Späte Blumen - Anton Cechov - E-Book

Späte Blumen E-Book

Anton Cechov

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Beschreibung

»Durch die Fenster waren nun der graue Himmel und die regennassen Bäume zu sehen. Bei so einem Wetter wusste man nicht, wohin mit sich, es blieb also nichts anderes übrig, als zu erzählen und zuzuhören.« Atmosphäre, Stimmungen, Gefühle, Beichten: Wie kein anderer vermag Cechov ganze Leben in einem Halbsatz einzufangen. Ein feiger Forsthüter, wacklige Partien und stürmische Verhältnisse: Im Herbst wird mit den Gefühlen abgerechnet. Der Lebensbogen tritt zutage.

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Anton Čechov

Späte Blumen

Herbstgeschichten

Aus dem Russischen von Peter Urban und Beate Rausch

Ausgewählt von Christine Stemmermann

Diogenes

Polinka

Es geht auf zwei Uhr nachmittags. Im Galanteriewarengeschäft »Pariser Novitäten«, in einer der Passagen, ist Hochbetrieb. Zu hören ist das monotone Stimmengewirr der Verkäufer; ein Stimmengewirr, das in der Schule vorkommt, wenn der Lehrer alle Schüler laut etwas büffeln läßt. Dieses eintönige Geräusch bricht weder das Lachen der Damen noch das Zuschlagen der gläsernen Eingangstür noch die Lauferei der Lehrlinge.

Inmitten des Geschäfts steht Polinka, Tochter von Marija Andreevna, der Inhaberin eines Mode-Ateliers, eine kleine, magere Blondine, und sucht jemanden mit den Augen. Auf sie zu eilt ein schwarzbrauiger Lehrling und fragt, indem er sie sehr ernst ansieht:

– Sie befehlen, gnädige Frau?

– Mich bedient immer Nikolaj Timofeič, – antwortet Polinka.

Und der Verkäufer Nikolaj Timofeič, ein schlanker Brünetter, onduliert, modisch gekleidet, mit einer großen Krawattennadel, hat bereits auf dem Ladentisch Platz geschaffen und sieht Polinka mit einem Lächeln an.

– Pelageja Sergeevna, meine Verehrung! – ruft er mit einem schönen, gesunden Bariton. – Wenn Sie sich hierher bemühen wollen!

– Ah, guten Tag! – sagt Polinka, auf ihn zutretend. – Sehen Sie, ich komme schon wieder zu Ihnen … Geben Sie mir irgendein Agrément.

– Wofür wird es denn gebraucht?

– Für ein Mieder, für ein Rückenteil, kurz, für eine ganze Garnitur.

– Sofort.

Nikolaj Timofeič legt Polinka einige Sorten Agrément vor; die wählt gelangweilt und beginnt zu feilschen.

– Ich bitte Sie, ein Rubel ist ganz und gar nicht zu teuer! – überzeugt sie der Verkäufer, nachsichtig lächelnd. – Das ist französisches Agrément, achtschäftig. Bitte, wir haben auch gewöhnliches, Meterware. Das kostet 45 Kopeken der Aršin, ist aber nicht von der Qualität! Ich bitte Sie!

– Außerdem brauche ich Glasperlenborte mit Agrémentknöpfen, – sagt Polinka, beugt sich über das Agrément und seufzt aus irgendeinem Grund. – Und haben Sie in dieser Farbe nicht auch Glasperlenquasten?

– O doch.

Polinka beugt sich noch tiefer über den Ladentisch und fragt leise:

– Und weshalb sind Sie, Nikolaj Timofeič, am Donnerstag so früh von uns weggegangen?

– Hm! … Seltsam, daß Sie das bemerkt haben, – sagt der Verkäufer spöttisch. – Sie waren so angetan von dem Herrn Studenten, daß … seltsam, daß Sie das bemerkt haben!

Polinka läuft feuerrot an und schweigt. Der Verkäufer schließt mit nervösem Zittern in den Fingern die Schachteln und setzt sie ohne Notwendigkeit aufeinander. Eine Minute vergeht in Schweigen.

– Außerdem brauche ich Glasperlenspitze, – sagt Polinka, die schuldbewußten Augen zu dem Verkäufer aufhebend.

– Was für welche möchten Sie? Glasperlenspitze auf Tüllgrund, schwarze und bunte, sind die modischste Verarbeitung.

– Und wie teuer sind sie bei Ihnen?

– Die schwarze ab 80 Kopeken, die bunte zu 2 R. 50 K. Und ich werde nie wieder zu Ihnen kommen, – fügt Nikolaj Timofeič leise hinzu.

