Solang du nicht vergisst zu lachen - Frederike Baumgarte - E-Book

Solang du nicht vergisst zu lachen E-Book

Frederike Baumgarte

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Beschreibung

Kaum hat Marvin seinen Master in der Tasche, kehrt er entgegen seiner Pläne nach Hause zurück. Zuhause trifft er auf seinen Nachbarn Nico, der nach dem Unfall seiner Frau alleinerziehend ist. Schnell freunden die beiden sich an, doch als Marvin feststellt, dass er mehr für Nico empfindet, geht er auf Abstand, nicht wissend, dass Nico ebenfalls mit seinen Gefühlen für Marvin kämpft, die so gar nicht in sein Bild von sich selbst passen.

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Frederike Baumgarte

Solang du nicht vergisst zu lachen

Gay Romance

Buch

Kaum hat Marvin seinen Master in der Tasche, kehrt er entgegen seiner Pläne nach Hause zurück.

Zuhause trifft er auf seinen Nachbarn Nico, der nach dem Unfall seiner Frau alleinerziehend ist.

Schnell freunden die beiden sich an, doch als Marvin feststellt, dass er mehr für Nico empfindet, geht er auf Abstand, nicht wissend, dass Nico ebenfalls mit seinen Gefühlen für Marvin kämpft, die so gar nicht in sein Bild von sich selbst passen.

Impressum

© 2023 Frederike Baumgarte

Frederike Baumgarte

c/o WirFinden.Es

Naß und Hellie GbR

Kirchgasse 19

65817 Eppstein

Independently Published

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Für alle Marvin Fanboys

Inhalt

Solang du nicht vergisst zu lachen

Buch

Impressum

Inhalt

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Epilog

Nachwort

Sensible Inhalte

Eigene Gedanken zu den sensiblen Inhalten

Danksagung

Sensible Inhalte

Dieses Buch thematisiert sensible Inhalte.

Wenn du dir nicht sicher bist, ob dir diese Themen emotional Probleme bereiten, lies bitte zuerst die Aufzählung.

Diese findest du aus Spoiler-Gründen am Ende des Buches.

1

Marvin

»Ich hatte dieser Floskel, dass die Zeit in bestimmten Momenten stehenblieb, nie etwas abgewinnen können. Bis zu dem Tag, an dem mein Vater mich kurz nach meinem Masterabschluss anrief.«

Ein schriller Piepton riss mich aus meinem Schlaf. Träge öffnete ich die Augen, was ich sofort bereute, denn ein Sonnenstrahl drang durch einen Schlitz der Gardine direkt in mein Gesicht. Stöhnend griff ich mir an den Kopf, in dem ein ganzer Trupp von Handwerkern zu arbeiten schien.

Wieder ertönte der Klingelton und es dämmerte mir, dass es sich dabei um mein Handy handeln musste. Ich richtete mich ein wenig auf, schob den Arm, der schwer auf meiner Hüfte lag, an die Seite und tastete nach meinem Telefon.

Hinter mir grummelte Patrick, klang dabei ähnlich benommen, wie ich mich fühlte, und kuschelte sich an meinen Rücken. »Wer ist das?«, fragte er genervt.

»Mein Vater.« Ich schaltete den Anruf auf stumm. Ich würde ihn zurückrufen, wenn ich aus dem Delirium herausgefunden hatte, in das ich mich gestern Abend gefeiert hatte.

Ich sank wieder in mein Kissen. Prompt schlang Patrick seinen Arm um mich und ich beließ es dabei, obwohl ich mich ein wenig eingeengt fühlte. Patrick war super. Er sah gut aus, stellte keine Ansprüche an mich, man konnte mit ihm sowohl feiern gehen als auch allein auf dem Sofa abhängen – oder im Bett. Er verlangte keine Definition von dem, was wir miteinander hatten. Das Einzige, was mich störte, war das immense Kuschelbedürfnis, was er an den Tag legte. Ich brauchte das nicht. Nach dem Sex bleiben, am nächsten Morgen gemeinsam frühstücken war vollkommen in Ordnung für mich. Ich war noch nie das Arschloch gewesen, was nach dem Sex sofort verschwunden war. Selbst nicht, als ich noch dachte, ich sei hetero und mit Mädchen geschlafen habe. Aber auf das Kuscheln, auf das Patrick so stand, konnte ich gerne verzichten. Das brauchte ich nicht.

»Hat er nicht schon gestern Abend angerufen?«, hörte ich ihn leise an meinem Ohr murmeln.

Unwillkürlich zog ich meinen Kopf ein, weil sein Atem unangenehm an meinem Hals kitzelte. »Ja, aber er hat mich nicht erreicht. Ich habe ganz vergessen, ihn zurückzurufen.«

»Du warst zu betrunken.«

Ich lachte leise, stöhnte dann aber auf, weil dadurch der Druck hinter der Schläfe in die Höhe schoss. »Das auch.«

Patrick drückte sich gegen mich.

Ein Grinsen überzog mein Gesicht, als ich seinen harten Penis an meinem Hintern spürte. »Erektion oder Morgenlatte?«

»Ein bisschen von beidem«, nuschelte er und ich hörte, dass er schon wieder am Einschlafen war. »Aber ich bin noch zu müde.«

Ich seufzte leise, denn mittlerweile war ich munter. Mein Kopf schrie zwar nach Schlaf, aber mein Körper war hellwach und nachdem Patrick mich daran erinnert hatte, dass mein Vater mich bereits am Vortag versucht hatte, zu erreichen, gab es dieses leise Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.

Ich versuchte es zu verdrängen und stattdessen meine Augen zu schließen, um noch eine Runde zu schlafen. Aber es funktionierte nicht und mein schlechtes Gefühl drängte mich aufzustehen.

Resigniert verließ ich schließlich das Bett, ignorierte den leisen Protest von Patrick, schnappte mir mein Handy und verschwand im Badezimmer. Anschließend, und nachdem ich mir meine Jogginghose übergezogen hatte, betrat ich die Wohnküche.

Patricks Mitbewohnerin war das Wochenende zu ihrem Freund gefahren, sodass ich mir in Ruhe einen Kaffee kochen konnte, ohne von ihrer leicht piepsigen Stimme genervt zu werden. Kathrin war ganz nett, aber die hohe Fistelstimme konnte einem echt den letzten Nerv rauben. Vor allem, wenn man eh schon unter Kopfschmerzen litt.

Während der Kaffee durchlief, rief ich meinen Vater an. Es dauerte nicht lange, bis er den Anruf entgegennahm.

»Ich bin noch nicht ganz auf der Höhe«, warnte ich ihn, ohne mich mit einer Begrüßung aufzuhalten.

»Oh, warst du gestern Feiern, ja?«

»Klar.«

»Nach dem Stress hast du dir das ja auch verdient.«

Die Kaffeemaschine beendete ihr Programm und während ich mir eine Tasse aus dem Schrank holte, fragte ich: »Du hattest versucht, mich zu erreichen?«

»Ja«, zögerte mein Vater sichtlich. »Das bedeutet, du bist fertig mit deinen ganzen Prüfungen?«

»Jep, ich bin durch.« Ich nippte an meinem Kaffee. »Ich muss nur noch darauf warten, bis mein Prof die Note eingetragen hat.«

»Aber du hast jetzt alles bestanden?«

Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen. Sonst war mein Vater doch auch nicht so schwer von Begriff. »Ja, ich habe alles bestanden.«

»Ich dachte nur, weil du gestern doch erst die Prüfung hattest.«

»Ich musste meine Masterarbeit verteidigen. Wie gesagt, ich warte nur noch darauf, dass der Prof meine Note ans Prüfungsamt weiterleitet, und dann wird mir mein Zeugnis ausgestellt.«

»Ah, dann herzlichen Glückwunsch.«

»Danke.« Mit meiner mittlerweile halbleeren Kaffeetasse, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Ablage. Unsere Unterhaltung war ungewohnt zäh und ich hatte den Eindruck, dass ihm etwas auf dem Herzen lag, was er nicht aussprechen wollte. »Aber deswegen hast du doch nicht angerufen, oder?«

»Ähm, nein«, gab mein Vater zu und seine Stimme klang bedrückt.

Ein beklemmendes Gefühl überkam mich. Irgendetwas stimmte nicht.

»Du weißt doch, dass ich in den letzten Wochen oft krank war und gar nicht mehr so richtig gesund geworden bin.«

»Du wolltest deswegen zum Arzt.«

»Ja, das war ich auch.«

Das Schweigen meines Vaters ließ das beklemmende Gefühl weiter ansteigen. »Und?«

»Er hat mich zum Onkologen überwiesen.«

Onkologen. Ich brauchte einen Moment, um die Tragweite zu verstehen. Krebs? Ich lachte auf. »Ach, Papa, mach dir keine Sorgen, Dr. Brauer ist bestimmt nur übervorsichtig.«

Wieder räusperte sich mein Vater. »Ich war schon da.«

Oh, fuck. Das klang gar nicht gut, aber meine Stimme versagte und ich wagte nicht, nachzufragen.

»Ich habe Lymphdrüsenkrebs.«

Ich dachte immer, nur in Filmen würden Menschen Gläser aus der Hand fallen, um die Dramatik der Szene zu unterstreichen, aber in diesem Moment entglitt meiner Hand die Tasse. Heißer Kaffee spritzte mir auf meine nackten Füße. Ich zuckte kurz erschrocken zusammen und starrte dann auf die Scherben, die sich auf dem Boden ausgebreitet hatten.

