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Solidarität und ihre Widersprüche E-Book

Neva Löw

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Beschreibung

Auch Gewerkschaften waren 2015 mit ankommenden Geflüchteten konfrontiert. Der Sommer der Migration löste innerhalb der Gewerkschaftsbewegung enorme Solidaritätsanstrengungen aus und regte die Organisierung von Geflüchteten an. Diese Initiativen blieben allerdings nie unumstritten. Mit Blick auf Österreich, Deutschland und die EU analysiert Neva Löw gewerkschaftliche Positionen und Diskurse und legt dar, welche Spannungen und Widersprüche bei diesen Solidaritätsinitiativen auftraten.

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Neva Löw

Solidarität und ihre Widersprüche Edition Politik

Gewerkschaften im Sommer der Migration 2015

Dissertation mit dem Originaltitel »Solidarität und ihre Widersprüche. Eine historisch-materialistische Politikanalyse der Gewerkschaften im Sommer der Migration« an der Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Disputation 22.2.2022.

Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld

© Neva Löw

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839466209

Print-ISBN 978-3-8376-6620-5

PDF-ISBN 978-3-8394-6620-9

EPUB-ISBN 978-3-7328-6620-5

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter https://www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

Abkürzungen

1Einleitung

1.1Der lange Sommer der Migration

1.2Zum Aufbau

1.3Danksagungen

2Gewerkschaften und Migration: Stand der Forschung

2.1Gewerkschaftsforschung und Migration

2.2Kritische Migrationsforschung und Gewerkschaften

2.3Sommer der Migration und Gewerkschaften

3Fragestellungen

3.1Grundbegriffe

3.2Organische Intellektuelle und Alltagsverstand

3.3Zwischenfazit

4Methodologie und Methoden

4.1Methodologie: Die historisch-materialistische Politikanalyse

4.2Methode

5Akteursanalyse zum Sommer der Migration

5.1Gewerkschaften als intermediäre Organisationen

5.2Gewerkschaften und Rassismus

5.3Zwischenfazit: Dynamiken der internen Heterogenität von Gewerkschaften

5.4Hegemonieprojekte und Gewerkschaften

5.5Gewerkschaftliche Machtressourcen

5.6Fazit Akteursanalyse

6Kontextanalyse: Gewerkschaften im Sommer der Migration

6.1Krise(n) der Gewerkschaften? Gewerkschaften im Zuge der europäischen Integration

6.2Strukturelle Widersprüche europäischer Migrationspolitik

6.3Zwischenfazit: Strukturelle Widersprüche der Gewerkschaften und Migrationspolitiken

6.4Historisch-dynamische Konturen einer europäischen Migrationspolitik

6.5Migrantische Kämpfe vor dem Sommer der Migration und Bezüge zu Gewerkschaften

6.6Fazit Kontextanalyse

7Prozessanalyse Teil I

7.1Gewerkschaften und der Sommer der Migration in Österreich

7.2Deutsche Gewerkschaften und der Sommer der Migration

7.3Zwischenfazit: Das Erproben solidarischer Beziehungsweisen

7.4Debatten und Positionen der Gewerkschaftsbewegungen

7.5Zwischenfazit: Das Ringen um gewerkschaftliche Positionen

7.6Gewerkschaftliche Erklärungsmuster für den Sommer der Migration

7.7Zwischenfazit: Diskursive Spannungsfelder

7.8Die Organisierung von Geflüchteten am Beispiel Amazon

7.9Zwischenfazit: ver.di und die Multiplikation der Arbeit

7.10Fazit Prozessanalyse I

8Prozessanalyse II

8.1Einfluss der Hegemonieprojekte auf Gewerkschaften

8.2Soziale Hegemonieprojekte in den Gewerkschaften

8.3Fazit: Ringen um strategische Ausrichtung der Gewerkschaftsbewegung

9Resümee

Literaturliste

Anhang: Geführte Interviews

Anhang: Dokumente

Abkürzungen

 

 

AK

Österreichische Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte

AfD

Alternative für Deutschland

AMS

Arbeitsmarktservice (Österreich)

AnkERzentrum

Zentrum für Ankunft, Entscheidung und Rückführung

AUGE/UG

Alternative und Grüne Gewerkschafter:innen/Unabhängige Gewerkschafter:innen

BAK

Österreichische Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte

Bau-Holz

Gewerkschaft Bau-Holz (Österreich)

BRD

Bundesrepublik Deutschland

CDU

Christlich-Demokratische Union Deutschlands

CGT

Confédération Générale du Travail (Frankreich)

CGT

Critical Grounded Theory

CSU

Christliche-Soziale Union in Bayern

DGB

Deutscher Gewerkschaftsbund

EGB

Europäischer Gewerkschaftsbund

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

ETUC

European Trade Union Confederation

EuGH

Europäischer Gerichtshof

FPÖ

Freiheitliche Partei Österreichs

GdP

Gewerkschaft der Polizei (Deutschland)

GÖD

Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (Österreich)

GPA-djp

Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (Österreich)

HMPA

Historisch-Materialistische Politikanalyse

HP

Hegemonieprojekt

IG BCE

Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (Deutschland)

IG Metall

Industriegewerkschaft Metall (Deutschland)

ILO

International Labour Organization

IOM

International Organization for Migration

ORF

Österreichischer Rundfunk

ÖBB

Österreichische Bundesbahnen

ÖGB

Österreichischer Gewerkschaftsbund

ÖVP

Österreichische Volkspartei

PICUM

Platform for International Coordination on Undocumented Migrants

Pro-Ge

Produktionsgewerkschaft (Österreich)

PROSA

Projekt Schule für Alle

RSFF

Refugee Struggle for Freedom

SPÖ

Sozialdemokratische Partei Österreichs

UNDOK

Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender Österreich)

ver.di

Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Deutschland)

vida

Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft (Österreich)

VÖGB

Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung

1Einleitung

 

Kämpfe der Migration und Debatten um Asylpolitik prägen regelmäßig das politische Geschehen Europas. Im Sommer 2021 befanden sich mehr als 400 Sans Papiers1 in Brüssel in einem Hungerstreik und forderten einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Sie leben seit zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren in der belgischen Hauptstadt, haben U-Bahn-Schächte ausgebaut, Bürogebäude gereinigt und sind Eltern von in Belgien geborenen Kindern. Nach massivem zivilgesellschaftlichen Druck sowie gewerkschaftlicher und politischer Mobilisierung2lenkte die Regierung schließlich ein und nahm Verhandlungen mit den Streikenden auf, die den Hungerstreik daraufhin Ende Juli 2021 beendeten.3 Im Mittelmeer starben zwei Jahre später, am 14. Juni 2023, mehr als 600 Menschen, als sie versuchten, Europa mit dem völlig überladenen Fischerboot »Adriana« zu erreichen. Das brutale Massensterben von Migrant:innen schockierte die europäische Öffentlichkeit4 Gleichzeitig einigte sich der Rat der Europäischen Union im Sommer 2023 auf eine Asylreform.5 Kritiker:innen meinen, dass dadurch der Zugang zu Asyl für Geflüchtete erschwert wird.6 Acht Jahre nach dem »Sommer der Migration« (Kasparek/Speer 2015) ist der Sommer 2023 von migrationspolitischen Kämpfen und Auseinandersetzungen geprägt.

Während der Corona-Pandemie und unterschiedlichen Lockdowns in Europa entstand eine andere Art der migrationspolitischen öffentlichen Debatte. Plötzlich wurde offensichtlich, wer die Arbeiter:innen »en première ligne«, und »systemerhaltend«, waren: migrantische Arbeiter:innen, die Essen ausliefern, in den Schlachthöfen und auf den Feldern arbeiten und an den Supermarktkassen sitzen. In Deutschland legten mehrere Corona-Cluster in den Schlachthöfen der Firma Tönnies sowie in Amazon-Versandzentren auch die dort herrschenden Arbeitsbedingungen offen.7 Hier wurde ein anderes Bild von Migration gezeichnet: Arbeiter:innen, die unter schwersten Bedingungen und mit erhöhtem Ansteckungsrisiko Serviceleistungen für diejenigen zur Verfügung stellten, die von Zuhause aus arbeiten konnten. Die Arbeiter:innenklasse in all ihrer Heterogenität wurde plötzlich für die Gesamtgesellschaft sichtbar.