– Warum nicht?

– Warum nicht? Sehr einfach. Das müssen Sie schon verstehen. Aus welchem Grunde sollte ich mich quälen? Seltsam! Ist es für mich etwa angenehm zu sehen, wie sich dieser Student vor Ihnen aufspielt? Ich sehe doch alles und verstehe. Schon seit Herbst macht er Ihnen heftigst den Hof, und Sie gehen fast jeden Tag mit ihm aus, und wenn er bei Ihnen zu Gast ist, verschlingen Sie ihn so mit den Augen, als ob er ein Engel wäre. Sie sind in ihn verliebt, für Sie gibt es keinen besseren Menschen als ihn, na wunderbar, da gibt es nichts zu reden …

Polinka schweigt und fährt in ihrer Verwirrung mit dem Finger über den Ladentisch.

– Ich sehe das alles sehr genau, – fährt der Verkäufer fort. – Was für einen Grund sollte ich haben, zu Ihnen zu kommen? Ich habe meine Selbstachtung. Nicht für jeden ist es angenehm, das fünf‌te Rad am Wagen zu sein. Wonach fragten Sie doch?

– Mamaša hat mir einige Einkäufe aufgetragen, aber ich hab schon vergessen, was. Eine Plumage brauche ich noch.

– Was für eine befehlen Sie?

– Eine bessere, die modischste.

– Die modischste ist heute aus Vogelfedern. Die Modefarbe ist heute, wenn Sie wünschen, Heliotrop oder die Farbe Canaque, das heißt Bordeaux mit Gelb. Eine Riesenauswahl. Aber wohin diese ganze Geschichte führen soll, verstehe ich ganz und gar nicht. Sie haben sich verliebt, und womit wird das enden?

Auf Nikolaj Timofeičs Gesicht treten rund um die Augen rote Flecken. Er zerknüllt die zarte buschige Borte in den Händen und fährt zu murmeln fort:

– Sie stellen sich vor, ihn zu heiraten, ja? Nun, was das angeht – lassen Sie Ihre Vorstellung fahren. Studenten ist verboten zu heiraten, und kommt er vielleicht zu Ihnen, um alles auf ehrbare Art zu beenden? Von wegen! Denn sie, diese Studenten, halten unsereinen doch nicht mal für Menschen … Sie gehen zu Kauf‌leuten und zu Modistinnen nur, um sich über die Ungebildetheit lustig zu machen und sich vollaufen zu lassen. Bei sich zu Hause und in guten Häusern schämt man sich zu trinken, ja, aber bei so einfachen, ungebildeten Leuten wie uns braucht man sich nicht zu schämen, da kann man sogar auf den Händen gehen. Jawohl! Also welche Plumage wollen Sie nehmen? Und wenn er Ihnen den Hof macht und Liebe vorspielt, dann ist doch klar, weshalb … Wenn er ein Arzt geworden ist oder ein Advokat, wird er sich erinnern: »Ach, ich hatte mal eine kleine Blondine! wird er sagen. Wo sie jetzt wohl ist?« Wahrscheinlich brüstet er sich jetzt schon dort, zu Hause, unter den Studenten, daß er eine kleine Modistin an der Angel hat.

Polinka setzt sich auf einen Stuhl und blickt nachdenklich auf den Berg weißer Schachteln.

– Nein, ich nehme doch keine Plumage! – seufzt sie. – Soll Mamaša selbst eine kaufen, die sie möchte, ich könnte die falsche nehmen. Mir geben Sie sechs Aršin Franse für einen Diplomaten, die zu 40 Kopeken der Aršin. Für denselben Diplomaten geben Sie mir Kokosknöpfe mit Ösen zum Annähen … damit sie fester halten …

Nikolaj Timofeič wickelt ihr die Franse und die Knöpfe ein. Sie blickt ihm schuldbewußt ins Gesicht und wartet offenbar darauf, daß er weiterspricht, aber er schweigt mürrisch und bringt die Plumage in Ordnung.

– Die Knöpfe für das Capot darf ich nicht vergessen … – sagt sie nach einigem Schweigen und wischt sich mit dem Taschentuch die bleichen Lippen.

– Was für welche möchten Sie?

