WALT  WHITMAN - Axel von Cossart - E-Book

WALT WHITMAN E-Book

Axel von Cossart

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Beschreibung

Zeichen des Whitman ganz eigenen Stils sind seine Worte des "wahren Gedichts", die nicht den gefeilten Ausdruck suchen, sondern Natürlichkeit anstelle von Künstlichkeit den Vorzug geben. Das Gedankengut seiner Zeit verarbeitend, entstehen neue Begriffe, die kommende Weltsichten vorwegnehmen. Man könnte an den spannungsvollen Moment unmittelbar vor einem Konzertbeginn denken: Das Stimmen der Musiker-Instrumente erzeugt eine kurzzeitige Kakophonie, wobei aber dies Durcheinander der schrägen Töne dem harmonischen Zusammenklang im Konzert dienlich wird. Als entschiedener Gegner des Stillstands fordert der prophetische Poet alle Lebensbereiche, so etwa auch das Geschlechtsleben, in die neuen Bahnen individualistischer Reformphilosophen. In "Weave In, My Hard Life" gibt Whitman seinen Glauben an das tägliche Tun des Durchschnittsbürgers zum Wohl des "Kosmos" weiter. Keinen will er davor zurückhalten, auch die weniger geschätzten Dinge, die im Dunkeln verborgen liegen, zu entdecken. "Ich selber schreibe nur ein oder zwei andeutende Worte für die Zukunft." (Walt Whitman)

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Walt Whitman

„Ein Schriftsteller, ein schreibender Mensch ist der Schreiber der ganzen Natur, er ist das Korn und das Gras und die Atmosphäre im Schreiben.“

(Henry D. Thoreau)

Axel von Cossart

Walt Whitman

(Meine >GRASBLÄTTER< und „ICH“)

Impressum

Axel von Cossart

Walt Whitman

(Meine >GRASBLÄTTER< und „Ich“)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-7603-5

© 2014

INHALT

ICH HÖRE AMERIKA SINGEN

PAUMANOK

BROOKLYN

SETZER, DRUCKER, REDAKTEUR

GRASHALME

ICH SINGE DAS SELBST

LEBEN, FREIHEIT, POESIE

TROMMELSCHLÄGE

DEMOKRATISCHE AUSBLICKE

NOVEMBERZWEIGE

BIOGRAPHISCHE NOTIZEN

LITERATUR

Hier die zartesten meiner Blätter

und doch auf Dauer meine stärksten,

Hier beschatte und berge ich meine Gedanken,

ich enthülle sie nicht selbst,

Und doch enthüllen sie mich

mehr als alle meine übrigen Gedichte.

Here the Frailest Leaves of Me

Here the frailest leaves of me

and yet my strongest lasting,

Here I shade and hide my thoughts,

I myself do not expose them,

And yet they expose me

more than all my other poems.

Zitate ohne ausdrückliche Namensangabe sind Äußerungen Walt Whitmans.

Bei offensichtlichen Zeilen des Dichters, die sich in den Kontext nahtlos einfügen, wurde auf Anführungszeichen verzichtet.

ICH HÖRE AMERIKA SINGEN

„Ich behaupte, der tiefgreifendste Dienst, welchen Gedichte oder jede andere Literatur ihrem Leser leisten können, ist nicht bloß, den Intellekt zu befriedigen oder etwas Geschliffenes und Interessantes zu liefern, nicht einmal großartige Leidenschaften oder Personen oder Ereignisse abzubilden, sondern den Leser mit kraftvoller und reiner Männlichkeit, Religiosität zu erfüllen und ihm das Herz zu stärken als spürbare Besessenheit und Gewohnheit.“ Der entfesselte Vers soll dabei „mit Herrlichkeiten und Erinnerungen, die „dem menschlichen Geist teuer sind“ angefüllt sein. Denn diese Ganzheiten, Amerika, Demokratie, „sind nur ich und du“.

Der originellste Verseschmied Amerikas, Walt Whitman, kennzeichnet sich so selber als den ungestümen Dichter einer vitalen Zeit, als Propheten des Personalismus, den Dichter der Demokratie, der sich löst von Märchen, Mythen, Mittelalter. Sein Terrain sind die Wissenschaft, Wissen, Wirklichkeit, die er ohne prinzipiengeschwängerte Systematik in Thesen aufnimmt, als zukunftsorientierte Antithesen weiterentwickelt, wodurch er seine kulturhistorische Besonderheit begründet. Stefan Zweig, der sich schon in seinen Gymnasialjahren mit Whitman befaßt hatte, bezeichnete diesen mit Blick auf den Expressionismus als „stärksten Dynamo moderner Lyrik“.

Im Alter von Schülern umgeben, die nicht ganz so kauzig waren wie er selbst, ein vollbärtiger, Christus ähnlicher Hüne von Mann: das ist Walt Whitman mit seinem Wollen, den Menschen und Amerika unter Abkehr von etablierten poetischen Normen in einem gänzlich neuen, angemesseneren Gewand zu preisen.

Er werde keine philosophische Schule mit Eisenpfeilern errichten, auch die Gedankengänge seiner Leserschaft bleiben ihm frei. Solche Zirkel von „Whitmanites“ um die Prophetie der Demokratie und der freien Liebe verschwanden und entstanden. Zu seinen Lebzeiten befürwortete Whitman keinen solchen Kult, einen Club oder eine Sekte wie er ja auch keine dazugehörige Angewohnheit wie Rauchen oder Trinken hatte. Die Exzentrik des Whitman-Werkes übertrug sich auf die Träger des Kultes. Die Mitglieder dieser Gemeinde sahen sich im wahrsten Sinne des Wortes als Apostel, die ein Whitmansches Evangelium zu verbreiten hatten.

