Sir David's World of Books - Kenny Behnke-Gapp - E-Book

Sir David's World of Books E-Book

Kenny Behnke-Gapp

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Beschreibung

Nicole hat sich mit einem eigenen Buchladen im idyllischen Port Sunlight einen Traum erfüllt. Mit ihrem Kater Sir David, Chinchilla Squeaky, Jugendfreundin Alex in ihrer Tee & Schoko Ecke und der resoluten 70-jährigen Mildred ist die Buchhandlung quasi zum Mittelpunkt des dörflichen Lebens in Port Sunlight geworden. Nicole ist zufrieden mit sich und der Welt, bis ein Obdachloser mit seinem Hasen auftaucht und ihr Leben komplett durcheinander bringt... Eine Geschichte voller Freundschaft, Gesellschaftskritik, Tränen, herrlicher Weihnachtsatmosphäre und britischem Humor.

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Für Zeppo

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Kapitel 1

„Mmm, Lexie, die sind himmlisch!“ „Wenn du mich noch einmal Lexie nennst, verfüttere ich alle Trüffelherzen an Sir David! Dann guckst du aber!“ Nicole lacht und streicht der Freundin kurz über den Rücken. „Ich kann doch auch nichts dafür. Wenn Stan dich immer so nennt.“ „Stan ist ein Hornochse! Ich hätte ihn an seinem 10. Geburtstag nicht aus dem Dorfteich ziehen sollen, sondern ihn ersäufen“, grummelt Alex und schiebt sich noch eine Praline in den Mund. Nicole lässt sie wühlen in ihrer „Tee & Schoko Ecke“ und geht in den vorderen Teil der Buchhandlung.

Sie lässt sich in den hellblauen, plüschigen Lesesessel plumpsen und schaut sich um. Eine kleine gelbe Katze springt ihr auf den Schoß und drückt ihr Köpfchen an ihren Bauch. Nicole umschlingt das Tier und krault es an den Öhrchen. „Ach, Sir David, wer hätte das gedacht … dass wir beide mal einen eigenen Buchladen haben. Und dass wir hier in Port Sunlight enden. Auntie Joanne …. wenn sie das nur sehen könnte.“

Nicole wird wehmütig beim Gedanken an ihre heißgeliebte Tante. Eine selbstbewusste, starke Frau war sie gewesen, mit einem feinen Humor, beliebt in ganz Port Sunlight. Nicht nur aktiv in ihrem Blumenladen, sondern in der Gemeinde, bei der Betreuung von alten Menschen in ihrer Freizeit, oder wenn im Winter eine Suppenküche für die Obdachlosen organisiert werden musste. Joanne war immer zur Stelle, für ihre Freunde, für das Dorf, für die Kultur – und eben auch für Nicole.

Die Ferien hatte sie grundsätzlich hier in Port Sunlight bei Joanne verbracht, ob an Weihnachten oder im Sommer. Ihre Mutter war ja immer auf Tournee, und war sie einmal zu Hause, hatte sie nur Interesse an ihren Verehrern. Nicole konnte kommen und gehen wie sie wollte, ihre Mum interessierte es kaum. Mal lebte sie bei ihrer Nan, dann kurz bei ihrem Dad.

„Nicole, meine Süße, es ist 10 Uhr. Ich würde mal den Laden aufsperren. Mr. Stone bekommt einen Herzkasper, wenn er nicht um Punkt zehn ein Buch kaufen kann.“ Alex ist aus den Tiefen der Buchhandlung aufgetaucht, nimmt Sir David auf den Arm, der auf Nicoles Schoß eingeschlafen ist und pikst die Freundin in die Schulter. Nicole schreckt aus ihren Erinnerungen und Träumen hoch. „Sagtest du Mr. Stone?“ „Ja, schau mal, er glotzt schon zum Fenster herein.“ Nicole stöhnt. „Ich dachte, ich bin Buchhändlerin! Sollte wohl eher ein Schild raus hängen ‚Zuhörer, Psychiater, Lebensberater, Personal Coach, Beichtvater‘ oder so was.“ Alex lacht und kuschelt mit dem gelben Kater.

Mr. Stone ist ein regelmäßiger Kunde. Mit der Betonung auf regelmäßig, denn kaufen tut er so gut wie nichts. Er ist ein pensionierter Lehrer, dem langweilig ist, der gern mit Frauen schäkert, über die Labour Party schimpft und seinen Enkeln auf die Nerven geht. Jeden Morgen kommt er um Punkt 10 Uhr, im blauen Anzug, mit Hut auf dem noch dichten, schlohweißen Haar, in die Buchhandlung, um sich ein Buch empfehlen zu lassen, das er dann doch nicht kauft. Das Beratungsgespräch dauert eine halbe Stunde, dann sitzt er mit besagtem Buch im hellblauen Sessel, blättert darin, bis es Zeit ist, dass sein Essen auf Rädern geliefert wird und tapert wieder nach Hause, das Buch lieblos im Sessel zurück lassend. Mildred wird immer fuchsteufelswild und schimpft, dass sie persönlich dafür sorgen wird, dass er ins Heim kommt. Doch Mildred kommt heute erst später.

Nicole schließt auf. Sie weiß manchmal selbst nicht, woher sie die Geduld nimmt, die sie mit ‚Kunden‘ wie Mr. Stone oder anderen unverschämten Kunden hat. Vielleicht liegt es an Port Sunlight, weit weg von der Hektik Liverpools. Oder schwebt gar die positive Energie von Auntie Joanne noch immer in diesem Haus?

„Guten Morgen, Miss Nicole!“ Nicole hört es hinter sich kichern und stellt sich vor, wie Alex die Augen verdreht. „Guten Morgen, Mr. Stone.“ Nicole lässt ihn eintreten und wirft einen Blick nach draußen auf den Morgennebel. Er soll gegen Mittag einer strahlenden Sonne weichen, die, laut Wetterfrosch, den Oktober vergolden soll.