Dass diese beiden migrationspolitischen Momente und Debatten sich kaum kreuzen und getrennt voneinander geführt werden, hängt damit zusammen, wie das Migrationsregime strukturiert ist und wie Hierarchien zwischen Menschen mit verschiedenen Zugängen zu politischen und sozialen Rechten in der Europäischen Union errichtet werden. Migration und Arbeit sind jedoch nicht voneinander zu trennen, wie in einer Aussage eines hungerstreikenden Sans Papiers in Belgien im Juli 2021 deutlich wird: »Das ist kein versuchter Massensuizid, das ist ein Arbeitskampf: gegen eine Politik, die dafür sorgt, dass Menschen bis auf die Knochen ausgebeutet werden. Und der Hungerstreik ist das letzte Mittel.«8 Die Organisationen, in der die vielfältigen migrationspolitischen Debatten zusammenkommen und gemeinsam bearbeitet werden, sind die Institutionen der Arbeiter:innenklasse – Gewerkschaften. Denn als gesellschaftliche Akteur:innen sind sie mit Asylpolitik und als Institution der Arbeiter:innenklasse seit jeher mit der heterogenen Arbeiter:innenschaft konfrontiert. Gesamtgesellschaftlich wurde der Zusammenhang dieser »migrationspolitischen Momente« – zwischen Asylpolitik, Kämpfen von Geflüchteten und Arbeitskämpfen – für einen Moment während des Sommers der Migration 2015 hergestellt.

Dieses Buch geht der Frage nach, wie Gewerkschaften in Österreich, Deutschland und auf der EU-Ebene auf die Ereignisse des Sommers der Migration 2015 reagiert haben. Welchen Beitrag haben Gewerkschaften zum Sommer der Migration geleistet? Welche Positionen haben Gewerkschaften 2015 zu Asyl- und Migrationspolitik eingenommen? Wie reflektieren Gewerkschafter:innen im Nachhinein über die Ereignisse 2015? Wie wirkt sich die Bewegung der Geflüchteten auf gewerkschaftlich geführte Arbeitskämpfe aus? Dabei durchzieht diese Arbeit die Erkenntnis, dass der Sommer der Migration die Gewerkschaftsbewegungen in allen Bereichen mit Widersprüchen konfrontiert hat und diese intern umkämpft bearbeitet wurden.

Im weiteren Verlauf der Einleitung wird der lange Sommer der Migration 2015 mit seiner Vorgeschichte, dem formalisierten Korridor, den Willkommensbewegungen und dem anschließenden repressiven Backlash nacherzählt. Diese Erzählung verdeutlicht, warum 2015 auch Jahre später noch in europäischen migrationspolitischen Debatten sowie in gewerkschaftlichen Diskussionen ein wesentlicher Referenzpunkt ist und somit im Zentrum dieser Arbeit steht. Anschließend gehe ich auf den Aufbau und die Argumentationsweise dieser Arbeit ein.

1.1Der lange Sommer der Migration

Die migrantische Mobilität 2015 wurde in der kritischen Migrationsforschung als der »lange Sommer der Migration« (Kasparek/Speer 2015) bezeichnet. Die Bilder vom »March of Hope«, bei dem über 4000 Geflüchtete9 gemeinsam beschlossen, zu Fuß vom Budapester Bahnhof Keleti loszugehen, um die österreichische Grenze zu passieren, gingen um die Welt. Die europäischen Gesellschaften wurden dadurch mit der Bewegung der Migration, die gegen die europäische Migrationspolitik auftrat, konfrontiert. Nachdem die Regierungen Österreichs und Deutschlands diesem Druck nachgaben und sich dazu entschlossen, ihre Grenzen nicht mit Gewalt zu verteidigen, konnten infolgedessen über eine Million Menschen ungehindert nach (Nord)Europa einreisen. Hess et al. beschreiben den Moment poetisch treffend folgendermaßen:

»Die Flucht_Migrierenden, die bisher ihr Projekt dadurch umsetzen konnten, dass sie möglichst geschickt und ohne aufzufallen Grenzen überwanden, sind herausgetreten aus dem in der Migrationsforschung immer wieder aufgerufenen metaphorischen Schatten der Irregularität und haben das eingeleitet, was heute gemeinhin der Sommer der Migration und der offenen Grenzen genannt wird« (Hess et al. 2017: 7).

Den langen Sommer der Migration begleiteten Bilder von Refugees, die eingehakt und eine Europafahne schwenkend zu Fuß an Autobahnen entlangliefen, von Menschenmassen, die die Ankommenden an Bahnhöfen willkommen hießen, sich organisierten, um die Erstversorgung zu übernehmen, und von dem Wort »Solidarität«. Diesen Momenten ging ein Zyklus von Kämpfen voraus, die den Sommer der Migration möglich machten.

1.1.1Wie kam es zum Sommer der Migration?

Der Sommer der Migration ist nicht im luftleeren Raum plötzlich passiert, sondern ihm sind Kämpfe und Dynamiken vorausgegangen, die 2015 in einen Moment mündeten, der die europäische Migrationspolitik bis heute beschäftigt. 2015 war somit ein Jahr, in dem sich Verschiebungen und Risse innerhalb des europäischen Migrations- und Grenzregimes verdichteten. Diese Bewegungen können als Folge mehrerer politischer Prozesse interpretiert werden, die im Folgenden kurz ausgeführt werden.

Erstens führten der Arabische Frühling und die autoritäre Niederschlagung der Aufstände dazu, dass Millionen Menschen die Region verließen und versuchten, in die EU zu gelangen. Der Bürgerkrieg in Syrien und der Sturz autoritärer Führer wie Muammar al-Gaddafi in Libyen bedeuteten die Wieder-Öffnung der Seewege über das Mittelmeer nach Europa. Bis dahin war die Kollaboration der Regime in Tunesien und Libyen mit der europäischen Grenzpolitik ein wesentlicher Eckpfeiler der Externalisierungsstrategie des Migrationsmanagements der Europäischen Union, als »zweiter Ring der Externalisierung« (Buckel 2013: 442), gewesen. Ihre Entmachtung führte zu einer hohen Zahl an Menschen, die die EU erreichen konnten, aber gleichzeitig auch zu einem Höchststand an Todesfällen im Mittelmeer. Heller und Pezzani argumentieren, dass diese Situation Krisenmomente auf beiden Seiten des Mittelmeeres miteinander verband: »[a] crisis of the current EU border regime which further reflects, participated in and connects a phase of political turmoil on both shores of the Mediterranean« (Heller/Pezzani 2017: 216).

Zweitens sorgte auf europäischer Seite die anhaltende europäische Schuldenkrise dafür, dass die Volkswirtschaften der südeuropäischen Staaten nicht mehr im gleichen Maße in der Lage waren, illegalisierte Migrant:innen in der informellen Ökonomie unterzubringen. Gerade in Spanien war der Bausektor ein wesentlicher Bereich, in dem undokumentiert gearbeitet wurde. Die Krise 2008ff. betraf diesen Sektor ganz massiv und bedeutete somit den Wegfall von Arbeitsmöglichkeiten für viele Ankommende. Zusammen mit der Wahl der linksgerichteten Syriza-Regierung in Griechenland führte diese Dynamik dazu, dass die südlichen Staaten Europas ein Weiterreisen von Geflüchteten in die nordeuropäischen Länder zuließen (vgl. Kasparek/Maniatis 2017: 73ff.).

Drittens war das Jahrzehnt bis 2015 in Europa von erfolgreichen promigrantischen Kämpfen und Mobilisierungen geprägt, die zu einer zunehmenden Verrechtlichung des Grenzregimes und zu vielfältigen Unterstützungsstrukturen und Netzwerken für Geflüchtete führten (vgl. Dinkelaker et al. 2021). Gewonnene Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) führten zur Einführung menschenrechtlicher Schutzstandards und unterminierten somit auch die Abschreckungslogik des Grenzregimes. So erklärte der EGMR mit dem Hirsi-Urteil10 (Rechtssache Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien, Nr. 27765/09) von 2012 Pushback-Operationen an den EU-Außengrenzen für rechtswidrig (vgl. Buckel 2013). Das waren Erfolge promigrantischer Kräfte, die sich solidarisch für Menschen mit Fluchterfahrungen einsetzten. Geflüchtete erlangten durch Mobilisierungen, Proteste und Platzbesetzungen eine öffentliche Sichtbarkeit, die die gesellschaftliche Wahrnehmung von Asylpolitiken im Sinne von Geflüchteten verschob und ein Netzwerk an promigrantischen Aktivist:innen schuf (vgl. Atac et al. 2015: 4f.).