Der nach allen Seiten hin offene Geist des Anregers und Vorschreiters ließ sich nicht in Programme oder Lehrmeinungen pressen, Whitman fürchtete, etwas von ihm würde damit verloren gehen. Nach der Unterhaltung mit einem Radikalen: „Ich glaube, ich bin nicht weniger radikal, als er auf seine Weise, aber ich bin auch in anderer Hinsicht ein Radikaler: Sozialisten, Einheits-Steuer-Leute, Kommunisten, Rebellen aller Art und aller Sorten, kommt her!“

„Wird jemals der Tag kommen - ganz gleich, wie lange es dauern mag - da jene Muster und Idole von den britischen Inseln - und selbst die wertvollsten Traditionen der Klassik - nur noch Erinnerungen und Studienobjekte sein werden? Der reine Atem, die Ursprünglichkeit, die unendliche Fülle und Weite, die eigenartige Mischung von Zartheit und Kraft, von Beständigkeit, von Realität und Ideal und all der einzigartigen und erstklassigen Elemente dieser Prärien, der Rocky Mountains, des Mississippi und des Missouri - werden sie jemals Gegenstand unserer Poesie und Kunst und auf diese Weise deren Norm sein?“ fragt sich Walt Whitman (1819-1892) in einem Tagebucheintrag.

Die Jahre sind geprägt durch einen Traditionalismus und eine verkrustete Intellektualität, Kopien und Imitationen der Antike. „Fast alle bedeutenden englischen Werke werden in den Vereinigten Staaten nachgedruckt. Der literarische Geist Großbritanniens strahlt bis in die Waldgründe der Neuen Welt hinein. Es gibt keine Grenzerhütte, in der man nicht ein paar vereinzelte Bände von Shakespeare fände. Ich erinnere mich, das Ritterdrama “Heinrich IV.” zum ersten Mal in einem Blockhaus gelesen zu haben.“ (A. de Tocqueville)

Am Beginn seines innovativen Zeitalters stemmt sich der Hüne Whitman gegen alles, was Zivilisation und Tradition bedeutet. Seine Bewunderer werden von Walt Whitman schwärmen: „Der erste, der einzige Dichter, welchen Amerika bisher hervorgebracht hat. Der einzige spezifisch amerikanische Dichter. Kein Wandler in den ausgetretenen Spuren der europäischen Muse, nein, frisch von der Prärie und den Ansiedlungen, frisch von der Küste und den grossen Flüssen, frisch aus dem Menschengewühl der Häfen und der Städte, frisch von den Schlachtfeldern des Südens, den Erdgeruch des Bodens, der ihn gezeugt, in Haar und Bart und Kleidern: ein noch nicht Dagewesener, ein fest und bewußt auf den eigenen amerikanischen Füßen Stehender, ein große Dinge groß, wenn auch oft seltsam Verkündender.“ (Ferdinand Freiligrath, 1868)

Auf Freiligraths Whitman-Übersetzungen bauten weitere Whitmanrezeption auf. Der in England im Exil lebende Freiligrath war durch die britische Whitmanausgabe des Jahres 1868 von William M. Rossetti, dem Bruder des Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti, auf Whitman gestoßen. In der englischen Ausgabe führte Rossetti wegen der Obszönitätsvorwürfe unter anderem eigenmächtige und von Whitman nicht gewollte Änderungen durch. Die Angaben zur Person des Dichters stammen größtenteils aus dem Vorwort dieser Ausgabe, die ihrerseits über O’Connor stark von Whitman beeinflußt war.

„Aus der Nacht tauche ich einen Augenblick auf und schlüpfe hervor, dir ein Loblied zu singen, göttlicher Akt, und euch, meine Kinder, die ihr bereit seid zu ihm. Und euch, kraftvolle Lenden.“ („Aus schmerzhaft aufgestauten Strömen“)

Was ist der Mensch? Wer bin ich? Wer bist du? Was sind wir miteinander? Einem persönlichen Humanismus verfallen, scheint sich Whitman in Gleichnissen und Zeichen zu verlieren, alle seine Neigungen setzt er zur Entfaltung ein: Die erregende Kraft des Wortes in gesungener oder gesprochener Form, Wahrheit und Lüge, das Quäkertum mütterlicherseits, Gesetz und Unrecht, die Massen vom Broadway oder auf der Fähre nach Brooklyn, Motive und Meinungen, die vom Atlantik hereinspülenden Gezeiten, das Gefühl des sich unendlich nach Westen erstreckenden Kontinents: all dies und vieles andere mehr strömt in die erste Auflage von >Grashalme< (”Leaves of Grass“). Von der Zeugung bis zum Tod bleibt ihm kein Thematik fremd, die Denkweisen der Vergangenheit oder Reformphilosophien sprechen aus seinen Begrifflichkeiten: Leben, Seele, Tod, Materie, Kosmos. Eine Welt ist ihm besonders deutlich, „und es mir die größte“, nämlich die eigene. Das kann man für egozentrisch, paranoid oder einfach für ein ehrliches Bekenntnis zur Tatsächlichkeit halten.

Whitman feiert das Geschlechtsleben im Interesse des menschlichen Fortschrittes im Interesse des physischen wie moralischen Wohlbefindens. Die Forderung nach einer ungezwungenen Beziehung zu Sexualität und menschlichem Körper in verwunderlichen Tonlagen ist eines seiner Themengebiete.

Zeichen des Whitman ganz eigenen Stils sind seine Worte des wahren Gedichts, die nicht den gefeilten Ausdruck suchen, Natürlichkeit anstelle von Künstlichkeit. Die amerikanische Übereinkunft besteht zwischen Individuen, nur die Demokratie als Regierungsform war Whitman eigen. Als entschiedener Gegner des Verharrens, „es kann niemals Stillstand geben“, verlangt Whitman, dass Kunst, Poesie, Philosophie und Erziehung vom demokratischen Prinzip durchdrungen werden und auf die Zukunft gestaltend wirken. Der Zusammenhalt geschieht indes nicht durch bloßes Gesetz, Zulassung, Rechtsanwälte oder Verträge auf Papier, sondern das Bindeglied sind Liebe und Solidarität.

„Widerspreche ich mir? / Nun gut denn… so widerspreche ich mir; / Ich bin riesig… Ich beinhalte Unmengen.“

Der Dichter war 36 Jahre alt, als dieser Anfangs-Teil seines Lebenswerkes am 4. Juli 1855, dem Tag der Unabhängigkeit, erschien. Hier wird das Leben anhand der elementaren Gesetze erklärt, das Geheimnis der kreativen Vorgänge mit dynamischen Kräften verbunden.