„Haben Sie das gehört, Miss Nicole? Wenn Labour an die Macht käme, würden alle Studenten ein Taschengeld von der Regierung bekommen.“ „Das ist doch eine nette Idee“, meint Nicole und stellt sich hinter die Theke, auf der sie ihre Lieblingsbücher der Woche ausgelegt hat sowie Stapel von Broschüren, ‚Bücherwürmer‘ aus Stoff und eine Schachtel mit Herbstpostkarten. „Bah! Haben wir damals Unterstützung bekommen? Arbeiten gehen, das musste man nebenher und wenn das nicht reichte, war‘s das mit dem Studium. Heute sollen Hinz und Kunz studieren. Und wer kam als erster mit solchen Ideen an? Tony Blair, ha!“

Nicole muss sich zurückhalten um nicht zu kichern und um die etwas verschrobenen Geschichtskenntnisse des alten Herrn nicht zu korrigieren. Sie fragt deshalb ganz ernst: „Wie kann ich Ihnen denn helfen?“ „Mir? Sie können mir helfen, wenn Sie meinen Enkeln beibringen, dass Computerspiele dumm machen und sie sich lieber an Sir Walter Scott halten sollen.“ „Das heißt, Sie suchen ein Buch von Scott?“ „Unsinn! Ich suche ein Buch über den Falkland Krieg.“

In diesem Moment wird die Tür schwungvoll aufgerissen und eine Dame in flatterndem Cape, das so grau wie ihre Löckchen ist, stürmt herein. Mildred.

„Nicole, luv, ich bin doch schon fertig geworden!“ Die Dame hält inne, als sie Mr. Stone sieht und kneift die Augen zusammen. „Stehlen Sie schon wieder die Zeit einer vielbeschäftigten Buchhändlerin?“, raunzt sie ihn an. „Na, hören Sie mal! Ich will ein Buch kaufen!“ „Wenn Sie das denn mal täten…“, grunzt sie verärgert und rauscht nach hinten in ‚The Room‘, das Zimmer, das als Aufenthaltsraum, Lager, Büro, Besprechungszimmer, Mittagsschlafraum und Miniküche dient.

Nicole amüsiert sich im Stillen und geht nach rechts zu den historischen Sachbüchern, um nach einem geeigneten Buch zu suchen. Krieg, Politik, Geschichte, das hat sie alles in diese Ecke verbannt, denn sie findet solche Bücher furchtbar langweilig und ist der Meinung, ein guter Roman oder ein berührendes Gedicht können Menschen glücklich machen und bereichern. Aber Mord und Totschlag im 16. Jahrhundert, wegen einem bescheuerten Stück Land? Wie kann jemand Trost und Erbauung bei so etwas finden?

Doch Mr. Stone soll sein Buch haben, sich damit in den Sessel setzen, dann hat die liebe Seele ihre Ruh, und sie hat ein gutes Werk getan. Wenn es ihr schon so gut ergangen ist mit diesem Laden, sollen andere auch glücklich sein. Alex und Mildred sehen das anders, aber Nicole ist der Boss, Punktum.

Da kommt sie auch schon zum Verkaufstresen, die liebe Mildred, mit einer Tasse Tee. Sie wird wie ein Wachhund über das Kommen und Gehen in der Buchhandlung wachen. Mit ihren 70 Jahren könnte sie gemütlich in ihrem Cottage sitzen, Kürbisse züchten oder sich die Nachmittagssonne auf den Bauch scheinen lassen, doch sie denkt, sie ist es ihrer alten Freundin und Chefin Joanne schuldig, hier nach dem Rechten zu sehen und die Nichte bei ihrer Arbeit zu unterstützen.

Nicole bringt dem alten Herrn das gewünschte Buch und lässt ihn zu seinem Sessel tapern, vor sich hinmurmelnd und Sir David verscheuchend. Der Kater lässt sich nicht verunsichern, springt auf die Rückenlehne und drapiert sich dort ausgestreckt hin wie auf einem Berggipfel.

„Also wirklich, dieser Mensch ist unverschämt!“, poltert Mildred, als Nicole zu ihr hinüber geht und den Ständer mit den Postkarten etwas verschiebt. „Joanne hätte...“ „Auntie Joanne, mit ihrem weichen Herzen, hätte ihm eine Tasse Tee gekocht und ihm eine Blume geschenkt“, sagt Nicole sofort. „Aw, Mildred, sei nicht so streng!“ „Ihr Forster-Frauen seid unmöglich“, lächelt Mildred und drückt Nicole kurz an sich. Die Türglocke bimmelt und unterbricht das Gespräch. Außerdem hat Nicole die bestellten Bücher noch immer nicht ausgepackt und sollte dies schleunigst tun.

Sie lässt Mildred mit der Kundschaft zurück und geht zu den Transportbehältern in ‚The Room‘, vorbei an Alex‘ Schoko & Tee Ecke. Bevor sie die erste Box öffnet, lässt sie einen tiefen Seufzer los. Sind die Forster-Frauen wirklich zu soft und zu freundlich? Aber … warum auch nicht?

Sie denkt an ihre Auntie Joanne, und jetzt spürt sie, wie es ihr warm ums Herz wird. Ja, die liebe alte Dame ist noch immer hier in diesen Räumen, und es kommt Nicole vor, als ob Joanne lächeln und schmunzeln würde über alles, was in ihrem ehemaligen Laden vor sich geht. Ein Blumenladen war es, voller duftender Bottiche und Eimern mit den schönsten Schnittblumen, aus denen Joanne wunderschöne Bouquets zusammenstellen konnte. Sie war so eine kreative Frau! Ihre Gestecke waren heißbegehrt bei Hochzeiten, Geburtstagen oder feierlichen Anlässen in der großen Fabrik. Außerdem gab es ein Gewirr von grünen Topfpflanzen in allen Größen, wie in einem Dschungel.

Als Nicole klein war, liebte sie es, sich zwischen den Pflanzen zu verstecken und von anderen Welten zu träumen. Mal war es ein Urwald, in dem sie Angst vor dem Tiger hatte, dann wieder war sie eine Fee inmitten einer Blumenwelt.

Ihre Tante hatte sie mit in die Lady Lever Art Gallery genommen und ihr die Gemälde gezeigt, hauptsächlich Präraffaeliten. Sie fand die Frühlingsgöttinnen mit dem Füllhorn und den Blütenblättern, die sie ausstreuten, so toll und wollte das nachspielen. Als Füllhorn diente eine Vase, die Blütenblätter waren schnell zur Hand. Mildred hatte gezetert und gebollert, als sie die Blumenstängel ohne Köpfe und die ausgestreuten Rosenblätter sah. Doch Joanne hatte nur gelacht und gemeint: „Das hat man nun davon, wenn man die Kinder für Kunst begeistern will!“ Ja, Mildred war auch damals schon im Laden gewesen, als Floristin und Verkäuferin. Die Liebe zu Blumen verband Chefin und Mitarbeiterin, und so wurden sie im Lauf der Jahre enge Freundinnen.