– Wir nähen für eine Kaufmannsfrau, das heißt, geben Sie mir etwas, das vom Gewöhnlichen absticht …

– Ja, wenn es für eine Kaufmannsfrau ist, wählt man am besten etwas möglichst Buntes. Hier die Knöpfe. Eine Farbkombination aus Dunkelblau, Rot und modischem Gold. Das sind die auf‌fälligsten. Wer etwas dezenter ist, kauft bei uns matte in Schwarz, nur mit einem glänzenden Rand. Aber ich verstehe nicht. Können Sie das nicht selbst beurteilen? Wohin führen denn diese … Spaziergänge?

– Ich weiß es selbst nicht … – flüstert Polinka und beugt sich über die Knöpfe. – Ich weiß selbst nicht, was mit mir geschieht, Nikolaj Timofeič.

Hinter Nikolaj Timofeičs Rücken, ihn an den Ladentisch drückend, zwängt sich ein dicker Verkäufer mit Backenbart vorbei, und strahlend von raffiniertester Galanterie ruft er:

– Seien Sie so liebenswürdig, Madame, sich in diese Abteilung zu bemühen. Jerseyblusen haben wir in drei Ausführungen: glatte, mit Soutache und mit Glasperlen! Was für eine befehlen Sie?

Gleichzeitig geht an Polinka eine dicke Dame vorüber, die mit dichter, tiefer Stimme spricht, beinahe im Baß:

– Nur bitte, sie sollten nicht genäht, sondern gewebt sein und mit eingeprägtem Warenzeichen.

– Tun Sie so, als würden Sie die Ware mustern, – flüstert Nikolaj Timofeič, zu Polinka vorgebeugt und gezwungen lächelnd. – Gott steh Ihnen bei, Sie sind so bleich und krank, Sie haben sich völlig verändert. Er wird Sie sitzenlassen, Pelageja Sergeevna! Und wenn er Sie einmal heiratet, dann nicht aus Liebe, sondern aus Hunger, auf Ihr Geld ist er aus. Er wird sich mit Ihrer Mitgift eine anständige Einrichtung schaffen, und danach wird er sich Ihrer schämen. Vor Gästen und Kollegen wird er Sie verstecken, weil Sie ungebildet sind, und wird sagen: mein Trampel. Können Sie sich in Gesellschaft von Ärzten und Advokaten etwa benehmen? Für die sind Sie eine Modistin, ein ungebildetes Geschöpf!

– Nikolaj Timofeič! – ruft jemand vom anderen Ende des Geschäfts. – Mademoiselle wünschen drei Aršin Band mit Picot. Haben wir das?

Nikolaj Timofeič wendet sich zur Seite, verzieht das Gesicht zu einem Lächeln und ruft:

– Haben wir! Wir haben Band mit Picot, Ataman mit Atlas und Atlas mit Moiré.

– Übrigens, damit ich es nicht vergesse, Olga bat darum, ein Korsett für sie zu kaufen! – sagt Polinka.

– In Ihren Augen stehen … Tränen! – erschrickt Nikolaj Timofeič … – Weshalb das? Gehen wir zu den Korsetts. Ich werde mich vor Sie stellen, sonst wird es peinlich.

Gezwungen lächelnd und mit übertriebener Ungezwungenheit führt der Verkäufer sie schnell in die Korsettabteilung und versteckt sie vor den Kunden hinter einer hohen Pyramide aus Schachteln …

– Was für ein Korsett befehlen Sie? – fragt er laut und flüstert gleich darauf: – Wischen Sie sich die Augen!

– Ich … ich brauche 48 Zentimeter! Nur, bitte, sie bat um eines mit doppeltem Futter … echtes Fischbein … Ich muß mit Ihnen sprechen, Nikolaj Timofeič. Kommen Sie heute!

– Sprechen worüber? Es gibt nichts zu besprechen.

– Nur Sie allein … lieben mich, außer Ihnen habe ich niemanden, mit dem ich sprechen könnte.

– Kein Schilfrohr, kein Knochen, sondern echtes Fischbein … Worüber sollen wir denn sprechen? Es gibt nichts zu besprechen … Denn Sie gehen doch heute wieder mit ihm spazieren?

– J… ja.

– Was gibt es da also noch zu besprechen? Mit Gesprächen ändert man nichts … Sie sind doch verliebt?

– Ja … – flüstert Polinka unschlüssig, und aus ihren Augen stürzen dicke Tränen.

