So ist das nie passiert - Sarah Easter Collins - E-Book

So ist das nie passiert E-Book

Sarah Easter Collins

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Beschreibung

»Und wenn es eine andere Geschichte gibt, verschüttet unter der, die ich zu kennen glaube?«

Als Willa ein Teenager war, verschwand ihre kleine Schwester Laika spurlos. Auch über zwanzig Jahre später hat Willa die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Laika noch lebt. Hartnäckig sucht sie weiter nach ihr. Sie sehnt sich nach der Familienidylle, die mit Laika verloren zu sein scheint. Darüber vernachlässigt sie die Beziehungen zu den Menschen, die tatsächlich noch Teil ihres Lebens sind. Dann trifft sie auf einer Dinnerparty eine Frau, in der sie endlich ihre verlorene Schwester zu erkennen glaubt. Was als zwangloses Essen beginnt, wird zu einem denkwürdigen Abend, der alles verändert, was Willa von ihrem Leben zu wissen meinte.

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Seitenzahl: 456

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DASBUCH

Scheinbar idyllisch wächst Willa gemeinsam mit ihrer Schwester Laika auf. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein: Während Willa ruhig und folgsam ist, hat die eigenwillige Laika keine Angst davor, aufzufallen und anzuecken. Da verschwindet Laika plötzlich – und taucht nie wieder auf.

Mehr als zwanzig Jahre später hat Willa den Großteil ihres Lebens mit der Suche nach Laika verbracht. Ihre eigenen Träume sind dabei auf der Strecke geblieben. Jetzt, mit 38, ist sie mit einem Mann verlobt, der ihrem Vater ähnlicher ist, als sie zugeben will, und trauert um ihren bisher unerfüllten Kinderwunsch. Eines Abends wird sie einer Frau vorgestellt, von der sie überzeugt ist: Das ist ihre verlorene Schwester. Eine Begegnung, die Willa und alle um sie herum in ihren Grundfesten erschüttert. Was ist damals in ihrer Kindheit wirklich passiert? Waren da nicht schon immer Risse in der Fassade? Und was, wenn alles, was Willa zu wissen glaubte, auf Lügen gebaut ist?

Ein unvergesslicher Roman über das Rätsel Familie, die Trugbilder unserer Erinnerungen und die Hoffnung auf Versöhnung.

DIEAUTORIN

Sarah Easter Collins ist in Kent, England, aufgewachsen und hat in Exeter studiert, bevor sie nach Botswana und später nach Thailand und Malawi zog. Mit ihrem Sohn Luke, ihrem Mann und ihren zwei Hunden lebt sie heute in Exmoor. 2021 hat sie den Schreibkurs von Curtis Brown absolviert. Momentan belegt sie an der Universität von Oxford einen Kurs in kreativem Schreiben und ist ansonsten als Malerin tätig. Für ihre Bilder lässt sie sich von der Landschaft um sich herum inspirieren sowie von Erinnerungen an Orte, die ihr viel bedeuten.

SARAH EASTER COLLINS

SO IST DAS NIE PASSIERT

ROMAN

Aus dem Englischen von Beate Brammertz, Ute Brammertz und Carola Fischer

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel THINGSDON’T BREAKONTHEIROWN bei Viking Books UK, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 06/2024

Copyright © 2024 by Sarah Easter Collins

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München

unter Verwendung von Getty Images/Andrew_Howe;

Bridgeman Images/Granger

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31018-9V002

www.heyne.de

Für meinen geliebten Jungen

1  ABENDESSEN MIT FREUNDEN

ROBYN

Das Streichholz flammt im Halbdunkel unserer Küche auf. Als ich mich zu den Kerzen beuge, schlängeln sich Lichtstrahlen entlang der silbernen Linien der Schale, die den Mittelpunkt des Tischs bildet. Ich trete zurück und werfe einen letzten prüfenden Blick auf das Tischtuch, die Gläser, die Platzsets, die acht nicht zusammenpassenden Stühle. Cat kommt herein.

»Okay«, sagt sie, »die Zwillinge schlafen. Sophie liegt im Bett und liest. Ich habe ihr gesagt, sie kann gern runterkommen, solange sie anschließend wieder allein nach oben geht. Was ist noch zu erledigen?«

»Wir sind so gut wie fertig. Besorg dir schon mal was zu trinken.«

»Ich warte, bis Jamie da ist.«

»Wieso denn?«

»Beim letzten Mal hat er fünfundvierzig Minuten über die Bauarbeiten zwischen hier und der Küste schwadroniert. Weißt du noch? Fünfundvierzig nervtötende Minuten. Wenn er das wieder macht, stelle ich mich tot.« Meine Frau kramt in einer Schublade und holt einen Korkenzieher hervor. »Mir ist wirklich schleierhaft, was Willa an ihm findet.«

»Er will Kinder.«

»Sie weiß sehr wohl, dass es dafür auch andere Wege gibt. Trotzdem, da muss doch noch mehr dahinterstecken …«

»Das ist alles, was sie will.«

»Grundsätzliche Kompatibilität ist das eine. Aber ich meine, warum Jamie?«

»Sie ist achtunddreißig. Du weißt, das ist ein heikles Thema.«

»Alles ist heikel …«

»Cat …«

»Das hier sollte ein Familien-, ein Geschwistertreffen sein. Es ist fast unmöglich, Michael und Nate zur genau gleichen Zeit in London zu erwischen.«

»Willa gehört praktisch zur Familie.«

»Aha.«

»Sie hat so viel durchgemacht.«

»Sicher.« Cat durchbohrt mich mit Blicken, ist dann aber gleich wieder freundlich. »Ich weiß.«

Während ich mir mit einer Hand durchs Haar fahre, betrachte ich den Tisch. »Glaubst du, dass alle gut miteinander auskommen werden?«

Cat zieht mich zu sich. »Natürlich werden sie das. Weihnachten steht vor der Tür, und außerdem haben wir den ganzen Nachmittag das Essen vorbereitet. Sie sind dazu verpflichtet. Übrigens«, sie dreht mich, sodass mein silbernes Top im Kerzenlicht glitzert, »du siehst wirklich toll aus.«

»Ich dachte, ich mach mich ein bisschen schick.«

»Du machst dich immer schick für Willa«, sagt sie, und ihre Augen werden schmal, »deine erste große Liebe.«

»Das hätte ich dir nie erzählen sollen.«

»Es klingelt«, sagt sie. »Ich gehe.«

Aus der Diele dringen Stimmen zu mir: erst Cat, dann Jamies tiefer Bassklang. Ich lehne mich gegen den Tisch, blicke zur Küchentür. Und dann steht sie dort, Willa.

2  DIE AUSSICHT VON TEA MOUNTAIN

ROBYN

In meinem Leben gab es eine Zeit, als alles in die Brüche zu gehen schien.

Das war der Sommer nach meinem siebzehnten Geburtstag, und ich war in den Ferien zu Hause, mit Willa im Schlepptau. Gleich nach unserer Ankunft brach die Achse des Autos, wodurch wir für die ersten drei Tage komplett von der Außenwelt abgeschnitten waren. »Dann lauft halt«, sagte meine Mutter. »Es sind nur ein paar Stunden bis in die Stadt.«

Kurz darauf setzte meine Mutter sich auf ihre Brille und erzählte jedem, dass sie überhaupt nichts sehen könne wegen des Klebebands, das mein Vater zur Reparatur benutzt hatte. Da das Blickfeld meiner Mutter eingeschränkt war, wurde sie immer lauter und furchterregender. Willa zuckte jedes Mal zusammen, wenn Mum den Mund aufmachte, um dem von uns, der ihr am nächsten war, Befehle oder Aufträge zu erteilen. Ehrlich gesagt, ich hatte mein Bestes getan, um sie auf die Begegnung mit meiner Familie vorzubereiten. Sie haben alle einen an der Waffel, hatte ich ihr gesagt, nur damit du’s weißt.

Auch Mums Lieblingsschale, die immer in der Mitte auf dem Küchentisch stand, zerbrach. Manchmal lagen Sachen darin – Schlüssel, Obst oder Papierschnipsel mit Notizen –, aber meist lag nichts darin, weil sie schön war. Sie hatte einen sandfarbenen Rand, eine leuchtend türkise Linie verlief mitten hindurch, und am Boden befand sich eine dunkle Lache kobaltblauer Glasur, durchsetzt mit winzigen grünen Bläschen, wie ein Blue Hole in einem Meer. An einem Tag war sie da, am nächsten nicht mehr. Eine andere Schale stand an ihrer Stelle, eine Schale, die für das ungeübte Auge nahezu gleich aussah, nur dass die gelbe Glasur eine leicht gräulichere Tönung hatte, die türkise Linie nicht so klar war und die blaue Glasur burgunderrote Spritzer aufwies. Auch hübsch, da war niemand anderer Meinung, aber definitiv nicht dieselbe Schale. Niemand gestand das Malheur ein. Mein Vater zuckte mit den Achseln und machte eine zerknirschte Miene. Mein Bruder zuckte nur die Schultern.

