügt, das, so naiv es auch sein mochte, nach den Begriffen William Dean Howells' und der Goldenen Neunziger Jahre interessant war.
Die normale Reise der Familien, die so vergnügt auf zwei Wochen oder einen Monat nach Bar Harbor, Saratoga Springs oder Bretton Woods kamen, war eine lange, staubige, ratternde Eisenbahnfahrt; sie endete so schön angesichts grauer Brecher oder schimmernder Berge und angesichts des wohlbekannten komischen kleinen Bahnhofes, dessen Bedeutung für sie darin bestand, daß er ihnen sagte, nun liege wieder einmal eine schöne Erholungszeit vor ihnen, und dann komme die traurige Heimkehr nach New York oder Boston. Während des Ferienaufenthaltes kannte man keine anderen Fahrgelegenheiten als Segelboote für Vergnügungsfahrten, Leiterwagen für Ausflüge und elegante, rot geräderte Einspänner für dekorative Zwecke. Das Reisen spielte die geringste Rolle in den Ferien jener Zeiten.
Die Hoteliers mußten keine großen Anstrengungen machen, um ihre Gäste zu amüsieren. Sie bedurften, um blasierte Seelen aufzurütteln, keiner Tonfilme, keiner Golfplätze und keiner Jazzbanddirigenten, die Jahresgehälter von zwanzigtausend Dollar bezogen. Solange die Gäste einen Croquetplatz hatten, einen großen Saal und ein Klavier zum Tanzen, genug Boote und dazu die Berge und das Meer, die in jenen sorglosen und unwissenschaftlichen Tagen vom lieben Gott gestellt wurden und nicht von einem Hotelier, waren sie zufrieden ... oder wenigstens der Zufriedenheit so nahe, wie Gruppen von Menschen jemals irgendwo sein können.
Selbst in den Kreisen der müßigen Reichen, der Elegants der neunziger Jahre, die wirklich in Europa gewesen waren und eine Schwester an den Vetter eines Barons verheiratet hatten, gab es sommerliche Theatervereine, gesellschaftliche Veranstaltungen auf einer Jacht und Männer, die nicht den Lärm eines Außenbordmotors brauchten, um zum… („Work of Art“)
In der gesellschaftlichen, ökonomischen und weltpolitischen Umbruchzeit des frühen 20. Jahrhunderts intensivierte sich in den USA der Wunsch nach allseitiger Anerkennung kultureller Gleichwertigkeit mit Europa.
Auf einer längeren Zeitachse gesehen musste der kulturelle Nationalismus scheitern. Denn erstens war die Vorstellung, es könne eine national reine Kunst und Kultur geben, generell abwegig, schon gar nicht in einer Gesellschaft wie der amerikanischen, in der wegen der diversen Einwanderer-Milieus und der African Americans gar keine genuin nationale Kunstausrichtung möglich war. Zweitens beinhaltete der kulturelle Nationalismus, soweit er sich auf die Moderne bezog, einen zusätzlichen Anachronismus.
Denn Sinn und Zweck jeder neuen Kunstrichtung kann ja nur Transnationalität sein, selbst wenn bestimmte nationale Eigenheiten und nationale Ansprüche und Vereinnahmungen erhalten blieben. Seit dem Zweiten Weltkrieg traten die nationalistischen Bestrebungen in der Kunst tatsächlich in den Vordergrund, aus welchen sich eine Internationalität herausschälen konnte.
„Gewiss, am Anfang stand die amerikanische Revolution mit ihrem Doppelcharakter als Befreiung vom Mutterland Großbritannien und als Fundament für eine selbst entworfene Republik. Dieses Großereignis galt seither als sakrosankter Kern und als eine der Kraftquellen für die nationale Identitätsfindung. Doch zeigte nicht zuletzt der Bürgerkrieg die fortbestehende innere Zerklüftung des Landes in höchst blutiger Weise. Das extrem föderalistische politische System lief nationalen Vereinheitlichungstendenzen ebenfalls zuwider.“ (von Saldern)
Irritiert durch den Gegensatz zwischen romantischer Schriftstellerei und den unübersehbaren Problemen des "realen" Amerikas hatte sich William Dean Howells (1837-1920) dem Realismus verschrieben. Doch war dies eine – in den Augen Sinclair Lewis‘ – schöngefärbte Wirklichkeit, wo der Farmer nicht im Dreck wühlte, die Seeleute keine schmutzigen Lieder sangen und die Hand des Fabrikarbeiters seinem Arbeitgeber stets zum Dank gereicht wird. Hier sieht Sinclair Lewis Handlungsbedarf, schleift auf seiner Suche nach der Wirklichkeit die Messer nach. Sein Credo sind dokumentarische Wahrhaftigkeit, ein neuer literarischer Wirklichkeitssinn, ein photographischer Realismus.
Der US-Romancier stand mit seiner Sicht nicht allein, sondern wirkte in einer Ära literarischer Giganten, die sich nicht nur gegenseitig lobten, wie der Vorwurf lautete. Mit dem Versuch, die Seele einer Nation zu verallgemeinern, hatte die amerikanische Literatur seit den 20er Jahren eine neue, qualitativ höhere Etappe erklommen. Die Ausstrahlung und Einflußnahme gedieh international zum gleichwertigen Austausch. Durch seine Abfolge pointierter Erzählkunstwerke konnte aber nur der Nobelpreisträger herausragenden Erfolg erringen.
Sinclair Lewis hofft, daß mit der Entgegennahme des Literaturpreises „diese ganze Lehrzeit mit all ihren Irrtümern so gut wie beendet ist.“ Speed und außergewöhnliche Virtuosität kennzeichneten das Schaffen dieser multiplen Persönlichkeit, von der es auch hieß, die persönliche Meinung würde so oft geändert, daß man befürchten müsse, es gäbe gar keine. „Nicht wie ein gesteuertes Auto, sondern wie ein Jet außer Kontrolle.“ (De Kruif)
Allmählich stieg die Wertschätzung amerikanischer Kunst und Literatur, zumal einzelne Werke auch vom alten Kontinent anerkannt wurden. Frederick P. Keppel beobachtete 1933, dass Europa tatsächlich immer häufiger einen Blick auf amerikanische Architektur, Musik und Literatur werfe. Dies sei ein Zeichen dafür, dass die „Neukultur“ auf diesen Gebieten bereits jetzt "wichtige originale Arbeit" vorgelegt hätte.
Zwar sei die Moderne in Europa entstanden, hieß es nun, aber erst in den USA habe sie richtig aufblühen und gedeihen können. Der Begriff „Moderne“ zeichnet sich dadurch aus, daß man besonders originell, anders als Andere, eigentlich sein möchte. So entstehen mehrere Kunstrichtungen, die sich gegenseitig beeinflussen, ablösen bzw. aufeinander aufbauen.
Etwas Jugendliches umgab Sinclair Lewis‘ Person, ein „airy unconcern“, so daß man auch sagte, was Sinclair Lewis als Ergebnis eines reifen Verstandes präsentiere gleiche der zurückgebliebenen Haltung eines Heranwachsenden. „Es ist etwas persönlich Liebenswertes an Sinclair Lewis als Schriftsteller, das eine völlig objektive Bewertung seiner jüngsten Arbeiten behindert – eine Güte und Sanftheit des Temperaments vielleicht, die durch alles hindurch scheint, was er schreibt, oder sein jungenhafter Idealismus, dessen er sich auf so jungenhafte Weise schämt.“ (Diana Trilling, in ‘The Nation‘)
Ein interessantes Leben, das einem Impuls folgt, besteht für Sinclair Lewis im Entledigen standardisierter Lebensmuster; schablonenhaftes Tun und Denken lehnt er rundweg ab. So bedeutet ihm auch der Schriftstellerberuf, den er lange mühsam anstrebt, die Flucht vor konventioneller Routine. Einmal bedauert er, daß die Zeit, in der er ein „patenter, aber nutzloser, irregulärer, unabhängiger junger Mann war, der wanderte und gefeuert wurde, fast nichts verdiente, aber fast alles sah“, so kurz gewesen war. Mit wachsendem Ruhm wäre er sich selber zum Gesetz geworden, gibt seine erste Ehefrau, Grace Hegger, zu bedenken.
