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Drei Schwestern fahren zum Bodensee um dort gemeinsam ihre Ferien zu verbringen. Marlis, Klärli und Leo, die eigentlich Leonore heisst, erleben am Bodensee viel Freude und aufregende Abenteuer. Inmitten der Ferienstimmung treten jedoch auch Probleme auf, denen sich die drei Schwestern stellen müssen... - Eine spannende und hoffnungsvolle Geschichte über die Lieblichkeit des Lebens.Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-
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Seitenzahl: 200
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Lise Gast
Saga
Sommer der Entscheidungen
© 1953 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711510056
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
„Leo!“
Keine Antwort.
„Leo! Ich will dir doch nur etwas sagen!“
Ratsch! Das war ein im Schloß umgedrehter Schlüssel, und zwar so umgedreht, daß er die Tür verschloß, kein Zweifel. Das hörte man schon an der Vehemenz, mit der er gedreht worden war. Der Berber probierte gar nicht erst den Drücker. Er trat ganz dicht an die Tür, legte beide Fäuste in Kopfhöhe gegen das Holz, und so, gleichsam beschwörend, flüsterte er – aber es klang bedrohlich, es klang wie das Knirschen der Stange, die die Welt aus den Angeln hebt:
„Wenn du nicht augenblicklich aufmachst, Leo!“
„Für dich bin ich immer noch Leonore!“ Aber der Schlüssel drehte sich zurück.
Der Berber stieß die Luft lautlos durch die Zähne und trat ein. Leo saß vor dem Spiegel, ihren alten, dunkelblauen Bademantel, den er von unzähligen gemeinsamen Schwimmtagen her kannte, über das gute Kleid gezogen, und raufte mit dem Kamm durch das Haar. Sie sah ihn nicht an, weder direkt noch im Spiegel.
„Na also“, sagte er. Dann schwiegen sie beide. Leo brachte wohl vor Wut über ihr Nachgeben kein Wort heraus, und der Berber mußte zunächst seinen Atem regulieren. Vorhin hatte der gepfiffen vor Empörung. Ihn auszusperren, ihm zu sagen: ‚Für dich bin ich immer noch Leonore‘!
„Na? Was hattest du auf dem Herzen?“ fragte Leo plötzlich. Sie warf dabei den Kopf herum, daß das kurze, scheckig-blonde Haar ums Gesicht flog. „Bitte, ich bin ganz Ohr.“
„Etwas Gutes, Leo“, sagte der Berber überraschend sanft. „Ich komme für das nächste Semester in Tübingen an. Fein, ja? Und bis dahin hab ich einen Job. Jawohl, bei der Post, hier in Mannheim. Postsäcke schleppen oder Telefon stöpseln. Ich werde es mit Vergnügen tun.“
Man sah ihm das an. Sein ganzes, dunkles Gesicht funkelte vor Begeisterung und Triumph, vor allem die kohlschwarzen Augen. Am Berber war alles dunkel, wild und fanatisch. Wie er wirklich hieß, hatten alle Bekannten vergessen. Kein bürgerlicher Name würde je das wiedergeben, was in der Bezeichnung „der Berber“ lag.
Leo fühlte wieder einmal die starke Persönlichkeit des etwas älteren Kameraden. Man konnte sich ihr nicht entziehen, wenn man im selben Raum atmete. Deshalb wandte sie sich wieder ihrem Spiegelbild zu und griff erneut zum Kamm.
„Gratuliere“, sagte sie hastig. Wenn es weiter nichts war, was er ihr sagen wollte ... „dort drüben liegen Zigaretten.“
„Danke. Ich rauch nicht mehr. Entweder rauchen oder was werden“, sagte der Berber gedämpft. „Du denkst, das kann ich nicht? Ich kann noch ganz andere Dinge –“
„Das glaub ich dir.“ Leo zog den Bademantel am Hals zu. Es war eine rein instinktive Bewegung. Dabei sah sie aus den Augenwinkeln nach dem Kameraden hinüber. „Ich finde das sogar sehr ordentlich.“
„Leo“, sagte der Berber, und man hörte sofort, daß er beim nächsten Thema war, „Leo, was du vorhast, ist Blödsinn. Nicht nur deinen Eltern gegenüber. Das ist auch eine Backpfeife. Und die haben sie nicht verdient. Von Suse will ich gar nicht mal reden. Immerhin ist sie deine Schwester und die erste von euch, die heiratet. Die erste Hochzeit hier im Haus.“
„Eben. Eine kann ja wohl ruhig ohne meine Mithilfe vom Stapel laufen“, sagte Leo. Es klang bereits unsicher. Immer war das so. Man konnte sich hundertmal etwas vorgenommen haben – wenn der Berber kam und dagegen war, fielen alle Argumente in sich zusammen. „Ich bin ja heute, am Polterabend, dabei.“
„Wissen deine Eltern schon, daß du morgen weg willst?“ fragte der Berber rundheraus. Leo zögerte.
