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Für eine neue Qualität der Behandlung Körperliche Komorbiditäten werden bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung noch immer zu wenig erkannt und bleiben daher unbehandelt. Dieses Buch füllt die Wissens- und Versorgungslücke und hilft bei der Abstimmung somatischer und psychiatrischer Pflege. Mithilfe von Fallbeispielen zeigt das Autor*innenteam Ausprägungen und Auswirkungen von Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Erkrankungen der Lunge sowie endokrinologischer und Stoffwechselerkrankungen. Dabei geht es auch auf medikamenteninduzierte Problemstellungen ein, z. B. auf hohe Gewichtszunahmen, Polypharmazie oder Fehlernährung sowie auf pharmakainduzierte Wechselwirkungen. Aus der Praxis werden Empfehlungen dafür abgeleitet, wie sich Qualitätszirkel und interne Fortbildungsangebote zur Sensibilisierung implementieren lassen.
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Seitenzahl: 177
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PraxisWissen
Thomas Schwarze, Regine Steinauer, Simone Beeri
Somatische Pflege in der psychiatrischen Arbeit
THOMAS SCHWARZE arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung angewandte Forschung und Entwicklung Pflege und im Bachelorstudiengang Pflege der Fachhochschule Bern, Departement Gesundheit.
REGINE STEINAUER ist als Pflegewissenschaftlerin in den UPK Basel in der Abteilung Entwicklung & Forschung Pflege, MTD und Soziale Arbeit tätig. Als pflegerische Abteilungsleiterin leitet sie das Ambulatorium für substanzgebundene Süchte ADS / Janus.
SIMONE BEERI ist Pflegeexpertin und Pflegewissenschaftlerin MScN in der Direktion Pflege und Bildung der PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG.
Die Reihe PraxisWissen wird herausgegeben von: Michaela Amering, Ilse Eichenbrenner, Michael Eink, Caroline Gurtner, Klaus Obert, Wulf Rössler und Tobias Teismann
Thomas Schwarze, Regine Steinauer, Simone Beeri
Somatische Pflege in der psychiatrischen Arbeit
PraxisWissen 5
1. Auflage 2019
ISBN-Print 978-3-88414-697-2
ISBN-PDF 978-3-96605-013-5
ISBN-ePub 978-3-96605-020-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2019
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.
Lektorat: Uwe Britten, Eisenach
Umschlagkonzeption und -gestaltung: studio goe, Düsseldorf, unter Verwendung eines Fotos von laremenko / iStock.com
Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein
Cover
Titel
Die Autoren
Impressum
Einleitung
Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Kardiologische Rehabilitation
Koronare Herzkrankheit
Herzinsuffizienz
Bluthochdruck
Erkrankungen der Lunge
Lungenentzündung
Die chronisch obstruktive Lungenkrankheit
Asthma bronchiale
Endokrinologische und Stoffwechsel-Erkrankungen
Hypothyreose und Hyperthyreose
Diabetes mellitus
Prävention bei DM II
Hypoglykämie
Diabetische Ketoazidose
Hyperosmolares Koma
Medikamenteninduzierte Problemstellungen
Gewichtszunahme bei der Behandlung mit Psychopharmaka
Medikamenteninteraktionen
Interaktionen mit Antidepressiva
Interaktionen mit Antipsychotika
Interaktionen mit Alkohol
Interaktionen mit Grapefruit
Interaktionen mit Johanniskraut-Extrakten
Polypharmazie
Förderung der Medikamentenadhärenz
Aktive Beziehungsgestaltung und Kooperation
Beziehungskompetenz
Kooperation im Behandlungsteam
Gesundheitspolitische Empfehlungen
Schlussbemerkungen
Literatur
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Lebensqualität der meisten Menschen auch dank des technischen und medizinischen Fortschritts erhöht. Dennoch können nach wie vor nicht alle Personen gleichermaßen profitieren. Dies gilt insbesondere für psychisch erkrankte Menschen. Das folgende Beispiel verdeutlicht diese Situation.
