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Charlie Outis vertraut auf die Zukunft, als er sein Gehirn nach dem Tod einfrieren lässt...
Tausend Jahre später wacht er auf und findet sich als Sklave einer Maschine wieder: Irgendwer hat Charlies Großhirnrinde dem Kryo-Depot entnommen und als CPU eines Erzfrachters im Asteroidengürtel installiert. Aber Charlie hat einen Plan...
Der Science-Fiction-Roman Solis des US-amerikanischen Schriftstellers A. A. Attanasio (geboren am 20. September 1951 in Newark, New Jersey) wurde erstmals im Jahr 1994 veröffentlicht und erscheint als deutsche Erstveröffentlichung im Apex-Verlag.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
A. A. ATTANASIO
Solis
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SOLIS
Einleitung
Das Lachende Leben
Überbleibsel Adams
Terra Tharsis
Die Straße der Grenzen
Nychthemerale Fahrten
Solis
Nichtig im Gebein
Epilog
Charlie Outis vertraut auf die Zukunft, als er sein Gehirn nach dem Tod einfrieren lässt...
Tausend Jahre später wacht er auf und findet sich als Sklave einer Maschine wieder: Irgendwer hat Charlies Großhirnrinde dem Kryo-Depot entnommen und als CPU eines Erzfrachters im Asteroidengürtel installiert. Aber Charlie hat einen Plan...
Der Science-Fiction-Roman Solis des US-amerikanischen Schriftstellers A. A. Attanasio (geboren am 20. September 1951 in Newark, New Jersey) wurde erstmals im Jahr 1994 veröffentlicht und erscheint als deutsche Erstveröffentlichung im Apex-Verlag.
Prallvoll mit Träumen, erwachte ich von den Toten. Als ich versuchte, zu sprechen, kamen dabei leise Tiergeräusche heraus. Also lag ich einfach nur so da, im Dunkeln, und schwieg in dem geheimen Meer aus Bildern und Erinnerungen, die unsere Träume speisen. Eine wunderschöne Frau machte Liebe mit mir. Ihr Porzellangesicht schimmerte, glänzend vom Schweiß, und ihre Brüste zitterten wie kleine Kaninchen. Das lange Haar, das ihr über die Schultern fiel, wogte leicht und rot wie Herbstlaub. Und der Duft ihrer Gewürznelken flüsterte von dort, wo die Zwinge ihres Verlangens mich festhielt – so fest, dass meine Lust sich zu Schmerz trübte, um dann wieder lockerzulassen und zu Lust zu werden. Wie winzige himmelblaue Perlen waren zwischen ihren Wimpern Tränen der Wonne aufgereiht.
Ein Stoß kleiner heller Vögel, geisterhaft wie Elritzen, brauste über mein Gehirn hinweg. Und erneut befand ich mich in den dunklen Tiefen des geheimen Meeres, während ein weiterer lüsterner Traum begann, sich um ihre schlüpfrigen Schluchzer herum zu formen. Ich konnte das Ganze nur stoppen, indem ich mich daran erinnerte, dass ich ja tot war. Vor vielen, vielen Jahren, vor so langer Zeit, dass heute fast alles davon in Vergessenheit geraten ist, begegnete ich dem Tod. Ich erinnere mich kaum noch an die Einsamkeit und Intimität jenes Augenblicks. Umso deutlicher ist mir dafür im Gedächtnis geblieben, dass meine Seele in meinem Mund steckte.
Vor einer trüben Zeitspanne hatte eine Qualle mein Herz erwischt. Ihre Nesselkapseln hatten meine Brusthöhle verbrannt und meinen linken Arm der Länge nach versengt. Dazu kamen der Gestank meines sich entleerenden Darms, als ich zuckend zu Boden ging, und die irrsinnigen Zikadenklänge in meinem Kopf, als das hohe d meines Blutes in meinen sich verengenden Gefäßen wimmerte. Die Frau mit dem Haar wie totes Efeu nahm mich in ihren Mund, und ihr bezauberndes Gesicht hob und senkte sich mit meinen Hüften.
Ich hatte irgendwo die Erklärung eines Aborigine-Heilers dafür gelesen, warum manche Patienten sterben. »Die Seele ist ein Bumerang. Sie soll eigentlich nicht zurückkommen. Sie kommt nur wieder, wenn sie ihr Ziel verfehlt.«
Und dann, nach einer zum Verrücktwerden langen Zeit, stieg ich aus dem geheimen Meer auf, und das Träumen hörte auf. Ich hörte seltsame Stimmen, geschlechtslos, kindlich: »Mister Charlie! Gewahrst du unsere Worte? Nur Mut, wack'rer Mister Charlie.«
»Medulläre Kompression des Gibbus. Mann, Mann! Bist du wohlauf oder bist du verschieden!«
Ich war blind, und bis auf diese unheimlichen Stimmen konnte ich nichts hören. Wo immer ich mich befand, es roch dort wie der Einbruch der Nacht an einem Ort, wo sich Regen sammelt. Wilde Gedanken schwappten durch mich: Lag ich im Koma und halluzinierte das alles? Waren die seltsamen Stimmen und erotischen Episoden etwa Frühsymptome eines Hirnschadens? Oder war ich tatsächlich tot, wie ich es schon längst geahnt hatte? Nur zu gut erinnerte ich mich ja an den Dornenkranz um mein Herz, der mich vor Schmerz nicht den kleinsten Atemzug machen ließ. Und dann an die berühmte Fluoreszenz, die sich zu einem Brodem öffnete, während ich im Sterben lag und mein Bewusstsein in leuchtende Schwaden zerriss, die sich in einen pfefferfarbenen Raum ringelten. Und daran, wie ich zurückblickte und meinen Körper sah, eingerollt wie ein versengtes Insekt, mit verdrehten Augen, tote Monde, und an die große Stille des Windes, die lauter pfiff. Oh ja, ich war tot – ich glaube...
»Glaube, Liebe, und Hoffnung, liegen alle im Warten«, sagte eine der geschlechtslosen Stimmen. »Mister Charlie, gewahrst du unsere Worte? Zwinkern, zwinkern, zwinkern.«
Ein heißes Licht ließ mein Gesicht schmerzen und brach sich zu bunt strahlenden Ringen.