„Vati ja – –“
„Und deine Mutter nicht? Sie rechnet mit dir –“
„Was heißt rechnen: Wenn ich bleibe, steh ich ja wohl auch nicht am Herd oder an der Garderobe!“
„Quatsch. Kein Mensch spricht von so was. Also deine Mutter weiß es noch nicht. Auch nicht, daß du überhaupt fahren willst?“
„Doch, das wissen sie längst. Und Niklas fährt morgen, ich kann also gar nicht bleiben.“
„Aber er. Er könnte einen Tag warten.“
„Er ist nicht allein“, verteidigte Leo hastig. „Er hat einen Freund dabei, einen älteren Herrn, Kunsthistoriker – –“ sie brach ab. Der Berber setzte sich seitlich auf den Tisch, auf dem Leo und Suse ihre Mathematik und ihr Latein, ihre Briefe und was es sonst noch an Schriftlichem gab, erledigt hatten. Jetzt nur noch Leo, Suse heiratete morgen und zog fort.
„Ihr fahrt drei Wochen nach Italien“, sagte der Berber leise und scheinbar unbeteiligt, „drei Wochen. Davon kann man nicht einen Tag abgeben ...“ Er hatte sich einen Zettel aus dem Wust der umherliegenden Schreibsachen herangezogen und kritzelte mit dem Bleistift darauf. „Du hast ihm doch von Suse erzählt, oder?“
„Natürlich. Aber er hat recht: Suse kann schließlich auch ohne mich heiraten. Und – und –“
„Sicher. Und dein Vater –“ Er sagte nicht: deine Eltern. Leo fühlte genau den Unterschied. Der Berber war unnachsichtlich.
Vati war traurig. Das wußte sie. Mutter würde nur beleidigt sein, gekränkt, „böse“. Vati war traurig, obwohl er nichts gesagt hatte.
„Sag mal selbst, das ist doch Spießertum! Diese Familiensimpelei – und heute bin ich ja noch da.“
„Leo“, sagte der Berber plötzlich in ganz anderem Ton, „mach dir doch nichts vor. Wenn es jemand anderes wäre! Aber dieser Niklas.“
„Jetzt sag noch was gegen Niklas!“ fuhr Leo auf. Der Berber blieb ruhig. „Ich werd mich hüten. Jeder ist so blind, wie er sein will. Immer fahr du mit deinem Niklas. Aber red dir nicht ein, daß es wegen Rom ist und Florenz und Sizilien.“
„Es ist – ich will Journalistin werden, und da muß man jede Gelegenheit wahrnehmen, um was zu sehen von der Welt!“ eiferte Leo, rot bis über die Ohren, und um so wütender, je röter sie sich werden fühlte. „Wir fahren zu dritt – und mit getrennter Kasse. Kein Mensch findet heutzutage was dabei, und es ist auch nichts dabei. Es ist die Chance für mich, und ich hab über ein Jahr dafür verdient und gespart. Bitte, hier ist das Geld – –“; sie weinte fast. Der Berber sah ungerührt auf das Päckchen Geldscheine, das sie vor ihn hin auf den Tisch warf.
„Wunderschön. Getrennte Kasse – Journalistin – Chance – so was lieb ich. Es ist nämlich nicht wahr“, sagte er und stand auf. „Oder nur halb wahr. Wenn das alles so wäre und es wäre nicht Niklas – aber bitte schön. Fahr! Fahr und belüg dich! Mich belügst du nicht.“
Er ging, ging, wie es seine Art war, wenn alles gesagt war. Leo kannte das aus vielen Debatten, die sie im Laufe der Jahre gehabt hatten. Er ging dann, nicht, um billigerweise das letzte Wort zu behalten, sondern einfach, weil es nicht nötig war, wie er fand, sich zu wiederholen. Entweder die Argumente zogen oder sie zogen nicht.