BEISPIEL
Herr und Frau H. sind sehr besorgt um ihren Sohn Peter. Angefangen hatte es vor rund drei Jahren, einige Wochen vor den Abschlussarbeiten zum Abitur. Es war ihnen aufgefallen, dass Peter sich mehr und mehr zurückzog, dauernd grübelte und Schwierigkeiten hatte, etwas Begonnenes zu beenden. Auch ging er nicht mehr zu seinem früher so heiß geliebten Volleyballtraining. Darauf angesprochen, meinte er, dass sich einige Kollegen ihm gegenüber komisch benähmen und ihn wohl nicht mehr in ihrem Team haben wollten. Zunehmend hatte er weniger Energie und die Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen fielen ihm immer schwerer.
Seine Eltern schoben die Veränderungen auf den momentan hohen Schulstress, machten sich aber dennoch mehr und mehr Sorgen, nachdem sich Peter zu beklagen begann, dass man ihn nicht ständig als Versager oder »Waschlappen« titulieren solle. Beim ersten Mal waren die Eltern konsterniert, bis sie realisierten, dass Peter wohl eine ihm nicht wohlgesonnene Stimme hörte, die außer ihm niemand hörte.
Als Peter anfing, all seine Knöpfe von der Kleidung zu entfernen, da sie Überwachungsmikrophone seien, wurde der Sohn zum Hausarzt gebracht. Dieser vermutete eine psychische Störung und überwies ihn zur genaueren Abklärung an einen Psychiater. Da er mit dem Psychiater noch während der Konsultation telefonierte, konnte ein Termin in zwei Tagen vereinbart werden. Eindrücklich legte der Hausarzt der Mutter, die ihren Sohn begleitet hatte, nahe, diesen Termin wahrzunehmen. Der Sohn blieb beim Hausarzttermin eher passiv, antwortete auf die Fragen einsilbig und schnaufte nur dann und wann verächtlich durch die Nase. Die Praxis verlassend, sagte Peter zu seiner Mutter, dass der Hausarzt wohl nicht alle Tassen im Schrank habe. Ihm gehe es doch so weit ganz gut. Er sei nicht bereit, zum »Irrenarzt« mitzugehen.
Zwei Tage später konnte Peter aufgrund des sanften Drucks der Eltern und der jüngeren Schwester überredet werden, zum Psychiater zu gehen. Wieder begleitete ihn seine Mutter. Der Psychiater diagnostizierte nach eingehender Abklärung eine psychotische Episode (bei Verdacht auf eine paranoide Schizophrenie) und verschrieb eine Psychotherapie sowie ein Antipsychotikum. Auf die Frage von Frau H., in welchem Zeitraum Peter wieder genesen würde, bekam sie eine ausführliche, aber dennoch sehr vage anmutende Antwort. Er lobte die Familie, dass sie ihn so schnell aufgesucht habe, wollte sich aber nicht klar zu den Erfolgsaussichten äußern.
Stattdessen antwortete er, dass bei der Diagnoseerstellung keine hundertprozentige Prognose möglich sei. Dies hinge unter anderem mit der Krankheit selbst zusammen. Man könne bei ihr eine Vielfalt an Verläufen beobachten. So gebe es Personen, die nur eine psychotische Episode erleben und vollständig gesunden würden. Bei anderen Menschen könne es Jahre dauern. Es gebe aber auch einen sehr kleinen Prozentsatz, bei denen es zu einer Chronifizierung komme. Man könne am Anfang nicht wissen, wie die Krankheit im Einzelfall verlaufe.
