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»Die Sonne spielte im Fluss und glitt mit ihren Strahlen über das betaute Gras. Der Fluss und das Grün, so schien es, waren übersät mit teuren Diamanten. Die Vögel sangen wie nach Noten.« Sommer, das ist ein Idyll – in dem es jederzeit zu Überraschungen kommen kann. Im sich auftürmenden Wald ebenso wie beim nächtlichen Stelldichein. Ein unverzagter Sommergast, ein verliebter Karpfen, hübsche Sommerfrischlerinnen und Ehemänner als Märtyrer bevölkern diese Geschichten.
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Seitenzahl: 303
Anton Čechov
Sommergeschichten
Aus dem Russischen von Peter Urban
Ausgewählt von Christine Stemmermann
Diogenes
Eine Stunde vor Abfahrt des Zuges in die Sommerfrische kommt ein Familienvater, einen gläsernen Lampenschirm, ein Spielzeugfahrrad und einen Kindersarg in den Händen, zu seinem Freund und sinkt entkräftet auf den Divan.
– Mein Lieber, Liebster … – murmelt er, keuchend und mit fahrigem Blick. – Ich habe eine Bitte an dich. Ich flehe dich an um Christi willen … leih mir bis morgen deinen Revolver. Sei ein Freund.
– Wozu brauchst du einen Revolver?
– Ich brauche ihn … Oh, mein Gott! Gib mir Wasser. Schnell, Wasser! … Ich brauche ihn … Nachts muß ich durch einen dunklen Wald, und da dachte ich … für alle Fälle … Leih ihn mir, sei so gut! …
Der Freund blickt in das bleiche, verquälte Gesicht des Familienvaters, auf die schweißbedeckte Stirn, in die Wahnsinnsaugen und zuckt die Achseln.
– Ivan Ivanyč, du lügst doch! – sagt er. – Was, beim Teufel, redest du da von einem dunklen Wald? Wahrscheinlich hast du etwas vor! Ich sehe es dir an, du hast etwas Ungutes vor! Was ist los mit dir? Wozu schleppst du einen Kindersarg mit dir herum? Hör zu, dir ist schlecht!
– Wasser … Oh, mein Gott … Warte, laß mich verschnaufen … Ich bin hundemüde. Im ganzen Körper und in der Birne habe ich ein Gefühl, als hätte man mir alle Adern und Sehnen herausgezogen und am Spieß gebraten … Ich kann es nicht mehr ertragen … Sei ein Freund, frage nicht, vertief dich nicht in Einzelheiten … gib mir den Revolver! Ich flehe dich an!
– Jetzt reichts! Ivan Ivanyč, was für ein Kleinmut? Familienvater, Staatsrat! Schäm dich!
– Du hast leicht reden … andere zu beschämen, während du hier in der Stadt lebst und diese verfluchte Sommerfrische nicht kennst … Gib mir noch Wasser … Wenn du an meiner Stelle lebtest, du würdest anders reden … Ich bin ein Märtyrer! Ich bin ein Packesel, ein Sklave, ein Schurke, der immer noch etwas erwartet, statt sich endlich ins Jenseits zu befördern! Ein Waschlappen, ein Trottel, ein Idiot! Wozu lebe ich? Wofür?
Der Familienvater springt auf und beginnt, verzweifelt in die Hände klatschend, im Kabinett auf und ab zu schreiten.
– Sage du mir: wofür lebe ich? – schreit er, springt auf den Freund zu und packt ihn am Knopf. – Wozu diese ununterbrochene Kette moralischer und physischer Leiden! Ich begreife ja, Märtyrer für eine Idee zu sein, jawohl. Aber Märtyrer weiß der Teufel wofür, für Damenröcke und Kindersärge, nein – ergebenster Diener! Nein, nein, nein! Mir reicht es! Es reicht!
– Schrei nicht so, die Nachbarn können es hören!
– Sollen es auch die Nachbarn hören, ist mir doch egal! Gibst du mir den Revolver nicht, gibt ihn mir ein anderer, ich werde nicht länger leben! Es ist beschlossen!
– Warte, du hast mir den Knopf abgerissen … Sprich klar und deutlich. Ich begreife immer noch nicht, worin dein Leben so schlecht sein soll.
– Worin? Du fragst: worin? Bitte sehr, ich werd es dir erzählen! Bitte sehr! Ich werde dir alles sagen, das wird mich womöglich erleichtern. Setzen wir uns … Ich werde mich kurz fassen, ich muß nämlich gleich zum Bahnhof fahren und außerdem noch bei Tjutrjumov vorbei und zwei Dosen Sprotten bei ihm holen und ein Pfund kandierte Früchte für Marja Osipovna, mögen ihr die Teufel im Jenseits die Zunge rausreißen! Also, hör zu … Nehmen wir zum Beispiel nur den heutigen Tag. Nehmen wir ihn. Wie du weißt, habe ich von morgens um zehn Uhr bis um vier in der Kanzlei zu schmoren. Die Affenhitze, die Schwüle, die Fliegen – und ein unbeschreibliches Chaos. Der Sekretär hat Urlaub genommen, Chrapov ist auf Hochzeitsreise, das Schreibergemüse ist übergeschnappt vor Sommerfrische, Amouren und Liebhaberaufführungen. Alle sind verschlafen, entkräftet, übermüdet, erschöpft, es kommt nichts Sinnvolles heraus, nichts zu machen, weder mit gutem Zureden noch mit Gebrüll … Den Sekretär vertritt ein Subjekt, auf dem linken Ohr taub und verliebt, das kaum die Eingangs- von der Ausgangspost unterscheiden kann; der Trottel bringt nichts zustande, ich muß alles selber machen. Ohne den Sekretär und ohne Chrapov weiß niemand, wo was liegt, wohin was zu schicken ist, und die verblödeten Bittsteller, alle rennen irgendwohin und haben es eilig, sind zornig, drohen – ein solcher Schlamassel, daß man nach der Polizei rufen möchte. Ein Tohuwabohu und Höllengezänk … Dann die Satansarbeit: ein und dasselbe, ein und dasselbe, Anfrage, Stellungnahme, Anfrage, Stellungnahme – eintönig wie das Meeresrauschen. Verstehst du, dir fallen die Augen aus dem Kopf, und dann läßt sich zu meinem Leidwesen mein Chef auch noch scheiden und leidet an Ischias; er jammert und greint, daß es nicht auszuhalten ist. Es ist unerträglich!