Sie hörte die Tür hinter ihm ins Schloß fallen, nicht wütend zugeschmissen, sondern einfach zugemacht. Einen Augenblick saß sie, mit hängenden Schultern, dann stand sie auf, drehte sich um und ging zum Tisch. Sie griff nach dem Geld, um es zusammenzuschieben, da fiel ihr Blick auf einen Zettel, der darauflag.
Der Berber war kein Künstler. Aber er hatte ein außergewöhnlich scharfes Auge, das Wesentliche zu erfassen. Und er vermochte dieses Wesentliche mit wenigen Strichen wiederzugeben.
Dieser Kopf, der da gezeichnet war, war Niklas’ Kopf. Das scharmante Lächeln, die schöne, hohe, vielversprechende Stirn – und das haltlose Kinn. Leo fühlte, wie die Tränen in ihr hochschossen, und sie hätte den Berber jetzt mit Genuß zertrommelt, einfach so mit den Fäusten. Denn er hatte recht ...
Wenn er dagewesen wäre, hätte sie ihn angebrüllt, daß er unrecht habe. Und sie führe, jawohl, natürlich führe sie, nun gerade.
Leider war er nicht da. Sie zerfetzte das Bild, obwohl das nur eine symbolische Handlung war. Es war in ihre Netzhaut eingebrannt, genau, ganz genau. Nie wieder würde sie Niklas ansehen können, ohne gleichzeitig dieses Bild zu sehen. Das Geld stopfte sie in die Tasche des Bademantels. Eins wußte sie genau: Wenn sie wirklich so kindisch war und nun trotzdem fuhr, war das Beste an der Reise hin.
Aber sie konnte doch nicht nachgeben. Jetzt schon gar nicht. Sie konnte das dem Berber doch nicht antun, diesen Triumph. Das war ja, als hätte man überhaupt keine eigene Meinung mehr.
Leonore Conrady war, als dies alles vor sich ging, genau neunzehn Jahre alt. Sie war die zweitälteste Tochter des Doktor Conrady, saß in Oberprima und würde Ostern Abitur machen. In den Ferien pflegte sie bei ihrem Vater Sprechstundenhilfe zu sein, um sich etwas zu verdienen, so vor einem Jahr den Führerschein, um Vati am Steuer ablösen zu können, oder etwas sehr Begehrtes zum Anziehen, jetzt die Reise. Sie war wie viele Mädels ihres Alters: wach, nicht dumm, fleißig, wenn es sich lohnte, und von einem unbändigen Lebenshunger erfüllt. Einem grandiosen Hunger, etwas zu er leben ...
Das war kein Wunder. Die Doktormädels hatten es nicht so leicht, wie es vielleicht von außen aussah. In der Schule wurde sehr viel verlangt, oft saßen sie bis zwölf, eins über den Büchern. Und Mutter verlangte auch. Sie duldete nicht, daß ihre Töchter sich mit Strümpfestopfen, Zimmeraufräumen und ähnlichem auf sie verließen. Mutter war streng – und, leider, dabei nicht so fröhlich wie beispielsweise Vati.
Aber sie hatten es auch gut. Das Doktorhaus war lebendig und interessant. Es gab viel Anregung – Musik, Geselligkeit. Es gab – sehr wichtig! – die Möglichkeit, sich Geld zu verdienen, wenn man auf Draht war. Vati bezahlte die Töchter, wenn sie mitarbeiteten, genau wie eine andere Hilfe. Freilich mußte man dann auch genau so viel leisten.
Manchmal wußte Leo, wie gut sie es hatten. Dann aber – und dafür war sie neunzehn Jahre alt – meuterte sie gegen dies und das. Vati könnte spendabler sein und Mutter weniger genau. Und es verlangte sie hinaus, endlich in die Welt ... in einen Beruf, in dem man immerfort sah und erlebte, und dann das Erlebte wiedergab.
Niklas hatte ihr das unmerklich, aber überzeugend eingeredet. Kein Beruf steht so im lebendigen Leben wie der des Journalisten. Keiner muß so hinterher sein, immer auf der Jagd, mit offenen Augen, wach und lebendig. Niklas Vandereck hatte eine überzeugende Art, wenn er wollte, dafür war er selbst Journalist.