Seinem Leben und sich möchte Sinclair Lewis romantische Qualitäten zugeschrieben wissen, einzigartig sein, als wäre er einer der in Indien Abenteuer suchenden Kiplings oder so eine kritische Führerpersönlichkeit wie Bernard Shaw.
Eine mitentscheidende Rolle spielte Shaw in der intellektuell- sozialistischen Gesellschaft der Fabianer, wo er seine politischen Ideen als Vortragsredner verbreiten konnte. Die dortige Shaw- Library erinnert daran, daß Shaw auch als Mitbegründer der „London School of Economics and Political Science“ gilt.
Brigadegeneral John N. Greely, der Lewis aus Yale kannte, traf ihn im Sommer 1920 zufällig auf der Straße: „Ich hatte ihn um seinen literarischen Erfolg beneidet. Er sagte: „Ich bin damit kein reicher Mann geworden, und jetzt kann ich nicht einmal eine Kurzgeschichte verkaufen. Ich bin ganz besessen von einem Roman. Meine Frau und meinen Sohn habe ich aus der Stadt fortgeschickt. Ich mache mir mein Frühstück selber und schließe mich dann in einem stickigen Zimmer im obersten Stock eines Pensionshauses bis neun Uhr abends ein, um das verdammte Ding fertig zu kriegen. Dann werde ich es womöglich nicht einmal loswerden, und wenn doch, bringt es mir wahrscheinlich keinen Cent ein…“
Sinclair Lewis wurde Kritiker, aber ein erfolgreicher, der Rekord-Honorare kassierte, höchstes Lob (H. G. Wells: "‚Babbitt‘ ist das, was wir eine ‚Schöpfung‘ nennen") wie ihn auch wütende Schmähbriefe erreichten: „Habe soeben Ihren Elmer Gantry gelesen, ist ein hundsmiserabler Dreck. Nach meiner Meinung haben Sie noch vor Judd Gray Anspruch auf den elektrischen Stuhl“, versicherte ihm ein Leser, und der Erweckungsprediger Billy Sunday versprach Lewis, den "Kohorten des Satans", wolle er "so schwer verdreschen, daß für den Teufel nichts mehr übrigbleibt".
„Sein Häusermakler und Familienspießer Babbitt ist der Prototyp, das Urbild des amerikanischen Durchschnittsbürgers überhaupt.“ (Volksstimme, Saarbrücken)
Mit dem Erfolg schlichen sich mitunter bei Sinclair Lewis die Unsitten seiner Babbitts und Dodsworths ein, etwa wenn er in einem italienischen Lokal mit 1000-Lire-Scheinen um sich warf. Lewis übte sich in der Arroganz des Genies, er erhöhte seinen Alkoholkonsum um ein beträchtliches Maß, rannte den Mädchen nach, brillierte auf Partys als Schnellfeuerredner, verulkte imitierend Persönlichkeiten und randalierte zu nächtlicher Stunde in Hotelzimmern.
So hatte er sich einmal mit Harrison Smith zum Mittagessen verabredet, und sie wollten sich am Empfangstisch in der Halle des Great Northern treffen. Lewis kam mit einem Paket und wies den Portier an, es auf sein Zimmer bringen zu lassen. „Wie ist Ihr Name, Sir?“ fragte der Angestellte völlig arglos, woraufhin Sinclair Lewis einen Wutanfall bekam und ihn anherrschte: „Ihnen ist wohl nicht klar, daß Sie mit einem Fünfzigtausend-Dollar-pro-Jahr-Mann reden?“
„Mein richtiges Reisen hat darin bestanden, in Pullman-Raucher-Abteilen [diesen längere Eisenbahnwaggons] zu sitzen, in einem Dorf Minnesotas zu verweilen, auf einer Farm Vermonts, in einem Hotel in Kansas City oder Savannah, wobei ich dem normalen Tagesgedröhn lauschte, und zwar der Menschen, die mir die faszinierendsten und exotischsten der Welt sind – die Durchschnittsbürger der Vereinigten Staaten, mit ihrer Liebenswürdigkeit Fremden gegenüber und ihren harschen Hänseleien, ihrer Leidenschaft für materiellen Fortschritt und ihrem scheuen Idealismus, ihrem Interesse an der Welt und ihrem prahlerischen Provinzialismus - diese verwickelten Komplexitäten, die ein amerikanischer Erzähler das Privileg hat zu porträtieren.“ (Sinclair Lewis, Nobelpreisrede)
Sinclair Lewis - der Ehemann, der Lebemann, der Schriftsteller - versah eine Funktion, die aus der Belletristik zu verschwinden drohte, was die Literatur dünner und ärmer machte. Neben seiner Duchleuchtung des subjektiven Seins besaß er das Gefühl für die Tragik des menschlichen Erlebens, war fähig, sinnliche Ekstasen oder lyrische Freude zu empfinden und dem erzählerischen Ausdruck zu verleihen.
Auch die Audio-Biographen via Internet gehen davon aus, daß die grundlegenden Züge seiner Kritik optimistisch bleiben. Das Land betrachtete sich als eine Ansammlung freier Individuen, doch war die Bibel das Bankkonto geworden. Neben „Kopfmassagen“ und „Fingernagelvarianten“ etablierten sich, z. B. auf diesem Sektor diverse Neuerscheinungen. So hatte sich schon Daniel Boone im 18. Jahrhundert von den unehrenhaften Siedlereien und Tumulten der Männlichkeit abgewendet.
Allen Lewisschen Romanfiguren - Doktoren, Geschäftsleuten, Feministen, Evangelisten - lassen sich auch allzu menschliche Züge abgewinnen, die irgendwie auch vereinnahmen. Es sind dies die Menschen seiner Zeit, der Zwanziger Jahre, der hohen Zugewinne, der astronomischen Börsenzahlen, des Kollaps, der Ernüchterung, des täglichen Lebenskampfes in einer sich allzu rasch ändernden Umwelt.
Kein Wunder, dass die durch Modernisierung und Moderne in Bewegung geratenen Ordnungen zu tiefgreifenden Verunsicherungen zahlreicher Gesellschaftsreformer führten und sich fragten: Was ist Amerika und was soll aus Amerika werden? Die Enttäuschungen einiger massierten sich zu „Auswanderungen“, „Flucht in den Trübsinn“, „Leben in der Abgeschiedenheit“, „zeitweiligen Abwesenheiten“ usw.
Hatte das Schlagwort vom „American Dream“ in Gegenwart und Zukunft überhaupt noch einen realen Kern, so überlegten viele Liberale anlässlich des Zwangs zur Neuorientierung nach gewonnenem I. Weltkrieg.
Und diese Frage stellte sich erneut in voller Schärfe, als 1929/30 die ökonomische Prosperitätsphase zu Ende ging und eine weitreichende Wirtschaftsdepression einsetzte, die den Kapitalismus in den Abgrund hätte stürzen können. Doch unabhängig von solchen Um- und Einbrüchen blieb das Thema Nations- und Menschenbildung in unterschiedlichen Kontexten stets auf der Agenda, was ebenso gut in dem einen Wort - Sklaverei - seinen Ausdruck findet; Sklaverei als die Ausbeutung des Unwissenden durch den Gewalttätigen.