Der Familienvater springt auf und setzt sich gleich wieder.
– All das sind Lappalien, hör zu, wie es weitergeht! – sagt er. – Du kommst aus der Behörde zerschlagen, gerädert; du möchtest essen gehn und dich aufs Ohr hauen, aber nein, denk dran, du hast ein Sommerhaus, d.h. du bist ein Sklave, ein Dreck, ein Packesel, also hast du alter Hundesohn jetzt durch die Stadt zu rennen und Aufträge zu erledigen. Es ist doch mittlerweile die liebe Gewohnheit bei uns: wenn jemand aus der Sommerfrische in die Stadt fährt, dann ist, von der Frau Gemahlin zu schweigen, jedes Geschmeiß, jede Laus befugt und berechtigt, ihm einen Haufen Aufträge aufzubinden. Die Frau Gemahlin verlangt, daß ich zur Modistin fahre und sie beschimpfe, weil das Kleid in der Taille zu weit und in den Schultern zu eng ist; Sonečkas Schuhe müssen umgetauscht werden, für die Frau Schwägerin ponceaurote Seide zu 20 Kop. nach Muster und drei Ellen Tresse … Hier, warte, ich lese es dir gleich vor.
Der Familienvater zieht einen zerknüllten Zettel aus der Westentasche und liest in rasender Wut:
– »Lampenschirm; 1 Pfund Schinkenwurst; Nelken und Zimt zu 5 Kop.; Rizinusöl für Miša; 10 Pf. Puderzucker; von zu Hause: den Kupferkessel und den Mörser für Zucker; Karbolsäure und persisches Pulver zu 20 Kop.; 20 Flaschen Bier, 1 Flasche Essigessenz; Korsett für m-lle Chanson Gr. 82 bei Gvozdev und von zu Hause Mišas Übergangsmantel und Galoschen mitbringen.« Das ist der Tagesbefehl der Gemahlin und Familie. Jetzt die Aufträge der lieben Bekannten und Nachbarn, der Teufel soll sie verschlingen! Bei Vlasins hat Volodja morgen Namenstag, für ihn soll ich ein Fahrrad mitbringen; den Kurkins ist ein Säugling krepiert, also muß ich einen Sarg kaufen; Marja Michajlovna kocht Varenje, deshalb muß ich für sie täglich ein halbes Pud Zucker schleppen; Frau Oberstleutnant Vichrin ist in anderen Umständen; ich bin nicht im Traume daran schuld, aber aus irgendeinem Grunde bin ich verpflichtet, zur Hebamme zu fahren und sie um ihren Besuch zu bitten … Gar nicht zu reden von Aufträgen dieser Art wie Briefe besorgen, Wurst, Telegramme, Zahnpulver. Fünf Zettel habe ich in der Tasche! Aufträge abzulehnen ist unmöglich: das ist unanständig, unliebenswürdig! Der Teufel soll sie holen! Jemandem ein Pud Zucker und die Hebamme aufhalsen – das ist anständig, aber es ablehnen – quel horreur, es gibt nichts Unanständigeres! Lehne ich den Kurkins etwas ab, geht als erste die liebe Frau Gemahlin auf die Barrikaden: was wird Fürstin Marja Alekseevna dazu sagen?! … oh! ach! dann kannst du dich vor Ohnmachtsanfällen nicht mehr retten, zum Teufel! Ja, mein Lieber, so rennst du in der Zeit zwischen Dienst und Zug durch die Stadt, rennst, rennst und verfluchst das Leben. Vom Warenhaus in die Apotheke, von der Apotheke zur Modistin, von der Modistin in den Wurstladen, von dort wieder in die Apotheke. Hier rutschst du aus, dort vergißt du dein Geld, an der dritten Stelle vergißt du zu bezahlen, und man jagt dir mit Geschrei hinterher, an der vierten Stelle trittst du einer Dame auf die Schleppe … Phu! Die Hetzerei macht dich rasend und zugleich so kaputt, daß dir danach die ganze Nacht die Knochen knacken und sämtliche Sehnen weh tun. Also schön, die Aufträge sind erledigt, alles ist eingekauft, aber wie verpackst du jetzt die ganze Musik? Wie verpackst du einen schweren Messingmörser nebst Stößel mit einem Lampenschirm oder das Karbolfläschchen mit dem Tee. Laß dir was einfallen. Wie bringst du die Bierflaschen mit diesem Fahrrad unter einen Hut? Nein, das ist eine ägyptische Plage, eine Denksportaufgabe, ein Rebus! Aber wie dus auch verpackst, wie dus auch verschnürst, sei sicher, am Ende geht doch etwas zu Bruch, und du verschüttest was, und auf dem Bahnhof und im Zug stehst du wie eine Vogelscheuche, die Arme verrenkt, verhakt, mit dem Kinn klemmst du irgendein Bündel auf die Brust, vollbehängt mit Tüten, Schachteln und anderem Mist. Und fährt der Zug an, schleudern die Leute dein Gepäck in alle Richtungen: du hast mit deinem Gepäck fremde Plätze belegt. Die Leute schreien, rufen nach dem Schaffner, drohen dich rauszuwerfen, aber was soll ich machen? Ich kann die Sachen doch nicht zum Fenster rauswerfen! Sie hätten sie aufgeben müssen! Leicht gesagt, aber dazu braucht man eine Kiste, muß den ganzen Mist verpacken, und wo soll ich jeden Tag eine Kiste hernehmen, in die ich neben den Lampenschirm den Messingstößel lege? So ist der Zug erfüllt von Geheul und Zähneknirschen, die ganze Strecke über, bis du endlich da bist. Warte nur, was mir die Fahrgäste heute zu diesem Kindersarg vorsingen werden! Uff! Gib mir Wasser, Freund. Jetzt hör weiter. Aufträge zu erteilen ist üblich, aber