Während Leo den oberen Flur entlanglief, sah sie nur rot, immerfort nur rot. Sie war, das fühlte sie, in ihrem ganzen Leben noch nie so wütend gewesen wie jetzt. Deshalb war es gut, daß sie an etwas anrannte. Es war die halb offenstehende Badezimmertür, und sie krachte ziemlich schmerzhaft dagegen. Sie rieb sich die Stirn. Und dann trat sie ein, ganz mechanisch und ohne zu überlegen, um die mit Recht zu erwartende Beule zu kühlen.
„Was ihr tut, tut ganz“, pflegte Vati zu sagen. Leo erinnerte sich dessen, warf den Bademantel ab und zerrte das Kleid über den Kopf. Es war sicher gut, wenn sie duschte. Ohnehin war es unerträglich heiß heute, richtig Hochsommer. So kam es, daß sie durchaus nicht mehr nur rot sah, als sie eine Viertelstunde später durch den unteren Flur des Hauses ging und dort auf Marlis traf.
Marlis war siebzehn und fast ebenso groß wie Leo, aber braun in Augen, Haut und Haar. Sie war stiller als die andern Schwestern, klüger – jedenfalls lebensklüger, in der Schule gut, in den Umgangsformen unauffällig geschickt und sehr lesehungrig. Bei ihr kamen immer erst die Bücher und dann alles andere. Da sie dies aber nicht laut ausposaunte, sondern in aller Stille danach handelte, störte es keinen. Mutter allerdings fand, sie habe zu wenig Interesse für das praktische Leben, aber Mutter war mit ihnen allen meist unzufrieden. Marlis wollte nach Suses Hochzeit mit Kläri, der jüngsten Schwester, per Rad an den Bodensee fahren und dort zelten, ein durchaus vernünftiger, von allen Familienmitgliedern gebilligter Plan. Fast immer billigte „man“ Marlis’ Pläne, während Leos stets mit den Ansichten der Erwachsenen querliefen.
Marlis war keineswegs schon in Gala, obwohl es allmählich Zeit dazu wurde, sondern in halblanger Hose und Polohemd. Sie hatte ihr Rad auf den Kopf gestellt und schraubte daran herum. Kläri war nicht zu sehen. Leo verspürte plötzlich Lust, mit Marlis zu reden. Sie wußte nur nicht, wie sie anfangen sollte. Da nahm Marlis ihr den Anfang ab.
„Du“, sagte sie halblaut, ohne aufzusehen, „was ist eigentlich für Wetter?“ In dieser Form pflegten die Töchter sich nach Mutters Stimmung zu erkundigen.
„Vielen Dank. Vorhin war starke Bewölkung und Neigung zu Gewittern“, sagte Leo. „Aber weißt du, man kann es auch verstehen. Es ist doch eine große Sache, eine von uns vieren loszuwerden!“
Marlis lachte leise. „Du tust, als ob Mutter Schwiegersöhne suchte. Dabei war sie erst so dagegen. Aber die werden es schon schaffen, Suse und Nils.“ Sie schwieg. Dann fuhr sie nachdenklich fort:
„Ich habe mir das gerade jetzt überlegt, Leo. Betrüblich ist es im Grunde doch. Jetzt hätten sie einmal acht Tage lang frei – ja, Nils hat doch Urlaub bekommen – und können keine Reise machen. Keine noch so kleine mit den Rädern. Einfach wegen Pinkepinke. Etwas kostet es ja doch. Und schließlich – heiraten tut man ja gewöhnlich nur einmal im Leben. Da wäre doch so ein kleiner Abstecher ins Glück ganz nett.“
„Ach! Nils hat doch Urlaub?“ Dies war ein vielbesprochenes Thema in der Familie gewesen. Nils, kleiner Angestellter in einer großen Firma, hatte eine winzige Wohnung ergattert und es daraufhin gewagt. Suse würde mitverdienen, wie sich das heute gehörte. Und sie hatten beide ein wenig darüber gespottet, daß zu Anfang jeder Ehe gereist werden müsse. Man könnte ja auch „bei sich“ anfangen, verheiratet zu sein.