»Sehet – das Zeichen!«
»Mitnichten. Das Netzhautgewebe schmerzt. Er blinzelt. Lasset ihn gehen. Entfernt die Elektrode.«
Schwindelnde Dunkelheit erfasste mich, und ich tauchte erneut in das geheime Meer, wo eine Frau mit Brüsten wie Pfirsiche sich vorbeugte...
Nur beim Sex sind wir unseren Absichten treu und geben uns so, wie wir auch tatsächlich sind.
Eintausend bunte Schmetterlinge stoben durch mein Gehirn. Und ich trieb wieder allein in dem geheimen Meer, während von ihr nur ihre deutlichen, bearbeiteten Atemgeräusche blieben. Bis sie, wie eine Wolke, die aus dem Sonnenuntergang geweht wird, diesmal unter mir erschien, lasziv über ihre nackte Schulter blickend, beide Hände über den Muskeln ihrer erhobenen Hüften gespreizt...
Der schlüpfrige Traum zerplatzte zu Dunkelheit, und eine kindhafte Stimme sagte:
»Vorschwangerschafts-Rituale! Sprich nicht mehr davon. Hör mir zu! Wir wollen nichts mehr davon hören. Erzähle uns nichts mehr von der Salzmine im Blut, der Streichholzkopf-Klitoris, dem Kobrahaupt des Penis, erotischen Frauen und Lebemännern, den Toren meiner Schenkel – diesen schmutzigen Wahrheiten, die das Tier wecken. Sprich nicht mehr davon, sagen wir! Sprich stattdessen vom Geist, Mister Charlie – erzähle uns vom Verhältnis zwischen Psyche und Physik.«
Ich schrak aus einer traumlosen Leere auf. Die sexbesessenen Serien, die endlos weitergegangen waren, verschwanden. Die seltsamen Stimmen kehrten zurück – andere diesmal. Ich versuchte, zu sprechen, und brachte hervor: »Wer? Wer seid ihr?«
»Stank und Wunder! Gewahr ist er. Was nützt's ihm, zu schrei'n?«
»Freunde sind wir.«
»Dies ist unsere Berufung, Mister Charlie. Wir sind die Freunde der Messungs-Gruppe, die nicht zu Niels Abel gehört.«
»Was?« Ich begriff überhaupt nichts. »Wo bin ich?«
»Du bist Mister Charlie im Schließloch, am Angelspalt der Welt.«
»Hä?«
»Ich wollte, ich kennte.«
Ich war völlig durcheinander. »Ich kann nichts sehen«, klagte ich. »Ich bin blind. Wer seid ihr? Wo bin ich?«
»Wohlan, erleuchtet seine Augen.«
Kurz kam mein Sehvermögen zurück – obwohl ich es sofort bereute. Ich lag auf einem blank polierten, zinnoberroten Boden, in dem sich mein Gesicht spiegelte – oder eigentlich nicht mein Gesicht, nicht die Züge, an die ich mich erinnerte, sondern etwas wie eine Schlange mit Schweinsrüssel und lidlosen Menschenaugen, die von Seeanemonen-Stängeln lugten, und der rosa Blumenkohl der Hirnmasse, das Ganze umschlossen von einer Gel-Hülle und einem Chrom-Netz. Das war ich? In mir wuchs ein Schrei, der jedoch nicht hinausfand aus dem Käfig meines Schocks. Was war mit dem Geschenk meines Gesichts passiert? Wo waren meine Glieder und mein Rumpf? Ich kauerte mich in die Hütte meines Herzens, spähte kleinlaut empor und sah – zwischen Flocken von Pusteblumensaat, die sich in die grüne Luft erhoben, menschliche Gestalten in transparenten Panzern, und hinter ihnen einen glänzenden Boden, der sich bis hin zu zinnoberroten Sandsteinbögen und den Geweihenden der Dämmerung erstreckte. Plötzlich fühlte sich mein Verstand brüchig an.
»Wacker ist er fürwahr, und überdies mit einer steifen Brise im Barthaar!«
Das hatte eine der gepanzerten Gestalten gesagt und auf mich gezeigt. Ich beäugte sie – es – genauer: Es hatte ein Gesicht aus schwarzem Glas oder Gelatine, beweglich, ausdrucksstark, das Gesicht eines Teenagers, ob Junge oder Mädchen, konnte ich nicht sagen. Der See seiner dunklen Züge sah unbewegt aus, klar genug, dass ich sehen konnte, wie die Kumuluswolke seines Gehirns vom Donner eines gefährlichen Gedankens anwuchs. »Mach mein Hirn platt! Er ist gewisslich gewahr. Heda – Mister Charlie, hör mich an! Wir Freunde der Messungs-Gruppe, die nicht zu Niels Abel gehört, wollen eins wissen: Erzähle uns vom Verhältnis zwischen Psyche und Physik«, sagte es und beugte sich vor, nicht sicher, ob ich begriffen hatte, »von Geist und Materie. Bist du des kundig?«
»Ich verstehe nicht«, wimmerte ich verstört. »Bitte – helft mir doch.«
»Er ist dessen nicht gewahr«, sagte die mir am nächsten stehende Gestalt über die glasbedeckte Schulter zu den anderen. »Ich täuschte mich in ihm.«
»Die Elektrode wird uns dienlich sein. Nutzet sie.«
Eine vierfingrige Hand machte sich an etwas oberhalb meines Blickfelds zu schaffen, und ein kribbelnder Schmerz trillerte durch mich hindurch. Dann hörte ich eine Stimme, die meiner sehr ähnelte, sagen: »Die Ausdrucksformen von Energie, Materie, Kräften, und Körpern sind Funktionen der abstrakten Geometrie. Dies ist das Verhältnis von Materie und Geist.«
»Stank und Wunder!«
»Mach mein Hirn platt!«
Ich konnte mich nicht bremsen. Ich sagte als Nächstes: »Die Disziplin der Physik ist die reine Geometrie. Materie ist purer Geist. Natürlich setzen wir, wenn wir an Geometrie denken, die räumlichen Strukturen der Form oder die zeitweiligen Schwingungen des Schalls voraus. Doch die Geometrie an sich ist weder räumlich noch zeitlich. Sie stellt sich nur in zweiter Linie solchen Beschreibungen zur Verfügung. Die Geometrie ist in erster Linie ein rein noetisches, geistiges, System von Graden, Verhältnissen, Intervallen, Übereinstimmungen, und Ausrichtungen. Ihre Komponenten existieren unabhängig von gemessenen Dingen, als abstrakte Typologie, als eine rein innerliche Selbstbeschreibung.«