– Was kann es da für Gespräche geben? – murmelt Nikolaj Timofeič, zuckt nervös die Achseln und erbleicht. – Gespräche sind überflüssig … Wischen Sie sich die Augen und Schluß. Ich … ich will gar nichts …

In diesem Augenblick tritt auf die Pyramide aus Schachteln ein großer dürrer Verkäufer und sagt zu seiner Kundin:

– Wäre nicht ein schönes Gummiband für Strumpfhalter gefällig, das das Blut nicht staut, medizinisch anerkannt …

Nikolaj Timofeič stellt sich vor Polinka und fältelt beim Versuch, sie und die eigene Aufregung zu verbergen, das Gesicht zu einem Lächeln und sagt laut:

– Es gibt zwei Sorten Spitzen, gnädige Frau! Aus Baumwolle und aus Seide! Orientalische, britische, Valenciennes, Crochet, Trochon – das sind die baumwollenen, und Rokoko, Soutache, Cambrai – das sind die seidenen … Um Gottes willen, wischen Sie sich die Tränen ab! Da kommt jemand!

Und da er sieht, daß die Tränen immer noch fließen, fährt er noch lauter fort:

– Spanische, Rokoko, Soutache, Cambrai … Strümpfe f‌il d’écosse, Baumwolle, Seide …

Stachelbeeren

Seit dem frühen Morgen überzogen den ganzen Himmel Regenwolken; es war still, nicht heiß und langweilig, wie es an grauen trüben Tagen zu sein pflegt, wenn über dem Feld schon lange die Wolken hängen, man auf den Regen wartet, und er nicht kommt. Der Veterinär Ivan Ivanyč und Gymnasiallehrer Burkin waren vom Gehen bereits erschöpft, und die Ebene erschien ihnen unendlich. Weit voraus waren die Windmühlen des Kirchdorfs Mironosickoe schwach zu erkennen, rechts hinter dem Dorf erstreckte sich eine Hügelkette und verschwand in der Ferne, und beide wussten, dass dort das Flussufer ist, wo es Wiesen, grüne Weiden, Gutshöfe gibt, und wenn man einen der Hügel erklimmt, so sieht man von dort eine ebenso riesige Ebene, Telegraphenmasten und den Zug, der von weitem einer kriechenden Raupe gleicht, bei klarem Wetter sieht man sogar die Stadt. Jetzt, bei dem stillen Wetter, da die ganze Natur sanft und nachdenklich erschien, waren Ivan Ivanyč und Burkin durchdrungen von Liebe zu dieser weiten Ebene, und beide dachten, wie groß, wie schön dieses Land doch sei.

– Voriges Mal, im Schuppen von Vater Prokof‌ij, – sagte Burkin, – wollten Sie mir eine Geschichte erzählen.

– Ja, da wollte ich von meinem Bruder erzählen.

Ivan Ivanyč seufzte gedehnt und rauchte sein Pfeifchen an, um mit der Erzählung zu beginnen, doch gerade da fing es an zu regnen. Und fünf Minuten später ging bereits heftiger Regen, ein Landregen, nieder, und es war schwer abzusehen, wann er aufhören würde. Ivan Ivanyč und Burkin blieben nachdenklich stehen; die Hunde, bereits durchnässt, standen mit eingeklemmten Schwänzen und schauten sie ergeben an.

– Wir müssen uns irgendwo unterstellen, – sagte Burkin. – Gehen wir zu Alëchin. Hier in der Nähe.

– Gehen wir.

Sie bogen seitlich ab und gingen über abgeerntetes Feld, bald geradeaus, bald sich rechts haltend, bis sie an die Straße kamen. Bald zeigten sich Pappeln, ein Garten, dann rote Speicherdächer; der Fluss blinkte auf, und es öffnete sich der Blick auf einen breiten Uferstreifen mit einer Mühle und einer weißen Badeanstalt. Das war Sofjino, wo Alëchin lebte.

Die Mühle lief, das Rauschen des Regens übertönend; das Wehr bebte. Hier, bei den Telegen, standen, die Köpfe gesenkt, nasse Pferde und gingen Menschen, die sich Säcke umgehängt hatten. Es war feucht, schlammig, ungemütlich, und der Anblick des Uferstreifens war kalt, böse. Ivan Ivanyč und Burkin verspürten die Nässe, die Unsauberkeit und Unbehaglichkeit bereits am ganzen Körper, die Füße wurden schwer vom Schlamm, und als sie das Wehr überquert hatten und zu den herrschaftlichen Speichern hinaufstiegen, schwiegen sie, als seien sie einander böse.