»Ich war es nicht«, sagte ich. Wie alle in der Familie mochte ich die Schale. Dad hatte sie getöpfert, und wie ich schon sagte, sie war schön. Jedenfalls konnte es so gut wie jeder gewesen sein, denn zu der Zeit hatten wir eine Menge Besucher im Haus, meist ungebetene.

Eine Rohrleitung brach, und Wasser flutete die Küche. Der Maschendrahtzaun brach durch, und eine Herde Schafe trampelte vom Moor herein und fraß alles auf, was sich vor ihrer Nase befand. Auch die Tür zum Hühnerstall ging kaputt.

Die Dinge gingen in die Brüche, und ich brach mir den Arm.

Nachdem ich hinten in der Werkstatt meines Vaters eine Dose moosgrüner Farbe gefunden hatte, bot ich an, dass wir beide – Willa und ich – die Küchenschränke streichen würden. Wir zogen uns alte T-Shirts über und drehten die Musik laut auf. Ich hatte Madonna ausgewählt, aber Dad bestand auf Tina Turner, weil es seiner Meinung nach keine bessere Musik zum Streichen gab, und wie sich herausstellte, hatte er recht.

Ich übernahm die hohen Schränke. Mit einem Pinsel voller Farbe in der Hand und What’s love got to do with it schmetternd stand ich hoch oben auf einer Leiter, ein Bein nach hinten ausgestreckt – teils als Gegengewicht, aber hauptsächlich als Pose –, als unser Hund Bach auftauchte, ein schwarzer Labrador. Damals war er bereits fünfzehn, mit einer vollkommen weißen Schnauze, arthritischen Beinen, einem Atem, den man schon aus zehn Schritten Entfernung roch, und milchig blauen Augen, wogegen dem Tierarzt zufolge angeblich nichts mehr half. Unser anderer Hund Yap, ein kleiner Jack-Russell-Mischling, hatte sich angewöhnt, wie eine Art Lotse auf Bachs Rücken zu reiten. Zwar konnte Bach dadurch nicht besser sehen, aber es verlieh ihm zweifellos einen stolzierenden Gang, das Aussehen einer in einem Zirkus verschwendeten Jugend. Nun, jedenfalls krachte Bach gegen den Fuß der Leiter, und ich wurde gewissermaßen durch die Küche katapultiert und landete mit einem nach hinten verdrehten Arm auf dem Boden, worauf ich plötzlich einen höllischen Schmerz verspürte.

Es war das erste und wahrscheinlich auch das einzige Mal in meinem Leben, dass ich jemals völlig, total außer Atem war. Durch den Aufprall war sämtliche Luft aus meiner Lunge gepresst worden, und ich brachte kein Wort heraus. Ein Geräusch war zu hören, ein lautes Geräusch, aber es kam nicht von mir, sondern von Willa.

Alle rannten herbei.

»Beweg sie nicht«, sagte meine Mutter. »Sie könnte sich das Genick gebrochen haben.«

Von meiner Position auf dem Fußboden aus hatte ich einen ausgezeichneten Blick auf die Küchendecke, die über die gesamte Länge knallgrüne Spritzer abbekommen hatte, die wie Meeresalgen aussahen, ja sogar eigentlich wie ein ganzer Tangwald. Oder ein geheimnisvoller Drache.

»Wow«, sagte ich. »Das ist der Wahnsinn.«

»Sie redet Unsinn«, sagte Mum. »Sie hat sich den Kopf gestoßen.«

»Vielleicht solltest du einen Rettungswagen rufen, Nigel«, wandte unser Vater sich an meinen Bruder, der nicht Nigel hieß, aber immer so von mir genannt wurde, weil er ein Nerd war.

»Ich finde, es geht ein bisschen zu weit«, erwiderte mein Bruder, »wenn selbst der eigene Vater einen mit Nigel anspricht.«

»Es geht ein bisschen zu weit«, krächzte ich und versuchte mich in der nerdigen Stimme, mit der ich gewöhnlich meinen Bruder nachmachte.

»Ruf einfach einen Rettungswagen, Michael«, trug Dad ihm auf.

In der Vorratskammer stöberte unsere Mutter nach dem Verbandskasten.

»Was ist das hier?«, fragte sie und erschien mit einer braunen Papiertüte, die sie ganz hinten versteckt gefunden hatte. Darin befand sich ihre Lieblingsschale, in Scherben zerbrochen. Nacheinander holte sie Stück für Stück hervor und legte jedes Teil mit einem Ausdruck der Verwunderung auf den Küchentisch. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Wir sprechen später darüber.« Kopfschüttelnd nahm sie eine Küchenschere aus der Schublade neben der Spüle.

»So.« Sie legte die Stirn in Falten und blickte rachsüchtig drein.

»Wofür ist die da?«, fragte ich.

»Wir müssen dein T-Shirt zerschneiden«, erwiderte Mum und klapperte über meinem Kopf mit der Schere.

»Das geht auf gar keinen Fall«, sagte ich und versuchte mich aufzusetzen.

Mum reichte Dad die Schere, aber mein Vater gab sie wieder meiner Mutter.

»Rühr dich nicht«, befahl sie. »Wir müssen nachsehen, was passiert ist.« Angesichts meines krumm verdrehten Arms war es meiner Meinung nach ziemlich klar, was passiert war. »Ich kann nicht glauben, dass du meine Lieblingsschale zerbrochen hast«, sagte sie, »und es nicht einmal erzählt hast.« Sie begann, das T-Shirt auf einer Seite zu zerschnippeln, während ich es auf der anderen festhielt.

»Das war nicht ich«, wehrte ich mich. »Ich mag dieses T-Shirt wirklich sehr.«

»Dieses T-Shirt? Diesen alten Fetzen von deinem Dad, den du dir fürs Streichen gemopst hast?«

»Mum, komm schon. Außerdem, mein BH ist auch alt. Ich habe dir doch gesagt, ich brauche einen neuen. Es wäre wirklich nicht zu viel verlangt, ein paar schöne BHs zu besitzen. Wir können das Auto nehmen. Mir geht’s gut. Es tut nur echt weh.«

»Sag denen Bescheid, wir brauchen doch keinen Rettungswagen«, rief Dad meinem Bruder am Telefon zu, »wir nehmen das Auto.« Michael kam in die Küche zurück und kniete sich neben mich. Inzwischen hatte unsere Mutter das letzte Stück meines T-Shirts durchtrennt. Meine gesamte Familie starrte auf meinen Oberkörper.

»Was ist das?«, fragte Mum.

»Scheiße«, sagte ich.

»Ist es das, wofür ich es halte?« Sie leckte sich einen Finger und begann, an dem kleinen Schnörkel aus Blumen und Schmetterlingen zu rubbeln, der sich von meiner Hüfte spiralförmig nach oben wand.

»Aua«, sagte ich. »Arm.«

»Ist das ein Tattoo? Ein echtes Tattoo?« Ihre Stimme schraubte sich immer höher. »Was in aller Welt hast du dir dabei gedacht? Das glaube ich nicht.« Sie sah direkt zu Willa. »Hast du davon gewusst?«

Willa riss die Augen auf und blinzelte hektisch.

»Okay«, sagte Mum, »vergiss es, ich frage dich gar nicht.« Sie wandte sich an meinen Vater. »Du vielleicht?« Sofort setzte er einen sanftmütigen, traurigen Blick auf, wie immer, wenn meine Mutter in Rage geriet. Er schüttelte den Kopf. Es war wahr, er wusste es nicht, obwohl er tatsächlich die elterliche Einverständniserklärung unterschrieben hatte. Ich hatte ihm gesagt, ich bräuchte sie für ein langweiliges Schulprojekt. Als er mit dem Kopf unter der Motorhaube lag, den Schraubenschlüssel in einer Hand, und überall Öl tropfte, hatte ich meine Chance ergriffen und mit mehreren Fingern genau auf die Stelle gezeigt, wo seine Unterschrift hinkam, wobei ich, ganz zufällig, den Text verdeckt hatte.

»Das ist in der Tat eine ziemliche Überraschung, Robyn«, sagte Dad.