dir Geld für die Auslagen zu geben – von wegen! Ich habe eine Menge Geld ausgegeben, zurück bekomme ich die Hälfte. Ich schicke das Dienstmädchen mit dem Kindersarg zu den Kurkins, aber sie tragen jetzt Trauer, also haben sie nicht die Zeit, an Geld zu denken. Also bekomme ich es nicht. An Schulden erinnern, noch dazu Damen – kann ich nicht und wenn du mich totschlägst. Die Rubel bekomme ich ja manchmal, irgendwie, wenn auch widerwillig, aber die Kopeken, die kannst du abschreiben. Also, ich komme nach Hause. Hier möchte man einen anständigen Schluck trinken nach all den Mühen der Gerechten, möchte in Ruhe essen und sich aufs Ohr hauen – nicht wahr? –, aber nichts da. Die Frau Gemahlin liegt längst auf der Lauer. Kaum hast du die Suppe gegessen, schon schnappt sie sich zap-zarap den Knecht Gottes: möchten Sie sich nicht irgendwohin begeben zu einer Liebhaberaufführung oder in den Tanzzirkel? Wage ja nicht zu protestieren. Du bist Ehemann, und das Wort »Ehemann« bedeutet, in die Sprache der Damenwelt übersetzt: Waschlappen, Idiot und stummes Tier, auf dem man uneingeschränkt reiten und Lasten befördern darf, ohne befürchten zu müssen, daß der Tierschutz einschreitet. Du gehst also mit und reißt die Augen auf in »Skandal in vornehmer Familie«, applaudierst »Motja« auf Befehl der Gemahlin und spürst, du krepierst gleich. Und im Tanzzirkel schau zu, wie sie tanzen, und such für die Frau Gemahlin einen Tänzer, und wenn du keinen Kavalier findest, dann tanze die Quadrille bitte selber. Du tanzt mit irgendeiner Šarteka Ivanovna, lächelst idiotisch und denkst dabei: »O Gott, wie lange noch?« Du kommst um Mitternacht aus dem Theater oder vom Ball, da bist du kein Mensch mehr, sondern ein Kadaver, zum Wegwerfen. Aber du bist endlich ans Ziel gekommen: du hast dich ausgezogen und liegst im Bett. Schließ die Augen und schlaf … Ausgezeichnet … Alles ist so schön: es ist warm, die Kinder nebenan greinen nicht, die Frau Gemahlin liegt nicht neben dir, dein Gewissen ist rein – schöner gehts nicht. Du schläfst ein, und plötzlich … plötzlich hörst du: dsss … Mücken! Mücken, dreimal seien sie verflucht, diese Satansbiester!
Der Familienvater springt auf und schüttelt die Fäuste.
– Mücken! Das ist eine ägyptische Plage, die Inquisition! Dsss … Das sirrt so kläglich, so traurig, als wollte es dich um Vergebung bitten, bis das verdammte Biest dich gestochen hat, und danach kannst du dich eine Stunde lang kratzen. Du rauchst, du schlägst nach ihnen, steckst den Kopf unter die Decke – nichts hilft! Am Ende pfeifst du drauf und läßt dich von ihnen zerfleischen: freßt, verflucht noch mal! Du hast dich an die Mückenstiche noch nicht gewöhnt, da fängt unten im Saal die Frau Gemahlin an, mit ihren Tenören Romanzen einzustudieren. Tagsüber schlafen sie, nachts bereiten sie ihre Liebhaberaufführung vor. Oh, mein Gott! Tenöre sind so eine Qual, mit keinen Mücken zu vergleichen.
Der Familienvater zieht ein klägliches Gesicht und singt:
– »Sag nicht, die Jugend hätte dich zerstört … Und wieder stehe ich vor dir bezaubert.« Oh, ihr Schu-urken! Die Seele habt ihr mir aus dem Leib gequält! Um sie wenigstens ein klein wenig zu entschärfen, verfalle ich auf dieses Kunststück: ich klopfe mir mit dem Zeigefinger über dem Ohr an die Schläfe. So klopfe ich bis etwa vier Uhr, bis sie endlich auseinandergehen … Und kaum sind sie gegangen, kommt schon die nächste Plage: meine Donna Gemahlin beehrt mich und fordert von meiner Person ihre gesetzlichen Rechte ein. Sie zwitschert zuckersüß vom Mondenschein und ihren Tenören, und ich keuche. Glaube mir, ich bin so in Angst, daß mich nachts, wenn sie zu mir kommt, Fieber und Panik packen. Oh, gib mir noch Wasser, Freund … Ja, und so, ohne geschlafen zu haben, stehst du um sechs Uhr auf und marsch! zur Bahnstation auf den Zug. Du rennst, hast Angst, zu spät zu kommen, und draußen – Dreck, Nebel, Kälte, brrr! Und kommst du in die Stadt, geht alles wieder von vorn los. So ist das, mein Lieber … Ein Hundeleben, kann ich dir sagen, meinem schlimmsten Feind wünsche ich so ein Leben nicht! Verstehst du, ich bin krank geworden! Asthma, Sodbrennen, ewig Angstzustände, Verdauungsstörungen … kurz, das ist kein Leben, sondern Trübsal ohne Ende! Und niemand, der dich bedauerte, der Mitleid hätte, nein, als müßte es so sein. Sie lachen sogar über mich. Ein Ehemann, Familienvater mit Sommerhaus, so gehört sichs, geschieht ihm recht, soll er doch krepieren. Aber begreift doch, ich bin ein Lebewesen, ich will leben! Hör zu, wenn du mir deinen Revolver nicht gibst, hab wenigstens Mitleid.
– Das habe ich.
– Ich sehe schon, wie dieses Mitleid aussieht … Leb wohl … Ich fahre die Sprotten holen und dann zum Bahnhof.