In einem der Speicher ratterte die Kornschwinge; die Tür stand offen, und aus ihr drangen Schwaden von Staub. Auf der Schwelle stand Alëchin selbst, ein Mann von etwa vierzig Jahren, hochgewachsen, stämmig, mit langen Haaren, eher einem Professor oder einem Künstler ähnlich denn einem Gutsbesitzer. Er hatte ein weißes, lange nicht mehr gewaschenes Hemd an, mit einer Schnur gegürtet, statt Hosen Unterhosen, und an seinen Stiefeln klebten Schlamm und Stroh. Nase und Augen waren schwarz vor Staub. Er erkannte Ivan Ivanyč und Burkin und schien sich zu freuen.

– Gehen Sie ins Haus, meine Herren, – sagte er lächelnd. – Ich komme gleich nach, sofort.

Das Haus war groß, zweistöckig. Alëchin wohnte unten, in zwei Zimmern mit Gewölbedecken und kleinen Fenstern, wo früher der Verwalter gewohnt hatte; die Einrichtung war schlicht, und es roch nach Roggenbrot, billigem Vodka und Pferdegeschirren. Oben, in den Paraderäumen, war er selten, nur, wenn Gäste kamen. Ivan Ivanyč und Burkin empfing das Dienstmädchen, eine junge Frau, so hübsch, dass beide stehen blieben und sich einen Blick zuwarfen.

– Sie können sich nicht vorstellen, meine Herrn, wie ich mich freue, Sie zu sehen, – sagte Alëchin, der nach ihnen den Flur betrat. – Das hatte ich nicht erwartet! Pelageja, – wandte er sich an das Dienstmädchen, – geben Sie den Gästen etwas zum Umziehen. Bei der Gelegenheit will auch ich mich umziehen. Nur muss ich mich vorher waschen, mir scheint, ich habe mich seit dem Frühjahr nicht mehr gewaschen. Wollen Sie nicht mitkommen in die Badeanstalt, während hier alles vorbereitet wird?

Die hübsche Pelageja, so appetitlich und äußerlich so zart, brachte Laken und Seife, und Alëchin ging mit den Gästen in die Badeanstalt.

– Ja, ich habe mich lange nicht mehr gewaschen, – sagte er, während er sich auszog. – Meine Badeanstalt ist gut, wie Sie sehen, hat noch mein Vater gebaut, aber um mich zu waschen, habe ich irgendwie nie die Zeit.

Er setzte sich auf die Stufe und seif‌te seine langen Haare und den Hals ein, und das Wasser um ihn her wurde braun.

– Ja, zugegeben … – begann Ivan Ivanyč bedeutsam, mit einem Blick auf dessen Kopf.

– Ich habe mich lange nicht mehr gewaschen … – wiederholte Alëchin verlegen, seif‌te sich nochmals ein, und das Wasser um ihn her wurde dunkelblau, wie Tinte.

Ivan Ivanyč ging hinaus, warf sich klatschend ins Wasser und schwamm ein Stück im Regen, weit mit den Armen ausholend, von denen Wellen ausgingen, und auf den Wellen schaukelten die weißen Lilien; er schwamm bis zur Mitte des Flusses und tauchte, erschien einen Augenblick später an einer anderen Stelle und schwamm, ständig tauchend, weiter, als wolle er auf den Grund kommen. »Ach, mein Gott … – wiederholte er genießerisch. – Ach, mein Gott … –« Er schwamm bis zur Mühle, sprach dort über etwas mit den Bauern und machte kehrt, um sich mitten im Fluss auf den Rücken zu legen und sein Gesicht dem Regen auszusetzen. Burkin und Alëchin waren bereits angekleidet und wandten sich zum Gehen, doch er schwamm und tauchte noch immer.

– Ach, mein Gott … – wiederholte er. – Ach, Herrgott, erbarme dich.

– Genug jetzt! – rief Burkin ihm zu.

Sie kehrten zurück ins Haus. Und erst als oben im großen Salon die Lampe angezündet worden war, und Burkin und Ivan Ivanyč, in seidene Chalats und warme Pantoffeln gekleidet, in den Sesseln saßen und Alëchin selbst, gewaschen, frisiert, im neuen Rock durch den Salon kam, mit sichtlichem Behagen die Wärme verspürend, die Sauberkeit, die trockenen Kleider, das leichte Schuhwerk, und als die hübsche Pelageja, lautlos auf dem Teppich auf‌tretend und weich lächelnd, auf einem Tablett Tee und Varenje serviert hatte, schritt Ivan Ivanyč zu seiner Erzählung, und es schien, als hörten ihm nicht nur Burkin und Alëchin zu, sondern auch die alten und jungen Damen und Militärs, die ruhig und streng aus ihren Goldrahmen herabblickten.