»Dir ist schon klar, dass Tattoos für immer bleiben, oder?«, fragte Mum. »Dass die mit Nadeln gestochen werden?« Ich versuchte, ein Gesicht irgendwo zwischen Echt, Nadeln, wer hätte das gewusst? und Nun, das ist ganz offensichtlich nicht gut zu machen. »Menschenskind. Ich kann es nicht glauben.«

»Mir gefällt’s ganz gut«, sagte Michael. Wir alle wandten uns zu ihm. Er deutete auf den kleinen Schmetterling direkt unter meinem Brustkorb. »Der dort ist ein Melanargia galathea. Diese Schachbrettmuster-Zeichnung macht ihn ziemlich unverwechselbar, obwohl es nicht immer leichtfällt, Männchen und Weibchen auseinanderzuhalten. Die Weibchen haben eine leicht gelblichere Färbung. Vermutlich hast du da einen männlichen Schachbrettfalter. Auf der Unterseite ihrer Flügel haben sie falsche Augen. Sie mögen hauptsächlich Wiesen, aber kürzlich habe ich ein Weibchen auf einem Stechginster gesehen, tatsächlich war das erst gestern.«

In Momenten wie diesen liebte ich meinen Bruder mehr denn je.

Tage später, als drückende Hitze über dem Hügel lag und es zu heiß zum Atmen oder Sonnenbaden, selbst zu heiß zum Denken war, bot mein Vater Willa und mir an, in die Töpferei zu kommen. Außer wenn er den Brennofen anschmiss, war es da drinnen immer kühl. Er brauche unsere Hilfe für ein kleines Projekt, sagte er. Sein Atelier befand sich ein paar Schritte über den Hof in einem alten Steinhaus, das zum Moor hin lag, mit einer Veranda vorne und dem Wort TEE als charakteristischem Merkmal in meterhohen Lettern auf das Dach gemalt. An klaren Tagen konnte man dieses Wort sogar aus großer Entfernung erkennen. Tea Mountain nannten uns die Einheimischen. Für sie waren wir ein nützlicher Orientierungspunkt, aber für Touristen und Spaziergänger war das Wort ein Leuchtturm, eine blinkende Einladung, die über die Hügel hinweg zu ihnen strahlte. Sie konnten nicht wissen, dass das alte Gemäuer schon seit viktorianischen Zeiten nicht mehr als Teestube genutzt wurde. Unnötig zu erwähnen, dass wir jede Menge Überraschungsgäste hatten.

Willa war zum ersten Mal in der Töpferei, und während mein Vater sie herumführte, nahm ich mir einen Klumpen aus den Tonbehältern und versuchte, mit der mir noch verfügbaren Hand meine Familie zu modellieren: meine Mutter, klein und rundlich mit dicken Brillengläsern; meinen Vater, groß und dünn und ein wenig gebeugt, als wollte er sich jeden Moment ducken, um durch eine Tür zu gehen; meinen Bruder mit seiner liebenswerten spitzen Adlernase. Eigentlich dachte ich auch daran, Willa zu machen, aber Ton war irgendwie nicht das richtige Material für sie. Sie benötigte etwas Fragileres, hauchdünn und gläsern müsste es sein, damit es diese fliegenden Haare und die blasse, sommersprossige Haut einfing. Sie war das schönste Mädchen, das ich kannte.

Mein Vater zeigte Willa die Reihen mit den trocknenden grauen Gefäßen, die warmen braunen, die schon einmal gebrannt worden waren, und die fertigen, die zum Verkauf bereitstanden. Er öffnete Behälter mit Glasurpulver, hielt Willa den staubigen Inhalt hin und erklärte ihr, wie die verschiedenen Verbindungen aus Mangan, Knochenasche und Zinn sich in der Hitze des Brennofens auf wundersame Weise verwandeln, wie Kupfer grün und Kobalt blau und Antimon gelb war, und dass man Letzteres nicht anfassen darf, weil es absolut tödlich sei.

Mein Vater hatte es nie eilig. Schließlich gelangten sie zu der Bank, wo ich mit einem Tonmesser gegen den quälenden Juckreiz unter meinem Gipsverband anging. Dad breitete die Bruchstücke der Lieblingsschale meiner Mutter aus.

»Also, es geht um Folgendes«, sagte er. »In Japan gibt es eine Methode, um Keramik mit Baumharz zu kitten, die ich schon immer mal ausprobieren wollte. Dabei werden die Risse nicht verborgen, sondern bewusst sichtbar gemacht, indem man die Bruchstellen mit einem kostbaren Metallpuder – Gold, Kupfer, was auch immer – bestäubt. Der Gedanke dahinter ist, dass das geliebte und geschätzte Stück durch die Reparatur noch schöner wird. Eine glänzende Idee, nicht? Das nennt sich Kintsugi. Was meint ihr? Wollt ihr es mal probieren? Ihr zwei müsst mir helfen, die einzelnen Teile an der richtigen Stelle zu halten.«

»In Ordnung«, entschied ich für uns beide. Es war zu heiß, um irgendetwas anderes zu unternehmen. »Dann mal an die Arbeit.« Ich hielt zwei große Scherben in die Höhe und schob sie aneinander, um zu sehen, ob sie zusammenpassten, was nicht der Fall war.

»Hast du schon mal mit Ton gearbeitet, Willa?«, fragte Dad nach einer Weile. Sie schüttelte den Kopf, während er auf ihre bis zum Nagelbett abgekauten Fingernägel blickte.

»Du hast die richtigen Nägel dafür. Wenn du willst, bringe ich dir bei, wie man mit der Drehscheibe umgeht. In ein paar Tagen könntest du ein halbwegs anständiges Gefäß töpfern. Robyn hier kann das im Schlaf.«

Ganz kurz sah ich einen Funken der Begeisterung über Willas Gesicht huschen, der sogleich wieder verschwunden war. »Seid ihr sicher?« Sie blickte von ihm zu mir. »Wisst ihr, ich möchte auf keinen Fall im Weg sein oder irgendwie stören.«

»Es gibt nichts Besseres als einen willigen Lehrling«, sagte Dad und trug sorgsam Leim auf ein Stück Keramik auf. »Ich schätze, du bist normalerweise ein wenig mehr Abwechslung gewohnt, nicht wahr? Und wetten, Robyn hat dir nicht erzählt, wie abgeschnitten von allem wir hier sind?«

»Ja, ganz recht, Dad, ich habe sie unter Vorspiegelung vollkommen falscher Tatsachen hergelockt«, sagte ich. »Ich habe ihr erzählt, dass wir in einem Schloss wohnen …«

»Ich möchte nicht, dass du dich hier, mitten in der Pampa, langweilst.«

»Mit Dienstboten. Und einem Heißluftballon.«

Willa öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Ihre Wangen waren gerötet. Unsere Blicke begegneten sich.

Die Schüssel wuchs, Stück für Stück. Es erfüllte einen mit einer sonderbaren Befriedigung, sich zu überlegen, wie jede Scherbe mit einer anderen zusammenpassen und jedes Teil an seinen richtigen Platz zurückgebracht werden konnte. Die Zeit verstrich.

»Ich glaube, so funktionieren Träume«, sagte Dad. »Dein Verstand nimmt alle Einzelteile des Tages auf und setzt sie wieder zusammen, um zu sehen, wie sie am besten passen. Deshalb sind Träume letztlich so seltsam, nämlich, wenn man zwei nicht passende Teile aneinanderfügt.«

Ich fing Willas Blick auf und grinste sie an. »Diese grüblerische Seite an dir liebe ich wirklich, Dad«, verkündete ich. »Du bist ein geborener Philosoph.«

Als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, hatte sich Stille über uns alle gelegt, eine Atmosphäre der Ruhe und Meditation. Das nachmittägliche Licht fiel schräg durchs Fenster. Draußen kreisten Mauersegler in der Luft voller Insektenpünktchen über den ausgedörrten Wiesen. Bach kuschelte sich zu unseren Füßen. Yap hatte sich auf einem Stuhl zusammengerollt. Dad wickelte zwei kleine, wie Bonbonpapier an den Enden eingedrehte, braune Verpackungen auf, und der Inhalt blitzte im Sonnenlicht. Darin befand sich echtes Silber- und Goldpulver. Er bot Willa an, eins auszuwählen. Ich hätte auf jeden Fall Gold genommen.

»Silber«, sagte Willa, ohne zu zögern.

»Silber soll es sein.«

Und schließlich war die Arbeit geschafft. Die Schale war verwandelt. Kleine silbrig-weiße Linien wanden sich darauf, verschmolzen miteinander, teilten sich und reflektierten das spätnachmittägliche Sonnenlicht. Im Kontrast zu dem sandfarbenen Rand erinnerten sie an Wasserläufe durch eine Wüste. Dad hatte recht gehabt. Die Schale war wirklich schöner als vorher.

»Man kann alles heil machen, solange man das richtige Werkzeug hat«, sagte er. Seine Stimme war sanft, und er blickte Willa direkt an. Mit aufgerissenen Augen funkelte ich ihn zornig an. Willa sagte nichts. Sie sah immer noch auf die Schale hinunter, die rötlichen Haare fielen ihr ins Gesicht. Vielleicht dachte sie, er würde mit mir sprechen. Bei Willa wusste man nie so genau. Sie gab so wenig von sich preis.