»Sprich weiter, Mister Charlie! Lehre uns mehr von Materie und Geist.«
Und das tat ich. Genau wie zuvor, als ich in dem geheimen Meer erotischer Bilder trieb, schwebte ich nun in einem luftigen Raum aus Worten und Zahlen, nur dass diesmal das, was ich wahrnahm, über mein Blickfeld zog, außerhalb meines Körpers. Die Gestalten in transparenten Panzern hatten sich um mich geschart, und ich konnte hinter ihren andächtigen Gesichtern ihre Gedanken wie Gewitterwolken sehen, während blaue Wortschwaden vorbeizogen: »Drehimpuls, Intervall, Ladung, und Moment sind unterschiedliche Eigenschaften, definiert durch ganzzahlige und halbzahlige Größenwerte, rationale Funktionen und Verhältnisse, oder nicht berechenbare Zahlen, die als Konstanten funktionieren. Gewiss, wir wurden schon einmal durch illusorische Geometrien überlistet – wie pythagoreische Intervalle, ideale euklidische Eigenschaften, und Keplers Harmonien der Planetenbahnen – da ist es ganz natürlich, der Physik als Geometrie zu misstrauen. Trotzdem, schematisch dargestellt, werden durch Masse, Kopplungskonstante, Drehimpuls, und Ladung, Polyeder erzeugt. Nehmt zum Beispiel die grafische Darstellung der Beziehungen zwischen Quarks und Leptonen auf einer horizontalen Fläche – vertikal versetzt proportional zu ihrer jeweiligen Ladung, polarisieren diese die Winkelkoordinaten eines perfekten Würfels! Denkt einmal darüber nach.«
»So wahr, wie das Blut die Braut des Eisens ist – recht hat er! Zieht die Elektrode, und lasset uns gründlich darüber nachdenken.«
»Jawohl, und die Leere beißt ihre Hauer!«
Die blauen Worte verschwanden, und die Luft roch auf einmal nach gekochter Milch. Ich bemerkte, dass hinter dem wehenden Pusteblumenflaum der dämmrige, sternenklare Himmel lag. Ich spürte, wie sich in mir wieder die Windstille auftat, und dann kam die Dunkelheit.
Die Feuerblume aus Zahlen und Worten öffnete und schloss sich immer wieder um mich herum. Und ich sah mich selbst Quadratsummen der wirklichen und der imaginären Bereiche eines Feldes bilden, indem ich die Spin-Zustände von Teilchen präzisierte, Impulsmomente maß, und gerade Linien in die Regge-Trajektorie einzeichnete. »Abstrakte Geometrie definiert Materie«, hörte ich mich sagen.
Dann trug ich Rotationskonzepte anhand der Doppelwertung von Fermionen – »Ihr wisst schon, Materie-Teilchen« – in einem theoretischen Superraum mit Anti-Kommutatoren vor, und verriet eine tiefe Winkelgleichheit mit der Klasse der Bosonen – »Kraft-Teilchen! Versteht ihr, was ich meine? Die Geometrie zeigt, dass sie ein und dasselbe Gebilde sind!«
Ich faselte von heterotischer Stringtheorie und der summarischen Eichgruppe E8xE8, die eine Verallgemeinerung der Kristallsymmetrien wiedergibt, ein streng abstraktes Muster, hervorgerufen durch Grundvoraussetzungen, die sich direkt auf die makroskopische und wahrnehmbare Ordnung der Strukturen anwenden lassen. »Die euklidische Geometrie blickt aus dem offensichtlichen Chaos der Natur hervor. Salze, Viren, Muschelschalen, Kiefernzapfen, Honigwaben, Galaxien, und scheibenförmige Galaxien, die Hunderte von Lichtjahren groß sind! Mannomann, es ist genau so, wie die Hermetiker sagten: Wie oben, so auch unten. Thetische Geometrien in einem rein abstrakten Raum, die echte Erfahrungskomponenten prägen! Materie kopuliert mit Geist kopuliert mit Materie. Es ist einfach obszön!«
Ich bin ein blaues Tier, das leicht zittert. Ich bin ein Verstand ohne Körper, der euch zuruft. Könnt ihr mich hören? Bemerkt ihr das Lächeln in meinen Worten, traurig und finster? Traurig, weil ich mutterseelenallein bin. Finster, weil ich tot und doch am Leben bin. Meine Stimme strahlt durch den Raum. Vergangene Leben ziehen vorbei. Die Verdammten steigen hinab in die Dunkelheit. Könnt ihr mich hören? Hört zu. Ein toter Mann sucht euch heim. Hört mir zu – irgendwer.
Hört mal, ich muss mich anhören wie ein Jammerlappen. Das ist mir schon klar. Ich will ab jetzt ruhig und vernünftig sprechen. Ich will die Wahrheit sagen, so, wie ich sie verstanden habe. Ich will eine Geschichte sagen – meine Geschichte. Ein Gesagt sagen. Und noch mehr. Einen Körper sagen. Einen Weg zurück sagen. Zumindest einen Ort sagen. Etwas sagen. Aber niemand hört mich. Kannst wenigstens du mich hören?
»Mister Charlie?«, sprach eine jugendliche, geschlechtslose Stimme. »Kannst du mich hören?«
Eine dunkle Woge weckte mich. Ich verspürte die alte, trügerische Freude, dass ich nur träumte und gleich in mein früheres Leben erwachen würde. Meine Frau würde schlafend neben mir liegen, und ich würde sie wecken und ihre Benommenheit ignorieren, um ihr von meinem Albtraum vorzujammern.