Lewis' Beobachtungsgabe, sein Gespür für die Abläufe im Alltag, das gesprochene Wort, die prägnante Zeichnung vieler Nebenfiguren machen sein Werk zu Musterfällen einer romanesken Gesellschaftskritik.
Es entsteht ein - nicht ausschließlich - kritisches Abbild jener standardisierten Bürger, die sich als die eigentlichen Repräsentanten der Nation auszugeben versuchen. Sein ständig wachsendes Werk geriet zur „Comédie Humaine“ italienischer Farbdichte und –brillanz und wurde schließlich von der Welt mit gleichsam reuigem Widerstreben auch als solche anerkannt und wahrgenommen.
Unter die Feder gelangen die intellektuelle und charakterliche Deformierung sowie der Abbau zwischenmenschlicher Beziehungen. Kritisiert und thematisiert werden der nicht vom Aussterben bedrohte Möchtegern-Kapitalist mit seiner üblen Businessmethodik, der spießige Kleinbürger mit seinen linkischen Verhaltensweisen, der omnipotente Staat mit seinem menschenverachtenden Größenwahn…
Zu seinem Land, das mit einer aufblühenden Mittelschicht am Beginn eines wirtschaftlichen Emporkommens stand, entwickelte Lewis ein ambivalentes Verhältnis.
In 22 romanesken Schilderungen und einigen Theaterstücken entstehen Szenerien, in denen sich Leser vermissen mögen oder aber in irgendeiner Form finden werden.
In der Folge des I. Weltkrieges, also in den zwanziger und dreis-siger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bildet sich eine inneramerikanische Opposition gegen die behauptete Banalität der amerikanischen Gesellschaft und der amerikanischen Literatur. Viele Intellektuelle opponierten bis zum freiwilligen Exil gegen eine von falschem Getue getragene US-Gesellschaft, Selbsterfüllung schien in Europa leichter möglich zu sein als in den USA.
Gertrude Stein soll sich in Paris über einen Autoschlosser beschwert haben, woraufhin dieser über die „expatriates“, die Auslandsamerikaner meinte: „Ihr seid alle eine génération perdue“. Diese Bezeichnung „Verlorene Generation“ ordneten die Historiker William Strauss und Neil Howe zum Sammelbegriff für die 1883-1900 geborenen Amerikaner. Als ‚The Lost Generation' erscheinen Schriftsteller wie Dos Passos, Wolfe, Hemingway, Fitzgerald, der schrieb, seine Generation sei herangewachsen, nur um „alle Götter tot, alle Kriege gekämpft, jeden Glauben in die Menschheit zerstört“ vorzufinden.
Mit ihren Berichten aus den Refugien, vor allem Frankreich, wurden sie - insbesondere mit Blick auf die hohe Bedeutung, die dem Geld in den USA zukomme - zu Beispielen einer gelebten Amerikakritik.
Auch nach dem II. Weltkrieg gingen bedeutende Schriftsteller auf Distanz zu blauäugiger Oberflächlichkeit und einem übertriebenen amerikanischen Optimismus, z.B. Arthur Miller, Tennessee Williams, Edward Albee, Truman Capote. "Es ist für mich eine Quelle unentwegten Erstaunens, daß die Nation, welche den weltweiten Ruf hat, die am meisten optimistische, die geselligste und die freieste der Erde zu sein - daß diese Nation sich durch die Augen ihrer empfindsamsten Mitglieder als eine Gesellschaft von hilflosen Opfern, von dunklen Charakteren und von heimatlosen Menschen sieht." (W.H. Auden)
Die 'beatniks' der „Beat Generation“, die 'zornigen jungen Männer' Amerikas stiegen bewußt in die literarischen Fußstapfen der lost generation. Auch die sog. 'hippies', die durch ihre nonkonformistische Lebensweise gegen das Philistertum der Spießer (der sog. 'squares') opponierten, versuchten, sich dem „American Way of Life“ durch einen Rückzug aus der Gesellschaft zu entziehen.
Im Spannungsfeld von Flucht und Identitätssuche kehrten diese Exilanten ihrem Mutterland den Rücken, weil sie ein Leben in den USA wegen der angeblichen Bigotterie, der politischen Leere und des kulturellen Banausentums nicht aushielten. Die Sinclair Lewis-Forschung versteht unter dem Begriff „Bigotterie“ „Frömmelei“; zitiert aus „Der Gottsucher“. Nur in Europa könne man noch leben, meinte Stearns, der deshalb 1921 die USA verließ, Lewisohn folgte 1924.
Sinclair Lewis war trotz seiner häufigen Europareisen und längeren Wohnsitznahmen dort kein solcher expatriate, sondern sein Anliegen galt - gedrängt zu nationaler Identität in Form einer klar als amerikanisch erkennbaren Literatur - der Verarbeitung der bestehenden Differenzen zwischen den europäischen Gesellschaften und den amerikanischen Verhältnissen. Der Amerikaner lebt weit über seinen Durst und tobt sich in Europa aus.
Auf anderen Gebieten schritt die nationale Integration zügig voran, so daß für diese Zeit von einer „Progressiven Ära“ gesprochen wird. Die Neuerungen der Kommunikations- und Verkehrstechnologie und die seither weltweit operierenden Medien förderten die Nationalisierung des Marktes. Im „Hotelroman“ „Work of Art“ ist das Privateigentum so gut wie unbekannt, alles gehört zu einer Kette, einem Wirtschaftsgefüge aus Aktienmehrheiten. Die Zentralisierungstendenzen der wirtschaftlichen und politischen Macht- und Herrschaftsinstitutionen nahmen beträchtlich zu und erforderten Wachsamkeit durch etwa, bezogen auf die Multi-Konzerne, Anti-Trust-Gesetzgebungen.
Die amerikanischen Zeitungen galten allgemein als Ausdruck und Förderung einer konformen Lebens- und Denkweise. Dies wird indes nicht als Negativum interpretiert, sondern dient der Findung eines „spirit of America“, einer gemeinsamen Geisteshaltung sich und der Welt gegenüber.
Infolge des damals neuartigen, recht populären investigativen, auf die Offenlegung sozialer Missstände gerichteten Journalismus, gewannen einige Zeitschriften in der „Progressive Era“ an Gewicht. Erwähnt seien etwa auch Glanzhefte wie die auf Aktphotographie spezialisierten „Qualitätsmagazine“.
Geschult an solchem Enthüllungs-Journalismus, setzte Sinclair Lewis die Tradition dieses „muckracking“ fort. Das „Bowiemesser“ wird als langes, amerikanisches Hieb- und Stichgerät verherrlicht. Hierbei hantierte Lewis mit subtileren Mitteln als etwa sein Zeitgenosse und Freund Upton Sinclair und sezierte statt der proletarischen die bürgerliche Welt, die zum Aushängeschild des Boom-Markts geronnene Epoche-Figur, mit dem Einkaufs-Paradies als Junior-Partner.
Sinclair Lewis war Schreiben, insbesondere das Verfassen eines Romans, angespannte, intensive und konzentrierte Schwerstarbeit. Seinen Texten gingen jeweils umfassende Recherchen in dem entsprechenden Umfeld voraus, um dann durch Insiderwissen, wie etwa im Hotelroman „Das Kunstwerk“ zu verblüffen. Lewis tat sich, abgestimmt auf sein schriftstellerisches Vorhaben, jeweils mit Experten zusammen, einem Arzt, einem Gewerkschafter, einem Rechtsanwalt, unternahm Feldversuche von der Kanzel herab oder er veranstaltete Treffen mit Farbigen aus der Nachbarschaft.
Besonders seine exakte Wiedergabe der typischen Sprache unter Verwendung der fachlichen Begrifflichkeit wurde zum Stilmittel, um verschiedene Schichten und Berufsgruppen zu kennzeichnen.