»Marvin?«, fragte mich mein Vater. »Alles in Ordnung?«

»Ja, alles gut«, beeilte ich mich zu antworten und versuchte mich zu sammeln. Tausend Fragen schossen durch meinen Kopf, aber keine einzige ließ sich greifen. »Und jetzt?«, stieß ich schließlich hervor und ging in die Hocke, um die Überreste der Tasse aufzuheben. Mit irgendetwas musste ich mich beschäftigen.

»Montag beginnt die Chemotherapie.«

»So schnell?« Das war übermorgen. Moment. Ich verharrte kurz in meiner Bewegung. »Seit wann weißt du denn davon?«

»Nicht lange.«

»Wie lange?«

»Seit knapp zwei Wochen«, gab mein Vater schließlich zu und ich hörte, dass er ein schlechtes Gewissen hatte.

»Und dann sagst du mir nichts?«

»Ich wollte deine letzte Prüfung abwarten.«

Fuck.

Seit zwei Wochen? Das bedeutete, dass er schon vom Krebs gewusst hatte, als wir am Sonntag telefoniert hatten. Rasch ließ ich das Gespräch Revue passieren. War er anders gewesen? Hätte ich merken müssen, dass es ihm nicht gut ging? Eine Woge von schlechtem Gewissen durchfloss mich. Ich war ein beschissener Sohn.

Ich warf die letzte Scherbe in den Müll und fasste spontan einen Entschluss »Ich komme nach Hause.«

»Das musst du nicht«, widersprach mein Vater sofort.

»Und wer kümmert sich um den ganzen Kram wie Haushalt?«

»Joy ist alt genug«, warf mein Vater ein.

»Joy ist ein verwöhnter Terrorzwerg«, gab ich zurück. Ich liebte meine Schwester, aber sie war mit ihren zarten sechzehn Jahren deutlich weniger selbstständig als ich es in ihrem Alter gewesen war.

»Du musst wirklich nicht kommen. Ich habe auch Anspruch auf eine Haushaltshilfe. Ich habe mich schon bei der Krankenkasse erkundigt.«

»Nehme ich, dann habe ich weniger zu tun. Aber ich werde auf jeden Fall erst mal nach Hause kommen.«

Mein Vater schwieg für einen Moment, ehe er leise seufzte. »Okay.«

Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Kurz vor elf. »Ich muss nur kurz nach Hause, ein paar Sachen packen und dann fahre ich los. Ich denke, so gegen zwei bin ich da.«

»Okay«, wiederholte sich mein Vater.

Plötzlich fiel mir auf, wie müde er zu sein schien. Hatte er schon in den letzten Wochen so geklungen? Wieso hatte ich ihn nicht viel früher dazu gebracht, zum Arzt zu gehen? Seit Monaten hatte er sich schlapp gefühlt. Aber er hatte es immer auf die diversen Erkältungen geschoben, die er reihenweise mitgenommen hatte.

»Gut, dann bis nachher«, verabschiedete ich mich.

Kaum hatten wir aufgelegt, starrte ich mein Handy an. Was für eine beschissene Nachricht. Meine Kopfschmerzen schienen wie weggeblasen zu sein, stattdessen spürte ich das dringende Bedürfnis eine zu rauchen.

Suchend ließ ich meine Augen durch den Raum schweifen. Ich konnte aber nur Patricks Zigaretten auf dem Tisch entdecken. Dann würde ich eben eine von ihm rauchen, wenn ich meine nicht fand. Ich schnappte mir eine Zigarette und das Feuerzeug und trat auf den kleinen Balkon, der an die Wohnküche anschloss.

Meine Hände zitterten und in mir begann sich das Karussell zu drehen, das seit Jahren nicht mehr in Betrieb gewesen war.

Dieses Karussell, das sich vor dem Tod meiner Mutter jeden einzelnen Tag gedreht hatte, während sie im künstlichen Koma gelegen und die Ärzte versucht hatten, sie zu retten. Das Karussell, das sich vor wenigen Jahren noch einmal für einen kurzen Moment gedreht hatte, als ich dachte, mein Freund sei im Maschsee ertrunken. Gott sei Dank hatte ich mich beim Letzteren nur getäuscht und ich hatte die Erfahrung gemacht, wie leicht ich in solchen Momenten in Panik geriet; dass ich am Ende einfach nur eine beschissene Angst hatte, Menschen zu verlieren, die mir wichtig waren.

Ein Grund, aus dem es mir schwerfiel, mich auf jemanden einzulassen. Deswegen war ich seit der Trennung von meinem Freund, vor knapp vier Jahren, auch single.

Ich zwang mich, ruhig ein- und auszuatmen, während ich versuchte, das Karussell in meinem Kopf zu stoppen.

Chemo.

Das klang ernst und wie ein Todesurteil, das bereits gesprochen worden war. Was würde ich machen, wenn mein Vater sterben würde? Wenn er seinen fünfzigsten Geburtstag im November nicht mehr erleben würde? Wer kümmerte sich dann um Joy? Dann wäre meine Schwester nicht nur ohne Mutter aufgewachsen, sondern müsste auch noch verkraften, dass vor ihrer Volljährigkeit Papa gestorben war.

Hinter mir öffnete sich die Tür und Patrick kam mit schlurfenden Schritten auf den Balkon. »Morgen«, begrüßte er mich gähnend.

Reiß dich zusammen, sagte ich zu mir selbst und probierte mich in einem schiefen Grinsen. »Morgen.«

Er streckte sich und seufzte laut. »Ich habe überlegt, ob wir nachher nach Garbsen, an den blauen See, fahren wollen.«

»Ich fahre nachher nach Hause, zu meinem Vater.«

Überrascht sah Patrick mich an. »Ich dachte, wir wollten uns ein paar schöne Tage machen.«

Ich zuckte mit den Schultern und ahnte, dass er meine Reaktion nicht gutheißen würde. »Das können wir ja auch noch machen, wenn ich wieder da bin.«

Ihm war anzusehen, dass er enttäuscht war. Ich hätte es ihm erklären können. Sicherlich hätte er es verstanden. Aber obwohl ich Patrick mochte und gerne mit ihm schlief und Zeit verbrachte, kannte er mich im Grunde überhaupt nicht.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mich eindringlich an.

»Was?«, fragte ich genervt.

»Willst du das mit uns überhaupt?«

Verständnislos sah ich ihn an. Wann war aus Patrick und mir ein uns geworden? »Was meinst du?«

»Ich dachte…« Er brach ab und wich meinem Blick aus. »Mir reicht das nicht mehr.«

Ich stöhnte auf. Nicht so ein Gespräch. Nicht jetzt.

Meine genervte Reaktion schien ihn getroffen zu haben, denn er sah mich nun mit einer Mischung aus Wut und Traurigkeit an. Beide Gefühle waren mir alles andere als fremd, weswegen ich vor allem Letzteres auf zehn Meilen gegen den Wind erkannte. Aber ich hatte nicht die Muße, Patrick jetzt aufzuheitern. Das Einzige, was ich wollte, war meine Ruhe und nicht ein weiteres Problem. Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich packe nur schnell meine Sachen.«

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

Er folgte mir, während ich die Wohnküche durchquerte und in sein Zimmer ging. Ich versuchte ruhig zu bleiben, während ich nach Worten suchte, die keine Diskussion heraufbeschwören würden. »Ich mag dich und ich verbringe auch gerne Zeit mir dir, aber ich will keine Beziehung. Das habe ich dir von Anfang an gesagt.« Bevor er sich dazu äußern konnte, stopfte ich hastig die restlichen Sachen in meine Tasche und sah ihn an. »Sorry, falls du dir jetzt mehr erhofft hast, aber ich war von Anfang an ehrlich zu dir und ich habe meine Meinung auch nicht geändert.«

Wut blitzte in Patricks Augen auf. »Das heißt, zum Ficken war ich gut genug, aber als Freund bin ich es dir nicht wert?«

Dieses Mal unterdrückte ich mein Seufzen. Es hatte tatsächlich mehr mit mir als mit ihm zu tun. Aber ich würde mir nicht die Mühe machen, es ihm zu erklären. Also zuckte ich stattdessen mit den Schultern. »Wenn du es so sehen willst.«

Für einen Moment taten mir meine Worte leid. Aber ich wollte sie auch nicht zurücknehmen, denn sie erfüllten ihren Zweck: Patrick verfiel in ein eisiges Schweigen und ersparte mir weitere Diskussionen, zu denen ich aktuell sowieso nicht in der Lage gewesen wäre.

Ich schnappte mir meinen Schlüssel von der Anrichte im Flur, schlüpfte in meine Sneaker und verschwand. Als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, hatte ich das dumpfe Gefühl, dass ein Abschnitt meines Lebens soeben zu Ende gegangen war – und nicht nur der, der mit Patrick zu tun hatte.

***

Die Freude nach Hause zu kommen, hielt sich in Grenzen, als ich gegen Mittag mein Auto vor unserem Haus parkte, denn ich ahnte, dass die nächste Zeit schwierig werden würde und ich wusste nicht, was mich erwartete. Abgesehen davon, dass der Holzzaun dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätte, hatte sich seit meinem letzten Besuch nichts verändert. Mich plagte das schlechte Gewissen, wenn ich daran dachte, dass ich seit Ostern nicht mehr hier gewesen war.