„Ich machte mich aber auch mit der Absicht auf, einige besondere Eigenarten zu zeigen oder auf sie hinzuweisen, welche ich seitdem (obwohl ich dies damals nicht tat, zumindest nicht endgültig) als Grundlagen sehe und als Ansporn zu diesen »Blättern« von Beginn an. Das Wort, welches ich selbst in erster Linie zur ihrer Beschreibung verwende, ist das Wort Anregung. Ich runde wenig ab und beende wenig, wenn überhaupt; und könnte dies nicht, in Übereinstimmung mit meinem Plan. Der Leser wird immer seinen oder ihren Teil beitragen müssen, so wie ich meinen beitragen mußte. Es geht mir weniger darum, irgendein Thema oder einen Gedanken vorzutragen oder darzustellen, sondern mehr darum, dich, Leser, in die Atmosphäre des Themas oder des Gedankens hineinzuversetzen - und dort deinen eigenen Flug fortzusetzen. Ein weiteres Wort des Antriebs ist Kameradschaft für alle Länder, und zwar in einem gebieterischeren und anerkannteren Sinn als bisher. Andere Wortzeichen wären Guter-Dinge-Sein, Zufriedenheit und Hoffnung.“

Äußerlich mochte der Käufer glauben, daß man versuchte, das zu Shakespeares Zeiten unhandliche Quartformat, wieder aufleben zu lassen. Erst die Einbände späterer Lederausgaben des literarischen Sonderlings waren herkömmlich, doch blieb mit dem Ranken goldener Wurzeln, die sich von den Lettern des Titels nach unten winden, die äußere Wirkung durchaus viktorianisch. Auf der Titelseite suchte man vergebens nach dem Autornamen, den Whitman - wie ebenso den Hinweis auf sich als Verleger - erst im weiteren Verlauf verrät.

„Meine Kennzeichen sind ein regendichter Rock, feste Schuh und ein Stock im Walde geschnitten.“ („Gesang von mir selbst“) „Eine grobe, rote Gesichtsfarbe, einen starken, struppigen und leicht angegrauten Bart, seltsame Augen von einem halbdurchsichtigen, undeutlichen Blau und jenem schläfrigen Blick, der sich ergibt, wenn das Lid halb über der Pupille hängt, sorgloser, schlurfender Gang.“ („Selbstbildnis“)

„Ich sehe die Schlachtfelder der Erde, Gras wächst auf ihnen, Blumen und Korn, ich sehe die Spuren der alten und modernen Expeditionen. Ich sehe namenlose Mauerwerke, ehrwürdige Botschaften unbekannter Ereignisse, Helden, Chroniken der Erde.“ („Salut au Monde“)

Inhaltlich gedeihen „Die Grasblätter“ in thematischer Vielfalt zum Schmelztiegel verschiedenster Einflüsse: Alltäglichkeiten, erlebte und gedachte, stehen neben philosophischen Betrachtungen, Zeitereignisse mischen sich mit reformerischen Traktaten, welche die Aufmerksamkeit auf die wunderbare Natur gewöhnlicher Dinge lenken. Whitman verleibt sich die Natur in sein Selbst wie er gleichermaßen sein Ich in das äußere Geschehen projiziert. „Diese tendieren in mich wie ich zu ihnen hinaus strebe“, aus einem gigantischen Embryo entsteht der unvergleichliche Whitmansche Kosmos.

„Nach allem, was man sagen kann, halte ich die „Grasblätter“ und ihre Theorie für experimentell - so wie ich auch, im tiefsten Sinn, unsere amerikanische Republik mit ihrer Theorie begreife.“ „Das Buch ist von einer solchen Art, daß es uns in Verlegenheit versetzt, und so neu, kühn und seltsam, daß es fast an Absurdität grenzt, und doch wäre es eine Ungerechtigkeit, es so zu bezeichnen, denn davor bewahrt es eine gewisse Meisterschaft in der Diktion, die sich nicht leicht definieren läßt.“ (William Howitt, englischer Quäker-Dichter)

Charles A. Dana, Chefredakteur bei der ‚New York Tribune‘ fand die Sprache der Gedichte ”zu oft leichtfertig und unanständig“, die ”äußere“, d. h. metrische Form aber „jedenfalls originell“. Auffällige Whitmansche Charakteristika sind die ungereimte Langzeile und der lyrische Katalog, was vielen messianischen Expressionisten geradezu Markenzeichen wurde.

Keine noch so bemühte Analyse kann den Bewegungen des Dichters, seinem Rhythmus, der sich Pinselstrichen gleich auf einem riesigen Wandgemälde in großen Linien vollzieht, folgen. „Die wahren Gedichte, was wir Gedichte nennen sind nichts als Bilder.“ („Natürliches Ich“) Verse, wie sie Whitman vorschweben, sollen ein „komplettes Abbild der Menschheit, der Gesellschaft in allen ihren Phasen“ sein. „Niemand wird meine Verse erreichen, der beharrt, sie als literarische Darstellung oder als Versuch einer solchen Darstellung zu betrachten, oder in erster Linie als Streben nach Kunst oder Ästhetizismus.“

Walt Whitman, als freier Dichter erregender Verse, kümmert sich nicht sonderlich um Versmaß noch Reim; Prosa wird zu Poesie, Poesie geht in Prosa über. Die Sprache ist ihm Sinnträger und hat sich dem das Bild schaffenden Gedanken unterzuordnen, Sinngruppen bilden die Zeileneinheiten. „Gut oder schlecht, klar oder mißverständlich, ich habe durchgehalten und meine Worte nun auf ganz eigene Weise abgeschlossen; das besondere Wunder der vorausgehenden insgesamt 404 Seiten ist für mich, bei all ihren Fehlern und Auslassungen, daß sie (nachdem ich sie gemächlich und kritisch durchgesehen habe, wie letzte Woche Tag und Nacht) seit beinahe 40 Jahren treulich, über viele Lücken, durch Dick und Dünn, Frieden und Krieg, Krankheit und Gesundheit, Wolken und Sonnenschein, an meinen heimlichen Zielen etc. hafteten und sie erfüllten, jedenfalls so vergleichsweise weit und gut sie es zwischen diesen Buchdeckeln tun.“

Von seinem einundzwanzigsten Jahr bis zu seinem Tod, über ein halbes Jahrhundert hat Walt Whitman an seinen Halmen gearbeitet, sie von Auflage zu Auflage vermehrt und mit ihnen die Epoche der amerikanischen Industrialisierung, Kommerzialisierung und Materialisierung begleitet. Dabei war er nicht reiner Schreibtischpoet, sondern auch seine diversen Tätigkeiten für Zeitungen hielten ihn in den Koordinaten der Epoche. „…Der breiteste Durchschnitt der Menschheit und ihrer Identitäten im nun reifenden 19. Jahrhundert…“ Dies ging unmittelbar in sein Werk über, in dem die Gedichte zu Sinneinheiten, cluster (Bündel, Trauben) gruppiert werden.