Während einer Vortragsreise nahm der englische Schriftsteller Hugh Walpole den Vorschlag bei der Familie Lewis zu wohnen an. In seinem Notizbuch vermerkte er, Sinclair Lewis sei „ein typischer moderner Amerikaner, häßlich, laut, sich vordrängend, aber gutmütig und voll überströmendem Enthusiasmus.“
Die Charakterbilder seiner unzähligen Figuren mögen auch seiner Sicht auf sein eigenes Selbst entstammen, Mark Schorer zufolge war Sinclair Lewis zugleich "ein Geck und ein Bauerntölpel, ein geistreicher Unterhalter und eine Nervensäge, zu übertriebener Fröhlichkeit ebenso neigend wie zu extremem Trübsinn, gleicherweise begabt mit einem Talent zu intensiver Konzentration und verrücktester Verzettelung seiner Energien."
Sinclair Lewis macht das, was den guten Journalismus auszeichnet: Er beschreibt Lebenswirklichkeiten und enthüllt die Defizite seiner Zeit: Die amerikanische Begeisterung fürs Lynchen, die Bestechlichkeit in Wirtschaft und Politik, die Popularität solcher Massen-Verführer wie Billy Sunday und Aimee Semple McPherson, die Verhaftungen von Gewerkschaftlern – da schien es noch ein weiter Weg in die Zivilisation zu sein. Obwohl sich das Land als freies darstellte, schien es eher reif für die Diktatur.
Lewis meint hiermit z. B. auch die „Verfettung“ der Institutionen und Menschenbilder, was sich mitunter auch an seinem eigenen Aussehen und Arbeiten ablesen läßt. Die Kritik schildert ihn als einen Menschen, der in Interessenkonflikt mit seinem Werk lebt.
Durch die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts sollte sich der von anderen, so dem scharfsichtigen Redakteur und Herausgeber Henry Louis Mencken, mitgetragene Streit zwischen der amerikanischen und englischen Romanliteratur hinziehen, und es bleibt das Verdienst Sinclair Lewis‘ am nachdrücklichsten und dauerhaftesten die tatsächliche positive Leistung erbracht zu haben.
Noch bevorzugten die New Yorker Verleger aber die englischen Verfasser, als wären sie per se den eindrucksvollsten einheimischen Autoren turmhoch überlegen.
Trotz Schriftstellern wie Frank Norris mühte sich der amerikanische Roman bis zum Ersten Weltkrieg im Schatten Englands um Eigenständigkeit. Zur Vorhut der amerikanischen Amerikakritiker gehörte H. L. Mencken mit seiner Zeitschrift ‚American Mercury‘.
Schon 1914 schrieb H. L. Mencken zusammen mit George Jean Nathan und Willard Huntington und und ein kleines Buch zu den Gegensätzen der europäischen Kulturen und der amerikanischen Kulturlandschaft. Der elitär eingestellte Autodidakt Mencken richtete seine Attacken vor allem auf das puritanische Erbe, die Demokratieentwicklung und den Kolonialismus sowie gegen die akademische Welt. Er führte zudem die Revolte gegen eine allzu vornehme und distinguierte, angelsächsisch gefärbte Masche an, „Genteel-Tradtion“, und kämpfte für kulturelle Unabhängigkeit von Großbritannien, insbesondere im literarischen Bereich.
Der Aufschwung nach dem Bürgerkrieg hatte die uneingeschränkte Fortschrittsgläubigkeit der Amerikaner gefördert. Des Romanschreibers Sinclair Lewis‘ Beobachtungen stehen in unlösbarem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung.
Der amerikanische Literaturhistoriker Marcus Cunliffe schnitt wie auf Sinclair Lewis gemünzt zusammen: „Kein Anti-Amerikanismus ist beredter als der des einheimischen Amerikaners.“ Ein gestiegenes Selbstvertrauen förderte diese positive Kritik und verband sich mit Zukunftsprognosen. Aus dem "negativen Amerikanismus" wurde durch diese Drehung ein positiv gewendeter Nationalismus, der freilich die Abnabelung von Europa mit einschloss. Waldo Frank betrachtete Europa als sterbenden Kontinent, die Zukunft liege allein in den USA: „Wir verfügen jetzt über diese Reife… sind die Herren des Tages…“, und van Wyck Brooks konstatierte das Ende der kulturellen Abhängigkeit von England.
Im realistischen Roman waren sich die Hauptpersonen ihrer Entscheidungen bewußt. Im Gegensatz hierzu zeigt der Naturalismus, wie menschliche Handlungen unausweichlichen Bahnen folgen und durch äußere Einflüsse außer Kraft gesetzt werden.
In Frank Norris‘ Romanen im naturalistischen Stil erscheinen die Protagonisten als von eigenen Instinkten getriebene, irrationale Tiere ohne irgendein Bewußtsein. So können wirtschaftliche Umstände, Alkoholismus, Veranlagung und Zufall einen Mann zwingen, zum Mörder zu werden. Mit „Mc Teague“ galt Norris vielen als Autor eines perversen, schmutzigen Buches, so wie sie es zwei Jahrzehnte zuvor mit Emile Zolas Verletzungen der Anglo- Amerikanischen Tabus getan hatten.
Ausdrücke, die bisher ohne Literaturreife waren, z. B . „urinieren“, erscheinen in „Mc Teague“, wo es auch zu nicht gerne gesehenen Geschehnissen kommt: Die Heldin unterliegt einem Brechreiz und übergibt sich. Ihre Geschwister werden vom Vater missbraucht, was Beschreibungen der männlichen und weiblichen sexuellen Erregung beinhaltet. Vor der dritten Auflage 1899 sah sich Norris gezwungen, solche nicht druckreife Szenen umzuschreiben. Der englische Verleger Grant Richards informierte Doubleday & Mc Clure, das Buch nicht vor einer Literaturzensur zu vermarkten. Richards war unerbittlich, und es sollte bis 1941 dauern, dass ein Verleger den Text in der Originalversion von “McTeague“ wieder herstellte.
Die modernisierte Wirtschaft, inklusive fordistischer Produktionsmethoden auch im Druckgewerbe, wandelte nicht nur die Arbeitsplatz- und Arbeitsmarktstrukturen, sondern führte auch zu einer Konsum- und Kommerzgesellschaft, die die Lebensweise und das Verhalten der Menschen beträchtlich beeinflußte. Die durch fortschreitende Technisierung herbeigeführte andauernde Beschleunigung wirtschaftlicher Umorientierungsprozesse beeinflußte zunehmend die Mentalität. Getragen von neuen städtischen Mittelschichten entfaltete sich eine urbanisierte Gesellschaft, in der verstärkt andere Freizeit- und Sportmöglichkeiten den Alltag prägten. Tennis und Golf gehören bei Sinclair Lewis zum kultivierten Amerikaner wie die Morgenzeitung. Das Studium von Literatur und Philosophie wird zur Selbstverständlichkeit.
Das Radio hielt in jeden Haushalt Einzug, das Auto ermöglichte Mobilität ohne den Pferderücken und avancierte zum Symbol der Dekade, ausgeleuchtet wurde die „Maschinenästhetik“. Die zunehmende Standardisierung von Waren infolge rationalisierter und mechanisierter Produktionsmethoden gehörten mit zu den Fragen nationaler Eigenart wie auch Demokratie, Religion und Moral, der durch die Welt ballernde Cowboy.
Über den grundsätzlichen Erkenntnisstand und gesellschaftlichen Wahrhaftigkeitsgehalt der realistisch-humanistischen Romanpioniere aus den 20er und 30er Jahren sind nachfolgende Autoren kaum hinausgelangt. Die für psychologische Vertiefung und differenzierte Charakterisierung geschaffenen Muster und Schemen sind seit ihren Ursprüngen unverändert.