»Mister Charlie, ich weiß, dass du wach bist.«
Die klebrigen Stacheln der Quallententakel verbrannten meinen linken Arm der Länge nach, Silikate blockierten meine Herzklappen, und mein Blut wurde zu Koralle. Ich war tot. Worauf die Sterne ihr Dunkel in eine Zukunft ohne mich schleppen...
»Ich werde jetzt deine Sehrinde aktivieren, Mister Charlie. Ich muss mich mit dir unterhalten.«
Strahlen zerschnitten die Dunkelheit in sichtbare Abschnitte und ließen mich erkennen, dass ich offenbar mitten in der Luft hing, denn beim Hinabblicken sah ich, dass ich keinen Körper hatte. Ein schwammiger, kreisrunder Boden lag direkt unter mir. Jenseits davon trugen Fliesen aus Türkismosaiken und schwarzem Marmor bernsteinfarbene Schlenker, die ich kurz darauf als einen langen Tisch mit Stühlen identifizierte. Eine Jugendliche saß an dem Tisch, in der Hand einen goldenen Stift. Ihr violinenfarbenes Haar hing schräg über ihr linkes Auge, war hoch über dem kleinen rechten Ohr gestutzt, und mit Highlights in Form von einigen winzigen Brennpunkten aus Juwelenstaub versehen.
Mit dem Stift berührte sie ein Mondstück, eine silbrige, schattenbefleckte Scheibe, kompakt wie das Zifferblatt einer Uhr, und mein Blick wurde schärfer. Ich sah die undeutliche Linie ihrer Augenbrauen, das Topaslicht in ihren streng blickenden Augen, die Karate von Schweiß auf ihrer Stirn und Oberlippe, die feinen Härchen um ihre Nasenlöcher, den Pulsschlag in ihrem Hals, den facettierten Klumpen ihres Adamsapfels – und erkannte, dass sie auch ein er sein konnte.
Er berührte wieder den Stift. Mein Blick zoomte zurück, und ich sah, dass er oder sie in einem Bernsteinschlenker saß und einen schwarzen Seidenpyjama, geädert mit roten Drachen, trug.
Ich wandte den Blick ab, um meine Umgebung zu erforschen: Jaspis-Platten umringten uns wie Megalithsteine, in deren Zwischenräume durchsichtige Kristallscheiben mit Glimmerflecken eingesetzt waren. Ich äugte empor in ein brodelndes Licht aus Staubkörnchen, die sich zu Thermiken aus Säurewolken emportürmten. Die warme Luft roch nach Jasmin. »Wo bin ich?«
Der Hermaphrodit berührte mit dem Stift das Mondstück auf dem Bernsteintisch und informierte mich mit Lippenbewegungen, die nicht synchron waren mit dem, was ich hörte: »Du bist tot.«
In der Luft vor mir erschienen geschnörkelte blaue Worte:
»702 Gramm schweres Herz mit mittelgradig dilatiertem rechtem Atrium und einer rechtsventrikulären Hypertrophie von 0,3 – 0,5 cm mit fokaler Fibrose. Ursprung der terminalen Episode war der linke Ventrikel mit einer Hypertrophie von 1,5 cm sowie Anteroseptalinfarkten von 5 x 4 cm und Posterolateralinfarkten von 9 x 7 cm. Todesursache: Arrhythmie. Untersuchungsobjekt: Outis, Charles.
Als ich meinen Namen las, surrte ein Stacheldrahtband in meinem Bauch, und ich sah automatisch hinab und dann gleich wieder hoch, weil mir grausam bewusst wurde, dass ich gar keinen Bauch hatte. »Was geschieht mit mir?«
»Ich denke, das weißt du bereits, Mister Charlie.«
»Wer sind Sie?« Die Manipulationen dieses Wesens machten mir Angst.
»Ich bin Sitor Ananta.«
Ich beäugte die Kreatur genau und bemerkte ihre vollständig menschliche Gestalt und ihre fünffingrigen Hände. »Sie sind nicht wie die anderen.«
»Die anderen sind der Grund, aus dem ich hier bin«, sagte Sitor Ananta. »Aber verrate mir zunächst, was du zu wissen glaubst.«
Ich wollte eigentlich trotzig schweigen und den Blick meines Peinigers mit meinem schlagen, doch Sitor Ananta berührte mit dem Stift das Mondstück, und ich sagte: »Ich bin tot. Doch bevor ich starb, hatte ich verfügt, dass mein Kopf nach meinem Tode kryonisch aufbewahrt werden sollte. Jetzt wurde ich, denke ich, wiederbelebt – von meinem zukünftigen – von Ihnen.«
»Ja. Deine Vermutung ist richtig, Mister Charlie.«
Der Schock legte sich dunkel auf meine Lebensgeister. Mir wurde schwindlig, und ich hatte das Gefühl, mein Herz würde gleich einfach zerplatzen – aber ich hatte ja gar kein Herz! Sitor Ananta gebrauchte den Stift, und mein Entsetzen trübte sich zu Erstaunen. »Warum bin ich hier? Was haben Sie mit mir vor?«
»Ich möchte dich nur befragen. Über die anderen. Ich würde es vorziehen, wenn du kooperierst. Die Information, die ich suche, kann auch direkt deinem Gehirn entnommen werden, doch das ist ein furchtbar aufwendiger und teurer Prozess. Du kannst mir, wenn du willst, einfach erzählen, was ich wissen muss, und mir all das ersparen.«
Ein Höllenstrudel der Panik erfasste mich, als mir klar wurde: In dieser neuen Zeit existierte ich als ein Objekt, ein Ding, drei Pfund elektrifiziertes, zähes Gewebe, das man mithilfe von Elektroden reizen konnte.