Seufzend stieg ich aus meinem Auto, holte meine Reisetasche aus dem Kofferraum und schloss kurz darauf die Haustür auf. »Hallo?«, rief ich im Flur lautstark und schlüpfte aus meinen Schuhen. »Papa?«

»Der schläft«, ertönte die Stimme meiner Schwester aus der Küche.

Als ich den Raum betrat, saß Joy vor einer Schüssel mit Cornflakes am Küchentisch. Ihre Haare waren zu einem perfekt unordentlichen Dutt geschlungen und ich bemerkte mit Entsetzen, dass es nicht mehr blond war, sondern in einem tiefen Schwarz glänzte. Neben ihr lag ihr Smartphone, das leise eine Serie abspielte.

»Hallo Terrorzwerg«, begrüßte ich sie und setzte ein breites Grinsen auf.

Sie grunzte unwirsch, drückte bei dem Video auf Pause und stand auf.

Sofort schloss ich sie in die Arme und drückte sie an mich.

Für einen Moment vergrub sie ihr Gesicht an meinen Hals und atmete schwer, als wäre sie über meine Anwesenheit erleichtert.

»Alles ok?«, fragte ich sie und löste die Umarmung ein wenig, um ihr ins Gesicht schauen zu können. In ihren Augen lag eine Traurigkeit, die ich aus eigener Erfahrung nur zu gut kannte. Es versetzte mir einen leichten Stich ins Herz, denn ich wollte, dass es meiner kleinen Schwester gut ging. Aber ich wusste, dass ich sie nicht vor allem beschützen konnte, obwohl ich das gerne getan hätte.

Sie legte ihren Kopf schief und sah mich an. »Ist deine Frage ernst gemeint?«

Ich zuckte mit den Schultern und löste unsere Umarmung auf. »Wie geht’s Papa?«, fragte ich, weil ich ahnte, dass Joy mir keine weitere Antwort geben würde.

Seufzend kehrte sie zurück zu ihrem Stuhl und setzte sich. »Schlecht. Aber du kennst ihn ja; er tut so, als wäre nichts.«

Ja, diese Eigenschaft hatte ich wohl von ihm übernommen. Ich tickte ähnlich.

Während Joy sich wieder ihren Cornflakes zuwandte, nahm ich mir eine Tasse aus dem Schrank und schenkte mir einen Kaffee ein, der immer griffbereit bei uns auf der Anrichte stand. »Und wie geht’s dir damit?«, fragte ich leise, als ich mich zu ihr an den Tisch setzte.

Mit vollem Mund kauend schaute sie hoch. »Womit?«

»Mit seiner Krebserkrankung, womit denn sonst?«

Überrascht zwinkerte sie. »Seit wann fragst du mich, wie es mir geht?«

Nun war es an mir, sie überrascht anzuschauen. »Schon immer? Mich interessiert es immer, wie es dir geht.«

»Habe ich in letzter Zeit nichts von gemerkt.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »War das ein Vorwurf?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn du dir den Schuh anziehst.«

Nachdenklich musterte ich Joy, die wieder auf ihrem Handy tippte und das Video weiterschaute. In den letzten Monaten hatte sie sich stark verändert; sie hatte den kindlichen Ausdruck endgültig verloren. Stattdessen waren ihre Gesichtszüge schmal geworden. Ich bemerkte, dass sie dezentes Make-up aufgelegt hatte. An ihrem Handgelenk registrierte ich ein silbernes Armband, als sie sich eine Strähne hinters Ohr strich. Ihre schwarze Strähne. »Du bist dunkel geworden.«

Sie sah vom Display hoch. »Ich hatte keine Lust mehr auf mein Straßenköterblond.« Abschätzend sah sie meine Haare an, die dieselbe Farbe hatten.

»Wie läuft es in der Schule?«

»Du musst hier nicht auf Papa machen.«

Ich zog meine Stirn in Falten. »Das hatte ich nicht vor. Ich interessiere mich nur dafür und über irgendetwas müssen wir uns doch unterhalten.«

Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. »Wie läuft es in der Uni?«

»Gut. Ich habe meinen Master bestanden.«

»Hat Papa schon erzählt«, bemerkte sie und wirkte dabei nicht sonderlich enthusiastisch. »Das heißt, du ziehst dann weg?«

Irritiert schaute ich sie an. »Wie kommst du darauf?«

Sie zuckte erneut mit den Schultern und tippte das nächste Video an. »Papa meinte, du hast dich bei einer Firma in Bayern beworben.«

»Ja, aber es steht noch nicht fest. Erst mal bin ich jetzt hier.«

Sie starrte wie gebannt auf ihr Handy. »Wie lange?«

Wieder runzelte ich die Stirn. Das Gespräch verlief anders, als ich mir vorgestellt hatte. Zudem hatte ich den Eindruck, dass Joy etwas auf der Seele brannte, was sie nicht aussprach. »Willst du mich loswerden?«

»Ich will nur wissen, wie lange du bleibst«, antwortete sie ausweichend.

»Das weiß ich noch nicht.« Ich seufzte schwer. »Ich schätze, das hängt davon ab, wie es weitergeht.«

»Ob Papa stirbt?« Sie versuchte es zu verbergen, aber ich nahm das Zittern in ihrer Stimme deutlich war.

»Joy!«

»Was?« Verteidigend sah sie mich an. »Papa hat Krebs. Ich weiß, was das bedeutet.«

»Bedeuten kann«, widersprach ich.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ist doch dasselbe.«

»Nein, ist es nicht!« Bei ihrer gespielten Gleichgültigkeit lief mir ein Schauer über den Rücken. Sie wirkte unnatürlich abgeklärt. »Wir wissen doch überhaupt noch nichts. Und heute können sie schon unglaublich viel bei Krebs machen.«

Sie verzog ihr Gesicht. »Die Lebenserwartung beträgt fünf Jahre.«

Entsetzt sah ich sie an. »Woher hast du denn die Info?«

»Internet.«

»Also, ich habe gelesen, dass die Heilungschancen bei über neunzig Prozent liegen.«

Joy schnaubte auf. »Nicht bei seiner Form von Lymphdrüsenkrebs.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah ich sie an und musste mir eingestehen, dass ich absolut keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Gab es etwa bei Lymphdrüsenkrebs auch noch Unterschiede?

Mir schwirrte der Kopf und die Ängste, die ich in den letzten Stunden, nach dem Telefonat mit meinem Vater verdrängt hatte, drohten über mir hereinzubrechen.

In diesem Moment tauchte mein Vater in der Küche auf. Als er mich sah, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Oh, du bist ja schon da!«

Ich nickte und musste mich zwingen bei seinem Anblick nicht zusammenzuzucken. Mein Vater hatte mindestens fünf Kilo abgenommen und sein Gesicht wirkte grau. Seine Augenränder verrieten die Last, die er trug.

Ich stand auf, um ihn zur Begrüßung zu umarmen, und spürte zu meinem Entsetzen seinen beinahe knochigen Oberkörper. Wahrscheinlich hätte ich ihn fragen sollen, wie es ihm ging. Aber das brachte ich nicht über meine Lippen. Denn es war eine Frage, die ich immer nur stellte, wenn er krank war und irgendwie konnte ich in diesem Moment nicht eine Frage stellen, die das Offensichtliche aussprach.

»Schön, dass du da bist.« Mein Vater löste sich aus der Umarmung. »Ich habe dir schon frische Bettwäsche aufs Bett gelegt. Du musst es nur noch beziehen.«

Ich nickte. »Danke. Das mache ich dann gleich.« Ich sah mich suchend in der Küche um. »Habt ihr schon Mittag gegessen?«

Joy deutete auf ihre Cornflakes. »Mache ich gerade.«

»Ich meine, etwas Warmes.«

Die beiden schüttelten den Kopf. »Ich war noch nicht einkaufen«, erklärte mein Vater und ich sah ihm an, dass er ein schlechtes Gewissen hatte.

Für einen Moment senkte sich eine Stille in den Raum, die erdrückend war und es wurde deutlich, dass hier etwas gewaltig schieflief. Mein Vater nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kasten, der neben dem Kühlschrank stand. »Ich lege mich wieder hin und schreibe die Einkaufsliste. Später fahre ich dann Einkaufen.«

Bevor ich reagieren und ihm sagen konnte, dass ich das übernehmen würde, war er bereits aus der Küche verschwunden.

Langsam drehte ich mich zu meiner Schwester um, die wieder auf ihr Handy starrte. Ich wurde das Gefühl nicht los, als wäre der nicht erledigte Einkauf und das fehlende Essen kein Einzelfall. »Wie lange läuft das schon so?«

»Was?«, fragte sie und klang abwesend.