»Erzähl mir von deiner Schwester«, forderte ich sie an diesem Abend auf. Zusammen mit den Hunden lagen wir im Gras, fest in Decken gewickelt, Kissen unter den Köpfen, und starrten auf das mit Sternen gesprenkelte Himmelszelt. Damals kannte ich Willa seit beinahe einem Jahr und hatte sie noch nie danach gefragt, nicht in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft im Internat, und auch nicht später. Wir hatten alle selbst herausgefunden, wer sie war. Auch die Luftaufnahmen von dem Haus hatten wir gesehen.

Zuerst dachte ich, sie hätte mich nicht gehört. Oder, schlimmer noch, sie hätte mich gehört, würde mir aber nicht antworten. Ich merkte, dass ich den Atem anhielt. Gerade als ich mich entschuldigen wollte, räusperte sie sich.

»Aufgeschlossen, freundlich, liebenswürdig. Sie hatte einen wirklich ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Und sie war sehr tierlieb. Diese beiden hier hätte sie sehr gern gehabt.« Willa kraulte Yap, der sich zwischen uns kuschelte, hinter den Ohren, und er gähnte anerkennend.

»Und sie war komisch.« Ihre Stimme klang dünn und rau. »Witzig, meine ich. Schlagfertig. Schlau und komisch. Sie hielt nie mit einer Bemerkung hinterm Berg, selbst wenn jeder andere – buchstäblich jeder – den Mund gehalten hätte. Nicht so wie ich.« Sie wandte den Kopf zu mir und sah mich an. »Ich muss immer erst alles überdenken, weißt du? Als versuchte ich zunächst herauszufinden, ob ich unrecht habe oder jemanden kränke, und bis ich so weit bin, ist das Thema längst durch. So war ich schon immer. Laika war das komplette Gegenteil. Egal, was sie dachte, sie hat es frei von der Leber gesagt, von klein auf. Unser Dad meinte immer, sie halte niemals inne, um nachzudenken. Aber das war es gar nicht. Sie dachte die ganze Zeit nach. Sie war richtig klug, also, nicht nur gescheit, sondern wirklich blitzgescheit. Hochbegabt. Also, wirklich richtig blitzgescheit.«

»Du bist gescheit. Du bist das gebildetste Mädchen in der Schule.«

Willas Hand glitt zu einer dünnen Silberkette um ihren Hals. Sie nestelte herum, bis ihre Finger den winzigen Delfinanhänger fanden, der das Mondlicht auffing und wie eine Fackel im Nebel schimmerte. »Nicht wie Laika. Ich schneide gut ab, weil mir die Schule wirklich wichtig ist. Lai hat sich nie richtig angestrengt, ihr flog einfach immer alles zu. Aber sie war nicht das, was man gebildet nennt, nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes. Es hat ihr alles einfach nicht so viel Kopfzerbrechen bereitet. Sie besaß nicht den Ehrgeiz, die Beste sein zu wollen. Wenn ein Thema sie nicht interessierte oder sie keinen Sinn darin sah, hat sie sich nicht angestrengt. Ihre Schulnoten waren eher durchschnittlich – einige waren sogar miserabel. Ihre Lehrer sagten, sie sei der klassische Fall von könnte besser in der Schule sein. Mum hat das früher verrückt gemacht. Sie sagt immer, dass sie es zutiefst bedauert, weil sie die Schule ohne Abschluss verlassen hat. Ich glaube, sie … na ja.«

Schweigend lagen wir da. Ich wagte es nicht, sie anzusehen, weil sie dann womöglich nicht weitersprechen würde. Stattdessen hielt ich den Blick auf den Himmel gerichtet, wo pflaumenblaue, dunkle Wolken wie in der Ferne umherziehende Wale unter den Sternen vorübertrieben und Fledermäuse wie winzig kleine Fische umherflitzten.

»Sie konnte auch fantastisch Leute nachmachen. Ehrlich, sie konnte den Akzent von jemandem aufschnappen und innerhalb von Sekunden perfekt imitieren. Und damit ging sie nicht immer nur freundlich um. Sie konnte unhöflich sein. Und damit meine ich richtiggehend furchtbar, beschämend unhöflich: Sie war streitsüchtig. Sie wusste nie, wann sie einen Gang runterschalten sollte. Sie war unerschrocken, vollkommen unerschrocken. Nichts und niemand machte ihr Angst. Und wenn sie wütend wurde, schlug sie irgendwas in Stücke, da hatte sie sich nicht in der Gewalt.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie leicht den Kopf schüttelte, dann verfiel sie wieder in langes Schweigen. Ich überlegte, ob sie eingeschlafen war.

»Ich sollte so was nicht über sie sagen, oder?«, fragte sie dann. »Also, diese ganze Nummer, dass man nicht schlecht über – na ja, du weißt schon. Aber wie dem auch sei. So war sie als Mensch.«

Unter den Decken griff ich nach ihrer Hand, und sie drehte sich auf die Seite und sah mich an. »In den Nachrichten wurde sie als sympathisches und beliebtes Mädchen mit jeder Menge Potenzial, vielen Freunden und einer liebenden, stabilen Familie beschrieben. Keine Ahnung, vielleicht hast du’s gesehen. Als ob Presseleute eine Liste an Phrasen zur Beschreibung von Teenagern besäßen. Sie sind immer mutig oder tapfer oder tragisch. Selbst das Foto, das sie veröffentlicht haben, sah überhaupt nicht nach ihr aus, zumindest nicht zum Zeitpunkt ihres Verschwindens. Ich hätte sie im Fernsehen nicht wiedererkannt, wie sollte das also irgendjemand anderem gelingen? Außerdem hatte sie nicht mal enge Freundinnen. Laika konnte eine totale Nervensäge sein. Unser Dad hielt ihr immer vor, sie sei dickköpfig und pampig. Und das war sie bisweilen. Sie war schwierig und voller Widerspruchsgeist, aber auch großartig und absolut genial.«

»Mit anderen Worten, sie hatte Persönlichkeit.« Ich drückte ihre Hand.

»Ja. Das hatte sie.« Plötzlich holte Willa tief Luft. Ihre Stimme klang brüchig. »Und ich vermisse sie wirklich sehr.«

»O nein«, flüsterte ich. »Bitte entschuldige. Ich hätte nicht fragen sollen. Hätte ich doch nur den Mund gehalten.« Ich dachte, sie würde vielleicht gleich den Kopf zurückwerfen und zu heulen anfangen. Aber sie atmete tief ein, hielt mehrere Momente lang die Luft an und stieß sie dann langsam wieder aus.

»Das liegt nicht an dir«, sagte sie mit schwacher, aber kontrollierter Stimme in der finsteren Nacht. »Ich bin froh, dass du gefragt hast, ganz ehrlich. Das meine ich ernst. Ich denke die ganze Zeit an sie, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde des Tages. Doch nie erkundigt sich jemand, wie sie als Mensch war. Mir ist klar, dass die Leute nicht wissen, was sie sagen sollen, oder Angst haben, dass ich mich aufrege. Das verstehe ich, wirklich. Aber es ist noch nicht einmal ein ganzes Jahr her …«

Sie drehte sich auf die andere Seite, von mir weg. Ich wandte mich ihr zu, legte meinen Arm um ihre Taille, und ihre Finger tasteten nach meinen und hielten sie fest. Ich schmiegte meine Wange an ihren Nacken und vergrub meine Nase in ihren Haaren. Die Nacht verging. Ich glaube, ich schlief ein. Als ich wieder aufwachte, war es immer noch dunkel, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass Willa nicht schlief. Noch immer hatte ich meine Arme um sie geschlungen.

»Sah sie wie du aus?«

»Eigentlich nicht. Wenn überhaupt, sah sie unserem Dad ähnlich. Ihre Haare waren dunkler als meine. Ich komme mehr nach meiner Mutter.«

Wir blieben beide wach, um uns die Morgendämmerung anzusehen. In jeder Himmelsrichtung, so weit das Auge reichte, war das Gras mit den silbrig-weißen Netzen der Röhrenspinnen bedeckt, jedes mit seiner eigenen Spirale in der Mitte, die einen Tunnel ins Gras hinuntertrieb. An jedem Spinnwebfaden hingen verschwindend kleine Tautröpfchen wie klitzekleine Perlen an winzigen Silberketten, dabei war jedes Spinnennetz mit dem nächsten zu einem gewaltigen, gleichzeitig schwebenden und zarten Teppich verbunden, und alles wurde von unzähligen unendlich kleinen Gestirnen überragt, die die Welt in Miniatur widerspiegelten.