Ein erstes tragisches Ereignis im Frühjahr 2015 löste eine europäische Debatte über das Grenzregime aus: Im April 2015 riss ein Schiffsunglück im Mittelmeer 850 Migrant:innen in den Tod (vgl. De Genova 2017: 1). Das veranlasste nichtstaatliche Akteur:innen, bei der Seenotrettung im Mittelmeer aktiv zu werden (vgl. Heller/Pezzani 2017: 225). Seitdem waren Ereignisse im Mittelmeer immer wieder ein Brennpunkt der europäischen migrationspolitischen Debatte.

1.1.2Der formalisierte Korridor und Willkommensbewegungen

Nach fünf Jahren syrischen Bürger:innenkriegs befand sich die Hälfte der syrischen Bevölkerung auf der Flucht oder außer Landes. Die EU zielte auf eine »Regionalisierung der Krise und eine regionale Containment-Politik« (Hess et al. 2017: 9). Der Großteil der Geflüchteten aus Syrien befand sich demnach in Ägypten, Jordanien, im Libanon, im Irak und in der Türkei, deren Versorgungssituation sich 2015 massiv verschlechterte (vgl. ebd.).

Im Frühjahr 2015 verließen zudem immer mehr Geflüchtete die Türkei und gelangten nach Griechenland. Nachdem sie Griechenland relativ schnell durchquert hatten, konnten sie über den Balkan weiterreisen, der sich dadurch in einen »Korridor der staatlich organisierten Fluchthilfe« (Hess et al. 2017: 11) verwandelte. Der Sommer 2015 war geprägt vom »March of Hope«, bei dem Tausende den Westbalkan durchquerten, um Österreich und Deutschland zu erreichen. Österreich und Deutschland gaben dem Druck nach und entschieden sich am 5. September dagegen, ihre Grenzen zu schließen. Der »March of Hope«, an dem sich größtenteils Geflüchtete aus Syrien beteiligten, kann auch als ein Ergebnis ihrer Erfahrungen im Kampf für Demokratie in Syrien gesehen werden: »Der zweifellos schönste Aspekt ist jedoch, dass mit den Flüchtlingen aus Syrien auch die ursprüngliche Kraft und Hoffnung des arabischen Frühlings ein zweites Mal nach Europa gekommen ist und die Grenze herausgefordert hat« (Kasparek/Speer 2015).

Zwischen März 2015 und März 2016 konnten mehr als eine Million Flüchtende in einem »formalisierten Korridor« (Speer 2017: 1) über den Balkan in die Europäische Union einreisen (vgl. ebd.: 11ff.). Die effektive »Schließung« des Korridors wurde durch den EU-Türkei-Deal vom 20. März 201611 möglich, der die Türkei dazu verpflichtet, Geflüchtete an der Überfahrt nach Griechenland zu hindern (vgl. Kasparek 2017: 100ff.; Soykan et al. 2017: 57).

Der Sommer der Migration war von Solidaritätsinitiativen und aktionen für Geflüchtete begleitet. Diese Willkommensbewegung inspirierte auch wissenschaftliche Debatten. So schrieben zum Beispiel Bauböck und Scholten: »[…] there is an impressive civil society mobilization for solidarity with refugees advocating a welcoming attitude and pleading for a multicultural incorporation of these asylum seekers into European societies« (Bauböck/Scholten 2016: 2).

Obwohl die Willkommensbewegungen die Gesellschaften in ganz Europa erfassten, stachen Österreich und Deutschland durch ihre enorme zivilgesellschaftliche Mobilisierung besonders heraus (vgl. Trauner/Turton 2017: 34). Der Begriff der »Willkommenskultur« erlangte durch die Bewegungen 2015 sogar internationale Prominenz (vgl. ebd.: 35). Die Unterstützungsaktionen waren auch notwendig, denn staatliche Strukturen in Österreich und Deutschland waren vielfach mit der Versorgung der Ankommenden überfordert: »Ohne den Einsatz von Einzelpersonen und losen, oft spontan zusammengesetzten Gruppen wäre es in jenen Monaten zu einer tatsächlichen, allumfassenden humanitären Krise gekommen. Diese konnte vor allem durch Solidaritätsbewegungen von unten abgewendet werden« (Kasparek et al. 2017: 38).

Die Erfahrungen, die während der Willkommensbewegungen gemacht werden konnten, hallten bei denjenigen, die involviert waren, nach: »Gerade die anfängliche Sogwirkung der überschwänglichen Willkommenskultur brachte viele Menschen in Kontakt, die einander unter anderen Umständen nicht begegnet wären oder nur schwerlich miteinander eine Ebene gefunden hätten« (Tietje et al. 2021: 8). Diese Unterstützungsnetzwerke waren in der Folge wichtige Stützpunkte im Widerstand gegen den sich formierenden repressiven Backlash.

1.1.3. Der folgende repressive Backlash

Auf den formalisierten Korridor und die Willkommensbewegungen folgte ein repressiver Backlash, der einen bedeutenden Aufschwung nach den Terroranschlägen in Paris am 13. November 2015 erlebte. Danach wurden Stimmen lauter, die »Flüchtlingskrise« als Sicherheitsbedrohung darzustellen, indem ein scheinbar unkontrollierter Zustrom von Migrant:innen mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurde. Die Terroranschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo hatten bereits im Jahr zuvor zu einer verstärkten Versicherheitlichung im migrationspolitischen Diskurs geführt. Nicolas De Genova spricht in diesem Zusammenhang von einem »Spektakel des Terrorismus«12, das aufgeführt wurde, um Anlass für neue politische Maßnahmen zu schaffen. Die Anschläge im November 2015 verlagerten den Fokus der europäischen Exekutiven auf noch schärfere Kontrollen an den Außengrenzen. Vor allem Frankreich formulierte die weitere Absicherung der EU-Schengen-Grenzen und die Einrichtung von Auffanglagern an Orten illegaler Grenzübertritte als notwendige Antiterrormaßnahmen (vgl. De Genova 2017: 8ff.). Die »moral panic« (Hall et al. 2013), die auf eine Serie von sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln durch einen Mob junger Männer folgte, die als »nordafrikanisch« oder »nahöstlich« aussehend charakterisiert wurden, verstärkte den repressiven Backlash noch weiter. De Genova spricht von der darauffolgenden »securitization of the Muslims as Europe’s premier Other« (De Genova 2017: 9). Asylbewerber wurden nun diskursiv als wahrscheinliche Sexualstraftäter dargestellt:

»Thus, the figure of the refugee – so recently fashioned as an object of European compassion, pity and protection – was refashioned with astounding speed, first as the potential terrorist who surreptitiously infiltrates the space of Europe, and then as the potential criminal or rapist who corrodes the social and moral fabric of Europe from within« (De Genova 2017: 11).

Das europaweite Erstarken rechtsextremer Bewegungen und Parteien seit dem Sommer der Migration verschob den politischen Diskurs zusätzlich in Richtung eines repressiven gesellschaftlichen Klimas gegenüber Geflüchteten im Allgemeinen. Zudem wurden europaweit Asylrechtsverschärfungen eingeführt und die europäische Grenzschutzagentur »Frontex« gestärkt (vgl. Buckel 2018: 451). Die Transitrouten, die Migrant:innen seitdem nutzen, sind wieder gefährlicher geworden und bergen ein größeres Risiko für die Geflüchteten selbst sowie eine größere Abhängigkeit von Transporthelfer:innen: »Den verschiedenen Kontrollversuchen gemeinsam ist ein massiver Abbau des Rechts auf Asyl sowie weiterer menschenrechtlicher Schutzgarantien« (Hess et al. 2017: 14). Sonja Buckel zufolge führt das zu dem »Eindruck, dass am Ende des Tages auf den Sommer der Migration ein europäischer Herbst gefolgt ist, der noch Schlimmeres befürchten lässt« (Buckel 2018: 454).