Dann wurde Joanne krank. Sie war gerade mal 70. Die Krankheit fraß sie binnen weniger Monate auf. Sie konnte nicht mehr allein in ihrer kleinen Wohnung über dem Laden bleiben und musste in ein Heim. Nicole besuchte sie regelmäßig, doch das Schicksal war unbarmherzig. Es ließ Tante und Nichte kaum Zeit, sich richtig zu verabschieden, über Vergangenes zu plaudern, in Erinnerungen zu schwelgen, geschweige denn über eine Zukunft zu sprechen, die es für Joanne Forster nicht geben würde.

Die letzten drei Wochen konnte Joanne nicht mehr viel sprechen und dämmerte im Morphiumrausch vor sich hin, doch Nicole war bei ihr, hielt ihre knochigen Hände fest, die so viel Schönes aus Blumen gezaubert hatten. Der Abschied war kurz, und während Nicole bittere Tränen vergoss, war sie doch froh, dass es am Ende schnell ging und ihre Auntie nicht so lange würdelos vor sich hin dämmern musste.

Ihre einzige Verwandte …Ja, ihre Mutter gab es wohl noch, irgendwo da draußen. Eine alte, abgetakelte, dem Alkohol verfallene ehemalige Schauspielerin, die sich nie großartig um ihre Tochter gekümmert hatte. Nicoles Dad? War aus ihrem Leben verschwunden, als sie 16 war und er nach vielen Jahren eine Frau mit drei Kindern fand, die er heiratete. Von seiner eigenen Tochter wollte er dann nichts mehr wissen. Ob die Ehefrau das so wollte? Nicole weiß es nicht. Ihr Dad war nie ein guter Dad gewesen, war schon früh ausgezogen und hatte Nicole seinen Eltern überlassen, wenn Nicoles Mum auf Tournee war.

Ihre Großeltern waren nett, lieb, wunderbar, aber schon damals uralt, als sie ein Teenager war, und starben dann auch recht bald. Auntie Joanne war ihre wahre Familie gewesen. Die Mum, die sie sich immer gewünscht hatte, wenn sie die Mums ihrer Mitschüler betrachtete.

Es war hart, als Joanne so krank wurde, dass Nicole, selbst wenn sie es nicht wahrhaben wollte, wusste, dass sich hier ein Abschied für immer anbahnte. Noch einer. Die letzten Jahre waren für sie nicht so überragend gewesen. Nach 8 Jahren Ehe hatte sie sich von John getrennt. Dieser ehemals zärtliche, abenteuerlustige, kreative Mann war ein mürrischer Banker geworden, der nicht mehr ausgehen wollte, weder im Liverpooler Nachtleben, noch verreisen. Nur zu Hause am Computer, die Börse verfolgen, Aktien kaufen und verkaufen bis spät in die Nacht. Verschanzt in seinem Arbeitszimmer mit Bildschirmen, Kabeln und einer Pizza aus dem Karton. „Was hast du denn, Nicci?“ (Sie hasste es, wenn er sie Nicci nannte!) „Du hast doch alles. Ich verdiene gutes Geld, du bräuchtest nicht mal in dieser dämlichen Buchhandlung die dämliche, kleine Verkäuferin spielen. Wir können das alte Zeug hier aus der Wohnung werfen und Designerstücke kaufen.“ „Wozu? Ich fühle mich wohl auf meinem Samtsofa. Und mir kam es bis jetzt so vor, als würdest du das auch tun.“ „Wer auf dem Sofa liegt, verdient nichts. Ich muss die Kurse im Auge behalten.“ „Was willst du dann mit Designermöbeln?“ „Meinen Erfolg sehen, he, he, und bei unseren Freunden gut angesehen sein.“ Was für Freunde? Die Freunde aus Uni-Tagen waren immer auf Achse, in den vielen Liverpooler Pubs, im Theater, flogen auf den Kontinent oder nach Afrika, gaben oder besuchten Partys. Nicole hatte einige beste Freundinnen übrig behalten, und natürlich Alex und Stan aus Port Sunlight, mit denen sie quasi aufgewachsen war in den vielen Wochen, die sie bei Joanne verbracht hatte.

Johns Freunde, die nun auch ihre waren, hatten sich zurückgezogen, denn für John gab es kein Thema mehr außer der Bank und der Börse. Und dann seine miese Laune, wenn irgendein Nasdaq oder TechDax in den Keller gegangen war.

Nicole war mit ihren Freundinnen ausgegangen oder hatte sich in ihren geliebten Büchern vergraben, bis sie zu überlegen begann, wozu sie einen Mann brauchte, der an nichts außer Zahlen Interesse hatte. Als auch noch Computerspiele dazu kamen („Wenn ich zehn Minuten auf die neuesten Quotationen aus New York warten muss, kann ich mir ja die Zeit vertreiben und ein bisschen zocken...“), war auch die letzte Chance auf romantische Abende zu Hause (an Ausgehen dachte Nicole schon gar nicht mehr) dahin. Sie reichte die Scheidung ein. John schien das nicht zu stören. Völlig unbekümmert packte er seinen Computer und die teuren Anzüge ein und verschwand ohne allzu großes Bedauern.

Nicole konnte das gut verschmerzen. Der „alte“ John hatte sich sowieso langsam und schleichend verabschiedet. Doch Auntie Joannes Tod traf sie hart. Trotz ihrer lieben Freunde fühlte sie sich auf einmal furchtbar allein. Wie die letzte Menschenseele auf der Erde. Als sie erfuhr, dass sie das Haus mit der Wohnung und dem Blumenladen erben würde, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie würde das Haus im Leben nicht verkaufen, aber was sollte sie damit anfangen? Vermieten, selbst einziehen, umbauen? Undenkbar! Alles sollte so bleiben wie immer, wie der sichere Ort, der das Haus in ihrer Kindheit war.

Das Leben plante es anders. Die Liverpooler Filiale der Waterstone‘s Buchhandelskette, in der Nicole arbeitete, wurde geschlossen. Nicole bekam eine Abfindung, und wenn nun schon alles hinüber war, was ihr Leben ausgemacht hatte, konnte sie auch ganz neu beginnen. Mit ihrer Abfindung und dem Haus von Joanne würde sie sich den Traum einer eigenen Buchhandlung erfüllen können.