Frau H., leicht »geschockt« von dieser Diagnose, wollte daraufhin wissen, was sie, ihr Mann und ihre Tochter tun könnten, um Peter zu helfen. In erster Linie, antwortete der Psychiater, sollten sie die Hoffnung auf eine Genesung nie aufgeben. Es sei ihm bewusst, dass das Wort »Schizophrenie« sehr stigmatisierend wirke, in der Allgemeinbevölkerung als nicht behandelbar gelte, dass schizophrene Menschen als »gefährlich« eingestuft würden und die Meinung herrsche, ihnen sei auch gar nicht zu helfen. Aber dies sei falsch. Ein wichtiges Element der Behandlung bestehe neben einer ausführlichen Information über die Erkrankung und über mögliche Behandlungsformen in der korrekten Einnahme der antipsychotischen Medikamente. Da die Patienten oftmals nicht einsehen würden, dass die Medikamente ihnen wenigstens zu Beginn der Behandlung helfen können, sei die Bereitschaft (Adhärenz), sie gemäß Verordnung zu nehmen, häufig gering. In diesem Punkt könnte die Familie Peter unterstützen. Eine direkte Überweisung in eine psychiatrische Klinik kam für Peter nicht infrage, und auch der Psychiater sah hierfür momentan keinen Grund.
Im Verlauf der nächsten drei Jahre kam es jedoch zu einigen Klinikaufenthalten. Immer wieder hatte Peter psychotische Episoden, die es den Eltern verunmöglichten, ihn während dieser Zeit daheim zu haben, außerdem zog er sich zunehmend von ihnen zurück und war kaum noch für Gespräche zu gewinnen. Obwohl Frau H. ihr Arbeitspensum reduzieren konnte, war es ihr manchmal nicht möglich, ihn zu Hause zu betreuen. Bei der Klinikentlassung hatte ihnen die Pflegefachfrau, die während des Aufenthaltes als Bezugsperson für ihren Sohn zuständig war, gesagt, dass man in Zukunft auch auf Peters körperliche Gesundheit zu achten habe. Da sie aber plötzlich wegen eines Notfalls weggerufen wurde, blieb ihnen keine Zeit, um nachzufragen, was sie damit gemeint habe.
Ein Telefonat mit der Station am nächsten Tag ergab, dass die Pflegefachperson ab heute in den Ferien sei. Herrn H. ließ diese Aussage jedoch keine Ruhe. Was sollte das bedeuten, auf die körperliche Gesundheit sei stärker zu achten? Auch wenn in den letzten Jahren eine Verbesserung des psychischen Zustands von Peter sichtbar wurde, sollte man da nicht weiterhin das Augenmerk auf die psychische Genesung legen? Herr H. war realistisch genug, um sich damit abzufinden, dass sein Sohn wohl noch längere Zeit an dieser Krankheit leiden würde. Körperlich ging es Peter aber so weit gut, auch wenn er in den letzten Jahren 18 Kilogramm Körpergewicht zugenommen hatte. Herr H. beschloss kurzerhand, seine ehemalige Schulkollegin Anna anzurufen. Diese arbeitete als Oberärztin im Bereich Gynäkologie im Universitätsklinikum.
Auf die körperliche Gesundheit von psychisch kranken Menschen angesprochen, antwortete sie ihm, dass das ja nicht ihr Spezialgebiet sei, sie aber zu wissen glaube, was die Pflegefachperson gemeint haben könnte. Sie wolle aber mit fachkundigeren Kollegen sprechen und sich erkundigen.
Vier Tage später klingelte bei Familie H. abends das Telefon. Es war Anna, die sich nach dem Wohlergehen aller erkundigte und auch die Ergebnisse ihrer Recherche besprechen wollte. Herr H. stellte das Telefon auf Lautsprecher, da auch seine Frau und seine Tochter zuhören wollten. Peter hatte kein Interesse und ging auf sein Zimmer.