An dieser Stelle muss allerdings betont werden, dass die Rekonfiguration des europäischen Migrationsregimes nach dem Sommer der Migration umkämpft ist. Das war auch der Grundgedanke der Forschungsgruppe »Beyond Summer 15«13, in der wir das Umkämpfte aus verschiedenen Perspektiven untersucht haben. Unser gemeinsam herausgegebener Sammelband »Kämpfe um Migrationspolitik seit 2015: zur Transformation des europäischen Migrationsregimes« (Buckel et al. 2021) zeugt von dieser Dynamik. Darin schreiben wir: »[…] dieses Grenzregime bleibt umkämpft und widersprüchlich, und es lässt sich nur angesichts zahlreicher, europaweiter Kämpfe für Bewegungsfreiheit und Bleiberecht wieder errichten – vielleicht sogar noch fragiler als zuvor« (Buckel et al. 2021: 10).

Ich schließe mit dieser Arbeit an die Erkenntnisse meiner Forschungsgruppe an und nehme die Gewerkschaftsbewegungen in Europa in den Blick, um ihre Rolle im Feld der Kämpfe um Migrationspolitiken zu analysieren. Dabei widme ich mich den folgenden Fragen: Wie haben die Gewerkschaften in Österreich, Deutschland und auf der europäischen Ebene auf den Sommer der Migration reagiert? Welche Debatten wurden dadurch angestoßen? Welche Widersprüche kamen 2015 und danach auf oder vertieften sich?

1.2Zum Aufbau

Die vorliegende Arbeit will die Geschichte der Gewerkschaftsbewegungen in Österreich, Deutschland und auf europäischer Ebene im Zuge des Sommers der Migration erzählen, Momente der erfahrenen Solidarität sowie auch Momente der Zurückweisung wiedergeben und so den Kämpfen um Migrationspolitiken innerhalb der Gewerkschaften nachgehen. Die Fragen decken dabei folgende Themenbereiche ab: Gewerkschaften in den Willkommensbewegungen, gewerkschaftliche Positionen zu Asyl- und Migrationspolitik, gewerkschaftliche Diskurse über die Ereignisse 2015 und Arbeitskämpfe nach dem Sommer der Migration. Bei der Beantwortung dieser Fragen durch mein empirisches Material wird deutlich, dass die Gewerkschaften in den genannten Bereichen von einem internen Ringen unterschiedlicher politischer Strategien begleitet wurden.

Zu Beginn nähere ich mich aus zwei Richtungen dem gegenwärtigen Stand der Forschung (Kapitel 2). Zunächst erläutere ich, wie das Verhältnis von Gewerkschaften zum Thema Migration im Feld der Industriellen Beziehungen diskutiert wird. Anschließend stelle ich die Debatten zu Gewerkschaften und Migration aus der Perspektive der Migrationsforschung dar. In beiden Fällen werden zentrale Publikationen zum Thema vorgestellt und danach befragt, welche Bestimmungen und Abgrenzungen ihnen zugrunde liegen. Diese kritische Aufarbeitung ist Ausgangspunkt für die Feststellung einer Forschungslücke, die ich mit dieser Arbeit bearbeite. Ich argumentiere, dass es notwendig ist, die strukturellen sowie auch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren, um zu verstehen, weshalb die Gewerkschaftsbewegung im Sommer der Migration von einem internen Ringen begleitet wurde.

Bei der Darstellung der Fragestellung (Kapitel 3) gehe ich auf einige Grundbegriffe und Annahmen ein, die für die Bearbeitung der Forschungsfragen notwendig sind. Um Kräfteverhältnisse in den Gewerkschaften analysieren zu können, greife ich auf gramscianische Grundannahmen über Hegemonie, Zivilgesellschaft, den Staat und seine Apparate zurück. Davon ausgehend argumentiere ich, dass sich besonders die Methodologie der historisch-materialistischen Politikanalyse (HMPA) eignet, um meiner Fragestellung nachzugehen.

Das Vorgehen der HMPA strukturiert den weiteren Verlauf meiner Arbeit (Kapitel 4). Dabei wird in diesem Methodenkapitel mein wissenschaftlicher Beitrag deutlich. Anders als die meisten mit der HMPA durchgeführten Studien widme ich mich einer Akteurin – den Gewerkschaften – und gehe auf die umkämpften internen Dynamiken ein. Diese Perspektive soll somit auch ein Beitrag zur Weiterentwicklung der HMPA sein. An dieser Stelle wird zudem auf die von mir gewählten Methoden der qualitativen Sozialforschung mit qualitativen Interviews und deren Auswertung eingegangen.

Den inhaltlichen Einstieg in den Themenkomplex dieser Arbeit stellt die Akteursanalyse (Kapitel 5) dar. Ziel dieses Kapitels ist es, die Akteurinnen meiner Arbeit – die Gewerkschaften − theoretisch zu verorten. Welche gesellschaftliche Rolle nehmen Gewerkschaften ein und welche internen Dynamiken ergeben sich daraus? Was sagt uns das über die internen Kämpfe im Sommer der Migration? Basierend auf Überlegungen von Josef Esser fasse ich Gewerkschaften als intermediäre Organisationen. Ich komme zu dem Schluss, dass Gewerkschaften heterogen sind und einer ständigen Dynamik des Ein- und Ausschlusses von Teilen der Arbeiter:innenklasse unterworfen sind. In einem weiteren Schritt nehme ich Hegemonieprojekte in den Blick, verorte dabei die Gewerkschaften in den sozialen Hegemonieprojekten und erkläre, welche Interessen sie verfolgen und auf welche Ressourcen dieses Hegemonieprojekt zurückgreift. Ich argumentiere, dass sich beide Machtressourcenansätze – die der sozialen Hegemonieprojekte und die des Jenaer Arbeitskreises – überschneiden und somit zusammengedacht werden können, um die gewerkschaftlichen Handlungen 2015 einzuordnen.

Die darauffolgende Kontextanalyse (Kapitel 6) soll den Sommer der Migration 2015 und die Gewerkschaften historisch einbetten. Wie haben sich die europäischen Gewerkschaften im Zuge der europäischen Integration verhalten? Welche strukturellen Widersprüche liegen Migrationspolitiken zugrunde und wie haben sich diese in der Entwicklung der europäischen Migrationspolitik ausgewirkt? Was sagt uns das über Gewerkschaften im Sommer der Migration? Zur Beantwortung der Fragen nehme ich in diesem Kapitel zwei Perspektiven ein.

Einerseits werden die Gewerkschaften in den Mittelpunkt gerückt und im Zuge der europäischen Integration dargestellt. Dabei wird deutlich, dass die Nationalisierung gesellschaftlicher Konflikte – daher die Verhaftung innerhalb nationalstaatlicher Grenzen − für den Großteil gewerkschaftlicher Aktivitäten weiterhin wesentlich ist. Die andere Perspektive dieses Kapitels widmet sich Migrationspolitiken und rückt diese ins Zentrum der Erzählung. Hier werden die Verwobenheit des Migrations- und Arbeitsregimes und die damit zusammenhängende Multiplikation der Arbeit bzw. die starke Fragmentierung der Beschäftigten und die imperiale Lebensweise diskutiert. Im letzten Teil dieses Kapitels nehme ich die Perspektive der migrantischen Kämpfe vor 2015 ein und beschreibe, wie sie auf die Gewerkschaften in Österreich, Deutschland und auf europäischer Ebene eingewirkt haben. Das ist eine essenzielle Vorgeschichte, denn sie bereitet das Feld für die Erzählung der Gewerkschaften im Sommer der Migration vor.

Bei der Prozessanalyse I (Kapitel 7) stelle ich die Gewerkschaften in dem historischen Moment des Sommers der Migration 2015 dar. Wie haben Gewerkschaften auf den Sommer der Migration reagiert und welche internen Konflikte sind dabei entstanden? Dabei verfolgt dieses Kapitel das Ziel, die Stimmung im Sommer der Migration wiederzugeben. Zuerst gehe ich auf das Engagement der österreichischen und der deutschen Gewerkschaften während der Willkommensbewegung ein. Anschließend stelle ich die Positionen der Gewerkschaften beider Länder sowie auch des Europäischen Gewerkschaftsbundes dar und lege dabei mein Augenmerk auf Momente, in denen ein Widerspruch, ein Ringen um Positionen sichtbar wurde. Darauf folgend erläutere ich die diskursiven Erklärungsmuster für die Rolle der Gewerkschaften im Sommer der Migration und danach. Der letzte Teil wechselt den Scale14 auf die regionale Ebene und richtet den Blick auf ein regionales Fallbeispiel der Organisierung von Arbeiter:innen in einem Amazon-Versandzentrum in Werne. Die Analyse eines Streiks in Werne soll verdeutlichen, wie es gelingen kann, die diverse Arbeitnehmer:innenschaft in einem Arbeitskampf zu organisieren und welche Widersprüche wiederum dabei auftreten. Zusammenfassend soll dieser Teil der Arbeit einen facettenreichen Einblick in mein empirisches Material und somit in die verschiedenen Arten und Weisen geben, in denen der Sommer der Migration auf die Gewerkschaftsbewegungen eingewirkt hat.