Amerika eignet sich in besonderer Weise als ein Beispiel irdischer Daseinsbewältigung, weil hier die Schaffung eines Lebensraumes, die Entwicklung einer menschlichen Gemeinschaft, die Begründung einer neuen Identität nacherlebbar und mitvollziehbar vorgestellt werden können. Zurück ans Tageslicht geholt werden auch mythische Figuren, Dichter und Vordenker oder der Trapper und Pionier Daniel Boone.
Hier war 'Der Amerikaner' der neue Mensch, den es zu idealisieren galt, zu entdecken.
Sinclair Lewis‘ Bücher sind gewollt amerikanisch, eine Eigenschaft, die zu einer Zeit, da der größte Teil der US-Literatur noch die inzwischen bereits leicht provinziell angehauchte Prosaepik Großbritanniens nachahmte, nicht unwesentlich zu seiner Einzigartigkeit beitrug. Der Rückruf zu den heroischen Tugenden der Pioniere, um die amerikanischen Errungenschaften vor Dekadenz und Barbarei zu verschonen, blieb nicht ungehört. Viele seiner Leser hatten sich noch nie mit einem Roman auseinandergesetzt, der sowohl in einer Lebensechtheit des einheimischen Schauplatzes wie auch im sprachlichen Ausdruck, der sich diese Schilderungen bediente, so kompromißlos eigenartig war.
„The Frenchman knows who he is. So does the German, the Italian, and the Englishman. The American can never be sure.” (William H. Goetzmann) Durch die Zeiten resultiert eine intensive Suche des Neugründers nach seiner Identität in einem Umfeld voller Auswanderer und Sklaven.
Die vielfältigen Verknüpfungen, die den Romancier Sinclair Lewis, damals wie heute nicht unüblich, an Europa banden, gehen in sein Werk ein, das aber mit seiner ungeschönten Ironie ausschließlich das heimatliche Kleinbürgertum aufs Korn nimmt.
Die amerikanische Eigenständigkeit der Lewis-Bücher sprach so nicht nur die englischen Schriftsteller stark an – vielleicht auch, weil sie sich von den Konterfeis nicht direkt betroffen fühlten.
Sinclair Lewis konnte in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Vorzeige-Karriere als Beispiel geben und leben. Mittelmäßigkeit, Materialismus, Vulgarität, Profitstreben, Korruption und die Heuchelei des bürgerlichen Lebens wurden durch Lewis‘ fünf Hauptwerke - Main Street, Babbitt, Arrowsmith, Elmer Gantry, Dodsworth - zu Bestsellern.
Amerikanische Gleichschaltung begnügt sich nicht mit einer äußeren Konformität und Respektierung der geltenden Norm, sondern dringt stärker in die Privatsphäre des Menschen ein und bestimmt auch diese.
Aus „Main Street“ ("Die Hauptstraße"), Lewis‘ erstem überzeugendem Erfolg, kriecht die muffige Moral und geistige Verklemmung der Provinz. Die junge Bibliothekarin Carol Kennicott heiratet ins fiktive Gopher Prairie und versucht vergeblich, Kultur und Modernität in das Kaff, für das Lewis' Geburtsort Abbild war, zu vermitteln.
"Bald schon", weiß Schorer, "erkannten sich Hunderte von Frauen in Carol und Hunderte von kleinen Städten in Gopher Prairie wieder." Mit der Beschreibung seiner resoluten Roman-Heldin Carol Kennicott als "Madame Bovary der Weizenspeicher" war der Vergleich zu den berühmten Romanciers Dickens, Balzac und Flaubert gezogen.
Charles Dickens hatte die erbärmliche Existenz der Menschen im England des 19. Jahrhunderts thematisiert. Beobachtungsgabe, Sozialkritik und psychologisches Feingefühl zeichnen das lebendige Gesellschaftsgemälde seiner Zeit. Ch. Dickens kritisierte das Gentleman-Ideal der von Geldgier und Moralheuchelei geprägten viktorianischen Gesellschaft. Die außergewöhnlich verdichtete Atmosphäre und geradezu surrealistisch anmutende Erzähltechnik kündigte eine Hinwendung zur Moderne an.
Honoré de Balzacs Erzählweise gilt in der Literaturgeschichte als prototypisch für den traditionellen Roman „à la Balzac“, d. h. einen Realismus mit ungewöhnlichen, nicht eben Durchschnittstypen sowie einer interessanten und in etwa zielstrebigen Handlung.
Gustave Flaubert, Arztsohn wie auch Sinclair Lewis, gilt als einer der besten Stilisten der französischen Erzähl-Literatur. Seine „Madame Bovary“ und die „Éducation“ waren für die Entwicklung des europäischen Romans epochemachend. Dies auch aufgrund seiner Idee, die Darsteller nicht mehr als Ausnahmepersonen zu konzipieren, sondern als gänzlich unheroische Durchschnittscharaktere.
In Amerika spielte sich Vergleichbares ab, eine ganze Reihe hervorragender Schriftsteller zogen mehr oder weniger an einem Strang. Dreiser und Lewis hatten schon zu Beginn des neuen 20. Jahrhunderts realitätsbezogenes, schriftstellerisches Profil gezeigt und der jeden packenden Krake Engstirnigkeit und Kleingeistigkeit den Spiegel vorgehalten.
Auch Frank Norris hatte geglaubt, dass der Roman einen moralischen Zweck erfüllen und die Leser auf die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, Tragödien und Nöte aufmerksam machen solle. Die Sucht nach Werten wie Glaube, Liebe, Hoffnung versandet oft in der Flasche Bourbon, die „ganz zufällig“ aufbewahrt werden konnte …
Die amerikanischen Autoren forcierten nun ihre schonungslosen Gesellschaftsanalysen und scheuten sich als „unbestechliche Wahrheitssuchende“ nicht, alle Tabus des amerikanischen "Erfolgstraumes" und des glorifizierten „American way of life“ zu durchbrechen.
An konkreten Einzelerscheinungen wird die moderne Welt charakteristisch erfaßt, etwa im ‚Little Theater Movement‘ oder der ‚Associated Press‘, selbst die „Iunch-box“ der Arbeiter hat typisierenden Charakter. Die Verwendung fixer Attribute als Signale für eine bestimmte Welt oder auch bestimmte Redeweisen gerinnen zu Klischees. Es sind bewußt gesetzte Schablonen, die das Uniforme der kritisierten Schicht bloßstellen, Babbitt wird zum Typus des modernen Massenmenschen, auch als fordistischer Autofahrer umschreibbar.
Als früher Analytiker der amerikanischen Gesellschaft hat der Franzose Alexis de Tocqueville in seinem Bericht 'De la démocratie en Amérique' bereits 1835 die Unabhängigkeit der Meinung in Amerika vermißt und die geringe Zahl hervorragender politischer Köpfe dem Despotismus der Mehrheit zugeschrieben. Die Meinungen und Ansichten aller Amerikaner schienen ihm nach einem Einheitsmodell geformt zu sein. Mehr als ein halbes Jahrhundert später (1888) fand der Engländer James Bryce in seinem klassischen Werk „The American Commonwealth“ bei den Amerikanern ein mangelndes Vertrauen in sich selbst, eine Neigung sich ins Glied einzuordnen und Tritt zu fassen, d.h. der vorherrschenden Meinung beizupflichten und ein extremes Mitläufertum zu pflegen.
Mit "Babbittry" reicherte Sinclair Lewis auch den gebräuchlichen Wortschatz an, sein Romantitel stand hinfort als abwertendes Synonym für den Prototyp des gehirnlosen Geschäftsmannes, angepaßten Spießers, engstirnigen Philisters.