Mit einer Geste schloss ich die Umgebung ein. »Das alles; dass Papa nicht rechtzeitig einkauft und dass es kein Mittagessen gibt.«

Joy zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Seit zwei, drei Wochen, oder so.«

Ihre Antwort erschreckte mich. Nicht, dass ich mir selbst jeden Tag etwas kochte. Aber ich hatte auch die Mensa. Es war das, was dahintersteckte: mein Vater hatte trotz allem, selbst nach dem Tod meiner Mutter, das Familienleben und die Organisation davon im Griff gehabt und nun schien das alles zusammengebrochen zu sein. Kurz entschlossen öffnete ich den Kühlschrank, in dem gähnende Leere herrschte. Ich klappte die Küchenschränke auf, in denen immer Lebensmittel lagerten, aber auch da war, außer ein paar Dosen Hühnersuppe und Nudeln, nichts zu finden.

»Und was esst ihr dann die ganze Zeit?«

»Papa isst sowieso fast nichts.«

Ich seufzte schwer, schloss die Schranktüren wieder und nahm mir den kleinen Notizblock, der in der Küchenschublade lag.

»Also, was wollen wir die nächsten Tage essen?«, fragte ich Joy und setzte mich an den Tisch.

Überrascht schaute sie hoch. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Deine Lasagne.«

Ich grinste und notierte mir ihren Wunsch.

2

Marvin

»Der Kontrast war damals gigantisch. Gerade noch hatte ich meinen Masterabschluss gefeiert und die Zeit bis zum Arbeitsbeginn mit Freizeitaktivitäten nach Lust und Laune verplant und im nächsten Moment saß ich im Haus meines Vaters und schrieb eine Einkaufsliste. Hannover und mein Leben schienen mit einem Schlag unglaublich weit entfernt zu sein – wie aus einer anderen Welt.«

»Kommst du mit?« Fragend sah ich Joy an, nachdem ich auf die Liste noch abschließend Bier hinzugefügt hatte.

Die Art wie sie die Augenbraue entgeistert hochzog, gepaart mit einer gewissen Arroganz, ließ mich vermuten, dass sie diesen Gesichtsausdruck häufiger nutzte. »Einkaufen?«

»Ja, einkaufen. Das muss man machen, wenn man etwas zu essen haben will.«

Sie verzog beinahe angewidert das Gesicht. »Nein! Da müsste ich ja unter Menschen.«

»Musst du doch in der Schule auch.«

»Ja, eben. Und das reicht mir völlig aus.«

Nachdenklich sah ich sie an und unterdrückte ein Seufzen. Wo war nur meine Schwester geblieben, die so pferdenärrisch und fröhlich gewesen war? Und eine kleine Dramaqueen, das durfte ich auch nicht vergessen.

Lauter als notwendig schob ich beim Aufstehen den Stuhl zurück. »Ich will nicht wissen, wie du überlebst, wenn du eines Tages allein wohnst.«

»Wozu gibt es Lieferservice? In jeder normalen Stadt kann man sich seinen Einkauf liefern lassen. Nur bei uns geht das nicht.«

Ich ignorierte ihren mauligen Kommentar, schnappte mir die Einkaufstaschen, die im Abstellraum hingen, und zog mir meine Schuhe an. »Ich bin dann weg.«

Wenig später fuhr ich auf den Parkplatz des einzigen Supermarktes, den wir in der Stadt hatten und musste schmunzeln, als mein Parkplatz frei war und mir das ein beruhigendes Gefühl gab. In den letzten sechs Jahren hatte sich viel verändert, aber manche Dinge veränderten sich eben nie. So wie der Parkplatz, den ich schon immer genommen und ich mich jedes Mal geärgert hatte, wenn er besetzt gewesen war.

Als ich mit dem Einkaufswagen den Laden betrat, fiel mein Blick sofort auf den Tresen der kleinen Bäckerei im Vorraum des Supermarktes. Da ich Brot ganz oben auf meiner Liste stehen hatte, steuerte ich auf die Auslage zu.

»Marvin!«, hörte ich eine Frauenstimme nach mir rufen und überrascht sah ich hoch. Stirnrunzelnd musterte ich die junge Frau mit erdbeerblondem Haar, die hinter dem Tresen stand und mich anlächelte. Sie kam mir bekannt vor, aber ich brauchte einen Moment, bevor ich wusste, wer vor mir stand. »Leonie.«

Sie nickte lächelnd. »Oh, du hast mich sogar noch erkannt.«

»Klar.« So selbstverständlich war das zwar nicht, aber das musste ich ihr ja nicht verraten. Sie war ein Jahrgang unter mir und eine Freundin von Timo gewesen.

»Was kann ich für dich tun?« Sie trat einen Schritt beiseite, als sie merkte, dass ich mir die Auslage hinter ihr anschauen wollte.

Ich deutete schließlich auf das oberste Regal. »Ich nehme das Roggenbrot.«

»Geschnitten?«

»Ja. Aber mach die Scheiben etwas dicker.«

Sie griff nach dem Brot und schob es in die Schneidemaschine. »Wie geht es dir?«, fragte sie und sah mich neugierig an. »Ich habe lange nichts mehr von dir gehört.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin ja auch immer nur zu Besuch hier.« Ich holte mein Portemonnaie aus der Hosentasche. »Mir geht’s gut. Und selbst?«

Ich war mir noch unschlüssig, ob mir dieser Smalltalk gefiel oder er mich eher nervte.

»Gut. Ich habe noch mal angefangen zu studieren und jobbe hier nebenbei.«

Ah. Deswegen arbeitete sie hier. Ich hatte mich bereits gefragt, weshalb jemand, der Abitur hatte, in einer Bäckerei arbeitete. Da dies jedoch überaus überheblich geklungen hätte, hatte ich beschlossen, meine Gedanken lieber für mich zu behalten.

Die Schneidemaschine war fertig und Leonie holte das Brot heraus und verpackte es. »Hast du noch mal etwas von Timo gehört?«

»Wir schreiben ab und zu.«

Sie reichte mir das Brot über den Tresen. »Dann grüß ihn mal ganz lieb von mir. Nachdem er wieder nach Köln gezogen ist, haben wir uns leider aus den Augen verloren.«

»Mache ich«, versprach ich und wusste, dass ich das mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit sowieso vergessen würde. Mein Blick fiel auf das Kartengerät, das auf dem Tresen stand. »Oh, man kann jetzt sogar mit Karte zahlen?«

Sie lachte auf. »Ja, selbst bei uns kommt mal der Fortschritt an.«

»Sehr gut.« Ich zückte meine Bankkarte.

»Hast du unsere Kundenkarte?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Möchtest du dann eine haben?«

Erneut schüttelte ich den Kopf und hielt meine Karte vor das Lesegerät. »Nein, das lohnt sich nicht. Ich wohne ja hier nicht mehr.«

Bevor Leonie sich dem nächsten Kunden zuwandte, wünschte sie mir noch ein schönes Wochenende und ich rollte meinen Einkaufswagen in die Gemüseabteilung.

Der Unterschied zu den Supermärkten in Hannover, in denen ich die letzten Jahre eingekauft hatte, waren spürbar. Die Hektik, die die Läden in der Landeshauptstadt ausstrahlten, war hier nicht anzutreffen. Die Uhr schien langsamer zu laufen und ich musste mich bremsen, als ich merkte, dass ich ungeduldig mit dem Fuß wippte. Vor mir stand eine ältere Dame vor den Äpfeln und musterte diese akribisch. Sie schien sich schwer zu tun, eine Entscheidung zu treffen.

Ich zwang mich zur Ruhe. So war das eben in meiner Heimat und wenn ich ehrlich war, hatte ich das in den letzten Jahren auch manchmal vermisst, wenn ich mich im Trubel der Großstadt erdrückt gefühlt hatte.

Die Dame sah mich entschuldigend an. »Ich brauche auch immer lang. Das tut mir leid, junger Mann. Jetzt müssen Sie wegen mir auch noch so lange warten. Aber mein Mann ist nun mal sehr eigen, was seine Äpfel betrifft.«

Ich setzte mein charmantes Lächeln auf und versicherte ihr, dass ich Zeit hatte. Hatte ich ja auch tatsächlich, auch wenn ich mich selbst erst mal daran erinnern musste.

Sie griff schließlich zu zwei Äpfeln, die sie wohl besonders ansprechend fand und legte sie in ihren Einkaufswagen.

»Ich hoffe, Ihr Mann weiß ihre Sorgfalt zu schätzen.«

Ein verschmitztes Grinsen umspielte ihren faltigen Mund. »Das will ich doch hoffen. Sonst koche ich morgen Erbseneintopf. Den mag er nicht.«

Ich wollte gerade amüsiert auflachen, als mich ein Schmerz durchfuhr. Aufgebracht, weil ich mich erschreckt hatte, drehte ich mich um, und wollte die Person hinter mir schon anfahren, sie solle mit dem Einkaufswagen besser aufpassen, als mein Blick auf ein kleines, blondes Mädchen fiel, das mich entschuldigend anschaute. Ihre Hände umfassten den kleinen Einkaufswagen für Kinder.

»Finja! Du musst aufpassen.« Eine junge Frau kam auf uns zu und griff nach der Fahne, die am Wagen befestigt war. »Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Leute umfahren.«

»Tut mir leid«, sagte Finja.

Ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Es ist ja nichts passiert«, beruhigte ich sie und schaute hoch. Die blauen Augen, die mich anschauten, waren mir nur allzu vertraut. »Oh, hey, Saskia«, begrüßte ich meine – ja, was war sie gewesen? Meine Ex-Freundin? Eigentlich nicht, denn wir waren nie zusammen gewesen. Wir hatten eine unverbindliche Beziehung gehabt, die mehr aus Sex als aus anderen Dingen bestanden hatte. Aber wir hatten uns auch nie gestritten und ich freute mich, sie wiederzusehen. Spontan beugte ich mich vor und nahm sie zur Begrüßung in den Arm.