»Man wird sie finden, Willa.«

»Wird man nicht.«

»Das weißt du nicht.«

»Ich weiß es«, sagte sie. »Ich weiß es.«

3  ABENDESSEN MIT FREUNDEN

ROBYN

Willa kommt in die Küche. Sie schenkt mir ein rasches, unsicheres Lächeln, dann blickt sie zur Diele, wo Stimmen zu hören sind: Jamie unterhält sich mit Cat. Ich ziehe sie an mich. Ihre Haare duften nach Rose und Ambra und noch etwas anderem, etwas Sommerlichem, vielleicht Orangenblüten, Klementinen.

»Wegen heute Vormittag«, sagt sie, und ihre Stimme ist ein tiefes, drängendes Wispern. »Ich …«

Sie bricht ab, als Sophie, unsere Fünfjährige, hereingestürmt kommt, ihre Arme um meine Freundin schlingt und sie beinahe umwirft. Es wird noch warten müssen.

»Lass Willa doch erst ihren Mantel ausziehen«, sage ich lächelnd, als Willa sich graziös wie eine Tänzerin vor Sophie verbeugt und ihr ein Buch und ein Kuscheltier, ein graues Kaninchen in einer Paisley-Weste, überreicht. Sie fährt mit einer Hand über die dunklen Haare unserer Tochter und streichelt ihre Wange. In dem dunkelgrünen Wickelkleid, das wunderbar mit ihren rötlichen Haaren kontrastiert, sieht Willa atemberaubend, wahrhaft schön aus. Große Brillanten funkeln an ihren Ohrläppchen. Sie scheint absolut perfekt: hohe Wangenknochen, schmale Hüften und lange Beine.

»Wow«, sage ich. »Du siehst fantastisch aus.«

»Seht euch die mal an«, sagt Cat, die mit einem riesigen Strauß aus Rosen, Pfingströschen, Disteln und Eukalyptuszweigen in den Händen die Küche betritt. Ihr folgt Jamie, der zwei teuer aussehende Weinflaschen im Arm hält. Er beugt sich herab und küsst mich mit einer für einen Mann von seiner Größe unerwarteten Zartheit auf die Wange, seinem warmen Atem auf meiner Haut haftet der süßsaure Geruch eines vor Aufbruch eingenommenen Drinks an.

»Robyn«, sagt er geschmeidig im tiefen Tonfall eines Radiomoderators einer Late-Night-Show, »es ist immer so schön, dich zu sehen.«

Willa bietet an, Sophie nach oben ins Bett zu bringen, sodass wir Jamie unterhalten müssen. Neben ihm sieht meine feingliedrige Ehefrau wie eine Zwergin aus. In unserer vollgestopften viktorianischen Küche wirkt er zu breit, zu groß, wie ein Luxus-Kreuzfahrtschiff eingezwängt in einen schmalen venezianischen Kanal, und augenblicklich keimt in mir der Wunsch, er möge sich hinsetzen. Ich ziehe einen Stuhl vor und lächle Cat kurz zu, als er sich darauf niederlässt. Er schlägt ein Bein übers andere, Fußknöchel aufs Knie, und schaufelt sich aus einer Schale eine Handvoll Mandeln in den Mund. Ich mache einen Bogen und setze mich neben Jamie, während Cat die Blumen in eine Vase stellt. Er lehnt sich zurück und legt schwerfällig einen Arm auf meine Stuhllehne, worauf ich mich nach vorne beuge und die Ellbogen auf dem Tisch abstütze.

»Warum kümmere ich mich nicht um den Wein?«, sagt er. »Und mache mich nützlich.« Er mustert das Etikett auf einer der Weinflaschen. »Gib mir einen Korkenzieher, dann öffne ich die hier, wenn du willst.«

»Wir haben auch Schampus«, sage ich. »Oder vielleicht magst du einen Aperitif? Wodka? Gin? Ich mixe einen großartigen Martini.«

»Schon gut«, erwidert er, zieht den Korken heraus und schenkt sich ein großes Glas von dem samtigen Wein ein. »Das hier genügt.« Für den Bruchteil einer Sekunde fällt mir nichts ein, was ich zu Jamie sagen könnte, einem Mann, den ich seit beinahe zwei Jahren kenne. Willa soll wieder zurückkommen, ich brauche diese anmutige, schöne, vertraute Frau als unsere gemeinsame Basis. Er nimmt einen großen Schluck Wein, und ich folge seinem Blick, als dieser einmal langsam durch unsere Küche mit den Überbleibseln unseres Familienlebens wandert – über die Zeichnungen und Fotos am Kühlschrank, die Elternbriefe vom Kindergarten hin zu dem Haufen kleiner Schuhe an der Hintertür und einem herrenlosen, vergessenen Teddybär. Ich schiebe einen Teller mit Kanapees in seine Richtung, und er wählt ein quadratisches Häppchen Roggenbrot mit Frischkäse, roter Paprika und Kaviar. Ein Fischei bleibt an seiner Unterlippe kleben, und als er wieder zu sprechen beginnt, muss ich immerzu auf diesen kleinen schwarzen Fleck schauen.

»Interessante Art der Reparatur«, sagt er und fährt mit einem Finger über die silbernen Linien unserer Lieblingsschale. Ein breites Grinsen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. »Konntet ihr euch keine neue leisten?«

Ich lächele. »Es nennt sich Kintsugi. Diese Technik steht für Heilung und Vergebung. Dinge mit Liebe auszubessern. Meine Eltern haben sie Cat und mir zur Hochzeit geschenkt.«

»Ach, du liebe Güte.« Sein Tonfall klingt amüsiert. »Sie gehen wohl davon aus, dass ihr beide euch streitet, oder? Dann pass auf dich auf, Robyn, wahrscheinlich kann Cat ziemlich gut mit einem Speer umgehen.«

Mir fällt die Kinnlade herunter, und Cat wendet sich so schnell vom Herd um, dass sie einen kleinen Teller von der Arbeitsplatte fegt. Mit einem lauten Knall schlägt er auf dem Boden auf.

»Entschuldigung«, sagt sie, »wie bitte?«

»Habe ich was verpasst?«, fragt Willa, die wieder in die Küche zurückkehrt.

Ein kurzer Moment des Schweigens. Einer der vielen Gründe, aus denen ich meine Frau liebe, ist ihr Mut. Sie lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, besonders, wenn sie das Verhalten anderer nicht in Ordnung findet. Sie steht ein für das, was sie für richtig hält. Noch nie habe ich erlebt, dass sie den Mund hält, wenn jemand einen rassistischen Kommentar abgibt. Sie sagt immer, was sie denkt, immer. Aber nun wirft sie Willa einen kurzen Blick zu und sieht mir dann direkt in die Augen. »Nein«, antwortet sie, »nichts.« Ein kleines, aber unmissverständliches Zeichen, nicht weiter zu bohren.

»Mit dem solltet ihr auch dieses Kin-Dingsda machen«, schlägt Jamie vor. Cat sammelt die Scherben auf und wirft die Bruchstücke in den Tretmülleimer. Man könnte denken, sie hätte ihn nicht gehört.

»Ich bring dir was zu trinken«, sage ich zu Willa. »Einen Gin Tonic?«

Mit Wolfsaugen blickt Jamie auf das Tablett mit den Kanapees. »Sie trinkt nichts«, sagt er. »Sie nimmt Wasser.«

»Aber ich möchte einen«, sagt Cat. »Wenn ich’s mir recht überlege, warum machst du nicht gleich einen doppelten draus?« Sie dreht sich wieder zum Herd, und die Küche füllt sich mit dem wärmenden Duft von Ingwer und Limette. Ich stelle ein großes Glas in ihre Reichweite, und als ich ihre Wange liebkose, wirft sie mir einen vielsagenden Blick zu und murmelt: »Heilige Scheiße.«

Ich tätschle ihren Arm und kümmere mich wieder um unsere Gäste. »Ich dachte, du würdest heute Abend vielleicht gern neben Michael sitzen«, sage ich zu Willa. »Er erkundigt sich immer nach dir.«

»Der Intelligenzbolzen, eh? Ihr beide seid also dicke Freunde? Liebling, davon hast du mir noch nie was erzählt.« Jamie füllt sein Glas nach und knurrt mit einem breiten Grinsen: »Sollte ich eifersüchtig sein?«

»Wen bringt er mit?«, fragt Willa.