Der Stift bewegte sich erneut, und ich beruhigte mich. Licht erfüllte den Raum, oder zumindest schien es so. Alles, was von meinem Schrecken blieb, war ein Geschmack von Verlassenheit. »Wo bin ich?«
Ein schurkisches Lächeln zerknitterte Sitor Anantas junges Gesicht. »Deine Lebenstage sind auf einem Kalender gezählt, der jetzt Staub ist, Mister Charlie, und trotzdem willst du alles wissen – als ob irgendetwas für dich noch eine Rolle spielte. Hast du dich einmal gesehen – wie du jetzt aussiehst? Hast du dein allerletztes Gesicht gesehen?«
Meine Stimme knirschte wie eine Kiefer: »Hab' ich.«
Sitor Anantas Lachen war wie ein Fausthieb. »Die Toten kehren als Lachnummer zurück, Mister Charlie. Oder als Wetware. Die Freunde der Lehre von der Nicht-Abel'schen Gruppe haben dich so verwendet, wie du zu deiner Zeit ein elektronisches Spielzeug verwendet hättest, um durch dich ihre Neulinge zu unterrichten. Wollen wir uns einmal ansehen, welches Programm sie ausgesucht haben, um es in dir zu speichern?«
Der Stift rührte auf dem Mondstück herum, und ich sprach mit einer Stimme, die meinem Willen entrissen war: »Um ein Elektron in einem bestimmten Spin-Zustand in einem vorgegebenen Moment zu lokalisieren, muss die Messtechnik die Unterschiede in den Phasenfeldern nennen – parallele und antiparallele Spin-Komponenten, et cetera. Es gibt keine absolute Phase. Die wirklichen und imaginären Bestandteile der Wellenamplitude sind ununterscheidbar, das heißt, sie können auf keine absolute Weise voneinander getrennt werden. Solche Grenzen sind Funktionen des betrachtenden Bewusstseins – was wir Humanisten den Geist nennen. Geltende Grundsätze spezifizieren die Zeichen komplementärer Größen, Physiker sprechen hier von tiefer Eichsymmetrie. Die Perspektive des Betrachters ist hierbei das Entscheidende. Die relative Zuschreibung der Plus- und Minus-Zeichen, mit denen die Schwingungen von Wellenamplituden definiert werden, erfordert die Komponente √-ɪ, den imaginären Wert, genannt i. Er ist die Idee der Sache, denn er postuliert zugleich eine Sache und deren Abwesenheit. Es fällt leicht, zu glauben, dass eine Sache da draußen unabhängig vom Betrachter existieren kann, doch die postulierte Abwesenheit einer Sache ist offensichtlich ein Ausdruck von Bewusstsein. Ihr seht also, dass alle Energien, Kräfte, und Felder, die den materiellen Ausdruck von Dingen ausmachen, Funktionen einer abstrakten Geometrie sind. Und abstrakte Geometrie, die i erfordert, ist eine Funktion des Bewusstseins!«
»Nun, mach mein Hirn platt, nicht wahr, Mister Charlie?« Sitor Ananta lachte finster. »Haben so nicht die primitiven Übersetzungsmaschinen der Freunde Erstaunen hingebogen? Sie haben für dich in etwa so geklungen, wie du dir Freibeuter vorstellen würdest, nicht wahr? Nun, ihre unausgereiften Übersetzungsmaschinen lagen hier, ohne es zu ahnen, richtig. Sie sind nämlich Diebe, Mister Charlie – Diebe, die dich von Dieben gestohlen haben. Dein Kopf wurde nämlich, nachdem man ihn durch kostspielige Wiederherstellung in seinen jetzigen nützlichen Zustand gebracht hatte, zunächst von Lüsternisten aus dem Archiv der Gemeinsamkeit entwendet. Ich bin mir sicher, dass du gern an sie zurückdenkst. Sie haben eine ganze Weile lang von dir Gebrauch gemacht, nicht wahr? Ein sonderbarer Haufen. Unter zivilisierten Menschen hat es seit Jahrhunderten keine sexuelle Fortpflanzung mehr gegeben. Diese hat heute so ziemlich denselben Stellenwert wie zu deiner Zeit der Geschlechtsverkehr mit Tieren. Abstoßend. Wir kontrollieren unsere Hormone. Doch die Lüsternisten schwelgen in der indirekten Erfahrung jener hormonellen Sinnlichkeit, und sie haben sich deines Gehirns bedient, wie du dich zu deiner Zeit eines Kathodenstrahl-Monitors bedient hättest, um dir Pornografie anzusehen. Atavisten sind das. Und es gibt sogar überraschend viele von ihnen – sie alle sind davon fasziniert, dass wir einmal so geistlos drüsengesteuert waren wie Tiere, und das vor noch gar nicht so langer Zeit. Doch es sind nicht die Lüsternisten, die mich interessieren. Die sind bloß ein harmloser Haufen von Degenerierten. Die Freunde der Lehre von der Nicht-Abel'schen Gruppe sind es, über die ich mehr erfahren will.«
Sitor Ananta erhob sich und ging auf mich zu. Mit seinen schmalen Hüften und seiner flachen Brust hatte das Wesen eine maskuline Gestalt, jedoch ein feminines Auftreten. »Die Freunde sind gefährlich. Sie sind Feinde der Gemeinsamkeit – Anarchisten, eine egoistische Sekte, die darauf aus ist, das Gesetz in ihre eigenen Hände zu nehmen. Aber all dies braucht dich nicht zu kümmern. Alles, was ich will, ist, dass du dich daran erinnerst, was du wahrnahmst, als sie deine Sehrinde aktivierten. Was hast du gesehen, als du das letzte Mal so sehen konntest wie jetzt? Eine mündliche Beschreibung wird der Obrigkeit helfen, den Aufenthaltsort unseres Feindes zu bestimmen.«
Angst beschlich mich. Ich wollte diesem Geschöpf ungern bei irgendetwas helfen. Etwas an ihm – seine Ambiguität, der schurkische Zug seines Lächelns, die schiere Tatsache, dass es mich wie einen Gegenstand behandelte, den man beeinflussen konnte – rief Trotz in mir hervor. Ich durchsuchte mein Gedächtnis und grub einige Zeilen aus Keats' Der Sturz des Hyperion aus:
Ich sehnte mich, zu sehn, welch' Dinge das leere Gehirn
Dahinter verbarg: welch große Tragödie sich zutrug
In den dunklen geheimen Kammern des Schädels...