Die Prozessanalyse II (Kapitel 8) koppelt die vorangegangene Darstellung des empirischen Materials an gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Während die Prozessanalyse I einen »Inneneinblick« in die Gewerkschaften bot, soll dieser Teil die Ausführungen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext des Sommers der Migration einbetten. Dazu greife ich auf das Konzept der »Hegemonieprojekte« zurück. Wie haben die Hegemonieprojekte auf Gewerkschaften gewirkt, welche Strategien haben sie angewendet und wo waren sie erfolgreich oder nicht? Wo lassen sich die Strategien der sozialen Hegemonieprojekte in gewerkschaftlichen Handlungen im Sommer der Migration erkennen? Ich resümiere, wie alle Hegemonieprojekte im Zuge des Sommers der Migration auf die Gewerkschaften eingewirkt und sie beschäftigt haben. Die Strategien beider sozialer Hegemonieprojekte sind in der internen Auseinandersetzung um Migrationspolitiken zu erkennen.

Das Schlussresümee (Kapitel 9) reflektiert über die vielfältigen Aspekte dieser Arbeit, versucht allgemeine Schlüsse für das Thema Gewerkschaften und Migration zu ziehen und gibt einen Ausblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen.

Zusammenfassend ist diese Arbeit ein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über Gewerkschaften und Migration. Anhand des Beispiels des Sommers der Migration und mit Hilfe der HMPA zeige ich, wie Gewerkschaften und Migration intrinsisch miteinander verbunden sind und welche internen Widersprüche dabei auftauchen.

1.3Danksagungen

Diese Arbeit ist im Rahmen der von Professorin Sonja Buckel geleiteten Nachwuchsforschungsgruppe der Hans-Böckler-Stiftung »Beyond Summer 15: Die Transformation der europäischen Migrationspolitik in der Krise« entstanden. Als Gruppe haben wir den Sommer der Migration aus verschiedenen Perspektiven reflektiert und analysiert. Wir haben uns regelmäßig getroffen, diskutiert, eine gemeinsame Veranstaltung organisiert und schlussendlich unser kollektives Wissen aufgeschrieben und in einem Buch zusammengefasst (Buckel et al. 2021). Den unterstützenden und anregenden Zusammenhang haben Judith Kopp, Maximilian Pichl, Mario Neumann, Laura Graf, Moritz Elliessen und Helena Lovreković geprägt. Meinen besonderen Dank möchte ich Professorin Sonja Buckel aussprechen, die diese Arbeit betreut hat, mich gefördert und ausdauernd unterstützt hat. Professorin Stefanie Hürtgen hat die Entstehung dieser Arbeit ebenfalls betreut und mit ihren Anregungen wesentliche Aspekte dieser Arbeit bereichert. Vielen Dank dafür.

Ohne die materielle und ideelle Förderung der Hans-Böckler-Stiftung wäre dieses Forschungsunterfangen nicht möglich gewesen. Gudrun Löhrer und Jens Becker haben mich bei jedem Anliegen unterstützt und einen großzügigen Rahmen für mein Forschungsvorhaben bereitgestellt. Dadurch wurde mir auch ein Forschungsaufenthalt an der Cornell University School of Industrial and Labor Relations ermöglicht, wo ich das Privileg hatte, vor allem mit Professorin Virginia Doellgast spannende Diskussionen über meine Forschung zu führen.

Nicht zuletzt möchte ich an dieser Stelle auch meinen Interviewpartner:innen in Österreich, Deutschland und Brüssel danken − den Gewerkschafter:innen, die sich die Zeit genommen haben, mit mir zu reden und offen ihre Reflektionen zu teilen.

Zudem waren bei der Entstehung dieser Arbeit und beim Durchhalten des Forschungsprozesses zwei weitere Gruppen wichtig, die mit ihrem Input und ihrer emotionalen Unterstützung wichtige Anker für mich waren: die Teilnehmer:innen des Dissertationskolloquiums von Professorin Sonja Buckel und die Arbeitsgruppe zur historisch-materialistischen Politikanalyse mit Judith Kopp und Jannis Eicker. Besonders in der hektischen Endphase war die HMPA-Arbeitsgruppe essenziell, um Ideen und auch Unsicherheiten auszutauschen. Laura Graf hat mich am Ende in unverzichtbarer Weise unterstützt.

An dieser Stelle sei noch einer Reihe von Einzelpersonen gedankt, die durch ihren Input, ihre Kommentare und Diskussionen zu dieser Arbeit beigetragen haben und sie zweifelsohne wesentlich verbessert haben: Veronika Duma, Benjamin Opratko, Daniel Fuchs, Mouna Maaroufi, Peter Birke, Martin Deleixhe und Mark Bergfeld. Zudem haben mir Milo, Naime, Loren, Alizee, Gilles, Martin und Peter bei dieser Arbeit geholfen. Den Inhalt habe selbstverständlich ich allein zu verantworten. Schlussendlich möchte ich meiner Familie für die vielfältige, oft im Alltag stattfindende Unterstützung danken.

1Sans Papiers (französisch »ohne Papiere«) ist die Selbstbezeichnung der Aktivist:innen ohne Aufenthaltserlaubnis in Belgien.

2Le Soir (2021): Belga:Grève des sans-papiers: patrons et syndicats veulent leur donner accès aux métiers en pénurie, 13.7.2021, https://plus.lesoir.be/383704/article/2021-07-13/greve-des-sans-papiers-patrons-et-syndicats-veulent-leur-donner-acces-aux, zuletzt gesichtet 28.3.2023.

3La Liberation (2021): Liberation/AFP: Main tendue, Bruxelles:le gouvernement tend enfin la main, les 450 sans-papiers suspendent leur grève de la faim, 21.7.2021, https://www.liberation.fr/international/europe/bruxelles-le-gouvernement-tend-enfin-la-main-les-450-sans-papiers-suspendent-leur-greve-de-la-faim-20210721_6MNUIIBYONBNLLHZLHZJZC3NHA/, zuletzt gesichtet 28.3.2023.

4The New York Times: Everyone Knew The Migrant Ship Was doomed. No One Helped, 1.7.2023, https://www.nytimes.com/2023/07/01/world/europe/greece-migrant-ship.html, zuletzt gesichtet 8.8.2023.

5Europäischer Rat: Reform des Asylsystems, 25.6.2023, https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-migration-policy/eu-asylum-reform/; Bei Publikation dieses Buches stand noch die Einigung mit dem Europäischen Parlament aus.

6Rat für Migration: Statement of the Council for Migration, Better No Reform Than This: Why the Federal Government should stop the CEAS reform, 7.6.2023, https://rat-fuer-migration.de/wp-content/uploads/2023/06/RfM-Stellungnahme.-Geplante-Reform-GEAS-en-GB.pdf, zuletzt gesichtet 8.8.2023.

7taz (2020): Conti, Nadine: Corona-Hotspot Amazon, 26.12.2020, https://taz.de/Infektionen-beim-Versandhaendler/!5735321/, zuletzt gesichtet 28.3.2023.

8Taz(2021): von Laffert, Bartholomäus: Das letzte Mittel der Sans Papiers, 10.7.2021, https://taz.de/Hungerstreik-in-Belgien/!5781092/, zuletzt gesichtet 28.3.2023.