»Sie heißt Liv, sonst weiß ich nicht viel von ihr. Meinem Eindruck nach ist sie etwas jünger als wir. Er hat gesagt, sie erinnert ihn ein bisschen an dich.«

»An mich?« Überrascht reißt Willa die Augen auf. »In welcher Hinsicht?«

»Keine Ahnung. Seine Nachrichten sind immer im Telegrammstil, als ob er für jedes Wort bezahlen müsste.«

»Es klingelt«, verkündet Cat. »Ich mach auf.«

Die Wangen von der Kälte gerötet und eine schlanke Frau vor sich her dirigierend, kommt leicht hinkend mein Bruder in die Küche. »Liv, das hier ist meine kleine Schwester«, stellt er mich vor, »und das ist die reizende Cat.« Mit aufrichtiger Herzenswärme umarmt Michael meine Frau und küsst sie auf beide Wangen, bevor er mich fest in die Arme schließt. Ich vergrabe meinen Kopf in seinem braunen Wollpullover, schlinge die Arme um seinen Körper und atme tief ein. Wie schafft Michael es, immer nach unserem Zuhause zu riechen? Heidekraut und Apfelholz; Torf, Weideland, nasser Hund. Auch Willa umarmt er und drückt ihr unbeholfen einen Kuss nahe dem Ohr auf, bevor er sie hastig Liv vorstellt. Dann wendet er sich an Jamie.

»Jamie«, sagt Michael. »Schön, dich zu sehen.«

»Der Mann der Stunde«, entgegnet Jamie und wirft Willa einen amüsierten Blick zu. Er lehnt sich über den Tisch und schüttelt Michael die Hand, dann erhebt er sich von seinem Stuhl, um Liv zu begrüßen, ein liebenswürdiges Lächeln auf seinem breiten, gut aussehenden Gesicht. Nach einem Wangenküsschen bietet er an, ihr den Mantel abzunehmen, bewundert die mitgebrachten Blumen und erkundigt sich interessiert nach ihrer Fahrt in die Stadt. Liv antwortet freundlich, aber ich denke, diese ganze Aufmerksamkeit kommt ihr wie ein Angriff aus dem Hinterhalt vor: Mir fällt auf, wie sie Michael ein leicht fragendes Lächeln zuwirft. Sie ist jung, nun, zumindest jünger als ich – vielleicht Anfang bis Mitte dreißig. Und ja, ich kann sehen, warum Michael gesagt hat, sie erinnere ihn an Willa. Vom Typ her ist Liv dunkler, und sie ist auch nicht so groß wie Willa, aber sie hat Willas schlanke Statur und ihre feinen Haare. Sie besitzt eine ähnliche Schönheit, volle Lippen und ein ovalförmiges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Dann blicke ich zu Willa, die still abseits steht, so unbeweglich wie eine Figur in einem Gemälde. Aufmerksam betrachtet sie Liv, ihre eindringlichen grauen Augen nehmen jedes Detail von ihr auf.

Willa ist offensichtlich fasziniert.

»Nate und Claudette kommen zu spät«, sagt Cat, als sie von ihrem Handy aufblickt.

»Claudette?«, fragt Jamie.

»Französin«, erwidert Cat. »Sie spricht kein Wort Englisch.«

»Wie bitte?«, schalte ich mich ein. »Das hast du mir nicht gesagt. Du machst Witze, oder?«

»Nein, das ist mein voller Ernst. Nate hat mir gerade eine Nachricht geschickt. Wie ist dein Französisch?«

»Eingerostet. Seit der Schulzeit habe ich kaum Französisch gesprochen. Was ist mit dir?«

»Du weißt ganz genau, dass ich Spanisch genommen habe. Klingt so, als müsstest du dich diesmal ganz allein behaupten.«

»Das ist wohl ein Scherz. Verdammt noch mal, Cat.«

»Wie auch immer, sie stehen im Stau«, sagt Cat. »Ich stelle die Wan Tan auf den Tisch, damit niemand vor Hunger umkommt.«

Mit einer einladenden Geste bietet Jamie Liv einen Stuhl ihm gegenüber an. Langsam setzt sie sich.

»Also, Liv«, sage ich, »wie hast du Michael kennengelernt?«

Liv streicht sich eine Haarlocke hinters Ohr. »Ich bin an der Universität«, antwortet sie, »und schreibe meine Doktorarbeit. Michael hat erzählt, du arbeitest im St. Bart’s?«

»Ich bin Radiologin und arbeite hauptsächlich mit Krebspatientinnen und -patienten und …«

»Ich bin Botschafter für Pearl River Weine«, unterbricht mich Jamie und schenkt sich nach. Er wartet, bis Liv wieder zu ihm sieht, dann senkt er die Stimme und lächelt: »Aber meine wahre Leidenschaft ist die Natur.«

Liv zögert. Dann sagt sie: »Wandern?«

»Löwen.«

»Interessant«, bemerkt sie und klingt dabei höflich.

»Das ist es wirklich«, bestätigt Jamie und lehnt sich über den Tisch. »Sehr gern würde ich dir mehr darüber erzählen.«

Ich werfe Cat einen Blick zu, aber sie ist gerade mit ihrem Handy beschäftigt. »Sie brauchen noch ungefähr zehn Minuten«, sagt sie. »Tut mir leid, Leute. Es ist verdammt typisch für Nate, zu spät zu kommen.«

Liv ist offensichtlich dankbar für diesen raschen Themenwechsel. »Zumindest gibt er dir Bescheid«, sagt sie. »Findet ihr es nicht auch furchtbar, wenn die Leute das nicht tun?« Ein finsterer Ausdruck huscht über ihr Gesicht. »Man wartet und wartet und macht sich letztlich Sorgen, dass etwas wirklich Schreckliches passiert ist …«

Sekunde, denke ich. Worauf will sie hinaus? »Möchte jemand was trinken?«, sage ich laut. »Liv?«

»… und dass man diesen Menschen nie mehr wiedersehen wird«, beendet Liv ihren Satz.

Zu spät.

Willa starrt Liv an. Sie gibt ein Geräusch von sich, ein leises, hohes Ha, und der Rest von uns scheint kurz gemeinsam Atem zu holen. Cats Augen schnellen zu mir.

Jamie setzt sich auf dem Stuhl zurecht. »Willa«, sagt er mit gedämpfter Stimme, und ich habe das Gefühl, er würde seine riesige Hand ausstrecken und fest auf den Arm meiner Freundin legen, wenn ich nicht zwischen den beiden säße.

Willa starrt Liv schweigend mit einem harten Ausdruck in den Augen an. Noch einmal macht sie dieses Geräusch, ein leises Ha, nur diesmal ist es tiefer, weicher, stößt den Atem aus, als hätte sie die Luft angehalten. Dann, die Augen immer noch auf Liv geheftet, sagt sie sehr langsam: »Meine Schwester ist verschwunden, als sie dreizehn war.« Mit Nachdruck fügt sie hinzu: »Ich meine, sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Wir hatten keine Ahnung …«

Cat macht eine knappe Bewegung. Unsere Blicke begegnen sich, und sie bittet mich stumm: Tu etwas, ein mikroskopischer Ausdruck von Besorgnis. Ich strecke den Arm aus und ergreife Willas bleiche Hand.

»Ihr Geburtstag war vor einem Monat, am dritten November.«

»Geburtstage sind immer schwierig«, sage ich.

Willa sieht Liv durchdringend an. »Sie war noch ein Kind. Heute wäre sie eine erwachsene Frau, sechsunddreißig. Natürlich hätte sie sich sehr verändert.« Sie stößt ein hohes, humorloses Lachen aus. »Was so schrecklich ist, ich könnte ihr auf der Straße begegnen und würde sie nicht einmal wiedererkennen. Sie könnte einfach jede sein.« Der Blick ihrer grauen Augen schnellt von einem zum anderen und richtet sich dann wieder auf Liv. »Du könntest sie sein.«

Einen Moment lang herrscht fassungsloses, fürchterliches Schweigen.

Aus der Diele ertönt ein Klingeln.

»Sie sind da.« Rasch steht Cat vom Tisch auf. »Endlich. Dem Himmel sei Dank.«

Mit lauten Entschuldigungen und die kalte Abendluft wie eine Katze abschüttelnd betritt Nate die Küche. Er ist groß, hat kurz geschnittene Haare, dunkle, sommersprossige Haut und einen breiten Mund, der mühelos, geradezu fließend in ein Lächeln übergeht. Nachdem er die Hand seiner Begleiterin losgelassen hat, umarmt er erst mich und Cat, dann Michael und Liv. Anschließend macht er eine Bewegung auf Jamie und Willa zu, aber Cat berührt ihn am Arm und schüttelt den Kopf. An der Hintertür spricht Jamie leise mit Willa, während er sie fest im Arm hält, und ich bin insgeheim erleichtert, weil er die Aufgabe übernimmt, sie zu trösten. Das braucht sie jetzt offensichtlich. Wir lassen die beiden in Ruhe.