»Was ich herausgefunden habe, ist nicht unbedingt positiv. Und da ist es mir wichtig, zu sagen, dass die Resultate oftmals einen arithmetischen Durchschnitt abbilden und nicht auf alle Einzelfälle projiziert werden können. Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben eine deutlich schlechtere körperliche Gesundheit als die Allgemeinbevölkerung. Auch haben sie eine deutlich geringere Lebenserwartung. Die Autoren verschiedener Studien reden von 10 bis 25 Jahren, das heißt, dass die Lebenserwartung im Durchschnitt um 10 bis 25 Jahre geringer ist, wenn jemand eine schwere psychische Erkrankung hat. Je nachdem, welche psychische Krankheit untersucht wurde, sind es mehr oder weniger Jahre, die verloren gehen können.
Hinzu kommt, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen oftmals komorbide Erkrankungen, das heißt von der Grundkrankheit abgrenzbare körperliche Begleiterkrankungen, im Bereich der endokrinologischen, kardiovaskulären, pneumologischen und neurologischen Krankheiten haben. Bei bis zur Hälfte der psychiatrischen Patienten werden klinisch bedeutsame komorbide körperliche Erkrankungen festgestellt. Es gibt je nach Diagnose unterschiedliche Zahlen. Eine Schizophrenie scheint eine Erkrankung zu sein, die mit einer statistisch signifikanten verkürzten Lebenserwartung einhergeht, weil diese Patienten nicht im selben Ausmaß wie die Allgemeinbevölkerung von den Fortschritten in der Medizin und von psychotherapeutischen Verfahren profitiert zu haben scheinen.«
Herr und Frau H. wurden immer bedrückter. Schließlich räusperte sich Herr H. und fragte: »Wennichdasrichtigverstandenhabe, heißt das, dass Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung auch noch ein erhöhtes Risiko für körperliche Krankheiten haben?« »Ja. Zum Beispiel gibt es eine Studie, die zeigt, dass Menschen mit einer Schizophrenie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung bis zu dreimal häufiger Diabetes mellitus bekommen. Eine weitere Studie sagt aus, dass Menschen mit einer Schizophrenie ein um 74 Prozent erhöhtes Risiko für akute Komplikationen des Diabetes mellitus des Typs 2 haben. Auch was die kardiovaskulären Krankheiten angeht, sind Menschen mit einer Schizophrenie benachteiligt. Das relative Risiko, eine solche Krankheit zu entwickeln, ist bei Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung um den Faktor zwei erhöht.«
»Es reicht mir jetzt«, ging schließlich Frau H. aus dem Hintergrund dazwischen. »Das ist ja äußerst deprimierend. Wenn man das alles schon weiß, warum tut man dann nichts?«
»Körperliche Komorbiditäten bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen werden noch immer zu wenig erkannt und bleiben daher unbehandelt. Auch scheinen sie oftmals gänzlich undiagnostiziert zu bleiben oder erst zu einem sehr späten Zeitpunkt diagnostiziert zu werden. Die somatische Diagnostik bei psychisch Kranken wird durch die Unspezifität vieler Symptome erschwert, da diese sowohl durch die psychische Störung als auch somatisch verursacht sein können. Ein Beispiel dafür: Wenn jemand ständig müde ist und keine Energie hat, kann die Ursache in einer Depression liegen oder es kann ein Symptom verschiedener körperlicher Krankheiten sein.«
»Und was kann man nun tun?«, fragte Frau H.
»Also, ein Fazit ist, dass es zur Verbesserung der somatischen Gesundheit von Menschen mit psychischen Erkrankungen eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen der psychiatrisch-psychotherapeutischen und der allgemeinmedizinischen Patientenversorgung braucht.«
»Und wieso hat uns das bisher niemand gesagt?«, fragte nun Esther. »Das passiert häufig, dass Spezialisten nicht den völligen Überblick über das ganze Krankheitsgeschehen in allen Details haben, schließlich sind sie Spezialisten für ihr Fachgebiet und hierin liegt auch ihr Auftrag.«
In diesem Fallbeispiel zeigt sich zum einen, dass in der Behandlung und Betreuung psychisch kranker Menschen verschiedene Berufsgruppen tätig sind. So sind neben Pflegefachpersonen und Ärzten auch Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Musiktherapeuten etc. direkt in die Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen eingebunden. Aber auch Familienangehörige und Freunde sind in ständigem Kontakt mit diesen Menschen. Zum anderen wird im Beispiel deutlich, dass es oft gerade Pflegekräfte sind, die den engeren und längeren Kontakt zu den Patientinnen und Patienten haben.