»Lange nicht gesehen«, murmelte sie an meinem Ohr, während sie die Umarmung kurz erwiderte. »Bist du zu Besuch hier?«

Ich löste mich von ihr. »Ja, wahrscheinlich für ein paar Wochen. Wenn du magst, können wir uns ja mal treffen.« Ein paar soziale Kontakte würden mir wohl nicht schaden. Vor allem, weil ich nicht wirklich etwas zu tun hatte.

Ihr Blick fiel auf das Mädchen, die mich nun neugierig musterte. »Ich muss schauen, wie ich das mit Finja mache. Aber kriegen wir sicherlich mal hin.«

»Das wäre schön. Dann können wir ein bisschen über alte Zeiten quatschen.«

Mit einem schiefen Grinsen sah sie mich an. »Alte Zeiten? Wir alt bist du? Vierzig?«

Ich lachte auf und zuckte mit den Schultern. »Das nicht, aber ich war so mit meinem Studium beschäftigt, dass ich den Kontakt zu den meisten verloren habe.«

Sie nickte. »Das stimmt. Aber zu den meisten habe ich auch keinen Kontakt mehr.« Sie deutete dezent auf das Mädchen. »Als Alleinerziehende hat man nicht wirklich die Möglichkeit auf Partys zu gehen oder abends um die Häuser zu ziehen.«

Es war wahrscheinlich nicht sehr nett von mir; aber irgendwie überraschte mich die Tatsache nicht, dass Saskia alleinerziehende Mutter war. Sie war damals schon nicht der Typ für eine langfristige oder verbindliche Beziehung gewesen. Gerade deswegen hatte es so gut zwischen uns gepasst. Bis ich Timo kennengelernt hatte, hatte ich auch kein Interesse an einer festen Partnerschaft gehabt. Nach ihm allerdings auch nicht mehr. Nicht, weil ich ihm noch hinterhertrauerte. Wir waren im Guten auseinander gegangen, auch wenn es schmerzhaft gewesen war. Aber ich hatte auch nicht das Bedürfnis mich wieder an einen Menschen zu binden, den ich am Ende vielleicht doch nur wieder verlieren würde.

Ich wandte mich an Finja. »Gehst du denn schon zur Schule?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

In einer liebevollen Geste strich Saskia ihrer Tochter über die Haare. »Sie kommt erst nächstes Jahr zur Schule.«

Finja nickte eifrig. »Aber Merle kommt dieses Jahr zur Schule.«

»Ist das deine Freundin?«

»Meine beste Freundin.« Ihre Brust schien vor Stolz ein bisschen anzuschwellen.

»Beste Freunde sind super«, antwortete ich. »Ich habe auch einen. Aber den sehe ich leider nicht oft, der wohnt nämlich ganz weit weg.«

Mitfühlend sah Finja mich an. »Oh, das ist doof.«

»Ja, manchmal schon.«

»Du kennst Merle wahrscheinlich sogar«, warf Saskia ein. »Sie ist die Tochter eures Nachbarn.«

»Oh, von Dr. Brauer?«

»Ja, genau.«

Ich bewegte meinen Kopf abwägend hin und her. »Nicht wirklich. Die sind damals eingezogen, kurz bevor ich nach Hannover gezogen bin, deswegen habe ich unsere neuen Nachbarn nie kennengelernt. Ich habe sie nur hin und wieder mal gesehen.«

Finja fing an, den Einkaufswagen unruhig hin und her zu schieben. »Können wir weiter, Mama?«

Saskia sah mich an. »Dann wünsche ich dir noch ein schönes Wochenende. Und grüß deinen Vater von mir, ja?«

In ihren Worten hatte eine Tiefe mitgeschwungen, dass ich sie irritiert ansah.

»Ich bin Arzthelferin bei Nico, also Dr. Brauer.«

Ah. Sie wusste also von der Krebserkrankung meines Vaters. »Mache ich«, versprach ich und nahm mir vor, die Grüße nicht zu vergessen. »Hast du dein Handy dabei?«, fragte ich sie, bevor sie sich in Bewegung setzte.

Als sie nickte, hielt ich auffordernd meine Hand hin. »Ich speichere dir schnell meine Nummer ein.«

Wortlos reichte sie mir ihr Handy. Ich tippte meine Nummer ein und ließ es dann bei mir klingeln. »Ich melde mich bei dir.«

Saskia steckte ihr Handy wieder in die Hosentasche und nickte zustimmend. »Mach das. Bis dann.«

»Bis dann.« Für einen Moment sah ich den beiden hinterher, bis sie im nächsten Gang, und damit aus meinem Blickfeld verschwanden. Saskia war erwachsen geworden. Es sollte mich wohl nicht auf diese Art überraschen, wie es der Fall war. Im Vergleich zu ihr kam es mir vor, als hätte ich mich nicht verändert. Ja, ich trug mittlerweile eine Art von einem Drei-Tage-Bart und hatte mein Studium abgeschlossen. Aber wirklich erwachsen fühlte ich mich deswegen nicht. Nicht auf diese Art, die Saskia ausstrahlte. Aber vielleicht kam das ganz automatisch, wenn man ein Kind hatte.

Ich griff nach meiner Liste, um meinen Einkauf wie geplant fortzusetzen und hoffte, dass ich nicht auf weitere alte Bekannte traf, denn sonst käme ich erst mit Ladenschluss aus dem Supermarkt.

***

Ich stand in der Küche und war dabei, die Tüten auszupacken, als mein Vater hereinkam. »Oh, du warst einkaufen.«

»Ja, hat Joy dir nicht Bescheid gesagt?«

»Ich habe bis eben geschlafen.«

Ich verharrte kurz in meiner Bewegung und schaute meinen Vater genauer an. »Wie geht’s dir?«

Für einen Moment senkte sich eine bleischwere Stille über den Raum. Seufzend ließ mein Vater sich auf einen Stuhl nieder. »Schlecht.«

Irgendwie hatte ich trotz allem nicht mit einer ehrlichen Antwort gerechnet und nun wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Also wandte ich mich wieder dem Einkauf zu und griff beherzt in die Tüten, um diese weiter auszuräumen. »Was wird Montag jetzt eigentlich genau gemacht?«

»Es wird ein Port gelegt und dann bekomme ich die Chemo.«

»Soll ich dich hinfahren?« Ich stellte die Frage, ohne dabei von meiner Beschäftigung aufzuschauen.

»Nein, es kommt ein Taxi. Die holen Patienten, die ambulante Chemotherapie machen, ab und bringen sie auch wieder nach Hause.«

Oh. Dass es so etwas gab, hatte ich nicht gewusst. Aber woher auch? Ich hatte mit Krebs noch nie etwas zu tun gehabt. Das war auch ein Grund, weswegen es mich völlig überforderte. Erschwerend kam hinzu, dass mein Vater und ich noch nie über Gefühle gesprochen hatten. Wir hatten uns im Grunde immer gut verstanden und ich hatte gerne zu Hause gewohnt, aber das Reden über unsere Gefühle war nie Thema bei uns gewesen.

»Wie lange dauert die Behandlung?«

»Zwei, drei Stunden oder so.« Mein Vater machte eine kurze Pause. »Die Arzthelferin meinte, ich solle mir ein Buch mitnehmen. Bei der ersten Chemo würden die meisten noch lesen.«

»Danach nicht mehr?«

Aus meinen Augenwinkeln heraus sah ich, dass mein Vater den Kopf schüttelte. »Wohl nicht. Die meisten sind dann zu müde und verschlafen die Behandlung.«

»Dann ist es wenigstens nicht so langweilig«, warf ich in einem Ton ein, der selbst in meinen Ohren zu flapsig klang.

Mein Vater jedoch verzog sein Gesicht zu einem leichten Grinsen.

Ich seufzte leise, ehe ich mich zu ihm umdrehte. »Und was hast du nun für einen Krebs? Du hast etwas von Lymphdrüsenkrebs gesagt, aber Joy meinte, da gäbe es noch Unterschiede.«

»Ich habe ein Non-Hodgin-Lymphom.« Mein Vater sah meinen verständnislosen Blick und lachte auf. »Das ist eine sehr aggressive Form von Lymphdrüsenkrebs.«

Entsetzt sah ich ihn an. »Fuck«, rutschte es mir heraus. »Joy meinte schon, dass es schlimm aussieht.«

»Ja und nein. Das gute an den aggressiven Lymphomen ist, dass sie wohl sehr gut auf Chemotherapie reagieren und wenn es früh genug entdeckt wird, sind die Heilungschancen sehr gut.«

Besorgt sah ich ihn an und meine Brust zog sich zusammen. »Ist es denn früh genug erkannt worden?«

Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Nico, also Dr. Brauer, sagt ja.«

»Also die Chancen stehen gut?«

»Die Ärzte in der Praxis, wo ich die Chemo machen werde, haben mir keine Prognose gegeben.«

Ich schnaubte.

»Das heißt nicht, dass die Chancen schlecht stehen, Marvin«, versicherte mir mein Vater mit eindringlicher Stimme.