Die Unkenrufe ihrer Freunde ließen nicht lange auf sich warten. „Waterstone‘s schließt, weil keiner mehr liest oder im Internet bestellt, und du machst in einem kleinen Ort eine Buchhandlung auf. Entweder liegt es am Sexmangel oder du bist wirklich übergeschnappt“, hatte ihre Freundin Jennifer gestöhnt.

Nicole war es egal, sie hatte nichts zu verlieren. Mit 40 war sie noch jung genug, etwas Neues zu beginnen, und die Idee, im idyllischen Port Sunlight, im vertrauten Laden ihrer geliebten Tante, eine Buchhandlung zu betreiben, hatte sie so beflügelt, dass es kein halbes Jahr gedauert hatte, bis das Geschäft eröffnet werden konnte. Ganze vier Monate besteht die Buchhandlung ‚Sir David‘s World of Books‘ nun schon und von Anfang an wurde sie gut besucht. Anscheinend ist man im beschaulichen Port Sunlight lesehungriger als in der benachbarten Großstadt.

„Ich vermisse dich, Auntie Jo, aber du hast mir mit dieser Buchhandlung einen Traum erfüllt. Manchmal könnte ich wetten, du hast vorausgesehen, was ich mit dem Laden mache“, murmelt Nicole vor sich hin und trägt einen Schwung Bücher in den Verkaufsraum.

Puh, heute reicht es mit den Tagträumen, sonst wird sie niemals mit ihrer Arbeit fertig, und Mildred kann sie auch nicht den ganzen Verkauf zumuten.

Fröhlich trägt Nicole die bestellten Bücher in das dafür vorgesehene Regal hinter der Kasse und lächelt, weil Mildred einer alten Dame ‚50 Shades of Grey‘ verkauft. Tja, alte Damen scheinen sich heutzutage nicht mehr mit Jane Austen oder Agatha Christie zu begnügen.

Nicole will schon den nächsten Stapel einsortieren, da ertönt ein lautes Bamm!! Die alte Dame und zwei andere Kunden erschrecken sich fast zu Tode, doch Nicole seufzt nur: „Oh Squeaky ...Ja, du hattest heute noch nicht genug Aufmerksamkeit...“

Sie läuft am Plüschsessel mit einem lesenden und vor sich hin brummelnden Mr. Stone und Sir David im Schaufenster vorbei, lässt die Regale mit Krimis, Frauenbüchern, Neuerscheinungen und Klassikern hinter sich, zwängt sich an all den vollgestopften hellblauen Regalen vorbei in die Ecke. (Die hellblauen Regale, den himmelblauen Boden und die hellblauen Sitzgelegenheiten fanden ihre Freunde übrigens auch bescheuert…) Hinter James Joyce, Jenny Colgan und Ian McEwan steht ein riesiges begehbares Gehege, in dem ein grauer Chinchilla sitzt und Nicole vorwurfsvoll anschaut: „Squeaky, du hast recht, ich träume heute zu viel. Ich weiß auch nicht, warum gerade dauernd die Vergangenheit lebendig wird. Ich weiß, du willst deine morgendliche Hagebutte.“ Nicole holt eine getrocknete Butte aus einer Tüte, worauf das Tier auf ein Sitzbrett neben der Gehegetür springt und die Pfötchen hinhält. Nicole nimmt es vorsichtig auf den Arm, vergräbt ihre Nase in seinem Fell und hält ihm die Butte hin, die es gierig beknabbert und verschlingt, während es mit den Hinterbeinen auf Nicoles Arm sitzt. Nach diesem zweiten Frühstück ist alles gut; Squeaky kann wieder seinen Chinchilla-Angelegenheiten nachgehen. Er wirft Nicole noch einen Blick zu, der besagt: „Wenn sich hier sonst nichts tut, werfe ich wieder Spielzeug vom oberen Brett und erschrecke deine Kunden.“

Squeaky kam aus dem Tierheim, in dem Alex einmal pro Woche als Freiwillige arbeitet. Da er sich nicht wie ein normaler Chinchilla verhielt, wurde er von den Besitzern von den anderen Chinchillas getrennt und ins Tierheim gegeben. Squeaky ist tag- statt nachtaktiv und mag keine Chinchillas. Alex wusste, dass sich Nicole aller annimmt, die irgendwie verschroben sind, merkwürdige Probleme haben, Outsider eben.

Erst kurz davor hatte sie ihr Sir David mitgebracht, eine zerzauste gelbe Babykatze, die jemand aus einer Mülltonne gefischt hatte. Zusammen hatten sie das Tierchen aufgepäppelt.

Und dann der Chinchilla. Katzen und Chinchillas vertragen sich nicht. Doch Nicole brauchte sich um den Nager keine Sorgen zu machen. Die Neugier der Babykatze endete mit schmerzhaften Nagezähnen in der Nase, viel Blut und Tierarzt. Seitdem hat der Kater eine Heidenangst vor Squeaky und kommt ihm keinen Meter zu nahe.

Als sie in die Buchhandlung einzogen, bekam Squeaky dort sein großes Gehege, denn wenn er schon tagaktiv ist, kann er auch an Nicoles Leben teilhaben und für neue Kundschaft sorgen. Eine Buchhandlung mit Katze mag vorkommen, doch mit einem Chinchilla, das ist schon etwas Besonderes.

Stan hatte das Gehege gezimmert und aufgebaut und meinte, dass Squeaky für jeden Kunden, den er in die Buchhandlung lockt, eine Butte oder eine Rosine bekommen sollte.

Nicole steckt noch einmal den Finger durch das Gitter, um sich von der kleinen rosa Nase beschnüffeln zu lassen und kann dann endlich ihrer Arbeit nachgehen.

Nicht ganz. Eine Frau sucht Bilderbücher für ihre Enkel und kann sich ewig nicht entscheiden. Nicole steht in der Nähe des rechten Schaufensters, durch das die ersten Sonnenstrahlen fallen, und zieht noch mehr Bücher hervor, von Peter Rabbit und anderen Tierchen. Immer, wenn sie weitergehen will, verlangt die Dame noch etwas anderes zu sehen. Wirklich, seit sie in Port Sunlight wohnt, hat Nicole eine Engelsgeduld. Alles ist so ruhig, entspannt, beschaulich. Ob die historischen Häuser, die Bilderbuchidylle dafür verantwortlich sind?