– Wo steht eigentlich dein Sommerhaus?
– Bei Dochlaja rečka …
– Ja, ich kenne diesen Ort … Hör mal, da wohnt doch auch Olga Pavlovna Finberg, kennst du sie nicht?
– Doch … Ich bin sogar mit ihr bekannt …
– Was du nicht sagst! – staunt der Freund, und sein Gesicht nimmt einen freudestrahlenden Ausdruck an. – Das wußte ich gar nicht! Also, wenn das so ist … mein Lieber, könntest du mir nicht einen kleinen Gefallen tun? Sei ein Freund, liebster Ivan Ivanyč! Gib mir dein Ehrenwort, daß du es tust!
– Was denn?
– Tu es aus Freundschaft zu mir. Ich flehe dich an, Liebster! Erstens, richte Olga Pavlovna einen Gruß von mir aus, und zweitens, nimm ihr eine Kleinigkeit mit. Sie hat mich beauftragt, eine Nähmaschine für sie zu kaufen, aber ich habe niemanden, dem ich sie mitgeben könnte. Bring sie ihr, Liebster!
Der Familienvater schaut den Freund eine Minute lang mit stumpfem Blick an, als könne er nichts begreifen, dann läuft er purpurrot an und beginnt zu schreien und mit den Füßen aufzustampfen:
– Hier, freßt diesen Menschen! Schlagt ihn tot! Zerfleischt ihn! Gebt her die Maschine! Setzt euch rittlings oben drauf! Wasser! Gebt mir Wasser! Wofür lebe ich? Wozu?
Es liegt, dieses Buch, in einem eigens dafür gebauten Schalter auf der Bahnstation. Der Schlüssel zu diesem Schalter ist »bei der Bahnpolizei abzuholen«, in Wahrheit braucht man aber gar keinen Schlüssel, denn der Schalter steht immer offen. Schlagen Sie das Buch auf und lesen Sie:
»Mein Herr! Eine Schriftprobe?!«
Darunter gezeichnet ist eine Fratze mit langer Nase und kleinen Hörnern. Unter der Fratze steht:
»Du ein Bild, ich ein Porträt, du ein Schwein, ich keines, nein. Ich bin deine Fresse.«
»Da ich mich selbiger Stazion näherte und aus dem Zugfenster die Natur betrachtete, flog mir der Hut vom Kopf. I. Jarmonkin.«
»Wer das geschrieben hat, ist doof.«
»Hier verewigt hat sich der Bürochef des Amts für Gehirnfürze Kolovroev.«
»Ich lege bei der Direktion Beschwerde ein gegen den Herrn Schaffner Kučkin wegen Grobheit bezüglich meiner Frau. Meine Frau hat keinen Krawall geschlagen, sondern sich im Gegenteil bemüht, daß alles ruhig abläuft. Auch inbetreff des Gendarmen Kljatvin, der mich grob an der Schulter gepackt hat. Meinen Wohnsitz habe ich auf dem Gut Andrej Ivanovič Iščeevs, dem mein Benehmen bekannt ist. Buchhalter Samolučšev.«
»Nikandrov ist ein Sozialist.«
»Unter dem Eindruck einer empörenden Tat befindlich … (durchgestrichen). Als ich diese Bahnstation passierte, war ich zutiefst empört von folgender … (durchgestrichen). Vor meinen Augen geschah folgende empörende Begebenheit, die in grellsten Farben die Zustände unserer Eisenbahn … (weiter ist alles durchgestrichen bis auf die Unterschrift). Aleksej Zudjev, Schüler der 7. Klasse des Gymnasiums Kursk.«
»In Erwartung der Abfahrt des Zuges habe ich die Visage des Stationsvorstehers beobachtet und bin über sie sehr ungehalten. Werde dies auf der gesamten Strecke weitererzählen. Ein unverzagter Sommergast.«
»Ich weiß, wer das geschrieben hat. Es war M.D.«
»Meine Herren! Telcovskij ist Falschspieller.«
»Die Gendarmenfrau ist gestern mit dem Bahnhofsbuffetier an den Fluß gefahren. Wir wünschen alles Gute. Kopf hoch, Gendarm!«
»Auf der Durchreise und vom Hunger heimgesucht, habe ich keine Fastenspeise bekommen können. Diakon Duchov.«
»Friß, was auf den Tisch kommt!«
»Wer ein Zigarettenetui in Leder findet, möchte es an der Kasse hinterlegen bei Andrej Egoryč.«
»Weil ihr mich entlassen wollt, weil ich angeblich trinke, erkläre ich hiermit, ihr seid alle Gauner und Diebe. Telegraphist Kosmodemjanskij.«
»Üb immer Treu und Redlichkeit.«
»Katinka, ich liebe Sie bis zum Wahnsinn!«
»Bitte, in das Beschwerdebuch keine sachfremden Dinge einzutragen! Für den Stadionsvorsteher Ivanov VII.«
»Wenn du auch der Siebte bist, doof bist du trotzdem.«
Am zehnten Mai nahm ich 28 Tage Urlaub, bat unseren Kassierer um einhundert Rubel Vorschuß und beschloß, koste es, was es wolle »zu leben«, aus dem vollen zu leben, um danach die nächsten zehn Jahre nur von den Erinnerungen zu leben.
Aber wissen Sie, was »leben« im besten Sinne dieses Wortes heißt? Das heißt nicht, im Sommertheater in eine Operette zu gehen, sich dann zum Souper zu setzen und gegen Morgen angeheitert nach Hause zu kommen. Das heißt nicht, sich in eine Ausstellung zu begeben, von dort zum Pferderennen und dort vor dem Wettbüro mit dem Geldbeutel zu wedeln. Wenn Sie leben wollen, so besteigen Sie die Eisenbahn und fahren dorthin, wo die Luft durchdrungen ist vom Duft des Flieders und des Faulbeerbaums, wo, mit seinem zarten Weiß und dem Glanz diamantener Tautropfen unsern Blick erfreuend, nacheinander das Veilchen und die Nachtviole blühen. Dort, in der freien Natur, unter dem blauen Himmelsgewölbe, im Anblick des grünen Waldes und gurgelnder Bäche, in Gesellschaft der Vögel und grüner Käfer werden Sie begreifen, was das Leben ist.