»Eh voilà«, sagt Nate, »je vous présente ma magnifique Claudette, ma petite amie.« Er stellt Cat seine Freundin vor und übersetzt die herzliche Begrüßung seiner Schwester ins Französische. Gemessen an bisherigen Erfahrungen ist Claudette nicht die Frau, die ich an seiner Seite erwartet hätte: Die meisten von Nates früheren Freundinnen sahen aus wie Models. Claudette ist nur ungefähr so groß wie ich, hat einen geschmeidigen, jungenhaften Körper und einen burschikosen Kurzhaarschnitt, eine markante Nase und einen vollen Mund. Ihre Kleidung, schwarze Jeans, weiße Bluse und ein lose um den Hals geschlungener orangefarbener Chiffonschal, trägt sie mit jener lässigen Eleganz, um die ich die Französinnen immer beneidet habe. Ihre Augen hinter der Schildpattbrille gleiten durch den Raum, betrachten meinen Bruder und Liv, mich, dann wandern sie kurz zu Jamie, und danach blickt sie noch einmal zum hinteren Ende der Küche, wo er nach wie vor steht und die Arme schützend um Willa gelegt hat.

»Und Robyn.« Nate dreht sich zu mir. »Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du etwas Französisch sprichst, ja?«

Ich nicke mit so viel Enthusiasmus, wie ich aufbringen kann. »Auf jeden Fall kann ich es probieren«, erwidere ich, wende mich mit einem Lächeln an Claudette und sage dann zögerlich: »Bienvenue, Claudette, je suis ravie de te rencontrer.«

»Moi de même.« Sie spricht schnell und gestikuliert mit den Händen. »Je suis désolée d’arriver en retard. La circulation était chaotique, mais je pense que l’on a pris une mauvaise route.«

Ich bin komplett verloren. Vielleicht irgendwas über schwache Blutzirkulation? Ich glaube, ich habe irgendwo das Wort Zirkulation rausgehört. Und womöglich auch etwas über Essen? Und mauvaise – eventuell war sie krank? Hatte sie eine Lebensmittelvergiftung?

»Oui«, sage ich und lege eine Hand an meine Lippen, »äh …« Hilfesuchend wende ich mich an Nate und erkenne, dass er ein Lachen unterdrückt und ihm deshalb beinahe die Tränen kommen, genau wie Cat.

»Claudette spricht ausgezeichnet Englisch, Robs«, erklärt Nate. »Praktisch fließend.«

Ich blicke zu meiner Frau, dann wieder zu Claudette, die achselzuckend in perfektem, wenn auch leicht akzentuiertem Englisch sagt: »Danke für die Einladung, und es tut mir wirklich leid, dass wir zu spät kommen. Das eben war wirklich nicht meine Idee.«

»Du warst eingeweiht«, sage ich an die grinsende Cat gewandt. Nate hat einen Arm um ihre Schulter gelegt, die Geschwister amüsieren sich prächtig über ihre Finte. »Ich hasse euch. Kommt essen, bevor ich euch alle rauswerfe. Und das«, ich wende mich an Cat, »schließt auch dich mit ein.«

Während sich jeder einen Platz sucht, tischen Cat und ich die Speisen auf – Krabbenküchlein, gedünsteter Red Snapper mit Thaibasilikum und Limette, Schüsseln voller Essiggurken mit roten Chili-Flocken bestreut, unterschiedlich scharfe vegane Currys, gemischtes Gemüse mit Koriander und Sojasoße, Klebreis und verschiedenfarbige duftende Dips. Wir schenken unseren Gästen Wein und Wasser nach, und zu meiner Erleichterung schwirren angeregte Stimmen durch den Raum. Niemand hat sich an die Sitzordnung gehalten.

Nates positive Energie ist eine wahre Freude. Er berichtet von seinem Leben in Paris, seiner Arbeit als Musiklehrer, seiner Band, den Auftritten, dem Projekt, das ihn nach London geführt hat. Und er erzählt, dass Claudette seinen Yogakurs unterrichtet und es ihn viele Monate gekostet hat, sie von einem Date mit ihm zu überzeugen. Claudette zieht die Augenbrauen in die Höhe, legt den Kopf schief und sieht eher amüsiert als geschmeichelt aus. Cat und ich wechseln einen Blick. Das ist neu: Soweit wir wissen, läuft Nate niemals einer Frau hinterher. Dass sie Yogalehrerin ist, passt zu ihr: Sie ist vollkommen selbstbeherrscht, das Idealbild einstudierter heiterer Gelassenheit. Ich kann sie mir supergut im Lotussitz vorstellen, mit geschlossenen Augen meditierend. Mehrmals werfe ich ihr heimlich einen Blick zu und erkenne, dass sie das Gleiche tut – aufmerksam sieht sie Cat, mich, Liv an, neigt sich vor, um zu Willa am Tischende zu spähen. Ihre Konzentration ist faszinierend. Wenn sie spricht, wenn sie zuhört, schenkt sie jedem Menschen ihre volle, ungeteilte Aufmerksamkeit, als wären sie allein im Raum. Ich beobachte, wie sie sich kleine Portionen von den verschiedenen Currys nimmt. Den Wein rührt sie nicht an.

»Was ist das Thema deiner Dissertation, Liv?«, fragt Cat, als wir das Geschirr des Hauptgerichts abgeräumt haben und eine lange hölzerne Servierplatte mit Mangoscheiben, Erdbeeren und mit Minze garnierten Wassermelonenstücken hereinbringen.

»Ich untersuche die Korrumpierung des Gedächtnisses«, antwortet Liv. »Damit meine ich die Art und Weise, wie Erinnerungen beeinflusst, im Laufe der Zeit verändert werden können. Ich bin Psychologin.«

»Oh«, entfährt es mir ehrlich überrascht. Aus irgendeinem Grund war ich einfach davon ausgegangen, dass Liv mit Michael am Institut für Zoologie arbeiten würde.

Michael sieht mich an und lächelt. »Komm schon«, sagt er, »spuck’s aus. Du hast gedacht, sie würde das Sexualleben von Napfschnecken studieren.« Ich lache. Er kennt mich viel zu gut.

»Interessantes Gebiet«, bemerkt Claudette und richtet ihre dunklen, ruhigen Augen auf Liv.

»Ja«, sagt Liv. »Das ist es wirklich. Ich habe über falsche Erinnerungen geforscht. Es ist tatsächlich erstaunlich, wie leicht das menschliche Gehirn getäuscht und dazu gebracht werden kann, sich an etwas zu erinnern, das nie passiert ist. Ihr würdet euch wundern.«

Jetzt hat sie unsere volle Aufmerksamkeit. Wir setzen uns alle aufrechter hin.

»Selbst auf einer ganz einfachen Ebene können wir grundverschiedene Erinnerungen an ein Ereignis haben, wo man zu Recht vermuten würde, dass alle genau das Gleiche erlebt haben. Nehmen wir zum Beispiel dieses Abendessen. Wenn ich in einem halben Jahr jeden von euch einzeln darum bitten würde, sich an den heutigen Abend so detailliert wie möglich zu erinnern, wird mir jeder von euch sehr wahrscheinlich einen leicht abweichenden, vielleicht sogar einen völlig unterschiedlichen Bericht geben – mit allen möglichen Variationen, angefangen von dem, was die Gäste anhatten, und der Reihenfolge, in der sie eintrafen, bis zu dem, was wir gegessen, worüber wir uns unterhalten haben und wer was gesagt hat.«

»Mir ist nicht richtig klar, wie das gehen sollte«, wendet Jamie ein. »Wir sitzen doch genau am selben Tisch.«

»Du wärst überrascht«, erwidert Liv.

»Dann mach es«, sagt Jamie. »Heute in einem halben Jahr. Zähl auf uns.«

»Aber wenn wir wüssten, dass wir nach unseren Erinnerungen gefragt werden, hätte nicht allein das schon einen Einfluss darauf, wie wir die Ereignisse des heutigen Abends verarbeiten?«, fragt Nate. »Jeder von uns würde doch aktiv versuchen, alles so abzuspeichern, wie es passiert ist.«

»Bestimmt«, pflichtet Liv ihm bei.

»Mehr noch«, sagt Cat, »würde es nicht sogar die Art und Weise beeinflussen, wie wir uns heute Abend verhalten? Bis hin zu dem, was wir sagen? Wir wären uns unserer selbst doch schrecklich überbewusst. Niemand würde den anderen gerne als derjenige in Erinnerung bleiben, der etwas Dummes gesagt hat. Alle würden wir versuchen, uns mit unserem scharfen Witz und Verstand auszustechen.«

»Absolut«, sagt Liv, »da besteht kein Zweifel.«

Jetzt schaltet sich Willa ein. »Welche Faktoren haben also Auswirkungen darauf, wie wir Ereignisse tatsächlich erinnern?«

»Gute Frage.«

»Drogen, Alkohol«, sagt Jamie.