Nicole hat nun endlich die Bücherkisten ausgeräumt und kann sich auf ihre Lieblingsarbeit konzentrieren: den Kunden Bücher empfehlen, sie für bestimmte Romane begeistern, über Neuerscheinungen plaudern, ihre Liebe zu Büchern mit anderen teilen.

Dabei sieht sie so ganz anders aus als der klischeehafte Bücherwurm: immer im Miniröckchen, heute in ihrem Lieblingsoutfit orangener Mini, hellblaues Top und hohe weiße Stiefel mit sehr hohen Absätzen, die Augen zu Katzenaugen geschminkt, orangener Lippenstift und die langen blonden Haare zu einem Knoten gedreht, der sich sowieso gleich wieder lösen wird.

Mildred ist heute in Quassellaune, will Nicole den Dorfklatsch mitteilen, doch es kommt immer wieder Kundschaft, und mittags wird es nicht besser. Im Park gleich hinter dem Haus fand ein Zeichenkurs statt, deshalb kommt nun ein Schwung Damen und fällt über das schmale Regal mit den Kunstbüchern und Bildbänden über berühmte Gemälde her. In der großen Fabrik ist Mittagspause, und während einige Mitarbeiter zu den Tea Rooms oder in den Park strömen, haben andere die Buchhandlung für sich entdeckt, genauer gesagt den hinteren Teil, wo zwei kleine hellblaue Tische stehen und Alex verschiedene Tees ausschenkt und eine große Auswahl ihrer selbstgemachten Pralinen, Schokoladenspezialitäten und Marzipan-Kreationen anbietet.

Ihr gemeinsamer Freund Stan war es gewesen, der sie auf die Idee gebracht hatte. Alex hatte schon immer gern mit Schokolade gearbeitet, ihre eigenen Kreationen ausprobiert, die sie in der Konditorei, wo sie arbeitete, nicht anfertigen konnte. Immer nur Standardproduktion. Stan meinte, bei den staubigen Büchern bekäme man einen trockenen Hals, deshalb hätten viele Buchhandlungen auch eine Tee- und Kaffee-Ecke. So was bräuchte Nicole auch, und dann könne ja Alex ihre Schokospezialitäten anbieten.

Die Girls hatten zu bedenken gegeben, dass die Tea Rooms nebenan Port Sunlight bestens versorgten und in den Museen gäbe es auch Muffins und Kuchen. „Ja, Muffins, Scones, alles für den High Tea. Aber keine Schokolade. Außerdem hält es die Kundschaft länger im Laden. Nicole, bei Waterstone‘s hattet ihr doch auch das große Café.“ Nicole war von der Idee begeistert gewesen, Alex dagegen musste lange überredet werden. „Was versteht ein Briefträger von Wirtschaft, Kunden und Konditorei?“, hatte sie gemault. „Nichts, deshalb kann er es ganz neutral und mit Bauchgefühl sehen!“ Und so war Alex zu ihrer Tee & Schoko Ecke gekommen, was sich schnell herumgesprochen hatte. Zwei leckere Pralinen zum Tee in der Mittagspause, ein Beutelchen zum Mitnehmen fürs Büro – es gab wohl keinen Tag, an dem abends viel übrig war.

Die neue Buchhandlung war schnell der Hit in Port Sunlight geworden, allein schon wegen der Schokolade, dem Chinchilla und dem süßen Logo mit dem Bücherwurm, den es auch als Plüschtier in allen Farben zu kaufen gibt.

Nicole hat gerade einen Roman von Ruth Rendell hübsch als Geschenk verpackt, als sie sieht, wie Mr. Stone zu ihr getapert kommt. „Nein, Miss Nicole, das ist kein gutes Buch. Lady Thatcher kommt hier gar nicht gut weg. Sicherlich ist der Schreiberling von Labour gekauft...“ Angeekelt lässt er das Buch auf die Theke plumpsen. Mildred fährt schon die Krallen aus, doch Nicole wünscht ihm einfach einen schönen Tag. „Weißt du, Mildred, jeder leckere Kuchen hat seine eklige Rosine. Man pickt sie raus und legt sie weg. So ist das mit dem alten Stone. Die Buchhandlung ist so perfekt geworden, wie ich es mir erträumt hatte. Aber eine Rosine muss drin sein, 100 % perfekt gibt es nicht.“ Mildred verdreht die Augen. „Du hast Vergleiche! Und mit den Rosinen, lass das mal nicht deinen Squeaky hören!“ Nicole lacht und schaut um die Ecke, wo der Chinchilla, der für Rosinen töten würde, die Bewunderung eines alten Herrn genießt.

Die Tür wird aufgerissen, so dass es Sturm bimmelt. „Stan! Ich dachte, du kommst heute gar nicht mehr.“ Der Briefträger wirft seinen langen blonden Pferdeschwanz zurück und grinst breit. „Viele Einschreiben heute, und bei den old dears musst du ein frisches Stück Kuchen probieren, ein Schnäpschen trinken, schnell die Katze festhalten, damit man ihr die Medizin einflößen kann. Ist doch wie bei euch, der Postie, der Buchhändler, der Apotheker, alle müssen sie die Probleme dieses Städtchens lösen.“ Nicole lacht und nimmt einen Stapel Briefe und kleine Warensendungen in Empfang. „Na komm, schauen wir, was Alex heute Gutes hat, und einen leckeren Tee hast du sicher auch nötig nach all den Strapazen.“ Sie zieht den Freund in die Tee Ecke und überlässt ihn der Obhut von Alex.

Sie selbst kann erst nach dem Mittagsandrang hoch in die Küche huschen, sich ein Sandwich zurecht machen und das dann hinten bei Alex mit einem starken Assam Tee verspeisen.

Ach, Alex und Stan … ewig kennt sie die beiden schon. Sie sind auch um die 40 und wohnten hier in den schmucken historischen Fachwerkhäusern neben ihrer Tante. Wobei, viele Häuser in Port Sunlight sind historisch und haben dunkle Holzbalken, fast so wie im mittelalterlichen Stadtkern von Chester. Shakespeare könnte jeden Moment um die Ecke kommen.