Dazu zwei-drei Begegnungen mit einem breitkrempigen Hut, flinken Äuglein und weißen Schürzchen … Ich gebe zu, von alledem träumte ich, als ich, den Urlaub in der Tasche und umsorgt von der Freigebigkeit des Kassierers, ins Sommerhaus umzog.
Das Sommerhaus mieten wollte ich, auf Rat eines Freundes, bei Sofja Pavlovna Knigina, die in ihrem Sommerhaus ein leerstehendes Zimmer mit Tisch, Mobiliar und übrigem Komfort abgab. Das Mieten ging schneller, als ich gedacht hatte. In Pererva angekommen, suchte ich das Haus der Knigina, trat, wie ich mich erinnere, auf die Terrasse und … wurde verlegen. Die kleine Terrasse war gemütlich, nett und entzückend, aber noch netter und (wenn Sie den Ausdruck gestatten) gemütlicher war die kleine mollige junge Dame, die auf der Terrasse saß und Tee trank. Sie runzelte, als sie mich sah, leicht die Stirn.
– Sie wünschen?
– Entschuldigen Sie bitte … – begann ich. – Ich … ich bin hier vielleicht verkehrt … Ich suche das Haus der Frau Knigina.
– Die bin ich … Sie wünschen?
Ich war völlig durcheinander … Unter Zimmer- und Sommerhausvermieterinnen war ich gewohnt, ältere, an Rheuma leidende, nach Kaffeesatz riechende Personen zu verstehen, hier aber – »O rettet uns, Cherubim des Himmels!« – wie Hamlet sagte, saß eine wunderhübsche, großartige, wunderbare, bezaubernde Person. Stotternd erklärte ich, was ich wolle.
– Ah, sehr angenehm! Setzen Sie sich bitte! Ihr Freund hat mir schon geschrieben. Möchten Sie nicht ein Glas Tee? Mit Sahne oder mit Zitrone?
Es gibt eine Rasse von Frauen (in der Mehrzahl Blondinen), mit denen Sie nur zwei-drei Minuten zu sitzen brauchen, und schon fühlen Sie sich wie zu Hause, als seien Sie alte Bekannte. Zu ihnen gehörte Sofja Pavlovna. Während ich das erste Glas trank, wußte ich bereits, daß sie unverheiratet sei, von den Zinsen ihres Kapitals lebe und ihre Tante zu Besuch erwarte; ich wußte die Gründe, die Sofja Pavlovna bewogen hatten, ein Zimmer zu vermieten. Erstens ist es für eine Person schwer, allein hundertundzwanzig Rubel für das Sommerhaus zu bezahlen, zweitens ist es irgendwie unheimlich: plötzlich steigt nachts ein Dieb ein oder kommt am Tage der schwarze Mann! Und nichts ist anstößiger, als wenn im Eckzimmer eine einsame Dame wohnt oder ein einsamer Mann.
– Aber ein Mann ist besser! – seufzte die Hausfrau, Varenja vom Löffelchen leckend. – Mit einem Mann hat man weniger Scherereien und nicht solche Angst …
Kurzum, nach einer Stunde waren Sofja Pavlovna und ich schon Freunde.
– Ach ja! – fiel mir ein, als ich mich von ihr verabschiedete. – Über alles haben wir gesprochen, aber über das Wichtigste kein Wort. Wieviel nehmen Sie von mir? Ich werde nur 28 Tage bei Ihnen wohnen … Das Essen natürlich … Tee und so weiter …
– Da haben Sie ja ein Thema gefunden! Sie geben mir, soviel Sie können … Ich vermiete das Zimmer doch nicht aus Berechnung, sondern so … damit es bewohnt ist … Können Sie mir 25 Rubel geben?
Ich war natürlich einverstanden, und mein Leben im Sommerhaus begann … Dieses Leben ist dadurch interessant, daß jeder Tag dem andern gleicht, jede Nacht der anderen – und welcher Reiz in dieser Eintönigkeit liegt, was für Tage, was für Nächte! Leser, ich bin begeistert, gestatten Sie mir, Sie zu umarmen! Morgens wachte ich auf und trank, ohne auch nur einen Gedanken an den Dienst, Tee mit Sahne. Um elf ging ich zu Sofja Pavlovna, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, und trank bei ihr Kaffee mit dicker, angewärmter Sahne. Zwischen Kaffee und Mittagessen plauderten wir. Um zwei Uhr das Mittagessen, aber was für ein Essen! Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich, mit einem Bärenhunger, an den Tisch, greifen nach einem großen Glas Listovka und essen heißes Pökelfleisch mit Meerrettich dazu. Dann stellen Sie sich kalte Okroška vor oder grüne Šči mit saurer Sahne usw. Nach dem Mittagessen liegen Sie ungestört, lesen einen Roman und springen alle Augenblicke auf, weil die Hausfrau dauernd an Ihrer Tür vorbeihuscht – und »Bleiben Sie nur liegen, bleiben Sie liegen!« … Danach gehn Sie baden. Vom Abend bis in die tiefe Nacht Spaziergang mit Sofja Pavlovna … Stellen Sie sich vor, zu abendlicher Stunde, wenn außer der Nachtigall alles schläft oder einem manchmal schreienden Reiher, wenn der schwach atmende Windhauch kaum hörbar das ferne Rattern eines Zuges herbeiträgt, gehen Sie im Wald oder am Bahndamm spazieren mit einer kleinen molligen Blondine, die es kokett von der Abendkühle fröstelt und die Ihnen dauernd ihr vom Mondschein bleiches Gesichtchen zuwendet … Schrecklich schön!