9In diesem Buch werden synonym die Begriffe »Geflüchtete«, »Menschen mit Fluchterfahrung«, »Migrant:innen«, »Refugees« und »Asylsuchende« verwendet. Wenn der rechtliche Status der Person relevant für den Kontext ist, wird auf ihn verwiesen und von »undokumentiert Arbeitenden«, »illegalisierten Migrant:innen«, »Asylwerber:innen« oder »abgelehnten Asylwerber:innen« oder »Asylwerber:innen mit einem negativen Bescheid« gesprochen. Die große Bandbreite an Begriffen soll den vielfältigen migrantischen Widerstandspraktiken, die auch die Annahme flexibler Rollen beinhaltet, Rechnung tragen, im Sinne von Hess und Karakayali: »Zentral für die Möglichkeiten des Widerstandes ist es, nicht entdeckt zu werden, in die großenMigrationszentren und internationalen Ökonomien neuer Transit-Städte zu gelangen, stets flexibel unterschiedliche Rollen etwa als Student_in, Tourist_in, Arbeiter_in oder Asylsuchende_r anzunehmen, die eigene Biographie gemäß den Bedingungen des Grenzregimes taktisch anzupassen und nicht zuletzt auch jede sich eröffnende Gelegenheit zu ergreifen« (Hess/Karakayali 2017: 34). In Österreich ist die gängige Bezeichnung »Asylwerber:in«, in Deutschland »Asylbewerber:in«. Ich verwende in dieser Arbeit »Asylwerber:in«.

10Rechtssache Hirsi Jamaa et al. gegen Italien, Nr. 27765/09: zu finden unter:https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=EGMR&Datum=23.02.2012&Aktenzeichen=27765٪2F09, zuletzt gesichtet 28.3.2023.

11Erklärung EU-Türkei 2016:https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18/eu-turkey-statement/, zuletzt gesichtet 28.3.2023.

12Nicolas De Genova spricht von »Grenzspektakeln« (2013), die aufgeführt werden, um die Exklusion von Geflüchteten perfomativ konstant herzustellen und um diese Exklusion – auch innerhalb europäischer Gesellschaften – zu legitimieren: »The Border Spectacle, therefore, sets the scene − a scene of ostensible exclusion, in which the purported naturalness and putative necessity of exclusion may be demonstrated and verified, validated and legitimated, redundantly. The scene (where border enforcement perfomatively activated the reification of migrant ›illegality‹ in an emphatic and grandiose gesture of exclusion) is nevertheless always accompanied by its shadow, publicly unacknowledged or disavowed, obscene supplement: the large-scale recruitment of illegalized migrants as legally vulnerable, precarious and thus tractable labour« (De Genova 2013: 2). In diesem Sinne ist das »spectacle of terrorism« als Legitimierung für politische Maßnahmen, aber auch als interne Differenzierung und Hierarchisierung von Migrant:innen innerhalb Europas zu betrachten.

13»Beyond Summer 15: Zur Transformation der europäischen Migrationspolitik in der Krise« war eine zwischen 2017 und 2021 von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Nachwuchsforschungsgruppe an der Universität Kassel unter der Leitung von Professorin Sonja Buckel.

14 In dieser Arbeit verwende ich den Begriff »Scale«, um räumliche Maßstabsebenen als Ergebnis von Kämpfen und Auseinandersetzungen zu begreifen. Somit werden Herrschaftsverhältnisse auch in der Herstellung von Raum mitgedacht. Das bedeutet, dass das Lokale, Regionale, Nationale, Europäische und Globale nicht gegeben, sondern sozial konstruiert und umkämpft sind (vgl. dazu Wissen/Röttger et al. 2008; Wissen 2008: 107ff.).

2Gewerkschaften und Migration:Stand der Forschung

 

Das Verhältnis zwischen Migration und europäischen Gewerkschaften ist in der wissenschaftlichen Literatur aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert worden. Der akademischen Literatur gemeinsam ist, dass sie dieses Verhältnis als ›ambivalent‹, ›schwierig‹ und ›widersprüchlich‹ beschreibt. Allerdings ziehen die meisten aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten eine positive Bilanz der Gewerkschaften. Unterschieden werden können die wissenschaftlichen Arbeiten entlang ihrer Methode bzw. ihres Ansatzes, also wie und aus welcher Perspektive dieses Verhältnis analysiert wird.

Bei der folgenden Rezeption der deutsch- und englischsprachigen Literatur unterscheide ich daher zwischen zwei grundsätzlichen Zugängen: Einerseits gibt es die Perspektive der Industriellen Beziehungen, die gewerkschaftliche Haltungen zum Themenfeld Migration untersucht haben. Ich stelle das »Modell der Dilemmata« vor, erläutere, wie die Literatur in diesem Feld die Organisierung von Migrant:innen als wesentlichen Motor für gewerkschaftliche Erneuerung diskutiert und gebe konkrete Best-Practice-Beispiele aus den wissenschaftlichen Arbeiten wieder. Andererseits werden Ansätze, die die Perspektive der (kritischen) Migrationsforschung einnehmen und migrantische Kämpfe und deren Einwirken auf Gewerkschaften bzw. deren Unterstützung von Gewerkschaften beforscht haben, diskutiert. Dabei werden zuerst historische Arbeiten vorgestellt, danach werden wissenschaftliche Beiträge zu illegalisierten Migrant:innen und Gewerkschaften sowie zur migrantischen Selbstorganisation und deren Auswirkungen auf Gewerkschaften dargestellt.

Die von mir hier vorgenommene Unterscheidung der Zugänge ist nicht trennscharf, dennoch ist sie sinnvoll, um eine Annäherung an das Thema zu erleichtern. Schlussendlich soll die Diskussion dieser wissenschaftlichen Beiträge eine Leerstelle verdeutlichen, die ich mit dieser Arbeit fülle.

2.1Gewerkschaftsforschung und Migration

In der Gewerkschaftsforschung ist mittlerweile klar, dass sich Gewerkschaften zu Migration und Migrant:innen verhalten müssen, da sie Teil der Arbeitnehmer:innenschaft sind.

»Thus the mirror image confronting unions in today’s world markets: if good jobs in manufacturing can flee the Global North, many of the remaining jobs can be populated by immigrant workers in precarious circumstances that allow employers to keep labor standards down« (Tapia et al. 2014: 19).

Die Gewerkschaftsbewegung Europas ist somit mit Fragen der Organisierung und Repräsentation dieses Teils der Arbeiter:innenschaft konfrontiert (vgl. Tapia/Turner 2013). In weiten Teilen des globalen Nordens ähneln sich die Herausforderungen, mit denen Gewerkschaften in Bezug auf migrantische Arbeiter:innen konfrontiert sind (vgl. Turner 2014: 5ff.), allerdings sind die ›Antworten‹ und Zugänge von Gewerkschaften unterschiedlich. Erklärungen für diese Unterschiede finden sich in ergänzenden »Modellen« der Industriellen Beziehungen. Der Großteil der Literatur zum Thema Gewerkschaften und Migration in Europa bietet einen sehr positiven Ausblick. Es werden vor allem Situationen analysiert, in denen Gewerkschaften für und mit Migrant:innen gekämpft haben, wobei hervorgehoben wird, wie das zur Erneuerung der Gewerkschaften beitragen kann.

2.1.1Wandel der Gewerkschaften in Bezug auf Migration

Marino et al. (2017) identifizieren drei »Hauptdilemmata«, mit denen Gewerkschaften in Europa konfrontiert sind, wenn sie sich bei dem Themenfeld Migration und gegenüber Migrant:innen selbst positionieren.1 Das von ihnen vorgestellte »Modell der Dilemmata« wurde in deutsch- und englischsprachigen wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Gewerkschaften und Migration vielfach angewandt (vgl. Pries/Dasek 2017; Griesser/Sauer 2017; Carstenen 2021) und wird daher von mir hier kurz vorgestellt.

Marino et al. (2017) gehen davon aus, dass die europäischen Gewerkschaften aktuell die grundsätzlichen Dilemmata der 1960er bis 1990er Jahre hinter sich gelassen haben. So verschließen sie sich nicht mehr vor Mitgliedern, die eine andere Staatsbürgerschaft besitzen, und fordern auch nicht mehr aktiv einen »Migrations-Stopp« (Marino et al. 2017: 7). Pries und Dasek wenden an diesem Punkt ein, dass es in der deutschsprachigen Diskussion besser wäre, von »widersprüchlichen Anforderungen und ambivalenten Politikorientierungen« als von »Dilemmata« zu sprechen (vgl. Pries/Dasek 2017: 40).

Trotz dreier ähnlicher Dilemmata stellen die Autor:innen fest, dass es sehr unterschiedliche gewerkschaftliche Antwortmöglichkeiten und strategische Entscheidungen in Bezug auf Migrationspolitiken gibt. In dem Modell werden wiederum verschiedene »Erklärungsfaktoren« für die große Bandbreite an Unterschieden in der Beziehung zwischen Gewerkschaften und Migrant:innen festgehalten.2 Anhand der Kombination dieser fünf »Erklärungsfaktoren« lasse sich ableiten, welche Politiken Gewerkschaften gegenüber Migrant:innen einnehmen (vgl. Marino et al. 2015: 9ff.).