Dieses Buch richtet sich zwar vor allem an Pflegefachpersonen, die in der stationären oder ambulanten psychiatrischen Versorgung tätig sind, aber auch andere Berufsgruppen stehen in einem immer wiederkehrenden Kontakt mit psychisch kranken Menschen und können einen sinnvollen Beitrag zur Sicherstellung der somatischen Gesundheit der Betroffenen leisten. Daher haben wir versucht, nur das notwendigste pflegerisch-medizinische Vokabular zu verwenden, sodass das Buch auch nicht pflegerisch-medizinischen Berufsgruppen von Nutzen sein kann.
Wir beschreiben die wichtigsten komorbiden somatischen Erkrankungen aus den Bereichen Pulmologie, Herz-, Kreislauferkrankungen und Endokrinologie forschungsbasiert und zeigen mögliche Interventionen. Ein Kapitel befasst sich mit den in der psychiatrischen Versorgung wichtigen Thematik medikamenteninduzierter Probleme. Abgerundet wird das Buch mit einem Kapitel mit Empfehlungen für die tägliche Praxis und wünschenswerten längerfristigen Veränderungen in der Versorgung psychisch kranker Menschen.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind mit rund 30 Prozent nach wie vor die häufigste Todesursache weltweit. Betroffen sind vor allem Personen über 55 Jahren und Männer mehr als Frauen (World Health Organization 2016). Die Zahl der Hospitalisierungen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Die primären Gründe dafür sind das Wachstum und das durchschnittliche Älterwerden der Bevölkerung. Die Zahl der durch diese Erkrankungen verursachten Todesfälle hingegen ist etwas gesunken. Allerdings ist nach wie vor der größte Teil frühzeitiger Todesfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen vermeidbar (World Health Organization 2011). Die rechtzeitige Vorbeugung, Erkennung und Behandlung der Risikofaktoren sind folglich besonders wichtig.
Der Begriff »Herz-Kreislauf-Erkrankungen« wird nicht immer einheitlich verwendet. Im weitesten Sinne umfasst er alle Erkrankungen, die das Herz und den Blutkreislauf betreffen. Die bei Weitem häufigste Erkrankung des Herzens – zumindest in den Industrienationen – ist die koronare Herzkrankheit (KHK), die auch die Ursache des Herzinfarkts darstellt.
Individuelle Lebensführung, krankheits- und behandlungsspezifische Aspekte sowie biologische Faktoren erklären die Zunahme kardiovaskulärer Erkrankungen in den letzten Jahren (DE HERT u.a. 2011).
Als Ursache gelten:
körperliche Faktoren wie Rauchen, Bluthochdruck, Diabetes, erhöhte Cholesterinwerte oder fehlende Bewegung,
psychische Faktoren wie übermäßiger Stress, erhöhte Ängstlichkeit, Feindseligkeit oder Depressionen,
Umwelteinflüsse wie Lärm oder Schadstoffe.
Auch ein niedriger sozialer Status (Bildung, Einkommen, berufliche Position) gilt indirekt als einer der starken Prädiktoren zur Entwicklung kardiologischer Erkrankungen (LADWIG u.a. 2008).