… ich habe den Leib gesungen und die Seele, Krieg und Frieden und die Gesänge von Leben und Tod, und die der Geburt,

… Ich habe mein Wesen angeboten einem jeden, und bin gewandert mit zuversichtlichem Schritt; …

Ich verkünde natürliche Menschen, die hervorgehen werden, ich verkünde der Gerechtigkeit Triumph, ich verkünde unbedingte Freiheit und Gleichheit,

ich verkünde die Rechtfertigung von Reinheit und Stolz,

… Meine Lieder enden, ich lasse sie,

hinter der Schutzwand, die mich verbarg,

komme ich ganz allein hervor zu dir.

Camerado, dies ist kein Buch,

Wer dies berührt, berührt einen Menschen…

Kein Buch steht ohne Zusammenhang mit seinem Autor. Whitman erkennt sowohl den Unterschied zwischen dem Ich, das er sein möchte und dem Ich, das er ist. Ideale sind es, die er fordert, Zustände, die noch zu erreichen sind. Die hier angestrebte vollkommene Einheit, ja Identität von Mann und Dichtung, Whitmans Vorstellung eins zu sein mit seinen Worten, mag realiter ein schwer erfüllbares Wunschdenken sein, aber daran erkennt man zumindest die unbedingte Aufrichtigkeit des Begründers der modernen Lyrik, und wie er sich in seinen Versen völlig zu öffnen bereit ist. Sein unerschrockenes Auftreten findet in seinen stolzen Worten den vollkommenen dichterischen Ausdruck.

„Nur der gewinnt, der weit genug geht“, weissagte Whitman, der mit der Bandbreite seiner Grashalme als Inspiration und Zeugnis die moderne Literatur nachhaltig beeinflussen sollte. „Das Inventar eines Auktionators in einem Warenhaus“, konstatierte Ralph Waldo Emerson.

Beeindruckt hatte des Weiteren der eigenwillige rhythmische Freivers der wortgewaltigen Turbulenzen. „Flüssige, wogende Wellen“ nennt Whitman selber seine an die Prosa grenzende Freiverskunst. Sein emotionaler Ausdruck soll keine abgehobene Schriftsprache sein, sondern sich in einem Pluralismus von Stilideen dem Umgangs-Idiom anpassen. Ein seltsames literarisches Experiment im Vergleich mit den Büchern Tennysons, Longfellows, Bryants, das noch seine endgültige Form zu suchen schien:

Eine moderne Welt – Elias Howes Nähmaschine, Robert Fultons Dampfschiff, McCormicks Mähmaschine - kreiert die ihr gemäße Form: „Amerikanisches Gedicht“ sollte es dann im nächsten Jahr schon genannt werden, und Emerson erkannte, daß es für die amerikanische Literatur etwas Bahnbrechendes und Gewaltiges bedeutete.

Keine Arbeitskraft-sparende Maschine

Keine Entdeckung habe ich gemacht,

Noch werde ich in der Lage sein,

irgendein großes Erbe zu hinterlassen,

eine Heilanstalt oder Bücherei zu gründen,

Keine Erinnerung an mutige Taten für Amerika,

Weder literarischen Erfolg, noch geistigen,

kein Buch für das Bücherregal,

Bloß ein paar durch die Luft vibrierende Lieder hinterlasse ich für Kameraden und Liebende.

Kaum ein Lyriker des 19. Jahrhunderts wurde so einflußreich wie Walt Whitman und hat so viele Hürden genommen: Zwischen hohem Ton und Dialekt, zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit, zwischen Wildnis und Zivilisation, zwischen den sozialen Schichten. Eine Brücke in die Moderne wird er errichten, der neue Begriff Demokratie harrt der Definition und Artikulation.

Teile seiner Einleitung, die auf gleiche Stufe gestellt werden soll wie William Wordsworths Vorrede zu den „Lyrical Ballads“ und Ralph Waldo Emersons „American Scholar“, werden in Whitmans polternder Prosa noch erregender gestaltet und in das spätere Gedicht „By Blue Ontario’s Shore“ übernommen.

„Sieh, ich halte keine Vorlesungen und gebe keine Almosen, wenn ich gebe, geb ich mich selbst… Und was ich habe, verschenke ich.“ („Gesang von mir selbst“) Ein Gedicht wächst nicht aus sich selbst heraus wie der Strauch am Wegesrand, sondern ist das Ergebnis einer schöpferischen Imagination. „Hier kommt die Wahrheit ans Licht, Hier muß der Mensch Stich halten – hier zeigt sich, was in ihm ist, Vergangenheit, Zukunft, Erhabenheit, Liebe – sind sie nicht in dir, so bist du auch nicht in ihnen.“ („Gesang von der Landstraße“) Walt Whitman bezieht seine Person sehr mit ein in sein organisches Ganzes.

„Heutzutage gibt es Professoren der Philosophie, aber keine Philosophen. Es läßt sich trefflich darüber dozieren, wie trefflich man einst sein Leben verbrachte. Um ein Philosoph zu sein, ist es nicht genug, geistreiche Gedanken zu haben oder eine Schule zu gründen, sondern man muß die Weisheit so lieben, daß man nach ihr lebt, ein Leben in Einfachheit, der Unabhängigkeit, der Großmut und des Vertrauens“, formuliert Henry David Thoreau, der Zeitgenosse und Seelenverwandte Whitmans, dieses Leben-Wollen in bestimmtem Stil.