Doellgast et al. (2018) argumentieren in eine ähnlich optimistische Richtung. Europäische Gewerkschaften wehren sich vermehrt gegen prekäre Arbeitsverhältnisse und legen zunehmend einen Fokus auf die Organisierung prekärer Arbeiter:innen, daher auch der Organisierung von Migrant:innen. Die Autor:innen entwickeln ein Analysemodell (»virtuous cycle« und »vicious cycle«), um zu erklären, weshalb einige Gewerkschaften erfolgreich bei der Eindämmung prekärer Arbeit waren und andere nicht (vgl. Doellgast et al. 2018: 13ff.). Carver und Doellgast (2020) fügen in ihrer Aufarbeitung der wissenschaftlichen Diskussion zu solidarischen inklusiven Verhaltensweisen der europäischen Gewerkschaften hinzu, dass besonders Bündnisse mit nichtstaatlichen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen zu »Erfolgen« führen. Jedoch, so die Autor:innen, muss die eigentliche Mobilisierung von prekären Arbeiter:innen selbst – daher auch Migrant:innen – ein wesentlicher Eckpfeiler gewerkschaftlichen Handelns sein (vgl. Carver/Doellgast 2020: 14). Pedro Mendonca (2020) greift den Punkt auf und argumentiert, dass Gewerkschaften bei solidarischen Kämpfen die Vernetzung mit anderen, zivilgesellschaftlichen Akteuren benötigen. Denn es ist notwendig, dass Gewerkschaften grundsätzlich auf breite gesellschaftliche Netzwerke zurückgreifen können, um »externe Solidarität« zu generieren (vgl. Mendonca 2020: 434).

2.1.2Die Organisierung migrantischer Arbeiter:innen als gewerkschaftliche Erneuerungsstrategie

Der Großteil der europäischen Gewerkschaften hat also aufgehört, aktiv die Beschränkung von Migration zu fordern, und stattdessen Projekte ins Leben gerufen, um Migrant:innen zu organisieren. Adrien Thomas (2016) argumentiert, dass Gewerkschaften in Europa vermehrt die Organisierung von Migrant:innen als eine Möglichkeit erkennen, um das sogenannte race to the bottom, und damit Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen, zu verhindern (vgl. Thomas 2016: 209ff.). Marino et al. (2015) führen an, dass sich vor allem Gewerkschaften, deren gesellschaftliche Macht und Mitgliederzahlen stark abgenommen haben, »neuen Mitgliedern« zuwenden. In Großbritannien und den Niederlanden haben Gewerkschaften Organizing-Kampagnen in Richtung migrantischer Arbeiter:innen initiiert. In Italien und Spanien haben Gewerkschaften Beratungsstellen für migrantische Arbeitskräfte eingerichtet, und in Frankreich hat die Gewerkschaft CGT einen Streik illegalisierter Migrant:innen geführt. In Deutschland, Österreich und Irland sind Gewerkschaften hingegen zurückhaltender: »Empirical studies suggest an inverse relationship between the institutional integration of trade unions and an inclusive attitude towards migrant workers« (Marino et al. 2015: 11). Ronaldo Munch (2010) argumentiert in eine ähnlich positive Richtung: »[A]cross the world, trade unions are organizing with and on behalf of migrant workers« (Munch 2010: 169). Auch Turner (2014) sieht Gewerkschaften bei der Verteidigung der Rechte migrantischer Arbeiter:innen als progressive zukünftige Kräfte: »As neoliberal economic governance proves unsustainable, revitalized unions and their allies weigh in powerfully on the side of fundamental policy transformation in the drive for an inclusive, sustainable society« (Turner 2014: 10).

In dem Sammelband »Mobilizing Against Inequality« (Adler et al. 2014) stellen die Autor:innen Best-Practice-Beispiele aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland vor. In allen Ländern gebe es Beispiele für solidarische Kämpfe mit und für Migrant:innen. So hat in Deutschland die Gewerkschaft ver.di im Fall »Ana S.« aktiv die Arbeitsrechte einer illegalisierten Hausangestellten in Hamburg verteidigt (vgl. Adler/Fichter 2014: 90ff.). Die Fallbeispiele sollen einen Beitrag zu einer gewerkschaftlichen Erneuerungsstrategie leisten:

»Fundamentally, we believe that the cases presented in this book attest to the powerful synergy that can occur when the labor movement and immigrant rights movements get together. For reasons we will explore further in a moment, our view is that the revitalization of the labor movement is intertwined with immigrant worker movement-building and vice versa« (Fine/Holgate 2014: 131).

»Community Organizing« sowie auch die »Worker Centers« in den USA stellen Initiativen dar, um Menschen, damit auch Arbeiter:innen, längerfristig entlang ihrer breiteren Lebensbedingungen zu organisieren. In der Literatur wurden diese Ansätze als effektivere Formen der Organisierung von Menschen, die Rassismuserfahrungen gemacht haben, diskutiert (vgl. Milkman/Ott 2014). McBride et al. (2015) haben daraufhin für eine stärkere intersektionale Perspektive in den Industriellen Beziehungen plädiert, die verschiedene Lebensbedingungen und Diskriminierungserfahrungen von Arbeiter:innen gleichwertig analysiert. Alberti und Però (2018) untersuchen die Organisierung von lateinamerikanischen Arbeiter:innen in London durch die Community-Organisation Latin American Workers Association und die Gewerkschaft Independent Workers of Great Britain. Sie argumentieren dafür, migrantische Arbeiter:innen nicht »nur« als Arbeiter:innen zu sehen, sondern sie als Gruppe(n) mit spezifischen Bedürfnissen und Erfahrungen anzusprechen sowie deren Lebensbedingungen zu erkennen (vgl. Alberti et al. 2013, Alberti/Però 2018).

Maita Tapia (2019) argumentiert, dass intersektionale Ansätze notwendig sind, um längerfristige Solidaritätsverhältnisse zwischen einer zutiefst fragmentierten Arbeiter:innenschaft herzustellen. So müssen Gewerkschaften auch eine längerfristige solidarische Kultur innerhalb ihrer Organisationen etablieren. Als Beispiel könne die gelungene Organisierung und der erfolgreiche Kampf der Harvard University Clerical and Technical Workers (HUCTW) in Boston gesehen werden (vgl. Tapia 2019).

Zusammenfassend bietet die Gewerkschaftsforschung in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Migration zwar Ansatzpunkte, konkrete Fallbeispiele aufzuarbeiten, weist aber in sich einige Leerstellen auf. Zum einen handelt es sich um das grundlegende Problem, dass die akademischen Arbeiten von einem äußerlichen Verhältnis zwischen Gewerkschaften und »Migration« ausgehen. Dieser Ansatz lässt die autonomen Kämpfe der Migration, die auch innerhalb gewerkschaftlicher Strukturen stattfanden, außer Acht. Außerdem wird nicht gefragt, weshalb Gewerkschaften überhaupt mit »Dilemmata« konfrontiert sind, wenn sie auf das Thema Migration stoßen. Ansätze zur Überwindung dieser Leerstellen bieten die Forschungen zu den Kämpfen der Migration und wie sie auf Gewerkschaften gewirkt haben, die im Folgenden dargestellt werden. Zunächst gehe ich jedoch noch auf die wissenschaftliche Diskussion zum gewerkschaftlichen Wandel in Österreich und Deutschland und somit auf meinen Beitrag zu diesen Debatten ein.

2.1.3Gewerkschaftlicher Wandel in Österreich und Deutschland?

Die hauptsächlich deutschsprachige Literatur, die sich auf die Länder Österreich und Deutschland bezieht, zieht meist eine ambivalente Bilanz zum »Wandel« der Gewerkschaften in Bezug auf Migration. Im Folgenden wird die wissenschaftliche Debatte zu den österreichischen und deutschen Gewerkschaften knapp wiedergegeben.