In meinem Hals bildete sich ein schmerzhafter Kloß; in der Kombination mit meiner Brust, hatte ich für einen Moment das Gefühl, nicht richtig atmen zu können.

»Sie haben gesagt, dass sie generell keine Prognose geben. Man muss die Chemo abwarten.«

»Wie oft musst du die machen?« Ich versuchte, das beklemmende Gefühl zu verdrängen und zwang mich zur Ruhe. Meinem Vater wäre jetzt nicht geholfen, wenn ich austicken würde.

»Erst mal sind drei Behandlungen geplant und dann schaut man, wie sich die Lymphome entwickelt haben. Im November wissen wir wahrscheinlich mehr.«

Ruckartig riss ich meinen Kopf hoch und starrte ihn entsetzt an. »Erst!?«

Mein Vater nickte langsam. »Ja, die Chemo wird mich wohl eine Weile begleiten.«

Fahrig griff ich durch meine Haare und wandte mich rasch den Einkaufstüten zu, damit mein Vater nicht sehen konnte, wie aufgewühlt ich war. Darüber zu reden, machte das alles viel zu real. Und so verdammt schwer.

»Danke, dass du hergekommen bist.« Mein Vater war aufgestanden und stand jetzt hinter mir. »Aber du musst dich hier nicht um alles kümmern.«

Emsig fing ich an die restlichen Einkäufe aus der Tasche zu packen. »Doch«, beharrte ich, »das muss ich. Wer kümmert sich sonst um das Essen und den Haushalt?«

»Du solltest deine freien Monate, bis dein Job in München anfängt, genießen.«

»Noch habe ich den nicht«, gab ich zurück.

»Du weißt, was ich meine.«

Etwas in der Stimme meines Vaters ließ mich erneut in meiner Bewegung innehalten. Langsam drehte ich mich um. In den Augen meines Vaters standen Tränen.

Ich schluckte schwer. Ich hatte ihn das letzte Mal weinen sehen, kurz nachdem meine Mutter gestorben war; also vor sechszehn Jahren. Der Anblick von seinen nicht geweinten Tränen in seinem hageren Gesicht, ließ meinen Puls in die Höhe schnellen und hinterließ in mir einen unbändigen Drang aus der Situation zu verschwinden. Rasch stellte ich die Nudelpackung, die ich in der Hand gehalten hatte, auf die Arbeitsplatte. »Ich gehe Laufen.«

Mit diesen Worten rannte ich nach oben in mein altes Zimmer und wühlte in meiner Reisetasche, bis ich meine Sportklamotten fand. Hastig zog ich mich um, und war froh, dass ich daran gedacht hatte, meine Laufschuhe einzupacken.

Ich musste dringend raus.

3

Marvin

»Die ersten Tage wieder zu Hause zu sein, war merkwürdig. Nicht, weil sich so viel verändert hatte, sondern eher, weil ich nur noch bedingt Teil des Lebens war, was mein Vater und Joy geführt haben.«

Als ich die Terrasse betrat schlug mir die Hitze entgegen. Drinnen war es deutlich kühler, aber es widerstrebte mir beim strahlenden Sonnenschein den Nachmittag im abgedunkelten Haus zu verbringen.

Joy hatte es sich in einem hängenden Schaukelsessel, der am Rand der Terrasse hing, gemütlich gemacht. Auf ihrer Nase saß eine viel zu große Sonnenbrille und sie las in einem Buch, das auf ihren angezogenen Beinen lag.

Mit einem ächzenden Laut ließ ich mich auf einen der Stühle fallen. Ich legte meine Füße auf einen anderen Stuhl und öffnete mir an der Tischplatte mein Bier.

Meine Schwester ließ sich davon nicht stören und blätterte stattdessen seelenruhig die nächste Seite um.

»Ist dir das nicht zu heiß?«, fragte ich sie und deutete auf ihren Cardigan.

»Nein, das ist ja nur ganz dünner Stoff und außerdem sitze ich im Schatten.«

Ich schnaubte ungläubig und wischte mir eine Schweißperle von der Stirn. »Zuhause würde ich jetzt mit Patrick zum Blauen See fahren.«

Joy hielt kurz inne und ihre Stimme nahm einen kalten Tonfall an. »Niemand hält dich auf.«

Ich beschloss, ihre Bemerkung zu ignorieren und versuchte stattdessen einen Blick auf das Buch zu werfen. »Was liest du da?«

Seufzend hielt sie das Buch hoch, sodass ich das Cover sehen konnte. Es passte zu ihrer neuen Haarfarbe; schwarz. »Sieht düster aus.« Ich beugte mich vor, um aus der Entfernung etwas erkennen zu können. »Was ist das? Eine Tomate?«

Irritiert schaute Joy auf das Cover und rollte genervt mit den Augen. »Das ist ein Granatapfel.«

»Die Sünder, die wir sind«, entzifferte ich langsam den Buchtitel. »Worum geht es da?«

»Um einen Priester.«

Ah. Und so etwas las meine Schwester? Wir waren nicht wirklich religiös; deswegen wunderte ich mich.

In diesem Moment ertönte aus der Küche Joys Handy. Seufzend stand sie auf, legte das Buch auf den Tisch und verschwand.

Neugierig geworden nahm ich das Buch zur Hand und begann zu blättern. Nach nur wenigen Seiten blieb mein Herz ein bisschen stehen. Was zum Henker las meine Schwester da?

»Und eine Sünderin… Du böses Mädchen.« Er umfasste mein Handgelenk fester und zog mich an sich heran, bis ich zwischen seinen Beinen stand. Mein Knie streifte seinen Schritt. »Weißt du, was man mit bösen Mädchen macht?« Seine Augen verdunkelten sich.

»Man bestraft sie.« Der Satz kam mühelos über meine Lippen.

»He! Das ist mein Buch!« Joy tauchte neben mir auf und riss mir das Buch aus der Hand.

Mit großen Augen sah ich sie an. »Haben die beiden gerade echt Sex im Beichtstuhl?«

Meine Schwester grinste. »Heiß, oder?«

Kopfschüttelnd griff ich nach meinem Bier. »Was ist bloß aus meiner süßen, kleinen Dramaqueen geworden?«

Joy verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und setzte sich wieder in den Hängesessel. »Sie ist erwachsen geworden.«

Entsetzt deutete ich auf das Buch. »Aber das ist ja ein halber Porno!« Denn die Sexszene war sehr ausführlich beschrieben worden.

»Quatsch! Überhaupt nicht. Isabelle Herzog schreibt richtig gut. Da geht es eben nicht immer nur ums Ficken.«

Bei dem Ausdruck verschluckte ich mich beinahe an meinem Bier.

»Marvin, echt jetzt?« Wieder rollte meine Schwester genervt mit den Augen. »Ich bin keine zehn mehr. Tu nicht so, als hättest du in meinem Alter anders geredet.«

Auf einmal fühlte ich mich furchtbar alt. Natürlich hatte ich nicht anders gesprochen. Aber es war doch meine kleine Schwester, die vor mir saß und einen Porno las.

Joy vergrub sich wieder in das Buch und ich musste mir eingestehen, dass sie wohl wirklich nicht mehr das kleine Mädchen war, das ich mit großgezogen hatte.

Ich zündete mir eine Zigarette an und versuchte die neue Erkenntnis zu verdauen. Ich mochte keine Veränderungen und tat mich verdammt schwer damit.

»Rauchen ist aber ungesund.«

Ich schreckte hoch und sah mich irritiert um.

Ohne aufzusehen, erklärte Joy: »Das ist Merle, die Tochter des Nachbarn.«

Suchend sah ich mich um und entdeckte schließlich ein kleines Mädchen mit braunen Haaren, das ihr in Wellen auf die Schulter fiel. Sie stand am Zaun und sah mich durchdringend an. Ich beschloss ihren Kommentar zu ignorieren, denn ich mochte keine vorlauten Kinder.

»Davon stirbt man.«

Seufzend wandte ich mich nun doch wieder zu ihr. Was sollte ich dazu sagen? Sie hatte durchaus recht, aber mich nervte es, mich von einem Kind in meinem Garten – oder im Garten meines Vaters – belehren lassen zu müssen. Ich grinste sie an. »Hallo, Merle.«

Überrascht zog sie ihre Augenbrauen hoch. »Woher weißt du, wie ich heiße?«

»Ich weiß alles.«

Bei diesen Worten schnaubte Joy lautstark auf. »Lass dir keinen Quatsch erzählen, Merle. Das ist nur mein Bruder und ich habe ihm gerade deinen Namen verraten.«

Das Mädchen zog einen Schmollmund. »Das ist aber nicht nett«, sagte sie zu mir und verschränkte die Arme.

»Wetten, ich kann den Namen deiner besten Freundin erraten?«

»Niemals.«

»Ich habe drei Versuche, ja?«

Merle nickte und sah mich siegessicher an. Ich tat so, als müsste ich mich konzentrieren. »Lena?«, brachte ich schließlich hervor.

Kichernd schüttelte sie den Kopf.