Der Testamentsvollstrecker und spätere Intimus, der Nervenarzt Dr. Bucke, schildert das; im wesentlichen durch die Jahre gleich bleibende; äußere Auftreten des Lyrikers: „Whitmans Erscheinung pflegte viel Aufsehen unter den Passagieren zu erregen, wenn er auf das Fährboot kam. Er war gute sechs Fuß hoch (über 1, 80 m) mit dem Körperbau eines Gladiators, ein grauer, üppiger Bart mischte sich mit dem Haar seiner breiten, leicht entblößten Brust. In seinen wohlgewaschenen, karierten Hemdsärmeln, die Hosen oft in die Stiefelschäfte gesteckt, den edlen Kopf von einem riesigen schwarzen oder hellen weichen Filzhut bedeckt, ging er einher mit angeborenem majestätischem Schritt, ein echtes Vorbild an Natürlichkeit und Unabhängigkeit. Ich glaube kaum, daß die Art, wie er sich damals kleidete, exzentrisch war; er hatte einen tiefen Widerwillen gegen alles Auffällige und allen Schein, und ich kann mir denken, daß er einfach das anzog, was handlich, sauber, sparsam und bequem war. Seine markante Erscheinung rief indessen trotzdem die verschiedensten Fragen bei den Passagieren, die ihn nicht kannten, wach.“

Sein Sendungsbewußtsein, der Deuter und Seher zu sein, Gestaltungsideale zu Politik, Gesellschaft und Kultur vorzulegen, ist Whitman eins mit der Aufgabe des Dichters. Als Auge der Gesellschaft ist dieser ein wichtiges Medium der Erkenntnis: „Aber die Menschen verlangen vom Dichter mehr als nur die Schönheit und Würde aufzuzeigen, die stummen Dingen immer eigen sind… es wird von ihm verlangt, den Weg zu weisen, der von den Dingen der Wirklichkeit zum Seelenheil führt.“ (Vorwort der 1855er Ausgabe).

Der Dichter als Befreier der Entmutigten und Helfer der Geschlagenen, nicht als schierer Sprachkünstler oder reiner Experimentator, das ist das Ideal, wie es Whitman vorschwebt. … Er ist der Richter über die Ungleichheiten, er ist der Schlüssel, / Er ist der Ausgleicher seiner Zeit und seines Landes, / Er stärkt, was Stärkung wünscht, er hindert, was Hinderung wünscht… („Am Ufer des blauen Ontario“)

Künstler ist demnach, wer die Wirklichkeit konkret vermittelt, wobei der Dichter Whitman diesem Geschehen ermutigende Aussichten beifügt. „Mein Buch sollte demzufolge genügend Aufschwung und Freude ausstrahlen, denn es wuchs aus jenen Elementen und ist der Trost meines Lebens gewesen, seit es ursprünglich begonnen wurde.“ Whitman vermittelt einen Ausdruck des Wollens, seine moderne Visionen einer universellen Qualität.

Dem folgt das Bekenntnis, daß er als Dichter vorrangig das Individuum als solches anspricht, auch wenn er sich an Massen oder irgendwelche Gemeinschaften wendet. Jeder Einzelne hat das Recht auf Zuspruch und Zuwendung, wie es sein Buch auch ihm selbst vermittelt. Hier trifft Whitman keinerlei Unterscheidungen: Die tote Hure im Leichenschauhaus, der Anarchist, den er auf Besuch empfängt, auch der Delinquent, die soziale Randfigur, der „Umgezähmte“, den keine Verordnung zu bändigen vermochte: „Ich stehe auf gleicher Stufe mit jedem von diesen.“

Der Schriftsteller, der Walt Whitman in seinem Gefühl von sich selbst und seiner Aufgabe der Gesellschaft gegenüber sein möchte, ist die wegbereitende Stimme und Auslegung der Freiheit. Bisher war die neuartige Gesellschaftsform der Demokratie noch ohne dichterischen Fürsprecher. Whitman war sich bald klar über sein Ziel und die Mittel, dieses zu erreichen. „Die Haltung großer Dichter soll den Sklaven Mut geben und die Tyrannen entsetzen. Die Wendung ihrer Häupter, der Klang ihrer Schritte, die Bewegungen ihrer Handgelenke sind voller Gefahr für die einen und voll Hoffnung für die anderen. Nahe dich ihnen, und ob sie gleich weder reden noch raten, wirst du doch die getreue Lehre erfahren.“

Die Bedeutung und der hohe Rang des Dichters sind am „Fehlen von Täuschungen und an der Rechtfertigung vollkommener persönlicher Lauterkeit“ zu erkennen: „Da die Eigenschaften der Dichter des Kosmos sich im wirklichen Körper und der wirklichen Seele und in der Lust an den Dingen konzentrieren, besitzen sie den Vorrang der Echtheit vor aller Erfindung und Schwärmerei.“ Mit seinen Mahnungen übt Whitman als moralische Instanz auf das Denken nicht nur seines Volkes einen außerordentlichen Einfluß aus, wobei die Sittlichkeit der Zweckmäßigkeit und Geeignetheit untergeordnet wird.

„Große Dichter sind groß, wenn sie die wichtigsten Zeugen des Geistes ihrer Zeit sind.“ Der Dichter, von dem Whitman spricht, soll ”von gleichem Maß“ sein wie das amerikanische Volk. „Ein Individuum ist ebenso herrlich wie eine Nation, wenn es die Eigenschaften besitzt, die eine Nation herrlich machen. Die Seele der größten und reichsten und stolzesten Nation kann der Seele ihrer Dichter sehr wohl entgegenkommen. Ist die eine echt und wahr, so ist auch der andere echt und wahr. Die Bestätigung des Dichters liegt darin, daß sein Volk ihn ebenso liebend in sich aufnimmt, wie er sein Volk liebend in sich aufgenommen hat.“

Was denkst du, nehme ich meinen Stift zur Hand um festzuhalten?

Das Kriegsschiff, perfekt geformt, majestätisch,

das ich heute mit vollen Segeln auf hoher See fahren sah?

Der Glanz des letzten Tages?

Oder der Glanz der Nacht, die mich einhüllt?

Oder der gepriesene Ruhm

und Wuchs der Großstadt, um mich herum?

Nein,

Aber zwei einfache Männer sah ich heute nur auf dem Pier inmitten der Menge,

scheidend im Abschied beteuerte Freunde,

Der Zurückbleibende hing am Hals des anderen und küsste ihn leidenschaftlich,

Während der Wegfahrende den Zurückbleibenden fest in seinen Armen hielt.