Etwas mit Alex und Stan unternehmen, das waren Nicoles Tage in Port Sunlight gewesen. Wenn sie nicht bei Auntie Joanne im Laden spielte oder sich von den Blumen verzaubern ließ, erkundete sie mit den Freunden den Ort, tollte mit ihnen durch den Park mit seinen verwunschenen Weidenbäumen und den Narzissenteppichen im Frühling, jagte den Eichhörnchen hinterher, die es dort immer noch massenhaft gibt, oder versuchte, sie zu füttern. Unter der Brücke des Parks Verstecken spielen. Versuchen, nicht in den Teich zu fallen. Bei Stans Mum Schokomuffins futtern oder oben in Auntie Joannes Wohnung lesen und die Geschichten mit Stofftieren und Barbies nachspielen.

Natürlich hatte Nicole Freundinnen in Liverpool gehabt, aber in der Stadt gab es keine romantischen Ecken, in denen man seine Phantasie gebrauchen konnte, und die Gangs der 14-jährigen waren ziemlich gruselig, so dass man oft lieber zu Hause blieb.

Stan fühlte sich bei den beiden Girls wohl und mochte ihre Spiele, obwohl er von den Jungs aus seiner Klasse dafür gehänselt wurde. „Stan ist schwul“, hatte Auntie Jo einmal gesagt, und die kluge, weise Frau sollte recht behalten. Sie hatte es wahrscheinlich sogar eher bemerkt als Stan selbst.

Auch als Teenies waren sie alle dicke Freunde geblieben, selbst nach Nicoles Studium und nachdem Alex geheiratet hatte. Was für eine Freude war es gewesen, als Nicole die Buchhandlung plante und nach Port Sunlight zog! Nun konnten sie wieder zu dritt, wie in alten Sommern, verrückte Sachen aushecken, mit ein paar Flaschen Wein einen Abend lang diskutieren und die Welt retten, sich bei Liebeskummer etwas vorheulen. Die bewährte Dreierkonstellation mit einer Blonden, einer Brünetten und Stan als Hahn im Korb in der Mitte.

Natürlich wurde es kein Teenager Revival, jeder war erwachsen, in den 40ern, hatte einiges erlebt, seinen Weg gefunden (oder auch nicht). Alex war glücklich mit dem ‚Dorfarzt‘ verheiratet und hatte nun jede Menge zu tun mit ihrer eigenen Schokoladenmanufaktur; Stan hatte seine gebrechliche Mum zu Hause und war dadurch nicht mehr so unabhängig und Nicole verbrachte quasi ihr ganzes Leben in der Buchhandlung. Trotzdem war es schön, die Freunde in der Nähe zu wissen. Das war alles so vertraut. Noch ein Grund, warum sich Nicole so schnell eingelebt hatte und warum alle schnell die Buchhandlung der Nichte ‚von unserer Jo‘ unterstützten.

Man hatte die kleine Nicole, die mit einem Blumenkranz im Haar auf der Theke im Blumenladen saß, also nicht vergessen.

Alex stupst Nicole. „Süße, ich bin fertig für heute. Muss los, damit du morgen wieder ein paar Trüffelchen für deine Kunden hast, he, he.“ Sie schiebt Nicole ein Nougatherzchen in den Mund. „Lecker! Und was machst du Schönes für morgen?“ „Verrate ich nicht. Zitrone. Mehr sage ich nicht.“ Nicole schmollt kurz, dann steht sie von ihrem hellblauen Stuhl auf und umarmt die Freundin. „Mach‘s gut, und drück Phil von mir. Vielleicht können wir ja am Sonntag was zusammen machen.“ „Super, sag ich ihm.“ Mit Plastkbehältern und Schüsseln beladen wankt sie zu ihrem alten Ford.

„Ist Neil schon da?“ ruft Nicole in den Laden. „Mau!“, macht Sir David, umstreift ihre weißen Stiefel und drapiert sich wie eine Sphinx im Schaufenster hin, denn die Sonne wärmt hier ordentlich. „Der Kater hat recht, hier bin ich“, grinst Neil, ein 19-jähriger Student und Bücherwurm, der oft in der Schoko Ecke aushilft, wenn Alex nach Hause gegangen ist, um neue Pralinen herzustellen, oder Bücher verkauft, wenn Nicole Besorgungen machen muss. Er weiß trotz seiner jungen Jahre so viel über Bücher und Autoren, dass man meinen könnte, Buchstaben und Gedichte waren in seiner Muttermilch gewesen. Auch er widerspricht dem Klischee des Bücherwurms und Nerds. Keine Pickel und dicke Brille, sondern ein attraktiver junger Mann mit verwuschelten blonden Haaren und coolen T-Shirts von Heavy Metal Bands. Was wiederum die jungen Mädels so nach und nach in die Buchhandlung lockte. Seit Nicole Neil eingestellt hatte, musste sie die Vorräte an Vampir-Lovestorys und Pferdebüchern erhöhen und Jennifer Dugan ins Sortiment aufnehmen.

Neil kann auch die alten Damen gut versorgen. Sie liegen ihm zu Füßen und himmeln ihn an. Nicole grinst, weil genau das schon wieder passiert. Diesmal ist es Mrs. Allen, die jeden Morgen in den Tea Rooms verbringt, einmal durch den Park spaziert, sich dann eine Praline aussucht und im breitesten Scouser Dialekt davon schwärmt, dass nun ihr Tag gerettet und sie fit genug sei, sich um den alten Miesepeter von Mann zu kümmern, der den ganzen Tag nur Fußball im Fernsehen schaue. Neil hakt sie unter und führt sie zur Schokoladenvitrine.

Wie schön es doch ist, Stammkunden zu haben, den Leuten dann auch im Dorf wieder zu begegnen. Bei Waterford‘s in Liverpool gab es auch Leser, die immer wieder kamen, Menschen, mit denen Nicole tolle Gespräche über Literatur führen konnte, aber letztendlich ging es mehr um Umsatz und Profit. Klar, in Port Sunlight hat das Ganze manchmal nichts mehr mit Büchern zu tun, doch wenn man für Mrs. Goldsmith einkaufen geht, wenn sie krank ist, oder Mr. Davidsons Hund aus dem Waschkeller befreit, das bildet einen Gemeinschaftssinn, den es in der großen Stadt nicht gibt, der aber wie ein Bumerang zurück kommt. Wenn die Wasserleitung ein Loch hat, kommt eben Mrs. Goldsmiths Neffe Tony, der das für eine Tasse Tee erledigt.