Das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu versterben, ist für Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich erhöht. So fanden David Osborn und Kollegen (2007) in einer großen Studie in Großbritannien für schwer psychisch kranke Menschen unter fünfzig Jahren eine dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt zu sterben. Das Risiko eines tödlichen Schlaganfalls bezifferten sie mit zweieinhalbfacher Erhöhung. Patientinnen und Patienten, die nach einem Herzinfarkt unter klinisch relevanten Angststörungen litten, hatten noch während der stationären Behandlung signifikant häufiger kardiovaskuläre Komplikationen (HUFFMANN u.a. 2008). Für Menschen unter antipsychotischer medikamentöser Behandlung ist das Risiko nochmals erhöht – genaue Zahlen zur Komorbidität von psychischen Erkrankungen mit kardiologischen Erkrankungen im deutschsprachigen oder europäischen Raum fehlen. Psychische Komorbidität stellt also nicht nur eine erhebliche subjektive Belastung für die Betroffenen dar, sondern kann auch zu einem ungünstigen somatischen Krankheitsverlauf, längeren Klinikzeiten und damit zu vermehrten Behandlungskosten beitragen (ROSE u.a. 2011).
Betrachtet man die körperlichen Risikofaktoren, so findet man hier ebenfalls erhöhte Zahlen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen: So lag der Anteil an Rauchern bei Menschen mit einer Schizophreniediagnose in einer Studie in den USA bei 68 Prozent im Vergleich zur Kontrollgruppe mit 35 Prozent. 13 Prozent der Menschen mit Schizophrenie hatten einen Diabetes, in der Kontrollgruppe waren es lediglich 3 Prozent. Und 27 Prozent gegenüber 17 Prozent litten an arterieller Hypertonie (GOFF u.a. 2005).
Die kardiologische Rehabilitation ist ein Prozess, bei dem herzkranke Patientinnen und Patienten mithilfe eines multidisziplinären Teams darin unterstützt werden, die individuell bestmögliche physische und psychische Gesundheit und die soziale Integration wiederzuerlangen und langfristig aufrechtzuerhalten (BJARNASON-WEHRENS u.a. 2007). Dabei werden durch körperliches Training die Leistungsfähigkeit und das Selbstvertrauen wiederhergestellt. In Einzel- oder auch Gruppensettings wird die körperliche Fitness verbessert. Dabei wird auf die individuellen Ressourcen zurückgegriffen und eine Integration des Trainings in den Alltag angestrebt. Ist es beim einen ein dreimal wöchentliches Walking im Stadtpark, so ist es beim anderen das Benutzen der Treppen anstelle des Liftes.
Zu den wichtigsten Aufgaben der kardiologischen Rehabilitation zählen die Verbesserung der Lebensqualität durch eine Reduktion der Beschwerden und eine Stabilisierung des psychischen Befindens durch »soziale Teilhabe«, die Verbesserung der Prognose der Patienten (Reduktion der Morbidität und Mortalität) und eine Verhinderung vermeidbarer Krankenhausaufenthalte. Dank gezielter Maßnahmen sollen sich Betroffene möglichst gut erholen, damit sie wieder ihren gewohnten Platz in Familie, Gesellschaft und Beruf einnehmen und ein aktives Leben führen können.
Die Inhalte der kardiologischen Rehabilitation liegen in vier Bereichen (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006):
Somatischer Bereich: körperliches Training, Management bei Fettstoffwechselstörungen, arterieller Hypertonie und Diabetesmellitus mit dem Ziel, die körperliche Leistungsfähigkeit wiederaufzubauen und Vertrauen in den Körper zurückzugewinnen.
Edukativer Bereich: Gesundheitsbildung und Gesundheitstraining, Rauchstopp, Ernährungsberatung, um ungesunde Verhaltensweisen zu erkennen, zu ändern und langfristig einen gesunden Lebensstil beizubehalten.
Psychischer Bereich: psychologische Einzelgespräche, Stressgruppe und Entspannungstherapie, um zu lernen, mit den Belastungen und den Veränderungen durch die Krankheit umzugehen.
Sozialer Bereich: Sozialberatung, Wiedereingliederung, Berufliche Rehabilitation und eventuell Unterstützung durch ambulante Pflege, um negative psychosoziale Auswirkungen der Krankheit verhindern oder reduzieren zu können.