„An der Columbia-Universität scheint jeder das Buch zu lesen, und einer meiner dortigen Kollegen hatte neulich beim Mittagessen mit einer ganzen Gruppe von Leuten eine Diskussion darüber, daß Ihr Buch der wahrheitsgetreueste Roman sei, der je geschrieben wurde.“ (Carl Van Doren) Um diese Zeit waren die beiden Männer bereits seit längerem gute Freunde. Van Doren übernahm unter anderem einen Essay Lewis‘ in seinen Überblick „Contemporary American Novelists: 1910-1929“.
Lewis' berühmteste literarische Gestalt, Follansbee George Babbitt, ist ein geldraffender Immobilienmakler, scheinheiliger Christ aus der ebenfalls im Mittelwesten angesiedelten imaginären Stadt Zenith. "Eine bis ins Kleinste ausgeklügelte Vision einer bis ins kleinste durchstandardisierten Geld-Gesellschaft". (Maxwell Geismar) Der angenommene Name Zenith soll herausstreichen, daß sich die Stadt völlig unbegründet als den “Höchststand der Zivilisation“ betrachtet. Die auf ihre zivilisatorischen Errungenschaften so stolze Stadt zeigt sich bemüht, ihre Schandflecke zu verbergen. Der Nebel erbarmt sich der farblosen Bauten, die nicht den Glanz des Fortschrittes widerspiegeln, den die Wolkenkratzer repräsentieren.
Es ist eine besondere Kunst Sinclair Lewis', die für die amerikanische Szene kennzeichnenden Merkmale einzufangen. Das als Einzelobjekt hervorgehobene Postamt steht mit den mächtigen Mansardendächern gewissermaßen klischeehaft für die öffentlichen Repräsentativbauten im Viktorianischen Stil. Die Backsteintürmchen repräsentieren den Typus der in Mode kommenden Bauelemente dekorativer Art, die sich orientalische Muster zum Vorbild nehmen. Im Kontrast dazu stehen die häßlichen und schmutzigen (Fabrik-)gebäude und moderigen Holzhäuser, die in gleicher Weise das Bild amerikanischer Städte charakterisieren.
Die rasante technische Entwicklung der Serienproduktion und Massenkommunikation mit ihren Uniformierungstendenzen half, die Isolierung getrennter Gruppen einzureißen und die 'social habits' zu standardisieren. Die Verdoppelung der amerikanischen Bevölkerung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ging einher mit einem unvorhersehbaren Zuwachs auf dem Zeitungsmarkt. Zur Jahrhundertwende gab es sechsmal mehr Zeitungen als 1860, die „weeklys“ verdreifachten sich, was diesen Jahrzehnten auch den Beinamen „Age of The Reporter“ eintrug.
Der Einschmelzungsprozeß des Tiegels Amerika war zugleich ein Prozeß der Gleichrichtung und Konformierung. Man hatte sich gewünscht, daß Einwanderer, auch solche aus alten Kulturvölkern ihre meist sehr ausgeprägten rassisch nationalen Vorurteile und damit verbundenen Gewohnheiten aufgeben.
Eine Statistik benennt für das Jahr 1978 kaum mehr als zwei unabhängige Zeitungen für rund 60 USA-Städte. Die eindrucksvollen Leistungen des Landes und schließlich der Traum von einem mächtigen Amerika taten ein Übriges, den Wunsch zur Anpassung, einer Gleichrichtung des Denkens und des Lebensstils im Sinne des 'American Way of Life' zu verstärken. Ein chaotisches und kopfloses Herumtaktieren dieses ätzenden Gackerhuhnes Europa galt es zu vermeiden.
George Babbitt hat ein ihm ergebenes Frauchen, liebe Kinderlein, besitzt das pompöse Haus und das protzige Auto, eine kleine Lüge hier, eine Dosis Anpassung da, Entgleisungen in entschuldbarem Umfang. "Das Buch riecht nach Wahrheit. Es kann nicht nur wahr sein: es muß wahr sein. Es muß deshalb wahr sein, weil wir die Wahrheit kontrollieren können." (Kurt Tucholsky)
Offengelegte Umstände sind niemandem fremd und haben auch nichts Befremdliches. „Ob er nun den mittleren Westen so geschildert hat wie er ist, das vermag nur der mittlere Westen zu sagen, doch hat er Tausende auf der ganzen Welt auf seine Existenz aufmerksam und auf Weiteres neugierig gemacht.“ (E.M. Forster)
Der Folgeroman „Arrowsmith“ beschreibt das Zerwürfnis eines Arztes, der sich als rarer Idealist schließlich aus den korrumpierten und profitorientierten medizinischen Anstalten zurückzieht. „Der Verfasser dieses aufsehenerregenden Romans und Nobelpreisträger Sinclair Lewis, einer der bedeutendsten Gesellschaftskritiker der USA, gestaltet mit dem Lebenslauf eines amerikanischen Arztes das packende Bild eines Mannes, der Landarzt und dann Bazillenjäger und Seuchenbekämpfer in den Tropen wird. Lewis schuf ein Werk, das zu den Standardbüchern der Weltliteratur gehört und vor geballten Spannungen geradezu birst.“ (Schleswiger Nachrichten)
Dieser Kritik am Gesundheitswesen und einer mangelnden ethischen Einstellung der Mediziner folgte die der lauthalsigen Prediger und scheinheiligen Massenseelenrettungen. „Die Leute zuckten und bekamen die heilige Fallsucht, alte Leute sprachen in Pfingsterleuchtung in unbekannten - völlig unbekannten - Zungen, Frauen streckten sich besinnungslos aus, mit heraushängenden Zungen; und einmal ereignete sich, was Kenner für das höchste Beispiel religiöser Begeisterung halten. Vier Männer und zwei Frauen krochen auf allen vieren um eine Säule und bellten wie Hunde, sie „bellten den Teufel aus dem Baum heraus“. („Elmer Gantry“)
Das die Herstellung, den Transport und Verkauf aller alkoholischen Getränke verbietende Prohibitionsgesetz von 1919 wurde zum Punchingball der religiös moralischen Streitereien.
Der Gemeindepfarrer Elmer Gantry kann wohl doch nicht vom Tabak, dem Alkohol und den Weibern lassen und nutzt sein Amt und den Glauben der Menschen ohne jegliches Gewissen zum eigenen Vorteil aus. Die eindeutige Aussage eines Protagonisten, daß kein vernünftiger Mensch an Gott glauben kann, stempelte Lewis zum enfant terrible, dem Lynchmord angedroht wurde. „… und nie kommen sie auf den Gedanken, daß die christliche Religion - oder irgendeine andere Religion, weit entfernt davon, ein Segen für die Menschheit zu sein, eine derartige Verwirrung in allem Denken, derartig antiquierte Betrachtungen der aktuellen Geschehnisse verursacht hat, daß wir jetzt erst anfangen zu fragen, was und warum wir sind und was wir mit dem Leben tun können!“ („Elmer Gantry“) Die „Predigerkarriere“ Elmer Gantry des Jahres 1927 bleibt aktuell, weil nicht nur der amerikanische Evangelismus immer wieder Figuren hervorbringt, deren Schein und konkrete Lebensführung auseinanderklaffen.
Frank Shallard, der einstige Kommilitone und nachherige Zweifler, der zugibt, daß er bei Begräbnissen lügt, führt heftige Diskussionen, mit seiner Frau Bess: Frank möchte eine Kirche, frei von Aberglauben, hilfreich gegen die Bedürftigen, die den Leuten jenes mystische Etwas gäbe, das stärker ist als die Vernunft, jenes Gefühl, in gemeinsamer Verehrung einer unbekannten Macht zum Guten emporgehoben zu werden.