„So absurd fände ich es offengestanden nicht“, hatte Vati endlich gesagt, „jetzt im Sommer reist ja jeder, der es irgend kann, sogar Leute wie wir, die bald 25 Jahre verheiratet sind.“
Alle hatten gelacht, das liebende Paar an der Spitze. Vati konnte so etwas so entzückend nett sagen. Aber es reichte eben nicht auf eine Reise, und damit Punktum. Suse hatte dafür wirklich toll angeschafft, vom Schmortopf bis zum Kehrblech, ganz in Mutters Sinne. Und was noch fehlte, kam eben später dran.
Es fehlte noch viel. Aber die beiden waren jung und gesund und beinahe altmodisch glücklich, fand Leo.
„Wann fahrt ihr denn?“ fragte sie möglichst nebenbei. Marlis sah hoch und strich mit der Innenseite des Armes die Haare aus den Augen. Ihre Finger waren voller Schmiere und Öl.
„Übermorgen. Und wann läßt du die Bombe platzen, daß du morgen schon weg willst?“
Leo zuckte die Achseln. Hier war es dämmerig, so daß Marlis ihr Gesicht nicht ganz genau erkennen konnte. Aber es erschien ihr, als sei es gar nicht froh. Tat es Leo schon leid? Freilich, man kann nicht nach Italien reisen und sich obendrein auch noch den Termin aussuchen. Entweder-Oder. Entweder Hochzeit oder Reise.
„Findest du es sehr gemein von mir, wenn ich morgen fahre?“ fragte Leo jetzt. Es war etwas ziemlich Ungeheuerliches, so etwas zu fragen. Marlis beugte sich wieder über ihr Rad.
„Von dir? Nein. Von ihm, von Niklas. Der Affe könnte wirklich einen Tag warten. Finde ich“, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. Sie sagte es weder anklagend noch mitleidig, sondern völlig sachlich. Leo stieß mit dem Fuß an das eine Pedal, daß es sich sausend drehte.
„Das finde ich auch“, sagte sie plötzlich und zu ihrem eigenen Erstaunen.
Es wurde wider Erwarten nett, sogar sehr nett. Sie hatten sich alle ein wenig vor dem Polterabend gegraust und auch die Parole ausgegeben, um Himmels willen nicht zu poltern und auch von Gedichten und Scherzliedern abzusehen. Alle Muß-Besucher und Qualverwandten waren erst für morgen gebeten, so saßen die beiden Familien, die Doktorsleute und Nils’ Eltern, wirklich gemütlich beisammen und labten sich an Vatis berühmt guter Bowle.
„Herrlich. Hoffentlich erlebt man noch oft so etwas“, sagte er und entzündete seine Festtagszigarre. „Und du, Schwiegersohn, setz dich ruhig einmal zu mir. Deine Frau hast du von jetzt an jeden Tag.“
„Entschuldige, Vati. Ich wollte soeben Leo genießen und meine beiden anderen entzückenden Schwägerinnen. Die hab ich dann nicht mehr!“
„Nichts da! Das wäre noch schöner. Komm, ich bin ohnehin ein bißchen verwaist unter so vieler Weiblichkeit.“
„Ich bin ja auch noch da“, meldete sich im Baß der zweite Vater, „aber ich kann dich gern bei der Jugend vertreten, Nils.“
Er setzte sich zwischen Leo und Kläri. Kläri hatte ihr neues blaues Kleid an und sah entzückend aus, trotz ihrer unzweifelhaften und nicht wegzuschminkenden Entennase, die ihr übrigens, wie Vati immer betonte, großartig stand. Sie wurde dunkelrot, als sich Nils’ Vater zu ihr setzte. Sie fand ihn schrecklich nett und meinte, schon um seinetwillen hätte sie Nils genommen an Suses Stelle.
Leo blieb ein wenig abseits, während die beiden sich unterhielten. Suse und Marlis hatten es sich im Couchwinkel behaglich gemacht und flüsterten miteinander. Eben prustete Suse, als wäre sie höchstens siebzehn Jahre alt. Leo fühlte eine unverhältnismäßig starke Rührung, während ihr plötzlich klar wurde, daß Suse doch an einem wichtigen Lebensabschnitt stand. Daß sie nun fortging, anders als in eine neue Stellung, wirklich fort, innerlich.