»Sicher«, erwidert Liv. »Das ist unbestreitbar.«

»Demenz, Älterwerden«, führt Claudette an.

»Ja. Und in diesem Bereich wird faszinierende Forschung betrieben. Aber jetzt begeben wir uns auf das Gebiet der Neurologie, denn wir sprechen über irreversible Veränderungen der Gehirnstruktur. Ähnliches gilt für Gehirnverletzungen. Da wäre noch der allgemeine Gesundheitszustand, und wie wir wissen, beeinträchtigt auch die Schlafqualität das Gedächtnis, ganz zu schweigen von anderen umfeldbedingten Faktoren wie Ablenkung – physisch, mental, einfach das, was um uns herum passiert. Ebenso von Bedeutung sind frühere Ereignisse, egal, ob sie bewusst wahrgenommen wurden oder nicht.«

Das gelbliche Kerzenlicht tanzt auf unseren Gesichtern, und ich merke, wie ich im Geiste einen Schnappschuss von der Szene mache, wir alle, gefangen wie Insekten in Bernstein, beugen uns zur Tischmitte vor, tief versunken in das Gespräch und unser Gegenüber. Michael sieht mich an. Cat und Jamie blicken zu Liv, Willa zu Claudette.

»Dann kommen wir zu anderen Faktoren: Gemütszustand, Wunscherfüllung, Stress. Verlegenheit. Demütigung. Schuld.«

»Du meinst, dass wir Ereignisse überarbeiten, damit sie zu unserer eigenen Erzählung passen«, schlussfolgert Cat.

»Stimmt genau. Und jetzt wird’s richtig interessant: Erinnerungstransfer, damit meine ich das Aneignen von Erinnerungen anderer Menschen, dass man sie in Besitz nimmt, als gehörten sie einem selbst. Und zufällig ist das mein Forschungsgebiet. Bis zu einem gewissen Grad macht das jeder. Zum Beispiel haben wir alle diese eine Geschichte, die mit jedem Erzählen ein bisschen mehr ausgeschmückt wird. Mit der Zeit wird die übertriebene Geschichte die Version, die wir tatsächlich glauben, und in unseren Köpfen ist sie nicht mehr vom Original zu unterscheiden. Und ich habe noch ein anderes Beispiel, das müsst ihr nicht laut sagen, aber wart ihr jemals mit jemandem zusammen, den ihr rückblickend total nervig findet?« Verlegenes Lachen, dann folgt eine Pause, in der alle zur Seite blicken. »Nun, so ist es ein bisschen«, sagt sie. »Eure Wahrnehmung dieser Menschen hat sich verschoben. Insgeheim wirkt eure Erinnerung mit eurem unterschwelligen Wunsch zusammen, diesen Menschen ein für alle Mal außerhalb eures Gefühlsbereichs zu stellen. Und diese Verschiebung im Denken passiert auch auf kultureller Ebene. Nehmen wir zum Beispiel Prinzessin Diana – bei ihrem Tod wurde sie als Heilige hingestellt, wohingegen sie heutzutage häufig doch als recht labil beschrieben wird. Wie ist es zu dieser Wahrnehmungsveränderung auf nationaler – gar globaler – Ebene gekommen?«

»Wir wurden alle zusammen manipuliert«, antwortet Cat, »um die Dinge anders zu erinnern.«

»Exakt«, erwidert Liv.

»Das ist wichtige Forschung«, sagt Michael, »wenn man bedenkt, dass wir ständig mit Informationen bombardiert werden, wovon ein Großteil bestimmte Intentionen verfolgt. Wir müssen wissen, inwieweit unsere Erinnerungen verlässlich sind, und ebenso, inwieweit Erinnerungen absichtlich konstruiert werden können.«

Ich schaue zu meinem schönen, brillanten Bruder und lächele. Er klingt so verdammt ernst, und dafür liebe ich ihn. So war Michael schon immer. Selbst als Kind war er diese Person, ein kleiner, leidenschaftlicher Professor, selbst damals, als wir beide noch so vollkommen unbehelligt von den Verpflichtungen des Lebens waren, frei, das zu tun, was uns beliebte. Wie grün hinter den Ohren ich damals gewesen sein muss, dass ich glaubte, meine Sommer würden immer so sein: nur ein endloser Strom warmer, sorgloser Tage, die sich ewig dahinzogen. Dann kam Willa zu Besuch, und danach änderte sich alles. Michael war auch da, in jenem Sommer, und jetzt frage ich mich, an wie viel von damals er sich noch erinnert: Wie viel er überhaupt gesehen hat und was ihm entgangen ist.

Ich? Ich erinnere mich an alles.

4  SOMMERFERIEN

ROBYN

Als Dad Willa beibrachte, wie man eine Tonschüssel fertigt, kam sogar Michael, um zuzuschauen, was nur zeigt, dass wir alle ein wenig in meine Freundin verliebt waren. Mum sagte, sie habe sehr gute Manieren, denn Willa sprach sie mit Mrs. Bee an. Unseren Vater nannte sie Chris. Ich beobachtete, wie die Augen meines Bruders ihr überallhin im Haus folgten. Noch nie hatte mein Bruder irgendjemandem so viel Aufmerksamkeit geschenkt, ganz zu schweigen einer meiner Freundinnen. Schließlich war er beinahe vier Jahre älter als ich. Er nannte mich immer Kid.

»Gibt es keine Mädchen in Oxford?«, fragte ich ihn, als Willa unter der Dusche stand. »Wie kommst du darauf, sie könnte sich ausgerechnet für dich interessieren?« In meinem Kopf hatten diese Worte neckisch und lustig geklungen, aber so kamen sie nicht heraus. Ich grinste und versetzte ihm einen Rippenstoß. »Ist nur Spaß«, sagte ich.

Michael lud Willa sogar in sein Zimmer ein, damit sie sich seine Steinesammlung ansah, eine graue Pappschachtel mit verschiedenen Exemplaren, von denen einige aus dem Moor, andere aber von sehr viel exotischeren Orten stammten. Jeder Stein lag in einem kleinem Wattebettchen: Malachit, Azurit, Obsidian, Wüstenrose und Brian, ein gelber Kieselstein, den ich im Fluss gefunden und meinem Bruder geschenkt hatte. Seinen Namen hatte ich in der gleichen winzigen Handschrift auf einen Papierfetzen geschrieben, in der Michael auch alles andere beschriftete. Willa fuhr langsam mit den Fingern über die Fossilien auf seiner Fensterbank.

»Sammelst du auch Vogeleier?«, fragte sie. Manchmal stellte sie wirklich die seltsamsten Fragen.

»Du meinst, aus den Nestern?«

Sie nickte.

»Äh, nein«, erwiderte mein Bruder. »Zunächst einmal ist das verboten. Aber darüber hinaus wäre es falsch.«

Wieder nickte Willa und ging durchs Zimmer. Endlos lange starrte sie auf die Karte der Weltmeere, die Michael an seine Zimmerwand gehängt hatte.

»Zeig mir, wo es Blue Holes gibt.«

»Blue Holes? Sicher. Das hier hat jeder schon mal auf Bildern gesehen«, Michael deutete auf Belize, »aber es gibt noch andere, die weniger bekannt sind und auch nicht so groß oder beeindruckend. Eines liegt vor der Küste von Südafrika. Und eins hier, nahe Ägypten. In der Karibik sind tatsächlich viele, selbst im Landesinneren. Und hier – Oman. Das sind alles nur Erdlöcher, aber auf den Luftaufnahmen sehen sie wirklich imposant aus – als würde man in einen Abgrund schauen.«

Willa schien zu seufzen, und einen Moment lang standen wir drei schweigend da. Dann zeigte ich ihr die Linie, die mein Bruder auf den Bodendielen gezogen hatte und die die Grenze markierte, die ich nicht hatte übertreten dürfen, bis ich beinahe dreizehn war.

»Sie war ein Kontaminationsrisiko«, erklärte Michael. »Sie war voller Glitzer.«

Später, in einer ruhigen Minute, fragte sie mich nach Michaels Gehfehler.

»Er wurde so geboren«, erzählte ich ihr. »Er war ein schwerer Fall von Talipes equinovarus – du weißt schon, Klumpfüße? Außerdem hat er noch irgendwas an den Hüften. Als Kind hatte er eine ganze Reihe von Operationen, die nicht alle gut verliefen, daher waren seine beiden Beine lange in Gips, tatsächlich über Jahre. Ich konnte vor ihm laufen.«

»Das ist schrecklich.«

»Sag das nicht«, entgegnete ich. »Es ist keine große Sache. Natürlich war immer klar, dass er nie Rugby spielen oder Marathon laufen würde oder so was, aber das war’s auch schon. Es hat ihn buchstäblich nie von etwas abgehalten. Und stell dir vor – ich war so