„Ist es nicht ein Spaß, daß ein Geistlicher, von dem man so viel göttliche Autorität erwartet, daß er den Leuten mit der Hölle drohen kann, gleichzeitig so ein Laufbursche sein soll, daß man ihn hinauswerfen und auf die Straße setzen kann, wenn er es wagt, an Kapitalisten oder seinen geistlichen Kollegen Kritik zu üben!...“
„Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, daß der Christengott kein ängstlicher und kompromißlerischer Diener der Öffentlichkeit ist sondern der Schöpfer und Fürsprecher der ganzen unbarmherzigen Wahrheit, und ich glaube, diese Erziehung hat mich verdorben - ich hab' meine Lehrer wirklich ernst genommen.“
„Wenn ich sage, daß die meisten von euren religiösen Anschauungen leere Phrasen sind, ja, dann will ich sagen, daß ihr leere Phrasen seid. Ich hab' es bis jetzt nie so leidenschaftlich ernst gemeint, daß man mich für die Sache des Herrn, unseres Gottes, geschlagen hätte! ... Noch nicht!“
Frank soll als der Widerpart zum egoistischen „Elmer Gantry“ noch ganz unangenehme Erfahrungen machen, was die körperliche Gewalt angeht, denn sein Reden wie ein „Dorfatheist“ bringt Raufbolde auf den Plan, die ihn draußen vor der Stadt so richtig aufmischen.
In seinem Hotel fand er einen maschinengetippten anonymen Brief vor: „Wir wollen Sie und Ihren höllischen Atheismus hier nicht haben. Wir können ohne importierte <Liberale> für uns allein denken. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, werden Sie gut daran tun, noch vor Abend diese anständige Christen-Stadt zu verlassen… Ob es Ihnen angenehm sein würde, eine Peitsche in Ihrem verlogenen Gesicht zu spüren? Das Komitee.“
„Ich lass' mir nicht Angst machen!“
Franks Telephon schrillt, eine Stimme näselt: „Name spielt keine Rolle. Ich möchte Ihnen nur stecken, daß Sie heute Abend besser nicht sprechen. Ein paar von den Jungs sind recht roh.“
… und jetzt sah Frank ein Dutzend handfester junger Leute in den Saal marschieren. Sie standen aktionsbereit da, blickten erwartungsvoll…
„Das ist genug!“ schrie jemand im Hintergrund, und die jungen Raufbolde galoppierten durch den Gang auf Frank zu, mit Augen heiß vor Grausamkeit, Zähnen wie Kampfhunde, arbeitenden Händen, er fühlte sie schon in seinem Genick. Die freundlich Gesinnten im Vordergrund traten ihnen entgegen und hielten sie einen Augenblick auf. Frank sah, wie ein Mann den verkrüppelten Schneider niederschlug und beim Weiterstürmen auf seinen Körper trat.
Mehr in einer absonderlichen Schlaffheit als in Angst seufzte Frank: „Hol's der Geier, ich muß den Kampf aufnehmen und mich umbringen lassen!“ - Er begann von der Tribüne hinunterzugehen...
Jemand, der vorgab, ihm helfen zu wollen, reißt Frank an der Schulter und dirigiert ihn zu einer Hintertür. „Frank wurde durch eine Tür in eine halberleuchtete Seitengasse gestoßen. Ein Automobil wartete, daneben zwei Männer, von denen einer rief: „Nur hier herein, Bruder!“
Es war ein großer Sedan; er schien Sicherheit, Leben zu bedeuten Als Frank aber hineinsteigen wollte, erblickte er den Mann am Steuerrad, dann sah er sich die anderen näher an. Der Mann am Lenker hatte keine Lippen, sondern nur eine bitter trockene Linie quer durch das Gesicht - der Mund eines Schlächters. Von den anderen beiden sah einer aus wie ein nichtbekehrter Mixer, mit gekräuseltem Schnurrbart und einer Friseurlocke, der andere war hager, hatte wahnsinnige Augen.
„Wer seid ihr denn?“ fragte er.
„Halten Sie Ihre gottverdammte Schnauze und schauen Sie, daß Sie da reinkommen!“ schrie der Mixer und stieß Frank hinten in den Wagen, so daß er mit dem Kopf auf die Kissen fiel. Der Wagen stob aus der Stadt heraus:
„Bei Gott, jetzt sollen Sie was kennenlernen, Sie gottverdammter Atheist - und wahrscheinlich verdammter Sozialist noch dazu!“ sagte der Mann, der wie ein Mixer aussah. „Können Sie die Pistole sehen?“ Er stieß Frank sehr schmerzhaft in die Seite. „Wir können uns entschließen, Sie leben zu lassen, wenn Sie Ihr Maul halten und tun, was wir Ihnen sagen - wir können aber auch nicht. Sie werden 'ne hübsche Fahrt mit uns machen! Sie werden schon Ihren Spaß haben, wenn wir Sie auf 'm Land draußen haben – allein - wo's hübsch und dunkel und ruhig ist!“
Er hob ruhig seine Hände und bohrte seine starken Fingernägel in Franks Wange.
„Das werd' ich mir nicht gefallen lassen!“ schrie Frank.
Er stand kämpfend auf. Er spürte die Finger des hageren Fanatikers, nur zwei Finger, teuflisch stark - dicht an seinem Nacken sich unter einem Schmerz einbohren, von dem ihm übel wurde. Er fühlte, wie die Faust des Mixers seinen Kiefer zerschmetterte. Als er schwach, halb ohnmächtig am Vordersitz niedersank, hörte er den Mixer kichern: „Das wird dem Schuft, Schuft, Schuft von einem Schuft 'nen kleinen Begriff von dem Spaß geben, den wir bald haben werden, wenn wir zusehen, wie er sich windet!“
Der Pseudomixer sprach in den selbstzufriedenen Tönen jedes Kreuzfahrers, dem Gelegenheit gegeben ist, für eine moralische Sache teuflisch zu sein, er erhob gelassen sein Bein und stieß seinen Absatz auf Franks Rist [Handgelenk].
Als die Schmerzwolke von seinem Kopf verschwunden war, saß Frank starr da ... Was würden Bess und die Kinder tun, wenn diese Männer ihn töteten? ... Würden sie ihn sehr schlagen, bevor er starb?
Der Wagen verließ die Chaussee, verfolgte eine Landstraße und fuhr einen Weg durch ein Feld entlang, das Frank ein Maisfeld zu sein schien. Bei einem großen Baum hielt der Wagen an. „Raus!“ schnauzte der hagere Mann.
Mechanisch, mit lahmen Beinen, taumelte Frank hinaus. Er blickte zum Mond auf. „Das ist das letztemal in meinem Leben, daß ich den Mond sehe, die Sterne sehe - Stimmen höre. Nie wieder an einem kühlen Morgen spazierengehen!“
„Was werden Sie tun?“ fragte er, sie zu sehr hassend, um Angst zu haben.
„Na, Süßer“, sagte der Fahrer in fürchterlicher Spaßhaftigkeit. Sie werden 'nen kleinen Spaziergang mit uns machen… in die Felder hinein.“
„Teufel“, sagte der Mixer, „hängen wir ihn auf! Da ist ein feiner Baum. Nehmen wir die Schleppleine.“
„Vorwärts, Sie!“
Frank marschierte vor ihnen einher, in entsetztem Schweigen.
„Jetzt machen Sie sich auf was gefaßt!“
Er setzte seine elektrische Taschenlampe auf einen Erdklumpen. In diesem Licht sah Frank ihn eine zusammengerollte schwarze Lederpeitsche aus der Tasche holen, eine Maultierpeitsche.