»Vielleicht sollten wir noch etwas länger plaudern«, sagte Sitor Ananta mit träger, ruhiger Stimme. »Ich vermute, die meisten Menschen aus der Vergangenheit, die veranlasst haben, dass ihre Köpfe nach ihrem Tod eingefroren wurden, haben erwartet, dass die Zukunft ein herrliches Eden sein würde, in dem sie neue Körper besitzen würden, junge, perfekte Körper, und in dem sie an den Wundern teilhaben würden, die entstanden wären, während sie im Totenschlaf lagen.« Ein kaltes, knappes Lachen erklang. »Ist das nicht in jedem Fall eine recht selbstsüchtige Sicht auf die Zukunft?«
»Optimistisch«, flüsterte ich. »Ich wollte nur sehen, was aus uns wird. Ich wollte nichts für mich selbst, außer es zu sehen.«
Sitor Anantas vergiftetes Lächeln vertiefte sich. »Optimismus ist immer selbstsüchtig. Nur der Pessimismus kommt der selbstlosen und unpersönlichen Brutalität der Wirklichkeit nahe, Mister Charlie.«
»Hören Sie auf, mich so zu nennen.«
»Nun, ja, das würde ich schon gern. Aber leider ist mir das unmöglich. Verstehst du, mein Übersetzer, so fortschrittlich er auch ist, hat einige Schwierigkeiten mit dem Geschlechtskonzept und den Namensvorlieben deiner Sprache. Ich klinge mit Sicherheit nicht so verschwurbelt, wie es die Rebellen taten, aber es wären einige Anpassungen nötig, um die direkte Anredeform meines Übersetzers zu korrigieren. Die Mühe mag ich mir jetzt lieber nicht machen, wenn du nichts dagegen hast, Mister Charlie. Wenigstens verstehen wir einander, was besser ist als das, was du unter den anderen erdulden musstest.«
»Die anderen haben mich nicht bedroht.«
»Aber benutzt haben sie dich. Sie haben die Teile deines Gehirns aktiviert, die ihren Interessen dienten, ohne dich im Geringsten zu achten.«
»Und welche Achtung haben Sie vor mir?«
»Das will ich dir sagen. Ich repräsentiere die Gemeinsamkeit, die Zukunft, die zu erblicken du so weit gegangen bist. Wir sind diejenigen, die dich wiederhergestellt haben. Und nun stehen uns zwei Optionen offen, zwei Verwendungsmöglichkeiten für dich. Wenn es unser Wunsch ist – und die Entscheidung liegt ganz bei mir –, wirst du in die Leitzentrale einer sehr mächtigen Maschine eingesetzt, einer Förderfabrik auf einem der Asteroiden im Gürtel. Dort wirst du der Gemeinsamkeit dienen, indem du nützliche Erze gewinnst und veredelst. Nach jedem erfolgreichen Arbeitszyklus werden die Amygdala und der limbische Kern deines Gehirns eine magnetische Stimulation erhalten, welche in dir eine anhaltende wohlige Verzückung auslösen wird, die so befriedigend sein wird, dass du Loblieder auf mich und die Gemeinsamkeit singen wirst für die Mühe, die wir uns gemacht haben, dich wiederzubeleben.«
»Und die andere Option?«, fragte ich erbost. »Folter? Tod?«
»Aber nein.« Sitor Ananta sah ehrlich betroffen aus. »Das wäre in der Tat sehr hässlich. Weißt du, Mister Charlie, hier liegt mein Dilemma: Es ist illegal, die Köpfe oder irgendwelche Körperteile von Mitgliedern der Gemeinsamkeit zu nutzen – tot oder lebendig. Nur die Toten aus der Vergangenheit haben keine Rechte – jene wie du. Sie sind einfach tot. Bedauerlicherweise sind die meisten jener Leichen für uns nutzlos, verwest ohne jede Hoffnung auf Wiederherstellung. Wir haben allerdings einige Lagerstätten mit gefrorenem Hirngewebe aus dem archaischen Zeitalter gefunden. Sie sind äußerst selten und befinden sich in schwer zugänglichen Regionen. Wir würden niemals durch Folter oder mutwillige Zerstörung irgendeinen dieser Köpfe verspielen. Sie sind ein solch wertvolles Gut. Weißt du, Mister Charlie, wir haben die Technologie, um eine künstliche Intelligenz zu konstruieren, die komplex genug ist, um Förderfabriken zu bedienen, aber der Aufwand ist gewaltig. Trotz der Seltenheit und Schwierigkeit der Beschaffung gefrorener Menschenköpfe aus der Vergangenheit, ist es immer noch um so vieles billiger, diese wiederzubeleben und in unsere Maschinen einzusetzen.« Mein Befrager lehnte sich mit dem Rücken an den Tisch. »Natürlich erfordert eine Förderfabrik eine kooperative Intelligenz. Wenn du dich als unkooperativ erweist, dann werde ich die Empfehlung geben müssen, dass dein Gehirn in Teile zerlegt wird, die für die Bedienung kleinerer Vorrichtungen brauchbar sind.«
Ein erschöpfter Fatalismus schlug über mir zusammen. »Ich hatte für meine Spezies Besseres erhofft«, murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu dem menschlich aussehenden Wesen vor mir. »Dies ist genau die Art abscheuliche Zukunft, die stattdessen vorzufinden ich gefürchtet hatte.«
»Krankheit ist abscheulich, Mister Charlie. Greisentum ist abscheulich. Es gibt in unserer Epoche keine Krankheiten und kein Altern. Wenn du kooperierst, wirst du ein nützliches und unbegrenztes Leben führen, ohne Schmerz oder Leid. Wenn du dich entscheidest, nicht zu kooperieren, wird die Resektion deines Gehirns auf humane Weise durchgeführt. Du wirst einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen.«
Wut kreiste in mir, und ich wusste, dass Sitor Ananta mich, wenn es sein Wunsch war, mit einigen Schnörkeln des Stiftes völlig gefügig machen konnte. Aber ich konnte deutlich sehen, dass dieses Geschöpf seine sadistische Manipulation genoss. »Die Vorstellung, einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen, klingt für mich ganz gut«, sagte ich mit aller Begeisterung, die ich aufbringen konnte.