»Neele.«

Merle lachte auf und für einen Moment war ich irritiert davon, denn es klang nicht so offen und frei, wie ich es bei anderen Kindern gewohnt war. Ich kannte vielleicht nicht viele Kinder, aber ich wusste, dass ein unbeschwertes Kinderlachen anders klang. Ich schnippte mit dem Finger. »Jetzt habe ich es!« Grinsend sah ich sie an. »Finja.«

Ihre Augen wurden groß. »Woher weißt du das?« Dann fiel ihr Blick auf meine Schwester. »Das hat dir Joy gesagt.«

Diese schüttelte den Kopf und sah mich stirnrunzelnd an.

Ich beschloss die beiden nicht im Ungewissen zu lassen. »Ich habe Finja gestern mit ihrer Mama im Supermarkt getroffen. Und sie hat mir ganz stolz von dir erzählt.«

»Woher kennst du die denn?«, fragte Joy überrascht.

»Ich war mal mit Finjas Mama befreundet.«

Über das Gesicht meiner Schwester huschte ein dreckiges Grinsen. »So nennst du das also.«

Dieses Mal war ich es, der genervt mit den Augen rollte. »Das war vor meinem Outing.«

»Das dachte ich mir schon.« Joy wandte sich wieder ihrem Porno-Buch zu. »Ich wusste nur nicht, dass du auch mit Finjas Mutter im Bett warst.«

Ich schnaubte. »Das klingt, als hätte ich mit jeder Frau etwas gehabt.«

Joy zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich war noch zu klein und kann mich eh nicht wirklich daran erinnern, dass du jemals mit einem Mädchen nach Hause gekommen bist.«

So viele waren es auch tatsächlich nicht gewesen. Allerdings hatte das mehr daran gelegen, dass ich die Erfahrung gemacht hatte, dass die meisten Mädchen in ihren eigenen vier Wänden wesentlich entspannter gewesen waren, als wenn ich sie mit zu mir genommen hatte. Sturmfreie Bude vorausgesetzt natürlich.

Aber die Zeiten waren schon lange vorbei und selbst die Vorstellung, noch einmal mit einer Frau zu schlafen, brachte mein Blut nicht gerade in Wallung.

»Merle!«

Der Tonfall, mit dem nach ihr gerufen wurde, ließ keinen Widerspruch zu. »Mein Papa«, bestätigte die Nachbarstochter meine Vermutung. »Es gibt Abendbrot.«

Oh. War es schon so spät? Als ich auf meine Armbanduhr schaute, sprang die Anzeige auf 18:01. Oh ha, da war die Kleine wohl aber spät dran. »Typisch Deutsch«, murmelte ich, nachdem das Mädchen verschwunden war. »Um sechs Uhr gibt es Abendbrot.«

»Ja, Nico ist da sehr pingelig«, bestätigt Joy und sah mich fragend an. »Hat Papa dir eigentlich erzählt, dass Sarah im März gestorben ist?«

»Welche Sarah?«

Joy nickte in Richtung des Nachbargartens. »Die Mutter von Merle.«

Ich hatte noch nicht einmal gewusst, dass unsere Nachbarin Sarah hieß. Doch es dämmerte mir dunkel und ich erinnerte mich schwach daran, dass mein Vater Ostern davon erzählt hatte. Er hatte etwas von einem Autounfall erzählt und dass sein Nachbar nun alleinerziehender Vater war.

Wahrscheinlich hatte mein Vater dieses Schicksal sehr getroffen, weil er vor vielen Jahren vor den gleichen Scherben des Lebens gestanden hatte. Und wahrscheinlich hatte ich genau aus diesem Grund diese Information ganz schnell in die hinterste Ecke verbannt. Das Leid, was dahintersteckte, konnte ich nur allzu gut verstehen.

Und auf einmal wusste ich auch, warum Merles Lachen nicht unbeschwert geklungen und an was es mich erinnert hatte; es war die Erinnerung an mein eigenes Lachen. Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte ich zunächst aufgehört zu lachen und später dann den Klassenclown gemimt. Ich hatte mir ein Lachen angeeignet, das alle anderen unterhielt und ein fester Bestandteil meiner Selbst geworden war.

Ob dieses Lachen jedoch echt war; das konnte ich bis heute nicht sicher beantworten.

***

Zwei Stunden, nachdem mein Vater am Montag zu seiner ersten Chemo abgeholt worden war, sah ich mich unschlüssig um. Ich hatte die Wäsche gemacht und Joy ihren Wäschekorb ins Zimmer gestellt. Falten und wegräumen würde sie wohl selbst schaffen. Oder sie musste eben aus dem Wäschekorb leben, wie ich es zu Hause in Hannover auch meistens machte. Die Küche war aufgeräumt, die Badezimmer geputzt, und durchgesaugt und gewischt hatte ich auch.

Abgesehen vom Staubwischen hatte ich nichts mehr zu erledigen und das verschob ich auf den nächsten Tag. Immerhin hatte ich hier nichts zu tun und würde noch eine ganze Weile bleiben. Damit würde ich noch genügend Zeit haben, das Haus von oben bis unten bis ins kleinste Detail zu putzen. Wäre ich innerlich nicht so furchtbar unruhig gewesen, weil das Wissen, dass mein Vater sich der ersten Behandlung unterzog, mich fertig machte, wäre ich wohl nicht in einen Putzwahn gefallen, sondern hätte mir irgendeine spaßigere Beschäftigung gesucht. Oder wäre Laufen gegangen, aber dafür war es mir zu heiß.

Während die Kaffeemaschine durchlief, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte und schaute durch die Terrassentür nach draußen. Im Garten des Nachbarn konnte ich einen Mann sehen, der dabei war, den Rasen zu mähen. Wenn der Nachbar meines Vaters nicht seit neuestem einen Gärtner hatte, musste das Dr. Brauer sein.

Mit meinem Kaffee schlenderte ich auf die Terrasse. In diesem Moment stellte der Mann den Rasenmäher ab und entdeckte mich. Er zog sich seine Arbeitshandschuhe aus und kam auf mich zu. Verwundert zog ich die Augenbraue hoch. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der beim Rasenmähen Handschuhe trug.

»Sie müssen Marvin sein.«

Ich trat an den Zaun, der die Grundstücke voneinander trennte und reichte ihm meine Hand. »Und Sie dann wahrscheinlich Dr. Brauer – oder der Gärtner.«

Der Mann sah mich für einen Moment stirnrunzelnd an, ehe er ein schmales Lächeln zeigte. »Nico, bitte.«

Ich hob grüßend meine Kaffeetasse. »Marvin.«

»Dein Vater erzählt viel von dir.«

»Oh ha.« Ich nippte an meinem Kaffee, der mittlerweile etwas abgekühlt war. »Ich wusste nicht, dass man mit mir angeben kann.«

»Das kann man als Vater wohl immer.«

»Das kann ich nicht beurteilen.« Mit einem Nicken in Richtung des Rasenmähers, fragte ich: »Musst du gar nicht arbeiten?«

»Montags habe ich immer meinen freien Tag.« Nico zupfte an den Handschuhen herum. »Na ja, was heißt, frei. Eigentlich ist das mein Tag am Schreibtisch; Berichte lesen und schreiben und so einen Kram.«

»Klingt nicht so spannend.«

Nico seufzte. »Nein, ist es auch nicht. Erst recht nicht bei dem Wetter.« Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die er mit dem Handrücken wegwischte. »Wobei Rasenmähen auch keine besonders gute Idee war.«

»Bei der Hitze ist Schwimmen gehen die einzig gute Idee.«

»Das stimmt wohl. Vielleicht mache ich das nachher mit Merle und Johannes. Aber Johannes mag kein Wasser. Der ist immer mehr mit Schreien beschäftigt.«

Ich stellte vorsichtig meine Tasse auf den Zaun ab und kramte nach meinen Zigaretten. »Wie alt sind die beiden eigentlich?«

Als meine Tasse gefährlich ins Wanken geriet, griff Nico nach ihr, um sie vor den Absturz zu bewahren. »Merle wird nächsten Monat sechs und Johannes ist zwei geworden.«

Für einen Moment dachte ich daran, dass das verdammt früh war, um seine Mutter zu verlieren. Vor allem sein Sohn würde sich nicht mehr an seine Mutter erinnern können. Ich nahm Nico meine Tasse wieder ab. »Möchtest du auch einen Kaffee? Wir könnten uns auch auf die Terrasse, in den Schatten setzen.«

Nico zögerte sichtlich. »Eigentlich muss ich an den Schreibtisch.«

»Dein Papierkram läuft nicht weg.«

»Das stimmt wohl«, gab er nach. »Ein kurzer Kaffee wird wohl gehen.«

»Dann hole ich dir einen.« Ich verschwand in der Küche, nachdem sich Nico über den Zaun geschwungen hatte.

Während ich ihm eine Tasse aus dem Schrank holte, tauchte er in der Tür auf. »Milch? Zucker?«, fragte ich ihn.

»Ich will doch keinen Kuchen backen«, gab er zurück und schmunzelte leicht.

Ich grinste. Der Spruch war gut; den musste ich mir merken. »Also schwarz, ja? Ich liebe unkomplizierte Gäste.«

»Wie geht es deinem Vater?«

Beinahe hätte ich laut aufgestöhnt. Ich hatte für einen Moment erfolgreich verdrängt, dass mein Vater gerade mit Chemo vollgepumpt wurde. »Er ist gerade bei seiner ersten Behandlung.« Ich wusste, dass ich Nicos Frage damit nicht beantwortet hatte.