Whitman, vor annähernd 200 Jahren geboren, repräsentiert noch immer, was man als typisch amerikanisch empfindet und bleibt eine der kennzeichnendsten Erscheinungen seines Heimatlandes. „Sein Geist gleicht dem Geist seines Landes… er ist die Inkarnation seiner Gestalt und seiner Natur und seiner Flüsse und Seen.“

„Ich weiß nicht warum oder wieso, aber es scheint mir vor allem der Himmel zu sein (bisweilen denke ich, obwohl ich den Himmel natürlich jeden Tag meines Lebens gesehen habe, ich hätte ihn nie zuvor wirklich geschaut), dem ich in diesem Herbst einige außerordentlich zufriedene Stunden verdanke - sollte ich gar sagen, vollkommen glückliche? Wie ich gelesen habe, hat Byron unmittelbar vor seinem Tode zu einem Freunde gesagt, er habe in seinem ganzen Leben nur drei glückliche Stunden gekannt. Und deutet nicht die alte deutsche Legende von der Glocke des Königs auf dasselbe hin? Während ich draußen im Walde war und den herrlichen Sonnenuntergang durch die Bäume sah, dachte ich an Byron und die Geschichte von der Glocke, und mich erfaßte die Idee, daß ich eine glückliche Stunde durchlebte.“

Whitman war erfüllt von dem Gedanken, daß der wahre Dichter, wie er ihn begriff, in keinerlei Gegensatz zu dem lebenden Menschen in Fleisch und Blut steht, daß sein Dichten gar nicht etwa mehr oder wertvoller ist, als das Dasein froher und tätiger Menschenkinder. Sein erhabenstes Gedicht und seinen reichsten Wohllaut müsse jeder im eigenen Körper, in den ”stummen Linien seiner Lippen und seines Gesichts und zwischen den Wimpern seiner Augen und in jedem Gelenk und jeder Bewegung“ tragen. Whitmans Selbstgefühl ist so mehr noch ein Gefühl seines Volkes als seiner selbst: „Demokratie! Nahe bei dir singt nun eine schwellende Kehle freudevoll.“

Ich singe das Selbst, den Einzelmenschen,

Doch spreche ich das Wort „demokratisch“ aus,

„En masse“

Ich singe Physiologie vom Scheitel bis zur Sohle

Nicht Physiognomie noch Hirn allein ist der Muse würdig,

Ich sage, viel würdiger noch ist die ganze Gestalt,

Ich singe das Weibliche

gleichen Ranges mit dem Männlichen,

Das Leben, unermeßlich in Leidenschaft, Puls und Kraft

Freudig, zu freiester Tat geformt nach göttlichem Gesetz,

Ich singe den modernen Menschen

Dem Freund O’Connor ist der Whitman seines Buches so auch keine Einzelperson, sondern die Menschheit. Whitman, der vom gesamten Volk gelesen und ein Dichter für die Massen sein wollte, klagte bis zuletzt über „meine mürrische Vergeblichkeit“ und „häufigen Beulen“. Tatsächlich hatte Whitman vergleichsweise akzeptable Publikationsmöglichkeiten und erhielt insgesamt mehr positive als negative Resonanz. Ungebrochen blieb er von der Bedeutung seines Tuns überzeugt; einer Bekannten, Abby Price gegenüber nannte er „Leaves of Grass“ ein „untötbares Werk“.

Seine Gaben möchte er mit der Freigebigkeit der Natur, die Amerika mit allen natürlichen Reichtümern und einer neuen Menschenart beschenkt hat, verströmen.

„Unsere amerikanische Überlegenheit und Lebenskraft stecken in der Masse unseres Volkes, nicht in einem besitzenden Stand wie in der Alten Welt. Größe und Stärke unserer Armee während des Sezessionskrieges waren in Mannschaften zu finden, und so ist es mit der ganzen Nation. Andere Länder schöpfen ihre Lebenskraft aus wenigen, aus einer Klasse, wir aber schöpfen sie aus der Masse unseres Volkes. … Manchmal denke ich, auf allen Gebieten, Literatur und Kunst eingeschlossen, wird das der Weg sein, auf dem sich unsere Überlegenheit zeigen wird. Nicht bedeutende Einzelpersonen oder große Führer haben wir, sondern eine im Querschnitt großartige Masse einmalig groß.“ (In einem am 17. Oktober 1879 in St. Louis erschienen Interview)

Was Walt Whitman geschrieben hat, mutet an, als ob die Vereinigten Staaten, auf die Goetheworte: „Amerika, du hast es besser, Als unser alter Kontinent, der alte; Hast keine verfallenen Schlösser; Und keine Basalte!“ ein lautes: ”Ja, ja, ja, so ist es!“ hätten über die See herüberrufen wollen. Amerika ist für Walt Whitman das Reich der Zukunft, der noch nicht fertigen, sondern erst zusammenwachsenden Volksgemeinschaft.

Heinrich Heines intensiver Blick auf das 19. Jahrhundert, sein absoluter Freiheitssinn, seine ausdrückliche Zurückweisung des Klassizismus und Romantizismus, seine Klarheit und Leichtigkeit entlocken Whitman ein „Heine! Oh großartig!“ Heine gehört für Whitman mit zu den Initiatoren der „Umsetzung moderner Ideen im Leben“.

Johann Wolfgang Goethe ist Whitman das höchste Beispiel persönlicher Vollkommenheit, und er schätzt an ihm, daß er bei seinen Arbeiten immer auch den Mann dahinter schildert. Wenn Goethe meint: „In jedem Meisterwerk steckt als der entscheidende Faktor ein großartiger Schöpfer“, so hätte das auch Whitman sagen können. Ebenso geben ihm Hugo oder Tolstoi Beispiele in Behandlung der Massen.

Der heftige Bewunderer Lincolns umschrieb die Sendung der Dichtung mit dem lapidaren Satz: „Die Aufgabe großer Dichter ist es, den Unterdrückten beizustehen und die Despoten in Schrecken zu versetzen.“ Solche Aussagen entstammen der Tiefe seines ausgeprägten demokratischen Bewußtseins. Ab 14. April 1879 hält Walt Whitman auch Vorträge über den verehrten Abraham Lincoln, den typisierten Helden seiner demokratischen Visionen.

Die Freundschaft ist Whitman vorrangig das zur Gleichheit der Individuen führende Band. Die Kameradschaft, wie sie Whitman in einer blühenden Menschengemeinschaft der Zukunft ersehnt, übte er während des Bürgerkrieges in einer grauenvollen Wirklichkeit aus. Ein strömendes Gemeinschaftsgefühl, das über durchgeistigten Eros glühender Kameradschaft zu dem Begriff wahrer Demokratie, als der freien Gemeinschaft selbstbeherrschter höchstentwickelter Einzelmenschen, des ”göttlichen Durchschnitts“ führt und damit zu einem Leitmotiv seiner Dichtung. Für die Werke der Kunst erachtete Whitman die politische Freiheit als unverzichtbare Voraussetzung.