Kaum eine Woche war vergangen, als das geschah, was Sie, Leser, schon lange von mir erwarten und ohne das keine anständige Erzählung auskommt … Ich konnte nicht widerstehen … Meine Liebeserklärung hörte Sofja Pavlovna gleichgültig, beinahe kühl an, so als habe sie längst darauf gewartet, sie spitzte nur lieblich die Lippen, als wolle sie sagen:
– Ich verstehe nicht, wozu da noch lange reden!
Die 28 Tage vergingen wie eine Sekunde. Als mein Urlaub zu Ende war, nahm ich traurig, unbefriedigt Abschied von Sommerhaus und Sonja. Die Hausfrau saß, während ich den Koffer packte, auf dem Diwan und wischte sich die Äuglein. Ich, selber den Tränen nahe, tröstete sie und versprach, sie an den Feiertagen im Sommerhaus und im Winter in Moskau zu besuchen.
– Ach … und wann, mein Liebes, rechnen wir miteinander ab? – fiel mir ein. – Wieviel bekommst du von mir?
– Ach, irgendwann später … – brachte mein »Gegenstand« hervor und schluchzte laut auf.
– Warum später? Freundschaft ist Freundschaft, aber bar Geld befriedigt die Welt, sagt das Sprichwort, außerdem will ich keinesfalls auf deine Kosten gelebt haben. Zier dich nicht, Sonja … Wieviel bekommst du?
– Ach … irgendwelche Kleinigkeiten … – brachte die Hausfrau schluchzend hervor und holte ein Kästchen aus dem Schreibtisch. – Du kannst es auch später bezahlen …
Sonja kramte in dem Kästchen, zog einen Zettel hervor und gab ihn mir.
– Ist das die Rechnung? – fragte ich. – Sehr gut … Sehr gut (ich setzte die Brille auf), laß uns abrechnen, dann ists in Ordnung … (ich überflog die Rechnung). In summa … Warte mal, was ist denn das? In summa … Aber das ist falsch, Sonja! Hier steht »in summa 212 R. 44 K.« Das ist nicht meine Rechnung!
– Doch, Dudočka! Sieh sie dir nur an!
– Aber … woher denn so viel? Für Sommerhaus und Tisch 25 R., einverstanden … Für Bedienung 3 R. – meinetwegen, auch einverstanden …
– Ich verstehe dich nicht, Dudočka, – sagte gedehnt die Hausfrau und sah mich erstaunt, mit verweinten Augen an. – Glaubst du mir etwa nicht? Dann zähl doch zusammen! Listovka hast du getrunken … ich konnte dir doch zum Mittagessen für diesen Preis keinen Schnaps vorsetzen! Sahne zum Tee, zum Kaffee … dann die Erdbeeren, Gurken, Kirschen … Das gleiche, was den Kaffee betrifft. Der war nicht vereinbart, aber getrunken hast du ihn jeden Tag! Aber das sind alles solche Kleinigkeiten, bitte, ich kann dir die 12 Rub. erlassen. Bleiben meinetwegen nur 200.
– Aber … hier sind 75 Rub. aufgeführt, und es steht nicht dabei, wofür … Wofür sind die?
– Wie, wofür? Das ist ja reizend!
Ich sah ihr ins Gesichtchen. Es schaute so aufrichtig, klar und erstaunt drein, daß meine Zunge kein einziges Wort mehr zustande brachte. Ich gab Sonja einhundert Rubel und einen Wechsel über die gleiche Summe, lud mir den Koffer auf die Schultern und ging zum Bahnhof.
Herrschaften, kann mir nicht jemand hundert Rubel borgen?
Rund um ein verlassenes Herrengut mittlerer Größe gruppieren sich knapp zwei Dutzend roh zusammengehauener Holzhäuser. An dem höchsten und ansehnlichsten von ihnen prangt blau ein Schild »Gasthaus« und glitzert golden in der Sonne ein aufgemalter Samovar. Abwechselnd mit den roten Dächern der Sommerhäuser sieht man da und dort die baufällig gewordenen und mit rostigem Moos überwucherten Dächer der herrschaftlichen Pferdestallungen, der Orangerie und Lagerhäuser.
Ein Maienmittag. Die Luft riecht nach Fasten-Šči und Samovardunst. Der Verwalter Kuzma Fëdorov, ein großer älterer Mužik im überhängenden Bauernhemd und Harmonikastiefeln, geht von Haus zu Haus und zeigt sie Sommergästen, die mieten wollen. In sein Gesicht geschrieben stehen dumpfe Trägheit und Gleichgültigkeit: ob er Mieter bekommt oder nicht, ist ihm entschieden egal. Ihm folgen drei: ein rothaariger Herr in der Uniform eines Eisenbahn-Ingenieurs, eine dürre Dame in anderen Umständen und ein Mädchen, Gymnasiastin.
– Aber teuer sind Ihre Sommerhäuser, – runzelte der Ingenieur die Stirn. – Immer nur vierhundert und dreihundert Rubel … schrecklich! Zeigen Sie uns etwas Billigeres.
– Gibt auch billigere … Sind aber nur noch zwei da … Kommen Sie!
Fëdorov führt die Mieter durch den herrschaftlichen Garten. Hier ragen Baumstümpfe und grünt ein dünnes Fichtenwäldchen; stehengeblieben ist ein einziger hoher Baum – eine schön gewachsene alte Pappel, von der Axt gleichsam nur deshalb verschont, um das unselige Schicksal ihrer Artgenossen beweinen zu können. Von der steinernen Umfriedung, den Lauben und Grotten sind lediglich Spuren geblieben in Form versprengter Ziegel, Mörtel und faulender Balken.
– Ist das alles verwahrlost! – sagt der Ingenieur, wehmütig die Spuren des ehemaligen Luxus betrachtend. – Wo lebt Ihr Herr denn heute?
– Er ist keiner von den Herren, sondern Kaufmann. Hat in der Stadt eine Pension … Kommen Sie bitte!