„Das nächste Mal“, sagte der Hagere langsam, „das nächste Mal, wenn Sie wieder herkommen, bringen wir Sie um. … Diesmal werden wir Sie nicht umbringen - nicht ganz.“
„Ach, Schluß mit dem Reden, gehen wir an die Arbeit“, sagte der Mixer. „Gut!“
Der Mixer packte Franks Arme von hinten, bog sie zurück, wobei er sie fast brach, und plötzlich schnitt die Peitsche mit einem tödlichen, unglaubhaften Schmerz quer über Franks Wange, zerriß sie, kam im Augenblick wieder - wieder - in einer Dunkelheit schwindelnden Schmerzes.
Zögernd kehrte mit der Dämmerung das Bewußtsein zurück, sein Gesicht brannte, er konnte nicht, warum er kaum imstande war zu sehen. Als er tastend seine Hand erhob, entdeckte er, daß sein rechtes Auge eine weiche breiige Masse blinden Fleisches war, und an seinem Kiefer konnte er den bloßgelegten Knochen spüren.
Er hatte gerade genug Kraft, um bis zur Chaussee zu kommen, er fiel zu Boden, lag an der Straße wie ein betrunkener Bettler. Ein Auto kam; als der Fahrer aber Franks schwach emporgehobenen Arm sah, eilte er weiter. Sich verwundet zu stellen, war die üble Trickserei der Automobilräuber.
Er schwankte und kroch auf der Straße weiter bis zu einer Hütte. Dort war Licht - ein Farmer beim zeitigen Frühstück. „Endlich!“ Frank weinte. Als der Farmer auf das Pochen herauskam, eine Lampe hochhaltend, warf er einen Blick auf Frank, dann schrie er auf und schlug die Tür zu.
Eine halbe Stunde später fand ein Polizist auf dem Motorrad Frank im Graben, halb im Fieber.
„Wieder ein Betrunkener!“ sagte der Polizist höchst vergnügt und klappte den Stützer seines Rades herunter. Doch als er sich bückte und Franks zur Hälfte verborgenes Gesicht sah, flüsterte er: „Du guter, allmächtiger Heiland!“
Die Ärzte sagten ihm, das rechte Auge sei allerdings ganz weg, das Licht des anderen würde er aber vielleicht noch ein Jahr lang nicht ganz verlieren.
Bess schrie nicht, als sie ihn sah; sie stand nur da, ihre Hände zitterten an ihrer Brust. Sie schien zu zögern, bevor sie küßte, was sein Mund gewesen war. Bess macht aber Mut, will sich eine Stellung besorgen, und die Kinder wären ja jetzt alt genug, daß sie ihm vorlesen könnten…“ („Elmer Gantry“)
Gleichermaßen gelobt wie bemängelt wird der Umstand, daß das Eintauchen in die Lebens-Welten von Sinclair Lewis mehr etwa über den amerikanischen Arzt, den amerikanischen Geistlichen, das Leben der Farbigen, den amerikanischen Durchschnittsbürger aussage als das Studium vieler Jahrgänge soziologischer Fachzeitschriften. "Vielleicht", so kommentiert Biograph Schorer, "ist es ein nichtiges, unergiebiges Unterfangen, Lewis' Romane als Kunstwerke zu betrachten... Ganz allgemein genommen waren künstlerische Erwägungen... von wesentlich geringerer Bedeutung als die Tatsache, daß Lewis wieder einmal zielsicher eine aktuelle, vorherrschende Gemütslage erfaßt und sie auf eine gemeinverständliche Formel gebracht hatte."
Sinclair Lewis‘ Verhältnis zu seinen beiden Ehefrauen und einer späteren Freundin gestaltete sich nicht ungetrübt, was seinem Lebensstil mehr Fluß gibt als beispielsweise goldene oder diamantene Dauerhochzeitler. Ehebrecher stehen neben Eheanbahnungsinstituten, eher der Wunsch einer offenen Liebe ohne Ketten. Lewis war zweiundvierzig Jahre alt, als er seine erste Frau, zweiundfünfzig, als er seine zweite Frau verließ, und zweiundsechzig, als sich ein viel jüngeres Mädchen zu einer anderen Ehe entschloß und ihn verließ. Den zwei Eheverhältnissen entstammte je ein Sohn, Wells und Michael.
Die Beziehung zur ersten Ehefrau erschöpfte sich gegen Ende in Arrangements, wie sich gegenseitig völlige Freiheit zu lassen, zu verreisen etwa. Beim endgültigen Bruch im Jahre 1926 bezeugen Aufzeichnungen ein Unabhängigkeitsbedürfnis des Autors wie gleichwohl den Wunsch einer ehelichen Verbindung. Lewis sieht eine Zeitlang die Zukunft in getrennten Wohnungen „außer bei gelegentlichen Ferien, wenn wir mal wieder durchbrennen“. Man könnte sich dann ab und zu sehen, wie man auch sonstige Freunde trifft. Sie seien zwei „hawks“ (Falken), jedem seine Freiheit zu leben, zu trinken, zu reisen und Affären zu haben.
Gerade Frauen waren es, die in der ‚Progressive Era‘ mehr denn zuvor in die Öffentlichkeit traten, ihre Tätigkeiten zu professionalisieren trachteten, gesellschaftliche Reformen vorantrieben.
Hinzu kommen einige eindrucksvolle Erfolgsgeschichten, zu der auch die der zweiten Lewis-Ehefrau Dorothy Thompson, die in zahlreichen Magazinen und Zeitungen schrieb und es als transatlantisch orientierte Kolumnistin zu weitreichender Bekanntheit und Wertschätzung brachte.
„Ich habe, 1928, Dorothy Thompson geheiratet, eine Amerikanerin, die der Korrespondent für Zentraleuropa und Bürochef der New York Evening Post gewesen war. Meine erste Heirat mit Grace Hegger aus dem Jahre 1914 in New York wurde geschieden.” (Sinclair Lewis, Nobelpreisrede) Am 16. April 1928 erklärte ein Gericht in Nevada diese 14-jährige Ehe für beendet, eine Woche später verlobte sich Sinclair Lewis mit Dorothy Thompson und heiratete diese am 14. Mai 1928 in London.
Wie schon mit seiner ersten Ehefrau verbrachte man die Flitterwochen mit einer Art Eigenheim auf Rädern, dem komfortablen Camping-Caravan.
Lewis‘ Bekanntschaft mit seiner zweiten Ehefrau Dorothy (Ehe: 1928-42) begann auf einer Pressekonferenz des Reichsaußenministers Stresemann im Berlin des Jahres 1927: „Ich sah ein schmales, verwüstetes Gesicht vor mir, rot und zernarbt, gezeichnet von Versengungen durch elektrische Nadeln und Radium“, erinnert sich die Journalistin Thompson, und sie empfand: „Gott, was für ein einsamer, unglücklicher, hilfloser Mensch! Irgendjemand muß ihn lieben, sich seiner annehmen.“
Am 20. Juni des Jahres 1930 erblickte Sohn Michael das Licht der Welt.
‚Eugeniker und Rassisten, Nativisten und Nationalisten sowie Kulturkonservative diverser Couleur problematisierten außerdem die berufliche Tätigkeit weißer Mittelschichtmütter. Ihnen erschien die Pflege des Heims und die Erziehung einer ausreichenden Anzahl weißer Mittelschichtkinder notwendig, um die Reproduktion und damit die Zukunftsfähigkeit eines vollwertigen weißen Amerikas zu gewährleisten. Die Professionalisierung und Mechanisierung sowie eine symbolische Aufwertung der Hausarbeit und häusIichen Kindererziehung sollten das Heim selbst für beruflich qualifizierte, anspruchsvolle Frauen attraktiv machen.‘ (gemäß von Sandern)
Die Heldinnen aus „The Job“ und „Ann Vickers“ werden als selbständige Frauen mit modernen Ansichten zur Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit präsentiert. Im Verlauf der Handlung wird Ann Vickers gleich zweimal ungewollt und unverheiratet schwanger und macht nebenbei noch erfolgreich Karriere.