Nicole streichelt kurz Sir David, der sich immer noch in der Sonne aalt und zuschaut, wie sich die Blätter von den Bäumen lösen und langsam zur Erde schweben. Es muss inzwischen fünf Uhr sein, denn einige Arbeiter und Angestellte der großen Fabrik streben dem Eingang zur U-Bahn-Station gegenüber zu, während andere in den Ort strömen. So manch einer braucht noch ein Geschenk für die Ehefrau und entscheidet sich für ein Buch. Dann ist Nicole in ihrem Element, denn sie muss nur ein paar Angaben zu der entsprechenden Dame haben und hat sofort einige Buchvorschläge von ihrer persönlichen Lieblingsliste parat.

Der nette junge Mann, bis zum Hals tätowiert und mit dem breitesten Dialekt, packt zufrieden den Val McDermid Krimi in seinen Rucksack und nimmt noch einen gelben Bücherwurm mit für den Junior.

So langsam wird es ruhiger. Mildred packt schon ihre Sachen zusammen, meckert über JoJo Moyes‘ ‚unmögliche Bücher‘ und verkündet, dass sie gerade zum 16. Mal „Stolz und Vorurteil“ liest. Neil prustet los und Squeaky beginnt ein irres Gehopse, springt gegen die Gehegewände, drückt sich ab, nutzt den Schwung für den Sprung auf ein Sitzbrett, wieder gegen die Wand und nach oben. „Mildred, selbst das Tier merkt, dass bei dir etwas nicht in Ordnung ist“, sagt Neil fröhlich.

„Ich schmeiße euch jetzt alle raus, damit ich endlich mal zum Lesen komme“, meint Nicole und scheucht sie vor sich her. „Ja, ja, so ein Leben müsste man haben. 24 Stunden in einer Buchhandlung sitzen und lesen. Ich glaube, ich gebe das Studium auf“, grinst Neil. Dabei wissen alle, dass sich Nicole jetzt zunächst an den Schreibtisch setzen und ‚administrativen Kram‘ erledigen muss.

„Bis morgen!“, rufen Mildred und Neil, und Nicole schließt hinter ihnen ab. Ruhe, endlich! So sehr sie ihre Freunde und Kunden liebt, die Stille in der Buchhandlung ist sehr angenehm und erfrischend.

Sie geht zu Squeaky und öffnet die Gittertür. Er sitzt auf dem mittleren Brett und hopst ihr schon entgegen. „Das haben wir also wieder geschafft, Squeaker, nicht wahr?“ Der Chinchilla schmiegt sich an sie und lässt sich vorsichtig streicheln, dann krabbelt er auf ihre Schulter, zieht an ihren Haaren, die natürlich schon längst wieder lang herunterhängen, knabbert an ihren Ohr. Sie genießen beide diese Spielstunde, nur Sir David schaut missmutig und mit großem Abstand zu. „Davylein, du kommst auch noch dran“, lacht Nicole und küsst Squeaky die Pfötchen. Dann mistet sie kurz seinen Käfig aus, geht nach oben, um sich eine Tasse Tee und ein paar Früchte zu holen. Mist, um richtig zu kochen wird heute wieder keine Zeit sein. Inder oder fasten? Lecker versus gute Figur? Später… Sie schleicht durch die dunkle Buchhandlung, in die nur das Licht der Straßenlaternen oder eines vorbeifahrenden Autos eindringt. Hinten in ‚The Room‘ plumpst sie an den Schreibtisch und erledigt zähneknirschend die unschönen Seiten des Buchhändlerlebens: Buchhaltung, Rechnungen und was Stan sonst noch an Unangenehmen brachte. Zum Glück hilft Mildred ihr manchmal, doch was soll sie denn noch alles von der alten Freundin verlangen?

Sir David schleicht wieder um ihre Beine und sie nimmt ihn hoch, setzt ihn auf den Schreibtisch. „Mau!“ „Ja. Hier bleiben! Nicht auf den Schoß, sonst gibt es Laufmaschen. Hier kannst du auch faulenzen.“ „Mau!“ Nicole streichelt ihn, fährt fort mit der ‚unnützen‘ Arbeit und ist froh, als dann alles erledigt ist. Sie schaut noch mal durch den Laden, den Kater immer dicht hinter ihr sich. Nur bei den Klassikern hält er inne – zu nah bei Squeaky. Der kleine Graue schläft schon, liegt auf der Seite auf einem Sitzbrett, die langen, känguruartigen Hinterfüße weit von sich gestreckt. Die Schnurrhaare zucken leicht im Traum. „Gute Nacht, Sweetie“, flüstert Nicole und geht auf der schmalen Holztreppe hinter der Kasse hoch in ihre Wohnung. Sir David stakst würdevoll ins Wohnzimmer und setzt sich wie eine Statue auf das Sofa, nach dem Motto: „Hier herrsche ich, und kein dummer Chinchilla stört mich dabei.“

Nicole ruft den Inder an. Er soll ein Blumenkohl Curry bringen und einen Mango Lassi. Alex, die so gern und perfekt kocht und backt, würde nur die Augen rollen, aber Nicole hat keine Lust, sich an den Herd zu stellen, wenn es draußen neblig und kalt ist und man sich besser mit einer heißen Schokolade und einem Buch in die Badewanne oder aufs Sofa legen könnte.

Sie schaut hinaus in den Nebel, wo alles so still und friedlich erscheint. Als eine Postkartenidylle wird Port Sunlight oft beschrieben. Sie empfindet das auch so. Aber ist das wirklich wahr? Spielen sich hinter den Backsteinmauern und Fachwerkbalken nicht die gleichen Dramen ab wie 20 Minuten weiter in Liverpool? Gibt es in der heutigen Zeit überhaupt eine heile Welt?

„Ja!“, schreit sie so überzeugt, dass der Kater erschrocken einen Satz macht. Auntie Joanne, Mildred, die Bewohner von Port Sunlight, Stan, der bei seiner Postrunde einen Likör mit einer Omi trinkt; sie alle tragen dazu bei, die Welt ein Stückchen liebenswerter zu machen. Sie hofft, dass ihre Buchhandlung auch einen Beitrag dazu leistet.

Nicole lässt sich an dem schmalen Esstisch nieder. Natürlich ist auch hier in der Wohnung fast alles hellblau, mit hier und da einem Tupfer orange. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ihre Freundin Jennifer alte, braune Möbel (von Joanne) so gut abschleifen und lackieren konnte. Stan hatte ihre Bücherregale (in hellblau!) in einem Lieferwagen der Royal Mail von Liverpool hierher transportiert, noch guter Laune, bis er sah, wie viele Bücherkisten die schmale Treppe des uralten Hauses hochzuwuchten waren. „Zu was brauchst du die? Zum Teufel, du eröffnest eine Buchhandlung! Sind das nicht Bücher genug?“ „Stanley Fox, du bist ein lieber Kerl, aber von Büchern verstehst du nicht viel. Sei froh, dass dich die Büchersucht nicht gepackt hat!“ „Ja, rauchen und Bier trinken nimmt wenigstens keinen Platz weg“, hatte er gebrummelt.