– Wir sind zwei Brüder, – begann er, – ich, Ivan Ivanyč, und der andere, Nikolaj Ivanyč, zwei Jahre jünger. Ich wählte das gelehrte Fach, wurde Veterinär, Nikolaj dagegen saß von seinem neunzehnten Lebensjahr an im Kameralhof. Unser Vater, Čymša-Gimalajskij, war Kantonist, aber nachdem er sich bis zum Offizier hinaufgedient hatte, hinterließ er uns den erblichen Adel und ein elendes kleines Gut. Nach seinem Tod wurde uns dieses Gut wegprozessiert, schuldenhalber, doch wie dem auch sei, unsere Kindheit hatten wir auf dem Lande in Freiheit verbracht. Wir lebten wie die Bauernkinder, verbrachten Tage und Nächte im Freien, im Wald, hüteten die Pferde, schälten Bast, fischten und dergleichen mehr … Und wissen Sie, wer einmal im Leben einen Barsch gefangen oder im Herbst den Zug der Drosseln beobachtet hat, wie sie an klaren kühlen Tagen scharenweise über dem Dorf dahinziehen, der taugt nicht mehr zum Städter, den zieht es bis zu seinem Tode in die Freiheit. Mein Bruder in seinem Kameralhof hatte Sehnsucht. Die Jahre vergingen, aber er saß noch immer auf demselben Platz, schrieb dieselben Papiere ab und dachte nur immer an dasselbe: zurück aufs Land. Und diese seine Sehnsucht mündete allmählich in den festen Wunsch, den Traum, sich einen kleinen Gutshof zu kaufen, irgendwo am Ufer eines Flusses oder eines Sees.

Er war ein gutmütiger, sanfter Mensch, ich liebte ihn, doch diesen seinen Wunsch, mich für mein ganzes Leben im eigenen Gutshof einzusperren, habe ich nie geteilt. Man sagt im Allgemeinen, der Mensch bräuchte nur drei Aršin Erde. Aber drei Aršin braucht nur der Leichnam, nicht der Mensch. Und man sagt auch, es sei gut, wenn unsere Intelligenz nach Landbesitz und Gutshöfen strebe. Aber diese Gutshöfe sind doch dasselbe wie diese drei Aršin. Aus der Stadt weggehen, sich aus dem Kampf zurückziehen, vor dem Lärm des Lebens fliehen und sich auf einem Gutshof verstecken – das ist nicht Leben, das ist Egoismus, ist Faulheit, das ist eine Art Mönchstum, aber ein Mönchstum ohne Taten. Der Mensch braucht keine drei Aršin Erde, keinen Gutshof, sondern den ganzen Erdball, die ganze Natur, wo er alle Eigenschaften und Besonderheiten seines freien Geistes uneingeschränkt entfalten kann.

Mein Bruder Nikolaj, während er in seiner Kanzlei saß, träumte davon, seine eigenen Šči zu essen, die ihren schmackhaften Geruch über den ganzen Hof verbreiten, sie im grünen Gras zu essen, in der Sonne zu schlafen, stundenlang vor dem Tor auf dem Bänkchen zu sitzen und auf Feld und Wald zu blicken. Landwirtschaftliche Broschüren und all die Ratschläge in Kalendern waren seine Freude, seine geistige Lieblingsnahrung; er las auch gern Zeitungen, las darin aber nur die Anzeigen, denen zufolge so und so viele Desjatinen Ackerland und Wiesen zum Verkauf stünden, mit Gutshof, Fluss, Garten, Mühle, Fließwasserteichen. Und in seiner Vorstellung malte er sich die Gartenwege aus, die Blumen, das Obst, Starkästen, Karauschen in den Teichen und, Sie wissen schon, lauter so Dinge. Die Bilder, die er sich in seiner Vorstellung ausmalte, waren unterschiedlich, je nach den Anzeigen, die ihm ins Auge fielen, aber aus irgendeinem Grunde kamen in jedem von ihnen Stachelbeeren vor. Keinen Gutshof, keinen poetischen Winkel, den er sich ohne Stachelbeeren hätte vorstellen können.

– Das Landleben hat seine Annehmlichkeiten, – sagte er oft. – Du sitzt auf dem Balkon, trinkst Tee, und auf dem Teich schwimmen deine Entlein, es riecht so gut und … und die Stachelbeeren wachsen.