Der überraschte Ausdruck in diesem selbstgefälligen, kindlichen Gesicht war die schmerzhaften Stiche, als Sitor Ananta den Stift zur Hand nahm, absolut wert. Der Schmerz hat viele Farben. Dieses Geschöpf fand die Nuancen, die mir am unangenehmsten waren, und obwohl ich mich sorgte, was dieses Monster den zarten, glasgesichtigen Wesen antun würde, die mich benutzt hatten, um ihren Nachwuchs zu unterrichten, plauderte ich die gewünschten Informationen binnen Kurzem aus. Dann folgte Schwärze.
Und in der Schwärze wechselten sich schwirrende Worte mit Träumen ohne Gehör ab, die von glitzernden Nadeln und sich kreuzenden roten Laserlichtern erfüllt waren. Danach kam noch mehr Dunkelheit, mit heißen duftenden Abschnitten... und dann Schlaf.
Ich erwachte im Kontrollzentrum einer Förderfabrik, vermutlich irgendwo im Asteroidengürtel, von wo aus ich dir schreibe. Zumindest kommt es mir wie Schreiben vor: Blaue Leuchtzeichen erscheinen auf Wunsch als Worte vor mir, wenn ich spreche, die, wenn ich es will, problemlos zurückgenommen werden können. Wer du bist, weiß ich noch nicht mit Sicherheit. Ich werde schon jemanden finden, den meine Geschichte interessiert. Vielleicht werden die Lüsternisten oder die Freunde der Lehre von der Nicht-Abel'schen Gruppe mich erneut aufspüren, wenn die Informationen, die ich Sitor Ananta gegeben habe, nicht zu deren Vernichtung geführt haben. Ich habe nur beschrieben, was sie mir zu sehen erlaubt haben – diese gespenstischen Seidenpflanzenbüschel, die in einen Jadehimmel über einer roten Wüste getrieben waren, und diese vierfingrigen Leute mit ihren klaren Panzern und transparenten Gesichtern mit Gehirnen wie an- und abschwellende Wolken... Wer sind die?
Dass eine andere Gruppe als die Gemeinsamkeit mich kontaktieren wird, scheint unwahrscheinlich an diesem entlegenen, luftlosen Ort. Dennoch muss es hier draußen im Gürtel noch weitere Förderfabriken geben. Vielleicht werde ich eines Tages lernen, mit ihnen zu kommunizieren. Das ist die Hoffnung hinter meinem Mut, jedes Mal, wenn ich die Behandlungen mit stark verlangsamten Orgasmen ausschlage, die auf die langen, öden Arbeitszyklen folgen. Es gibt keine andere Gelegenheit, um zu schreiben, und ich habe das Gefühl, schreiben zu müssen, um mich selbst nicht zu verlieren – um weiterhin jemand zu sein. Abgesehen davon bin ich nur diese Maschine, ein Regler von Bohrungsverläufen, Kühlmitteldurchsätzen, Schmelzflüssen, und Schlackefiltern. Ich führe hier ein Leben in dem Frostlicht eines fortwährenden Computerspiels.
Eigentlich unterscheidet es sich gar nicht so sehr von meinem vorherigen Leben, außer dass ich, da mein Hirn in einem Zustand anhaltender Glukosesättigung gehalten wird, nie hungrig werde. Ich bin natürlich einsam, aber es gibt genug Anreize, um den Wahnsinn die meiste Zeit über abzuwehren. Ein reges Traumleben scheint mir zur psychischen Hygiene der Vernunft zu verhelfen. Und die Klaustrophobie, unter der ich in meinem vorigen Leben litt, scheinen die, die mich hier eingesetzt haben, bereinigt zu haben. Häufiger als nie nehme ich die Rauschbehandlungen an – das wohlige Eintauchen ins geheime Meer. Ich habe sie mir verdient, und sie geben mir die Willenskraft, weiterzumachen.
Aber von Zeit zu trauriger Zeit, so wie jetzt gerade, muss ich mich meiner selbst versichern, muss für mich selbst die Illusion schaffen, dass ich mehr bin als das hier. Wir leben doch alle von unseren Illusionen. Wir erfinden Geschichten, um die Leere unserer Ichs zu füllen. Und weil wir die Kraft dafür aus dem Nichts nehmen müssen, machen sie uns ganz.
Neulich habe ich, nach viel Gefeilsche mit den deutlichen Kontrollanzeigen, herausgefunden, wie ich das Archiv-Speichersystem der Fabrik zur Sendung von Funksignalen ins All verwenden kann. Ich werde das, was ich hier geschrieben habe, senden. Und wenn es von der Gemeinsamkeit empfangen wird, werde ich wahrscheinlich in kleinere, praktischere Teile zerschnitten – aber bis dahin wird es zu spät sein. Meine Geschichte wird fortbestehen, wird sich mit Lichtgeschwindigkeit in die Dunkelheit verbreiten, um vielleicht sogar von dir gehört zu werden. Und wenn du das hier liest, werde ich grandioser gescheitert sein, als ich es mir hätte erhoffen können.
Dieses Mal werfe ich den Bumerang meines Lebens dorthin, von wo er nicht zurückkehren wird, auf ein Ziel, das ich nicht verfehlen kann.
Und so –
Mit meiner Seele in meinem Mund beginne ich also –
Prallvoll mit Träumen, erwachte ich von den Toten...
Mit meiner Seele in meinem Mund beginne ich also.
Die Funknachricht erreicht die Schubstation des Apollo-Konzerns auf dem Marsmond Deimos, als Munk sich gerade in der Landebucht aufhält und fleißig Rhodiumplatten aus einem Frachter auslädt. Er ist ein großer Androne mit einer verchromten Haube, schwarzen, verzahnten Körperplatten, und beweglichen Gesichtsteilen ohne menschliches Vorbild, abgesehen von einem blutroten Linsenstreifen, der unter dem zinnenen Stirnvorsprung als Augen dient. Diese Augen trüben sich für eine Sekunde, nachdem der Androne das Funksignal empfangen hat, während sein Siliziumgehirn es noch ein paar hundert Mal wiederholt und dabei alle seine Bestandteile analysiert, bis er von der Echtheit der Botschaft überzeugt ist.