Der Inder kommt und liefert köstlich Duftendes, so dass Sir David vehement davon vertrieben werden muss. „Nein, luv, kein Curry im Katzenbauch. Dr. Turner hat schon genug an dir verdient.“ Beim Namen der Tierärztin legen sich Sir Davids Ohren nach vorn. Wenn Blicke töten könnten…

Nicole stellt ihm sein Lieblingsfutter auf den orangenen Küchenboden und verschmaust ihr Curry, liest dabei einen fetten Schmöker von Umberto Eco. So ein Abend in der kuscheligen kleinen Wohnung tut gut, besonders, wenn draußen alles so kalt, nass und herbstlich ist. Mist, es ist Anfang Oktober und noch immer keine Halloween Deko im Laden. Sie springt auf, greift einen der vielen Notizblöcke und Stifte, die überall verteilt liegen, und notiert das sofort für morgen.

Dann macht sie sich eine heiße Schokolade und legt sich mit dem Buch auf den Bauch. Sir David kringelt sich zu ihren Füßen ein. ‚Lesende Frau mit Katze‘, das wäre ein Ölgemälde, das gut in die Lady Lever Art Gallery passen würde.

Nicole genießt den Leseabend. Sie hat noch ein paar Vergissmeinnicht-Duftkerzen angezündet und all die kleinen täglichen Sorgen ausgesperrt.

Es knarzt und knirscht manchmal in dem alten Gebälk. Kein Wunder, das Haus ist sicher auch von 1888, eines der ersten, mit dem das Dorf gegründet wurde.

Es ist schon irre, ein ganzes Dorf aus dem Boden zu stampfen. Nicole liebt diese Geschichte und hat viel darüber gelesen und war ein paar mal im Lord Lever Museum, das gegenüber dem größeren Park mit seinen Fontänen und üppigen Blumen liegt.

Schon Auntie Joanne hatte ihr von Lord William Hesketh Lever berichtet, der Port Sunlight gründete und noch heute hier verehrt wird. Er besaß mit seinem Bruder die große Sunlight Seifenfabrik und wollte für seine Arbeiter ein Modelldorf bauen. So kaufte er einige Quadratmeilen des sumpfigen Gebiets neben seiner Fabrik, um dort den Ort zu errichten. Er war seiner Zeit um Jahrhunderte voraus, denn das körperliche und seelische Wohl seiner Arbeiter lagen ihm und seiner Frau sehr am Herzen. Sie sollten menschenwürdig leben, in ihrem eigenen Haus, mit Wasser, Heizung und ihrem eigenen Garten, um frisches Gemüse und Obst anbauen zu können. Der Lord führte den 8-Stunden-Tag ein, denn ein Arbeiter sollte auch Zeit für Bildung und Kultur, für die Förderung der Gesundheit haben.

So entstanden im Ort nicht nur die prächtigen Häuser im Tudorstil (und verschiedenen anderen Stilen; alles, was die britische Architektur aus mehreren Epochen zu bieten hatte), sondern auch ein Theater, Schwimmbad, die Konzerthalle, die Bibliothek. Ärzte und Lehrer, Sportvereine, alles war für die Sunlight Seifenarbeiter da, während ihre Kollegen in den großen Industriestädten wie Sklaven für einen Hungerlohn schuften mussten, während die große Kinderschar in einer kalten, verschimmelten Baracke an Typhus krepierte.

Lady Lever strickte Weihnachtsgeschenke für die Arbeiterfamilien und war sich für keine Hilfe zu schade. Vielleicht sind deshalb die Leute auch heute noch stolz darauf, bei der „Lever“ arbeiten zu können. In den historischen Häusern dürfen nun auch die Nachfahren der Arbeiter wohnen, auch wenn sie nicht selbst in der Fabrik arbeiten.

Nicole kuschelt ihren Kater und ist wieder einmal dankbar, in diesem hübschen Ort leben zu dürfen. Die großen Gärten, die Natur, die Parks, das ist alles wie aus einem Märchen für sie. „Uns geht‘s gut, du Katzentier, nicht?“ „Mau“, bestätigt Sir David und gähnt enorm. Zeit, um sich zurückzuziehen.

Kapitel 2

Samstagmorgen. Ganz Port Sunlight scheint auf den Beinen zu sein, denn alle möglichen Geräusche dringen in Nicoles Ohren, auch wenn sie sich die Decke in ihrem Himmelbett bis über die Ohren zieht. Auch noch eine Katzenpfote in den Haaren! „David, no lass mich einfach in Ruhe.“ Weiß dieses Tier am Ende, dass sie in einer Stunde die Buchhandlung öffnen muss? Nicole kriecht aus ihrem warmen Versteck und geht duschen. Schon wieder Oktobernebel. Gar nicht schlecht, das verheißt Sonne am Nachmittag. Vielleicht schließt sie eine Stunde früher und läuft noch eine Runde durch den Park.

Doch erst einmal Schönheitspflege, föhnen, schminken – und dabei dem Kater nicht auf die Füße treten. Er hat ein Talent dafür, im Bad immer am falschen Ort zu sein. Denn er liebt Wasser. Steigt am liebsten in die Badewanne, wenn das restliche Wasser abfließt. Nicole verdreht die Augen. Ein tagaktiver Chinchilla, der Chinchillas blöd findet, ein Kater, der Wasser liebt.

Falls sie sich jemals noch mal verliebt, was sie sich zur Zeit überhaupt nicht vorstellen kann, wen wird ihr das Leben dann vor die Füße werfen? Auch so einen Irren? Oh nein, mit Männern ist es genug fürs Erste. Jennifer, mit der sie heute Abend durch die Pubs ziehen will, wird sie zwar wieder verkuppeln wollen, doch im Moment reichen ihr zwei durchgedrehte Tiere völlig.

Sie setzt sich vor ihren Schminkspiegel im Schlafzimmer und malt Katzenaugen und schwungvolle Augenbrauen. Der Schminktisch und