Er skizzierte den Plan seines Gutes, und jeder Plan lief auf dasselbe hinaus: a) Herrenhaus, b) Gesindestube, c) Gemüsegarten, d) Stachelbeeren. Er führte ein geiziges Leben: Er aß zu wenig, trank zu wenig, kleidete sich weiß Gott wie, wie ein Bettler, sparte beständig und legte das Geld auf die Bank. Er war schrecklich habgierig. Mir tat es weh, wenn ich ihn so sah, und ich steckte ihm manchmal etwas zu und schickte ihm etwas an den Feiertagen, aber er versteckte auch das. Ist der Mensch erst einmal von einer Idee besessen, dann kannst du nichts machen.

Die Jahre vergingen, man hatte ihn in ein anderes Gouvernement versetzt, er war schon über vierzig, doch er las immer noch die Zeitungsanzeigen und sparte. Dann höre ich, er habe geheiratet. Immer noch mit demselben Ziel, sich einen Gutshof mit Stachelbeeren zu kaufen, hatte er eine hässliche alte Witwe geheiratet, ohne jegliches Gefühl, und nur deshalb, weil sie Geld hatte. Auch mit ihr führte er ein geiziges Leben, ließ sie halb verhungern, ihr Geld aber legte er auf die Bank, auf seinen Namen. Früher war sie mit einem Postmeister verheiratet gewesen und war bei dem an Piroggen und Liqueur gewöhnt, bei ihrem zweiten Mann bekam sie nicht einmal genug Roggenbrot zu sehen; bei einem solchen Leben begann sie dahinzusiechen, und drei Jahre später befahl sie ihre Seele Gott. Und natürlich kam mein Bruder keinen Augenblick auf den Gedanken, er könne schuld sein an ihrem Tod. Geld macht den Menschen, wie der Vodka, zum Kauz. Bei uns in der Stadt lag einmal ein Kaufmann im Sterben. Vor seinem Tod ließ er sich einen Teller Honig bringen und aß mit dem Honig all sein Geld und seine Gewinnlose auf, nur damit sie niemand bekam. Einmal inspizierte ich auf dem Bahnhof die Viehhürden, und gerade da geriet ein Viehhändler unter eine Lokomotive, ihm wurde ein Bein abgerissen. Wir tragen ihn in den Wartesaal, das Blut fließt in Strömen – schrecklich, aber er bettelt und bettelt, man möge sein Bein suchen, und macht sich große Sorgen; im Stiefel des abgerissenen Beins stecken zwanzig Rubel, damit die nur ja nicht verlorengehn.

– Das ist aber schon eine Arie aus einer andern Oper, – sagte Burkin.

– Nach dem Tod seiner Frau, – fuhr Ivan Ivanyč nach halbminütigem Nachdenken fort, – begann mein Bruder, sich ein Gut auszusuchen. Natürlich begeht man, selbst wenn man fünf Jahre sucht, einen Fehler und kauft am Ende nicht das, wovon man geträumt hat. Mein Bruder Nikolaj kauf‌te über einen Kommissionär, mit Übernahme der Schulden, einhundertundzwölf Desjatinen Land mit Herrenhaus, Gesindestube, mit einem Park, aber ohne Obstgarten, ohne Stachelbeeren, ohne den Teich mit den Entlein; es gab einen Fluss, aber das Wasser hatte die Farbe von Kaffee, denn auf der einen Seite des Gutes war eine Ziegelei, auf der andern – eine Knochenbrennerei. Doch meinen Nikolaj Ivanyč bekümmerte das wenig; er verschrieb zwanzig Stachelbeersträucher, pflanzte sie und begann das Leben eines Gutsbesitzers.

Im vergangenen Jahr fuhr ich ihn besuchen. Fahr doch mal hin, denke ich, und schau nach, wie es da so aussieht. In seinen Briefen nannte mein Bruder sein Gut so: Čumbaroklover Jauch, Himalajskoe auch. Ich kam in diesem »Himalajskoe auch« am Nachmittag an. Es war heiß. Überall Gräben, Zäune, Flechtzäune, in Reihen gepflanzte Fichten, – keine Ahnung, wie man auf den Hof fahren, wo man das Pferd lassen kann. Ich gehe zum Haus, mir entgegen trottet ein rothaariger Hund, dick wie ein Schwein. Er möchte bellen, ist aber zu faul. Aus der Küche kam die Köchin, barfuß, auch sie dick wie ein Schwein, und sagte, der Barin ruhe nach dem Essen. Ich gehe zu meinem Bruder hinein, er sitzt im Bett, das Deckbett auf den Knien; er ist gealtert, dick geworden, aufgedunsen, Wangen, Nase und Lippen vorgewölbt, – es fehlt nicht viel und er grunzt in sein Deckbett.