Freilich, es war längst überholt, daß eine Tochter beim Abschiednehmen vom Elternhaus der Mutter weinend am Hals hing. Man freute sich doch auf die Hochzeit, auf den Mann und auf das Leben zu zweit. Trotzdem! Noch nie war ihr so klar gewesen, was für ein warmes und schönes Zuhause sie hatten, sie, die vier Doktorsmädel. Und nun würde Suse also fortgehen, in eine fremde Stadt, eine winzige, noch sehr kahle Wohnung, würde Heizung sparen, tagsüber im Büro schuften und abends schnell etwas für Nils und sich richten, würde Nils’ Strümpfe stopfen und Hemden bügeln und nicht einmal Radio haben. Nein, Radio, das lag noch völlig jenseits jeder Möglichkeit.
Leo stand auf und ging hinaus. Sie ging nicht zielbewußt, sondern eher zögernd, ja widerstrebend. Oben in ihrem und Suses Zimmer stand sie ein Weilchen herum, ehe sie die Tischschublade aufschloß. Und dann ging sie ebenso zögernd und bummelig wieder hinunter.
Keiner hatte sie vermißt. Aber Mutter war eben aufgestanden und gab Marlis einen Wink. „Komm, wir wollen noch – –“ Marlis stand auf und folgte ihr hinaus. So saß Suse allein im Couchwinkel. Leo zögerte noch immer, da winkte ihr Suse.
„Komm, wir müssen es ausnützen, daß wir uns noch haben. Marlis erzählte eben von ihrer Fahrt mit Kläri. Schön, ja? Sie kennen beide den Bodensee noch nicht.“
„Nein“, sagte Leo mechanisch. „Ich auch nicht.“ Plötzlich sah sie Suse an. „Willst du mir einen Gefallen tun?“
„Ja, gern“, sagte Suse freundlich und ahnungslos. Leo war ganz blaß mit einemmal, sie preßte Suses Hand.
„Ehrenwort, daß du niemandem was sagst. Auch Nils nicht – oder erst übermorgen“, sagte sie ganz schnell und leise. Nils, das mußte sie Suse schon zugestehen. Aber übermorgen schadete es nichts mehr. „Ja? Versprichst du?“
„Aber was – –“ Suse war ganz erschrocken. Leos Griff um ihr Handgelenk wurde noch fester.
„Keinem Menschen. Verstanden? So, hier. Jetzt macht ihr eure Hochzeitsreise. Viel ist’s nicht, fünfundsiebzig Mark. Aber für acht Tage per Rad reicht’s bestimmt. Wirst du den Mund halten?“
Suse fühlte ein Bündel zusammengedrückter Scheine in ihrer Hand. Sie starrte Leo fassungslos an.
„Du bist wohl wahnsinnig geworden!“ Suse flüsterte es nur.
„Suse, wenn du noch ein Wort sagst, werde ich hysterisch. Dann ist dein Polterabend hin. Möchtest du das? Na also. Du nimmst das Geld und damit holla.“
„Aber du! Deine Reise! Du wolltest doch –“
„Ich wollte. Ganz recht. Aber ich will nicht mehr. Denkst du, ich möchte deine Hochzeit verpassen? Niklas fährt morgen, aber ohne mich. Nein, hoffe ja nichts, ich bleibe und genieße deinen Ehrentag. – – Aber du darfst nie mandem etwas sagen. Nein?“
Das letzte klang bittend und beinah angstvoll, ja hilflos. Suse spürte genau, daß hier ein Mensch in Not war. Sie waren alle nicht von der Art, so etwas auszusprechen, aber sie merkte es. Trotzdem!
„Aber du könntest doch – du könntest doch was anderes mit dem Geld machen“, sagte sie leise. Leo sah sie an, dankbar, schüttelte aber den Kopf. „Nein. Wenn ich’s hab, würde ich doch vielleicht morgen umfallen. Verstehst du? Ich muß es los sein, so los, daß ich nicht mehr drankomm. Nimm’s, Suse, bitte. Nimm’s wenigstens gepumpt, bis Nils Generaldirektor ist und du es mir wiedergeben kannst, ohne daß dir’s weh tut. Aber nimm’s, heute, und sag ihm nichts. Erst übermorgen. Und macht eine Reise damit, aber haut es, bitte schön, bis auf den letzten Pfennig auf den Kopf. Verstanden? Wie sagte Tante Agathe immer: ‚Kinder, schafft euch Erinnerungen.‘ Ihr sollt wenigstens was davon haben.“
„Oh! Wir werden!“ lachte Suse. Sie war doch ein Prachtkerl, fand Leo auf einmal, sie zierte sich nicht, schimpfte nicht, war ganz einfach glücklich.