„Ich übertriebe meine Gedanken, wenn ich sagte, dass die Literatur eines Volkes immer dessen Gesellschaftsform und dessen politischer Verfassung untergeordnet ist. Unabhängig von diesen Ursachen gibt es, wie ich weiß, etliche andere, die den literarischen Werken gewisse Merkmale aufprägen; jene aber scheinen nur die wesentlichsten zu sein. Die Beziehungen zwischen dem gesellschaftlichen und politischen Zustand eines Volkes und dem Geist seiner Schriftsteller sind immer sehr mannigfache; wer den einen kennt, dem ist der andere nie völlig fremd.“ (A. de Tocqueville) Walt Whitman personifiziert. „ma femme“, seine über alles Geliebte:

FÜR DICH, O DEMOKRATIE

Komm, ich will den Kontinent unzertrennlich machen,

Ich will die herrlichsten Rassen schaffen,

auf die je die Sonne schien,

ich will göttlich magnetische Länder schaffen,

Mit der Liebe von Kameraden,

Mit der lebenslangen Liebe von Kameraden.

Ich will Kameradschaft pflanzen

dicht wie Bäume entlang

den Strömen Amerikas,

und entlang den Küsten

der großen Seen und über alle Steppen hin,

Ich will unentzweibare Städte schaffen,

die die Arme einander um den Nacken schlingen,

Durch die Liebe von Kameraden,

Durch die männliche Liebe von Kameraden.

Für dich dies von mir, o Demokratie, dir zu dienen, ma femme,

Für dich, für dich zwitschre ich diese Lieder.

Die Aufgabe Dichters der Demokratie, ist nach Whitman eine Idee zu kreieren, welche die Staaten und ihre Bürger fester an einander kettet. Der Dichter soll also Lehrer und Richter, wie auch Führer, in Krieg und Frieden sein; er soll Alle mit seiner Liebe umfassen, so dass ihm auch Liebe entgegen gebracht werden kann.

„Für mich ist dieses Werk ein wahres Gottesgeschenk, denn ich sehe wohl, daß, was Whitman Demokratie nennt, nichts anderes ist, als was wir, altmodischer, Humanität nennen; wie ich auch sehe, daß es mit Goethe allein denn doch nicht getan sein wird, sondern daß ein Schuß Whitman dazugehört, um das Gefühl der neuen Humanität zu gewinnen.“ (Thomas Mann)

Whitman war stets der Auffassung, daß Amerika die besondere Berufung hat, ein paar Schritte voraus zu sein, daß aber alle Völker der Erde den nämlichen Weg gehen werden: „Ich selber schreibe nur ein oder zwei andeutenden Worte für die Zukunft;“ („Dichter der Zukunft“) doch sieht er sein Werk als „Kandidat für die Zukunft“.

Welcher Weg zu beschreiten ist, geht aus Whitmans Erlebnisberichten zum Sezessionskrieg, den „Drum-Taps“ („Trommelschläge“) hervor:

”Seid nicht verzagt,

Empfindung wird den Weg zur Freiheit bahnen jetzt;

Die sich lieben untereinander,

sollen die Unbesieglichen werden.“

Eine derartige kosmische Liebe und dieser Überschwang des Gefühls bleiben dem Schriftsteller eigen, und nur aus abgrundtiefer Innigkeit kann, so sein Glaube, ein neuzeitliches Volk erstehen.

Auf die Frage eines Journalisten: „Glauben Sie, wir sollten eine ausgesprochen amerikanische Literatur haben?“ antwortete der Dichter: „Mir scheint, daß unsere Arbeit zur Zeit darin besteht, die Grundlagen einer großen Nation in Industrie, Landwirtschaft, Handel zu legen… außerdem Freiheit der Rede, der Religion etc. Materieller Wohlstand in allen seinen mannigfaltigen Formen in Verbindung mit den Dingen, die ich erwähnt habe, gegenseitige Verständigung und Freiheit sollten zuerst beachtet werden. Wenn diese durchgesetzt und verwurzelt sind, dann wird man damit beginnen können, eine Literatur die unserer würdig ist, abzugrenzen.“ (am 17. Oktober 1879 in einer Zeitung von St. Louis abgedrucktes Interview)

„Bücher sind der aufgespeicherte Reichtum der Welt und ein schickliches Erbteil von dieser Welt, Generationen und Völkern … Ihre Autoren sind von natürlichem unwiderstehlichem Adel in jeder Gesellschaft, und mehr als Könige und Kaiser beeinflussen sie dieselbe.“ (Henry D. Thoreau) Walt Whitman hatte immer gerne gelesen, in seiner frühen Jugend waren seine Buchregale die Antiquariate von Brooklyn oder New York. In „Respondez“ schaffen die Bücher der entstehenden urbanen Konsumparadiese eine Alternative zur unmittelbaren Naturwahrnehmung. „Let books take the place of trees, animals, rivers, clouds.“ Meist interessierten ihn fremde Länder, dortige Sitten und Anschauungen, er war den Tatsächlichkeiten zur menschlichen Natur auf der Spur: „Ich bin aus London, Manchester, Bristol, Edingburgh, Limerick, ich bin aus Madrid, Cádiz, Barcelona, Oporto, Lyon, Brüssel, Bern, Frankfurt, Stuttgart, Turin, Florenz, ich gehöre nach Moskau, Krakau, Warschau oder ins sibirische Irkutsk, oder in irgendeine Straße Islands, ich lasse mich in allen diesen Städten nieder und erhebe mich aus ihnen abermals.“ („Salut au Monde“)

Nein, berichtet mir heute nicht die gedruckte Schande,

Lest heute nicht die übervolle Seite der Zeitung,

Die gnadenlosen Berichte brandmarken noch Stirn um Stirn,

Lasterhafte Kolumne folgt auf lasterhafte Kolumne…

Bei allem Wissen um das Boulevardblatt-Wesen war Whitman ein eifriger Zeitungsleser, was ihm ihm das Gefühl realer Vielheit vermittelte, vom lebendigen Geschehen der brausenden Menge. Es wurde ihm auch zur Gewohnheit, aus Büchern, Magazinen und Zeitungen das herauszuschneiden, was er verwerten konnte.