»Er hat gute Chancen.« Sein Tonfall war sanft und eindringlich. Als ich hochschaute, sah er mich nachdrücklich an; als wollte er mich beruhigen.

Seine Bemerkung ignorierend, drückte ich ihm die Tasse in die Hand. »Lass uns rausgehen.« Ich wollte nicht darüber reden und ich wollte auch nicht, dass mir irgendjemand gut zuredete und mir Hoffnung machte, wo es eventuell keine gab. Ich rechnete lieber mit dem Schlimmsten, damit das Ende nicht so schmerzhaft werden würde.

Call me Pessimist. Ich bezeichnete mich jedoch lieber als Optimist mit Lebenserfahrung.

Wir setzten uns auf die Terrasse und ich zündete mir eine weitere Zigarette an. »Deine Tochter hat mir schon gesagt, dass rauchen ungesund ist.«

Nico seufzte. »Ja, sie ist ein bisschen vorlaut. Sie hatten in der Vorschule gerade Prävention.«

»So früh schon?«

»An sich ja nicht verkehrt. Aber irgendwie ist sie jetzt der Meinung, sie müsse jedem erzählen, dass er stirbt, sobald er raucht oder Alkohol trinkt.«

»Oh, da hätte sie bei mir aber viel zu tun.«

»Student halt.«

Ich grinste ihn an. »Ja, die Studentenpartys sind schon etwas anderes.«

»Maschinenbau, richtig?«

Ich nickte und wunderte mich kurz, woher er wusste, was ich studierte, bis mir einfiel, dass er gesagt hatte, dass mein Vater gerne mit mir angab. Etwas, was mir ehrlich gesagt, missfiel. Außerdem führte es dazu, dass ich keine Ahnung hatte, was Nico von mir wusste und welches Bild er von mir hatte. Was mein Vater ihm wohl von mir erzählt hatte? Mein Sohn Marvin ist schwul und studiert Maschinenbau? Außerdem hat er eine große Klappe und nimmt nie etwas ernst?

Das waren wohl die Attribute, mit denen mich die meisten Leute beschreiben würden.

»Aber ich bin gerade fertig geworden.«

»Und, schon große Karriere geplant?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich.«

Eine eher unangenehme Stille entstand zwischen uns. Diese Stille, wenn man sich nicht kannte und nicht wusste, worüber man reden sollte. Für einen Augenblick fragte ich mich, weshalb ich Nico überhaupt auf einen Kaffee eingeladen hatte. Aber irgendwie hatte ich gedacht, es wäre nett ihn besser kennenzulernen. Vielleicht war ich auch einfach gut erzogen und in unserer Kleinstadt, die mehr einem Dorf ähnelte, machte man das eben so.

Nun saß ich also mit einem fremden Mann auf der Terrasse, von dem ich nur wusste, dass er der hiesige Hausarzt, Witwer und alleinerziehender Vater war. Ich musterte ihn unauffällig. Seine braunen Haare klebten vom Schweiß zusammen. Er sah müde aus und auf seiner Stirn zogen sich drei tiefe Falten. Wie ich, hatte er einen Drei-Tage-Bart und ich stellte fest, dass er gut aussah. Ein wenig zu gut für einen Kleinstadt-Arzt wahrscheinlich. Bei dem Gedanken schmunzelte ich leicht.

»Worüber denkst du nach?« Nico sah mich skeptisch an.

Ich grinste breit. »Dass die Frauen in dieser Stadt wahrscheinlich ziemlich häufig krank sind, seitdem du hier bist.«

Er runzelte zunächst die Stirn, ehe ein leises Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Es wirkte, als würde er nicht sehr oft lachen. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber ja, ich habe tatsächlich viele Patientinnen.«

»Siehst du.«

Nico trank einen großen Schluck seines Kaffees. »Ich nehme an, es sollte ein Kompliment sein.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Du bist halt ein attraktiver Mann.«

Nachdenklich sah er mich an. »Und das stellst du jetzt fest, weil…?«

»Weil ich weiß, worauf Frauen stehen!?« Ich wusste nicht recht, worauf Nico hinauswollte, auch wenn ich eine leise Ahnung hatte. »Okay, was hat mein Vater dir von mir erzählt?«

»Wie kommst du jetzt darauf?«

Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus und seufzte. »Offensichtlich hat er dir erzählt, dass ich schwul bin, sonst hättest du gerade nicht so merkwürdig darauf reagiert, als ich sagte, dass du ein attraktiver Mann bist.«

Täuschte ich mich oder wurde Nico tatsächlich ein wenig rot? Beinahe hätte ich laut gelacht, weil ich seine beschämte Reaktion amüsant fand.

Aber wenigstens war Nico ehrlich. »Ja, wahrscheinlich schon. Es kommt nicht oft vor, dass mir ein Mann so direkt sagt, dass ich gut aussehe.«

»Ich bin immer ehrlich und direkt«, gab ich schulterzuckend zurück und beugte mich ein wenig vor. »Und keine Sorge, nur weil ich sage, dass du für Frauen attraktiv bist, heißt das nicht, dass ich auf dich stehe.«

Nico räusperte sich und nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. »Gut zu wissen.«

Ich wollte gerade noch etwas sagen, als das Telefon im Flur klingelte. »Ich bin gleich wieder da.« Ich verschwand im Haus und nahm das Gespräch entgegen. »Hartmann.«

»Guten Tag, Herr Hartmann«, meldete sich eine Frauenstimme. »Gut, dass ich Sie erreiche. Sie müssten Ihre Tochter von der Schule abholen.«

»Meinen Sie Joy?«

»Ja.«

»Das ist meine Schwester.«

»Könnten Sie ihrem Vater dann sagen, dass er Joy abholen soll?«

»Ähm, der ist leider gerade verhindert. Aber ich könnte sie abholen.«

»Auch gut.«

»Worum geht es denn überhaupt?«

»Das kann ich Ihnen am Telefon leider nicht sagen. Kommen Sie einfach ins Sekretariat, bitte.«

Jetzt war ich tatsächlich irritiert und ein wenig besorgt. Das klang nicht danach, als hätte Joy Bauchschmerzen und wollte abgeholt werden. Das klang nach Ärger.

Ich griff nach meinen Autoschlüsseln und ging wieder zu Nico, der immer noch auf der Terrasse saß. »Das war die Schule. Ich muss Joy abholen.«

»Oh, ist sie krank?«

Abwehrend hob ich die Hände. »Ich habe keine Ahnung, das wollte die Sekretärin mir am Telefon nicht sagen.«

»Oh, das klingt nach Ärger.«

»Das habe ich auch gedacht.« Ich seufzte. »Mal sehen, ob mein, seit neuestem schwarzer, Terrorzwerg eine Mitschülerin verprügelt hat.« Bei dem Gedanken musste ich lachen.

Nico stellte seine Tasse auf den Tisch und stand auf. »Dann viel Erfolg.«

Ich nickte ihm zu und lief zu meinem Auto. Auch wenn ich den Gedanken Joy und eine Schlägerei in gewisser Weise amüsant fand, so beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich war gespannt, was mich in der Schule erwarten würde.

4

Marvin

»Tja, und dann war da noch die Sache mit Joy. Das zu erfahren war ziemlich hart. Es ist wohl unter den Top five von Dingen, die einen in negativer Form umhauen.«

In der Schule wimmelte es so vor Schülern. Überrascht schaute ich auf die Uhr. Nein, es war gerade eigentlich keine Pause. Dann fiel mir das riesengroße Plakat in der Aula auf, die mit der Projektwoche Werbung machte. Ach, stimmt ja. Joy hatte erwähnt und sich lautstark darüber beschwert, dass sie diese Woche eine sinnlose und zeitverschwendende Projektwoche in der Schule hatten.

Ich fühlte mich ein wenig in meine alte Schulzeit versetzt und gleichzeitig kam ich mir unglaublich alt vor. Dabei war mein Abi doch erst sechs Jahre her. Ich bahnte mir den Weg durch die Schüler und betrat wenig später das Sekretariat. Die Frau, die an dem Schreibtisch saß, kannte ich nicht.

»Marvin Hartmann«, stellte ich mich vor. »Ich sollte meine Schwester Joy abholen.«

»Ach, richtig.« Die junge Frau stand auf. »Folgen Sie mir, bitte.«

»Worum geht es überhaupt?«, fragte ich, während ich mit der Sekretärin den Gang entlanglief.

»Das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Frau Leiste hat mir nur gesagt, dass ich Sie zum Kopierraum bringen soll.«

Ich war normalerweise ein recht entspannter Mensch, aber nun machte ich mir tatsächlich Sorgen. Hinter der nächsten Kurve entdeckte ich meine Schwester. Sie saß mit Frau Leiste, die ich noch aus meiner Schulzeit kannte, in der kleinen Sitzecke, direkt neben dem Kopierraum.

Die Sekretärin blieb stehen. »Da wären wir. Auf Wiedersehen.«

Mein Blick fiel auf Joy, die die Kapuze von ihrem Hoodie tief ins Gesicht gezogen hatte.

»Hallo, Marvin«, begrüßte mich Frau Leiste. Anscheinend hatte sie mich wieder erkannt. Sie schaute an mir vorbei. »Wo ist Ihr Vater?«