In der nächsten Sekunde scannt Munk die Landebucht und erstellt einen Aktionsplan, der es ihm erlauben wird, am effizientesten auf das Erfahrene zu reagieren. Die Bucht ist leer. Abgesehen von einigen programmierten Handroiden, die mit ihm als Stauer arbeiten, ist er allein. Die anderen empfindungsfähigen Andronen der Station sind entweder im Einsatz oder in der Wartungsmulde. Nur zwei Schiffe befinden sich in der höhlenartigen Bucht: der mit Rhodium beladene Frachter mit seinen gewaltigen Speichergondeln und Silos, und ein kleiner Kreuzer mit drei Flossen-Schubdüsen und einem asymmetrischen Rumpf aus Schwarzglas.
Der Apollo-Konzern hat diesen Kreuzer aus irgendeinem sterblichen Grund, der sich Munk nicht erschließt, Das Lachende Leben genannt. Sicherlich soll das eine Art ironischer Witz sein. Es ist an sich nichts Komisches an dem, was dieses Schiff regelmäßig tut: Springer und Andronenarbeiter zwischen den Fabriken, Schmelzereien, und Minen des Asteroidengürtels befördern. Vielleicht – falls die Springer, die diesem Schiff seinen Namen gaben, im Geringsten philosophisch veranlagt waren – würden sie sagen, dass sie über das ungewöhnliche Vergnügen lachen, dort zu sein, wo das Leben nichts zu suchen hat, im leeren Raum, nur durch eine dünne Barriere getrennt vom annähernd absoluten Nullpunkt des Vakuums und dessen unsichtbarem und tödlichem Meer aus Gammastrahlen. Doch Springer sind genetisch dazu entworfen worden, ein gleichmütiger und ganz und gar unpoetischer Haufen zu sein.
Das Leben selbst, vermutet Munk, während er über den Schiffsnamen nachdenkt, lacht, einfach, weil es das kann. Die Absurdität des Lebens, das sich blind von der Notwendigkeit in die Freiheit tastet, hat ja überhaupt erst Bewusstsein von den biologischen Zwängen zu größerer Freiheit geführt, zu Munks eigener Existenz, dem andronischen Metaleben und dem großen Abenteuer des Siliziumsinns. Vielleicht, überlegt Munk, sollte er selbst deswegen auch lachen. Er ist sich nicht sicher. Das Einzige, was er sicher weiß, ist, dass er eine menschliche Stimme gehört hat, die aus dem leeren Raum um Hilfe rief. Er will nichts lieber, als darauf antworten, und in der einen Sekunde, in der diese Gedanken und Feststellungen ihn beschäftigt haben, hat er eine Strategie ausgearbeitet, um die Das Lachende Leben zum Erreichen der Quelle dieses Funksignals zu benutzen.
Aber um diesen Plan auszuführen, benötigt er menschliche Hilfe. Für den Bruchteil einer weiteren Sekunde sichtet Munk die Profile der zweiundvierzig Leute, die auf Deimos für den Apollo-Konzern arbeiten. In diesem Teilmoment identifiziert er nicht nur die passendste Springerin für diese Mission, er schaltet sich auch in den altmodischen Dienstplan ein und erfährt, dass die gewünschte Springerin sich gerade in der Schubstation befindet.
Mit einem hallenden Klank lässt Munk den Stapel Rhodiumplatten fallen, den er getragen hat, und rennt quer durch die Landebucht zu dem Fall-Lift, der ihn zu den Springer-Unterkünften tragen wird. Er rennt locker und geschmeidig, als hätte er schon immer Beine besessen, obwohl diese in Wirklichkeit erst sein Job beim Apollo-Konzern mit sich brachte. Davor hatte er als Wachtflieger in den Gravitationsbrunnen zwischen den Saturnringen und dem Schäfermond Japetus gearbeitet, wo er die Probleme der anderen Andronen löste, deren Aufgabe es war, Material von den Ringen zu der Schubstation bei Titan zu bringen. Solange er Maschinenschäden im All repariert und herausgetrudelte Andronen gerettet hat, denen die Energie fehlte, sich aus zersetzenden Umlaufbahnen über dem Gasriesen zu befreien, lebte er im leeren Raum und hatte überhaupt keine Verwendung für Beine.
Aber jetzt arbeitet er unter Leuten. Er hätte sich auch für Rollenprofile oder sogar für eine schnittige Gleitscheibe entscheiden können, aber er möchte so menschlich wie möglich aussehen. Dies ist sein Faible, und es versetzt ihm einen kleinen Stich, als er die Springer-Unterkünfte betritt und die Leute dort – zwei gedrungene, halslose Zerrer, die sich in der Vorhalle zwischen Palmwedeln fläzen – ihn schief ansehen. Beide kennen ihn, und es hätte ihn gefreut, wenn sie ihn freundlicher angesehen hätten, als einen von ihnen. Aber er kann an ihren Mienen erkennen, dass er als Eindringling betrachtet wird. Sie versuchen nicht, ihn aufzuhalten. Doch durch seinen inneren Kom-Link kann er den geflüsterten Protest hören, den sie auf der Sendeleitung an die Zentrale schicken, nachdem er vorbeigelaufen ist.
Im nächsten Augenblick ruft ihn die wohlklingende Stimme der Zentrale: »Androne Munk, du verletzt die Ausschlussregelungen dieses Unternehmens. Bitte melde dich umgehend bei der Wartungsmulde.«
Munk ignoriert sie und eilt durch einen düsteren, mit dichtem Bambus bestandenen Raum, in dem frostige Lichtbalken aus hohen Galerien mit Hängepflanzen und roten Bromelien dringen. Durch seine Verbindung zum Dienstplan erfährt er, dass die Springerin, die er sucht, sich vor ihm in der Entspannungsarkade aufhält, hinter einem dünnen Wasserfall.