Schließt eure Türen nicht vor mir, ihr stolzen Bibliotheken, Denn was auf allen euern wohlgefüllten Brettern fehlte und doch am meisten nottut, bringe ich;

Auftauchend aus Krieg, hab ich ein Buch gemacht,

Die Worte meines Buches nichts, sein Wesen alles,

Ein Buch für sich, den andern nicht verwandt, dem Intellekt verschlossen,

Du aber, unausgesprochenes Geheimnis, wirst jede Seite durchschauern.

Daß es eine eigenständige, in sich geschlossene amerikanische Literatur gibt, ist gar nicht so selbstverständlich. Denn trotz Poe, Melville, Whitman oder Henry James hat sich nach der politischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 die geistige Lösung vom Mutterland England nur langsam vollziehen können.

Der Amerikaner, den Whitman in seiner Lyrik aus dem schuf, was seine Augen sahen und Ohren hörten, steht von Anbeginn als Zeichen eines Glaubens und eines Traumes.

„Die gebildete Welt scheint sich über Jahrhunderte hin mehr und mehr gelangweilt zu haben und hinterließ unserer Zeit deren Erbe.“ Die Amerikaner sind ein eben erst werdendes Volk, Barbaren und Beginnende. Whitman spürt in sich ein wildes, durch keinerlei Zwang gebrochenes Naturell und will diesen eine gemäße Kunst, die allem großen Volke vorleuchten muß, schaffen. Mit unvergleichlichem Impetus nutzt er hierzu eine Lyrik in einer respektlosen Form und mit einem ungeheuren Stoffgebiet.

„Glücklicherweise gibt es das ursprüngliche, unerschöpfliche Kapital an Schwungkraft, die gewöhnlich den Menschen innewohnt, stets geeignet, sich daran zu wenden und sich darauf zu verlassen.“

Whitmans Schreibstil vor dem Bürgerkrieg war oft von der Hektik des journalistischen Stils geprägt. Der größte Teil seiner Erzählberichte entstand nach seiner Lähmung zwischen 1875 und 1888, als er sich etwas mehr Zeit für Meditation und abwägende Komposition nahm. „Meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, die formalen Grenzen zwischen Prosa und Lyrik im Wesentlichen niederzureißen!“, erklärt Whitman ohne Umschweife. Die äußere Form bleibt Whitman zweitrangig, wenn er sich auch, nicht stur sondern fließend, um die jeweils passende bemüht. Auf der inhaltlichen Ebene hingegen scheint er die Prosa eher für das Reale („Democratic Vistas“, 1871 oder „Specimen Days“, 1882) und den Freivers bei Einheit von Zeile und Gedanke eher für das Ideale vorgesehen zu haben.

„Sogar Shakespeare, der die zeitgenössische Literatur und Kunst so durchflutet (welche tatsächlich meistenteils von ihm stammen), gehört im Wesentlichen zur begrabenen Vergangenheit. Er allein besitzt für bestimmte bedeutsame Phasen dieser Vergangenheit den stolzen Rang, der erhabenste aller Sänger zu sein, denen das Leben bisher eine Stimme gegeben hat. Alle jedoch beziehen und stützen sich auf Gegebenheiten, Standards, Politik, Soziologien, Bereiche des Glaubens, die aus der östlichen Hemisphäre so ziemlich beseitigt wurden und in der westlichen niemals existiert haben.“

Gemächlich nur erwächst, als Pionier auf noch unbekanntem Terrain, ein amerikanischer Schriftsteller-Typus, der mit den politischen und sozialen Schicksalen der Staaten fest verankert ist. In einer erst sich formierenden Gesellschaft und Sprache schreitet der Dichter Walt Whitman mit seinen Interpretationen des amerikanischen Lebens, der demokratischen Ideale, der ethischen Haltungen und moralischen Einstellungen mutig voraus.

Whitman besaß neben verschiedenen, jeweils erweiterten Ausgaben von Webster‘s „American Dictionary“ auch das Wörterbuch des wichtigsten Kontrahenten, „Joseph Emerson Worcesters Comprehensive pronouncing and explanatory Dictionary of the English Language; with vocabulary of Classical Scripture, and Modern Geographical Names“, das erstmals 1830 erschien. Die Sprache seines Landes zu erfassen und für die Dichtung fruchtbar zu machen, gehörte zu Whitmans wichtigsten Anliegen. Zu diesem Zweck hatte er sich „A Primer of Words“ angelegt, in dem er Alltagsvokabeln, Wörter aus der Negersprache, Termini aus verschiedenen Berufen und schließlich Namen auflistete. Eine Richtung der Whitmanforschung geht, auf der Grundlage von Whitmans American Primer, vor allem von der sprachlichen Analyse aus.

Walt Whitman brauchte Europa nicht, um ein großer Schriftsteller zu sein, in seinem ersten Vorwort zu >Grashalme< vereinigt er die Reife des Mannes, der wie eingewachsen auf seinem Platz steht, mit der blutjungen Hingerissenheit des Beginnenden: „Die Amerikaner aller Nationen und aller Zeiten sind wahrscheinlich die dichterischsten Wesen der Erde. Die Vereinigten Staaten selbst stellen zweifellos das größte Gedicht dar, das es gibt.“ Und auch Hermann Melville versicherte, daß „heute Menschen, die nicht so sehr Shakespeare unterlegen sind, an den Ufern des Ohio aufwachsen.“

„Wir besitzen“, verdeutlicht Whitman, „eine an poetischen Stoffen reiche Folklore. Zu unserer Verfügung steht das Material, aus dem moderne Epen gemacht werden, so großartig wie die des Mittelalters in Frankreich. Laßt uns den Fernen Westen besingen, den Mut der Pioniere, die Eroberung der Natur, die große Ebene und die ‚wimmelnden Städte‘ der Neuen Welt! Lassen wir den anderen die Kultur der Vergangenheit, die das Leben erstickt und unfruchtbar macht. An uns sei es, unsere eigene Kultur zu schaffen, die, die wir hier in unserer Heimat finden. Was ein Amerikaner ist? Ein Amerikaner - das ist der Mensch dieses neuen Kontinents, und wir werden seine Geburt preisen, wir werden seine Mythologie schaffen.“