Die Mieter bücken sich und betreten ein kleines steinernes Gebäude mit drei vergitterten kleinen Fenstern, wie im Gefängnis. Feuchtigkeit und Fäulnisgeruch schlägt ihnen entgegen. Das Häuschen hat ein quadratisches Zimmerchen, das durch eine neue Bretterwand in zwei geteilt ist. Der Ingenieur richtet die gerunzelten Augen auf die dunklen Wände und liest an einer von ihnen eine Bleistiftaufschrift: »In diesem Verlies der Toten wurde melancholisch und beging einen Selbstmordversuch der Oberleutnant Fildekosov.«
– Hier, Euer Wohlgeboren, kann man die Mütze nicht aufbehalten, – wendet Fëdorov sich an den Ingenieur.
– Warum nicht?
– Es geht nicht. Hier war das Grabgewölbe, hier wurden die Herrschaften beerdigt. Wenn Sie hier eine Diele hochheben und unter den Fußboden schauen, sehen Sie die Särge.
– Welch Neuigkeiten! – entsetzt sich die dürre Dame. – Von der Feuchtigkeit zu schweigen, hier stirbt man schon allein vor Angst! Ich denke nicht daran, mit Leichen zu leben!
– Die Leichen, gnädige Frau, sind unberührt. Hier wurden keine Landstreicher beerdigt, sondern Ihresgleichen – Herren. Vorigen Sommer hat hier, in diesem Keller, der Herr Leutnant Fildekosov gewohnt und war sehr zufrieden. Er wollte dieses Jahr wiederkommen, aber ich weiß nicht, er kommt nicht.
– Er hat einen Selbstmordversuch begangen? – fragte der Ingenieur, eingedenk der Inschrift.
– Woher wissen Sie denn das? Tatsächlich, das stimmt, gnädiger Herr. Und weshalb es diese Schererei gegeben hat! Er hat nicht gewußt, daß hier unter dem Boden die Toten liegen, Gott schenk ihnen das Himmelreich, na, und da hat er sich gedacht, eines Nachts, hier unter dem Boden ein Viertelchen Vodka zu verstecken. Hat diese Diele da hoch-gehoben, und wie er sah, daß da Särge stehen, ist er verrückt geworden. Stürzt ins Freie und brüllt los. Alle Gäste hat er in Aufruhr gestürzt. Dann fing er an und wurde krank. Wegfahren wollt er nicht, und hier zu bleiben, hatte er Angst. Zum Schluß, gnädiger Herr, hat ers nicht ausgehalten und Hand an sich gelegt. Mein Glück, daß ich ihm die hundert Rubel für das Haus schon vorher abgenommen hatte, sonst wär er sicher so weggefahren, vor Schreck. Während er dalag und sich behandeln ließ, hat er sich daran gewöhnt … und nichts weiter … Er hat versprochen wiederzukommen: »Ich mag solche Abenteuer schrecklich gern!« hat er gesagt. Der Kauz!
– Nein, zeigen Sie uns lieber ein anderes Haus.
– Bitte, bitte. Es gibt noch eins, aber das ist schlechter als dieses.
Kuzma führt die Sommergäste an den Rand des Guts, zu einer Stelle, wo eine baufällige Scheune steht … Hinter der Scheune glitzert ein mit Gras überwachsener Teich und ragen dunkel die herrschaftlichen Schuppen.
– Kann man hier angeln? – fragt der Ingenieur.
– Soviel Sie wollen … Sie zahlen fünf Rubel für die Saison und angeln, solange Sie Lust haben. Das heißt mit der Angel im Fluß, wenn Sie dagegen im Teich Karauschen fangen wollen, kostet das extra.
– Angeln ist nicht so wichtig, – bemerkt die Dame, – man kann auch ohne Fisch auskommen. Aber was ist mit Lebensmitteln. Bringen die Bauern Milch hierher?
– Den Bauern ist das Betreten hier verboten, gnädige Frau. Die Sommergäste sind verpflichtet, ihre Lebensmittel bei uns auf dem Gut zu holen. Das steht in unserm Vertrag. Die Preise sind nicht hoch. Milch einen Viertelrubel zwei Liter, Eier wie gewöhnlich sechs Zehner zehn Stück, Butter einen halben Rubel … Grünzeug und verschiedenes Gemüse müssen Sie sich ebenfalls bei uns holen.
– Hm … Und kann man bei Ihnen irgendwo Pilze sammeln?
– Wenn der Sommer regnerisch wird, gibt es auch Pilze. Pilze sammeln können Sie. Sie zahlen die Saison über pro Person sechs Rubel und können nicht nur Pilze sammeln, sondern auch Beeren. Das können Sie. Zu unserm Wald führt ein Weg über den Fluß. Wenn Sie wollen, nehmen Sie die Furt, wollen Sie nicht, nehmen Sie die Fähre. Preis für die Fähre nur einen Fünfer. Einen Fünfer hin und einen zurück. Und wenn irgendwelche Herren jagen wollen, sich mit dem Gewehr amisüren, unser Herr hat nichts dagegen. Schießt, soviel ihr wollt, nur habt immer die Fittung dabei, daß ihr zehn Rubel gezahlt habt. Das Baden bei uns ist wunderbar. Das Ufer sauber, sandiger Grund, und jede Tiefe: bis ans Knie, bis an den Hals. Wir engen Sie nicht ein. Für ein Mal einen Fünfer, und wenn für die ganze Saison, dann viereinhalb. Und dann kannst du auch den ganzen Tag im Wasser sitzen!
– Und singen bei Ihnen die Nachtigallen? – fragt das Mädchen.
– Neulich hat eine gesungen, über dem Fluß, dann hat mein Söhnchen sie gefangen, an den Wirt verkauft. Kommen Sie bitte!
Kuzma führt die Mieter in eine baufällige kleine Scheune mit neuen Fenstern. Im Innern ist die Scheune durch Trennwände in drei Kämmerchen geteilt. In zwei der Kämmerchen stehen Haferkisten.