Es existiert eine Reihe allgemeiner (pflegerischer) Maßnahmen, um die Patientinnen und Patienten bei ihren Bemühungen zu unterstützen.
INFORMATIONSSAMMLUNG Da die Risikofaktoren für die Entwicklung einer Herz-Kreislauf-Problematik bei Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig vorhanden sind, gilt es als erste Maßnahme, diese im Gespräch mit den Betroffenen zu erfragen bzw. zu messen. So sind beim Eintrittsgespräch in ein stationäres oder auch ambulantes psychiatrisches Setting Fragen nach Raucherstatus, Ernährungsgewohnheiten, nach Bewegung, bekannten Diabetes- oder Herzerkrankungen in der Familie unbedingt zu stellen. Diese Informationen sind im Rahmen der aktuellen Datenschutzbestimmungen zudem an die nachbehandelnde Stelle weiterzugeben. Da die Betroffenen ihr Risikoverhalten in der Regel nicht mit dem bewussten Vorsatz entwickeln, ihren Körper zu schädigen, braucht es bereits bei der Erfassung der Verhaltensmuster eine verständnisvolle, wertfreie Haltung. Vielleicht können aufgrund der psychischen Krise auch nicht alle Fragen gleich beim Eintrittsgespräch gestellt werden, sie dürfen aber im weiteren Verlauf der Behandlung nicht vergessen werden.
RESSOURCENERKENNUNG Geht es bei Eintritt in eine Behandlung erst mal nur um die Erhebung des Ist-Zustandes, so kann nach Abklingen der akuten psychiatrischen Symptomatik der Fokus auf die entsprechenden Risikofaktoren gelegt werden. Im Gespräch mit den Betroffenen werden mögliche Gefahren für die Entwicklung einer Herz-Kreislauf-Erkrankung thematisiert. Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen wissen zwar, dass sie weniger rauchen sollten oder dass sie sich zu wenig bewegen, die Auswirkungen sowohl auf ihre physische wie auch auf ihre psychische Gesundheit sind ihnen jedoch oft nicht bewusst. Der erlebte Verlust der körperlichen Integrität, die durchaus reale Todesbedrohung und der erlebte oder zumindest befürchtete Verlust sozialer Wertschätzung kann zu tiefgreifender Verunsicherung bis hin zur narzisstischen Krise und depressiven Dekompensation bzw. ängstlichen oder posttraumatischen Symptomatik führen (HERRMANN-LINGEN & MEINERTZ 2010).
Auch außerhalb des häuslichen Umfelds führt die Erkrankung (sei es die psychische oder die Herz-Kreislauf-Erkrankung) zu Veränderungen. Reaktionen reichen von übervorsichtigen Verhaltensweisen bis hin zum völligen Rückzug. Nicht selten kommt es zu einer Veränderung des sozialen Netzes, begleitet von einem Verlust bisheriger Freizeitaktivitäten.
Neben den Gefahren des Verhaltens werden im gemeinsamen Gespräch auch die Ressourcen der Betroffenen herausgestellt, um nicht zu sehr auf die Defizite zu fokussieren. Bei der Erhebung der Ressourcen muss darauf geachtet werden, welche Personen im Umfeld der Betroffenen unterstützend sein können, um die Ressourcen zu erhalten bzw. angedachte Veränderungen nachhaltig umzusetzen. Viele nahestehende Personen fühlen sich aufgrund der vorangegangenen psychischen Beeinträchtigungen der Betroffenen bereits belastet, eine zusätzliche körperliche Erkrankung macht die Situation nicht einfacher.