Die österreichischen Gewerkschaften wurden in der Literatur wegen ihrer restriktiven und ambivalenten Positionen zu Migrationspolitiken kritisiert (vgl. Penninx/Roosblad 2000; Gumbrell-McCormick/Hyman 2013; Gächter 2017). August Gächter zeigt in seiner Studie auf, wie die österreichischen Gewerkschaften ab den 1990er Jahren zunehmend weniger Einfluss auf die (Arbeits)Migrationspolitiken der Republik nehmen konnten. Er beschreibt die Jahrzehnte nach 1990 als »turbulent« für die österreichische Gewerkschaftsbewegung. Sie waren in einen Skandal verwickelt,3 die Sozialpartnerstruktur verlor zunehmend an Bedeutung und wurde von der konservativ-rechtspopulistischen Koalition von 2000 bis 2007 gänzlich umgangen (vgl. Gächter 2017: 122f.). Die Gewerkschaften unterstützten zuletzt die maximale Ausdehnung der Übergangsfristen in der Frage des Arbeitsmarktzugangs von Bürger:innen aus neuen EU-Mitgliedsstaaten: »[…] the ÖGB demanded the most restrictive conditions of any European trade union for the regulation of ›free movement‹« (Gumbrell-McCormick/Hyman 2013: 41). Sie hätten außerdem keine Strategie entwickelt, um Migrant:innen in ihre Strukturen zu integrieren, zudem fehle »eine Sprache«, um strukturinterne Diskriminierung innerhalb der Organisation zu benennen (vgl. Gächter 2017: 136). Allerdings gibt es auch in der wissenschaftlichen Debatte Autor:innen, die darauf hinweisen, dass sich die österreichischen Gewerkschaften, zusammen mit der Bundesarbeitskammer4, beim Thema Migration in den letzten Jahren gewandelt haben. So kam es zu einer stärkeren Inklusion von Migrant:innen in gewerkschaftliche Strukturen, zu einer »punktuellen Neupositionierung von AK und ÖGB zu migrationspolitischen Fragen« (Griesser/Sauer 2017: 156) und zu einer vermehrten Wahrnehmung von Migrant:innen als Zielgruppe.

In der wissenschaftlichen Diskussion über die deutschen Gewerkschaften und ihr Verhältnis zu Migration existieren – ähnlich wie beim Beispiel Österreich – widersprüchliche Einschätzungen. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat sich um Begrenzungen zum Arbeitsmarkt für Arbeiter:innen aus den neuen Mitgliedsstaaten bemüht.5Hardy et al. (2012) meinen dazu:

»Before EU enlargement the Deutscher Gewerkschaftsbund and its affiliates strongly demanded transitional arrangements restricting the freedom of movement and services. Later, trade unions supported the extension of the transitional measures until 2011. In this respect, the German unions were relatively isolated within Europe« (Hardy et al. 2012: 348).

Diese Position wurde in der Wissenschaft mit Unverständnis rezipiert, denn aus makroökonomischer Perspektive kann von einer »lohn- und beschäftigungsneutralen Ost-West-Migration ausgegangen werden« (Schulten 2011: 136). Somit waren die Bedrohungszenarien, die die Gewerkschaften dazu veranlassten, die Übergangsregelungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu unterstützen, schnell widerlegt.

Trotzdem gibt es, gerade bei den Fachgewerkschaften in Deutschland, Vorstöße, für und mit Migrant:innen zu kämpfen. Hardy et al. argumentieren, dass die Kampagne für einen Mindestlohn eine Auseinandersetzung war, die die Gewerkschaften in Deutschland im Sinne aller Arbeiter:innen im Niedriglohnsektor, in dem sich besonders viele Migrant:innen befinden, geführt hatten. Die Autor:innen fassen zusammen:

»[T]he relatively new and embryonic strategies for organizing migrant workers reflect a lack of a tradition in organizing, which is only a recent phenomenon aimed at addressing the continual decline in membership. In general, German unions have relied on lobbying rather than mobilizing their members« (Hardy et al. 2012: 359).

Um migrantische Arbeitskräfte im Bausektor zu organisieren, lancierte die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) 2004 einen Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen (EMWU) (vgl. Adler et al. 2014). Der EMWU war ein Versuch, transnational gewerkschaftlich zu organisieren. Schlussendlich ist dieser Versuch an der fehlenden transnationalen Zusammenarbeit gescheitert (vgl. Carver/Doellgast 2020).

Zusammenfassend herrscht in der wissenschaftlichen Debatte zu Gewerkschaften und Migration in Österreich und Deutschland die Grundannahme, dass sich »etwas verändert« hat, trotz vorheriger »ambivalenter« und restriktiver Positionen zu Migrant:innen am Arbeitsmarkt. Diese Arbeit soll ein Beitrag zu dieser Debatte sein. Dabei möchte ich die Annahmen hinterfragen und analysieren, weshalb es ein »ambivalentes« Verhältnis ist und weshalb sich »etwas verändert« hat. Der Sommer der Migration dient mir als Anlass, um diese Fragen tiefgehend zu beleuchten. Ansätze der kritischen Migrationsforschung zu Gewerkschaften bieten dafür einige erhellende Anknüpfungspunkte.

2.2Kritische Migrationsforschung und Gewerkschaften

Eine Reihe von Autor:innen haben das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und den Kämpfen der Migration aus der Perspektive genau dieser Kämpfe untersucht. Mit diesem Blickwinkel sind historische sowie empirische Arbeiten entstanden, die sich einzelne Fallbeispiele ansehen. Im Folgenden rezipiere ich repräsentativ zuerst exemplarisch einige der historischen Arbeiten. Danach gehe ich auf aktuelle wissenschaftliche Beiträge aus dieser Richtung ein.

2.2.1Migrantische Kämpfe und Gewerkschaften

Der Bezug auf migrantische Kämpfe und die Zentralität eigensinniger Mobilität wurde durch den Ansatz der Autonomie der Migration in der Forschung geprägt (vgl. Transit Migration Forschungsgruppe 2007). Der Subjektstatus von Migrant:innen, deren Kämpfe und besonders deren Eigensinnigkeit werden ins Zentrum der Analyse gerückt. Gesellschaftliche Institutionen, darunter auch Gewerkschaften, werden durch die Kämpfe der Migration gezwungen, sich zu reorganisieren. Besonders historische Arbeiten zeigen somit auf, dass es die Arbeitskämpfe von Migrant:innen in der BRD der 1960er Jahre, oft in Form von »wilden Streiks«, waren, die nicht nur innerhalb der Gewerkschaften Veränderungen auslösten, sondern auch die Arbeitsbeziehungen des Landes herausforderten (vgl. Birke 2007; Bojadžijev 2008; Goeke 2020). Exemplarisch gehe ich auf drei Studien ein, die in der Tradition der kritischen Migrationsforschung stehen und die Phase der in der damaligen Terminologie so genannten »Gastarbeiter:innen« aufgearbeitet haben.

Der Begriff des »Gastarbeiters« verdeutlicht die damit zusammenhängende Vorstellung von Migration: temporäre Arbeitsmigrant:innen, die für eine bestimmte Zeit im »Gastland« arbeiten und dann wieder zurückkehren.6De Haas et al. beschreiben diese Illusion folgendermaßen: »German policies conceived of migrant workers as temporary labour units, which could be recruited, utilized and sent away again as employers required« (De Haas et al. 2020: 121). Österreich und Deutschland schlossen bilaterale Anwerbeabkommen, um Arbeiter:innen direkt zu rekrutieren. Allerdings hat Manuela Bojadžijev gezeigt, dass die bilateralen Abkommen eher als Regulationsversuch einer schon stattfindenden Migrationsbewegung interpretiert werden müssen (vgl. Bojadžijev 2008: 100ff.; Karakayali 2008: 97). Der Großteil der Migration fand außerhalb des Rahmens der Abkommen statt (vgl. Bojadžijev 2008: 110ff.).

Simon Goeke (2020) fokussiert seine geschichtliche Aufarbeitung auf Westdeutschland in den 1960er und 1970er Jahren und erzählt in erster Linie von Arbeitskämpfen, die in dieser Zeit mit oder ohne gewerkschaftliche Unterstützung in den Schlüsselsektoren geführt wurden. Er betont bei seiner Erzählung, dass die sogenannten »Gastarbeiter:innen«, entgegen den damaligen Stereotypen, kämpferisch waren:

»Im Gegensatz zum Vorhaben der Unternehmer, Migrantinnen und Migranten zum Durchbrechen der Streikfront zu nutzen, wurde allseits festgestellt, wie solidarisch und aktiv die ausländischen Beschäftigten sich am Streik beteiligten« (Goeke 2020: 60).