– Nein, wie soll man hier wohnen! – erklärt die dürre Dame, angewidert die finstern Wände und Haferkisten musternd. – Das ist eine Scheune und kein Haus. Das lohnt nicht anzuschauen, George … Hier regnet es sicher rein, und es zieht. Hier kann man unmöglich wohnen!
– Und ob hier Leute wohnen! – seufzt Kuzma. – Wos keine Vögel gibt, sagt man, ist sogar die Kasserolle eine Nachtigall, und wos keine Sommerhäuser gibt, kommt auch dies hier gelegen. Mieten Sie es nicht, mieten es andere, irgendwer wird schon drin wohnen. Meiner Meinung nach ist dieses Haus für Sie das geeignete, Sie sollten, finde ich, nicht … auf Ihre Gattin hören. Ein besseres finden Sie nicht. Und ich würds Ihnen auch billiger geben. Es kommt hundertfünfzig, ich gäb es Ihnen für hundertzwanzig.
– Nein, mein Lieber, das geht nicht. Leben Sie wohl, entschuldigen Sie, daß wir Sie behelligt haben.
– Macht nichts. Leben Sie wohl.
Und den sich entfernenden Sommergästen mit den Augen folgend, räuspert sich Kuzma und fügt hinzu:
– Ein Trinkgeld könnten Sie mir aber geben, Euer Gnaden. Fast zwei Stunden hab ich Sie herumgeführt. Ein-zwei Rubel könnten Sie schon springen lassen!
Eine Gegend mit Sommerhäusern, in nächtliches Dunkel gehüllt. Vom Dorfglockenturm schlägt es eins. Die Rechtsanwälte Kozjavkin und Laev, beide bester Laune und leicht schwankend, kommen aus dem Wald und begeben sich auf die Sommerhäuser zu.
– Dem Schöpfer sei Dank, da sind wir … – Kozjavkin atmet auf. – In unserem Zustand fünf Verst auf Schusters Rappen von der Bahnstation, das ist eine Heldentat. Bin hundemüde. Und, wie zum Ärger, natürlich keine Droschke.
– Petja, mein Bester … ich kann nicht mehr! Wenn ich nicht in fünf Minuten im Bett bin, sterbe ich, scheint mir …
– Im Be-hett? Ach was, sei nicht albern, Freund! Zuerst essen wir mal zu Abend, trinken ein Gläschen Roten, und dann meinetwegen ins Bett. Veročka und ich lassen dich nicht gleich schlafen … Ach, ist das schön, mein Freund, verheiratet zu sein! Du verstehst das nicht, du harte Seele! Ich komme jetzt müde, geplagt nach Hause … mich empfängt eine liebende Ehefrau, gibt mir Tee zu trinken, gibt mir zu essen, und als Dank für meine Arbeit, meine Liebe, blickt sie mich mit ihren schwarzen Äuglein so zärtlich und empfänglich an, daß ich alles vergesse, mein Freund, die Müdigkeit, den Einbruchsdiebstahl, den Gerichtshof, das Kassationsdepartement … Schö-ön ist das!
– Aber … ich habe das Gefühl, mir fallen die Beine ab … Ich kann kaum laufen … Und habe einen so schrecklichen Durst …
– Da sind wir auch schon zu Hause.
Die Freunde nähern sich einem der Sommerhäuser und bleiben vor dem ersten Fenster stehen.
– Ein feines kleines Sommerhaus, – sagt Kozjavkin. – Morgen siehst du, was es hier für Aussichten gibt! Kein Licht in den Fenstern. Also hat sich Veročka schon hingelegt, hat nicht auf uns warten wollen. Jetzt liegt sie im Bett und quält sich sicher, weil ich immer noch nicht da bin … (stupst mit dem Spazierstock gegen das Fenster, das sich öffnet). Wie unerschrocken sie ist, legt sich ins Bett und schließt die Fenster nicht ab. Heiß ist mir! Los, bringen wir ihr eine Serenade, damit sie lacht … (singt): »Der Mond schwimmt stille durch die Nacht … Ein laues Lüftlein weht … ein laues Lüftlein geht« … Sing, Alëša! Veročka, sollen wir dir eine Schubert-Serenade vorsingen? (singt): »Lei-hei-se fle-hehen mei-ne Lie-hie-der« … (die Stimme bricht in einem Krampfhusten ab). Tffu! Veročka, sag doch Aksinja, sie soll uns das Gartentor aufschließen! (Pause). Veročka! Sei nicht faul, steh auf, Liebste! (stellt sich auf einen Stein und schaut zum Fenster hinein). Verunčik, Mumočka, Verevjunčik … mein Engelchen, meine unvergleichliche Ehefrau, steh auf und sag Aksinja, sie soll uns das Gartentor aufschließen! Du schläfst doch nicht! Mamočka, bei Gott, wir sind so müde und entkräftet, uns steht der Sinn nicht nach Scherzen! Ja hörst du oder nicht? Ah, hols der Teufel! (macht den Versuch, durchs Fenster zu klettern, und rutscht ab). Vielleicht sind unserm Gast diese Scherze unangenehm! Vera, ich sehe, du bist immer noch dieselbe Institutsschülerin, hast nichts als Unfug im Kopf …
– Aber vielleicht schläft Vera Stepanovna! – sagt Laev.
– Sie schläft nicht! Sie möchte wahrscheinlich, daß ich Lärm schlage und alle Nachbarn in Aufruhr versetze! Ich fange langsam an, mich zu ärgern, Vera! Ach, hols der Teufel! Hilf mir rauf, Alëša, ich klettre hinein! Ein ungezogenes Mädchen bist du, ein Schulmädchen und weiter nichts! … Hilf mir rauf!
Schnaufend hilft Laev Kozjavkin hinauf. Der klettert zum Fenster hinein und verschwindet im Dunkel des Zimmers.
– Verka! – hört Laev einen Augenblick später. – Wo bist du? Tteuffel … Tffu, ich habe mir an irgendwas die Hand beschmutzt! Tffu!
Ein Rascheln ist zu hören, Flügelschlagen und das verzweifelte Gackern eines Huhns.