ZIELFORMULIERUNGEN Die ermittelten Risikofaktoren müssen im Sinne einer Primärprävention in die Zielformulierung eingebaut werden: Rauchstopp, Ernährungsberatung, Bewegungstraining und psychosoziale Angebote etc. Sowohl psychische als auch physische Aspekte werden dabei berücksichtigt. Da nach wie vor psychische Erkrankungen mit einem Stigma behaftet sind, hilft es einigen Betroffenen wie auch ihnen nahestehenden Personen, wenn sie die Ziele mit Argumenten für die körperliche Gesundheit untermauern können.
MASSNAHMENPLANUNG Da viele Verhaltensweisen über viele Jahre eingeübt werden, ist eine radikale Veränderung »sofort« oft nicht nachhaltig, die alten Gewohnheiten schleichen sich wieder ein, das Ziel wird im Alltag aus den Augen verloren. Die motivierende Gesprächsführung als wissenschaftlich basierte, klientenzentrierte und zielgerichtete Beratungsmethode (MILLER & ROLLNICK 2015; KREMER & SCHULZ 2016) eignet sich gut, um mit der Ambivalenz der Betroffenen zu arbeiten, sie im Selbstmanagement ihrer Erkrankung zu befähigen und sie in ihrer Veränderungsmotivation zu unterstützen. Dabei kann und sollte die Zusammenarbeit mit Hausärzten bzw. mit dem Primärversorgungssystem, mit ambulanten Pflegediensten oder, sofern vorhanden, einem freiberuflichen Präventionsmanager genutzt werden. Diese eher neuere Berufsgruppe plant, steuert und überwacht gesundheitsfördernde Maßnahmen und ist in einigen Regionen in Deutschland und Österreich gut vertreten.
Die Kommunikation zwischen den psychiatrischen und somatischen Behandlern muss in Absprache mit den Betroffenen in ausreichendem Maß erfolgen. Wichtig ist, dass bereits bei der Planung der Verhaltensänderungen wie Ernährungsgewohnheiten, Bewegung oder Rauchstopp die Information darüber erfolgt, dass die Veränderungen in der Regel nicht kontinuierlich verlaufen sowie Stillstand oder Rückschritte dazugehören.
MASSNAHMENDURCHFÜHRUNG Bei der Durchführung der Maßnahmen sind die Betroffenen oft auf sich allein gestellt. Das aufgrund ihrer psychischen Erkrankung aufgebaute Hilfesystem muss also auch für die geplanten Verhaltensveränderungen Unterstützung bieten. Die in den Jahren der psychischen Erkrankung aufgebauten tragfähigen Beziehungen zu Mitarbeitern einer Beratungsstelle, einer ambulanten psychiatrischen Pflege oder zu einem Psychiater bzw. Psychotherapeuten müssen genutzt werden, um die Risikofaktoren und die Schwierigkeiten in der Verhaltensänderung anzusprechen. Auch hilft der Einbezug von Freunden oder Familienmitgliedern, die unterstützend wirken. Tagebücher oder Listen, die die Maßnahmen dokumentieren und die dann in den Gesprächen mit den Behandlern angeschaut werden, helfen den Betroffenen über Motivationslücken hinweg. Eine Kontinuität in der Behandlung trägt auch dazu bei, schnell auf negative Veränderungen reagieren zu können. Eine Unterbrechung des neuen Verhaltens führt nicht zu einem Beziehungsabbruch, sondern wird als fester Bestandteil der Behandlung gesehen, ein Wiederbeginn ist somit weniger mit Scham und Schuld behaftet, sondern ein weiterer Schritt im Genesungsprozess.
EVALUATION Eine Überprüfung der Ziele und Maßnahmen muss regelmäßig erfolgen, damit zum Beispiel die Entstehung eines Diabetes frühzeitig erkannt und behandelt wird. Die Anbindung an eine Behandlungsstelle und somit eine gewisse Beziehungskontinuität erleichtert die Überprüfung der geplanten Maßnahmen. Dabei kann die Frequenz sehr unterschiedlich sein. Für Einzelne reicht ein jährlicher Termin aus, während andere wöchentliche Termine benötigen.