„Aber die Eltern dürfen nichts wissen. Verstanden? Auf keinen Fall. Später meinetwegen. Sonst gibt’s doch noch Stunk.“
„Und mit Recht“, nickte Suse vergnügt. „Aber sie merken doch, wenn du nun dableibst.“
„Unsinn. Ich bleib eben nicht! Ich fahr, ich kann doch mit Marlis und Kläri fahren. Herrlicher Gedanke! An den Bodensee. War schon immer mein Traum! Die nehmen mich auch ohne Geld mit. Wär gelacht!“
Suse sah die Schwester an. Tatsächlich, das ginge. Aber!
„Du mußt wenigstens etwas zurücknehmen!“ bat sie.
„Nichts da. Nicht einen Pfennig!“ Leo lachte jetzt übermütig und vergnügt, ja erleichtert. „Geschenkt ist geschenkt. Ich komm schon durch. Was für zwei reicht, reicht auch für drei – Platz im Zelt und das bissel Essen und so. – Suse, freust du dich? Bitte, bitte!“
„Na! Da wär ich doch ein Kamel!“
Am Abend dieses Tages lag Leo im Bett und heulte, als Suse ganz bestimmt schlief – sie hatte solange damit gewartet und mehrere vorsichtige Proben gemacht – wie ein junger Hund. Ihre Reise nach Italien, mit Niklas und seinem Freund, im Wagen! Mailand, Florenz, Rom und vielleicht sogar Sizilien! Und jemand dabei, der einem alles erklärte, alles zeigte, überall Bescheid wußte! Ganz abgesehen davon, daß schließlich auch Niklas mitfuhr.
Sie mochte Niklas gern. Das war sogar nur eine Umschreibung. Er war der älteste aus dem Kreis Jungen, der zum Doktorhaus gehörte, stand schon auf eigenen Füßen, hatte einen Wagen. Und es war, geradeheraus gesagt, eine Gemeinheit vom Berber, ihn ihr in letzter Minute zu verekeln. Nur aus Neid selbstverständlich und weil er selbst keinen Wagen hatte und ihr nichts gönnte und ...
Leo wußte natürlich, daß dies alles ungerecht war, was sie da in ihr Kopfkissen hineinwütete. Aber manchmal muß der Mensch ungerecht sein, das hilft ihm über vieles hinweg.
Noch eins half: Der Gedanke daran, wie Suse sich gefreut hatte. Und ein bißchen, ja, ein kleines bißchen half auch das dabei, daß man sich nun ausmalen konnte, wie man morgen zu Vati ging. „Übrigens, Vati –“ mit ‚übrigens‘ mußte der Satz anfangen, dann klang er erst richtig – „übrigens, Vati, ich hab mich umentschlossen. Niklas kann allein abbrausen, ich laß mir die Hochzeit nicht nehmen. Ich bleibe, wenn ihr nichts dagegen habt. Und fahr dann mit Marlis und Kläri. Was meinst du? Du hast doch der Mutter noch nichts gesagt?“
Er würde ihr noch nichts gesagt haben, er hatte es versprochen. Erst morgen wollte er es ihr sagen, vielleicht nahm Mutter es morgen nicht so schwer, wenn sie den Kopf voll anderer Sorgen hatte. Brautmütter haben immer Sorgen ...
Vielleicht hatte Vati auch insgeheim gehofft, daß es so käme. Vielleicht hatte er deswegen Mutter noch nichts gesagt. Leo weinte nicht mehr. Sie lag und sah durchs offne Fenster hinauf in den samtdunklen, sternbestickten Augusthimmel. Schließlich, der Bodensee war auch ganz hübsch. Er sollte sogar ganz wunderbar sein, ach, und nach Italien kam man bestimmt noch mal. Und manches – ach ja, manches wär doch bestimmt ein bißchen schwierig und peinlich geworden, so allein mit zwei Männern unterwegs, und ...
Leo lächelte und schlief im nächsten Augenblick ein. So schnell war es gegangen, daß das Lächeln auf ihrem Gesicht stehenblieb, als sie schon tief atmete. Suse horchte und machte nach einer langen Weile Licht. Sie hatte bis jetzt nicht geschlafen.