Wir umarmten uns und weinten vor Freude, bei dem traurigen Gedanken, dass wir einmal jung gewesen und jetzt beide ergraut waren, und dass es bald Zeit sei zu sterben. Er kleidete sich an und führte mich zu einem Rundgang über sein Gut.

– Nun, und wie lebst du hier so? – fragte ich.

– Es geht, Gott sei Dank, gut lebe ich.

Das war nicht mehr der frühere arme Schlucker von einem schüchternen Beamten, sondern ein echter Gutsbesitzer, ein Barin. Er hatte sich hier eingelebt, eingewöhnt und war auf den Geschmack gekommen; er aß viel, wusch sich in der Banja, nahm zu, prozessierte bereits mit der Gesellschaft und mit beiden Fabriken und war zutiefst beleidigt, wenn ihn die Bauern nicht mit »Euer Hochwohlgeboren« ansprachen. Auch um sein Seelenheil war er sehr besorgt, auf Herrenart, und gute Werke verrichtete er nicht einfach so, sondern mit großer Geste. Und was für gute Werke waren das? Er behandelte die Bauern gegen alle Krankheiten mit Soda und Rizinus und ließ an seinem Namenstag mitten im Dorf einen Dankgottesdienst abhalten, dann stellte er einen halben Eimer Vodka hin, denn er dachte, das müsse so sein. Ach, diese schrecklichen halben Eimer! Heute schleppt der dicke Gutsbesitzer die Bauern wegen Flurschadens vor das Zemstvo, morgen, am Feiertag, stellt er ihnen den halben Eimer hin, sie trinken und schreien hurra! und, betrunken, verbeugen sie sich vor ihm bis zu den Füßen. Die Veränderung des Lebens zum Bessern, Sattheit und Müßiggang führen beim Russen zu Dünkel, dem unverschämtesten Dünkel. Nikolaj Ivanyč, der sich früher im Kameralhof gefürchtet hatte, eigene Ansichten zu haben, verkündete heute nichts als Wahrheiten, und das in einem Ton, als sei er Minister: »Bildung tut not, für das Volk aber kommt sie zu früh«, »Körperstrafen sind im Allgemeinen schädlich, in gewissen Fällen aber sind sie nützlich und durch nichts zu ersetzen«.

– Ich kenne das Volk und weiß mit ihm umzugehen, – pflegte er zu sagen. – Mich liebt das Volk. Ich brauche nur den Finger zu rühren, und das Volk tut für mich alles, was ich will.

Und gesagt wurde das alles, wohlgemerkt, mit einem klugen, gutmütigen Lächeln. Wohl zwanzigmal wiederholte er »wir Adeligen«, »ich als Adeliger«; offenbar war ihm bereits entfallen, dass unser Großvater Bauer gewesen war; und unser Vater ein einfacher Soldat. Sogar unser Familienname Čymša-Gimalajskij, der im Grunde widersinnig ist, erschien ihm heute klangvoll, stattlich und sehr angenehm.

Aber es geht hier nicht um ihn, sondern um mich. Ich will Ihnen erzählen, welche Veränderung sich in mir vollzog während der wenigen Stunden, die ich auf seinem Gutshof war. Abends, als wir Tee tranken, brachte die Köchin einen Teller voll Stachelbeeren an den Tisch. Es waren keine gekauf‌ten, sondern seine eigenen Stachelbeeren, zum ersten Mal gepflückt, seit die Sträucher gepflanzt worden waren. Nikolaj Ivanyč fing an zu lachen, betrachtete eine Minute lang schweigend, unter Tränen die Stachelbeeren, – vor Erregung konnte er nicht sprechen, dann steckte er eine Beere in den Mund, schaute mich an mit dem Triumph eines Kindes, das endlich sein Lieblingsspielzeug erhalten hat, und sagte:

– Die schmecken!

Und gierig aß er und wiederholte immer wieder:

– Ach, wie die schmecken! Probier!

Sie waren hart und sauer, aber, wie Puškin sagt, »teurer als die Wahrheiten alle ist uns der Trug, der uns erhebt«. Ich sah einen glücklichen Menschen, dessen unveräußerlicher Traum in Erfüllung gegangen war, der das Ziel seines Lebens erreicht, der erhalten hatte, was er wollte, und der zufrieden war mit seinem Schicksal, mit sich selbst. Meinem Denken an das menschliche Glück war aus irgendeinem Grunde immer etwas Trauriges unterlegt, jetzt jedoch, beim Anblick dieses glücklichen Menschen, überkam mich ein bedrückendes Gefühl, nahe der Verzweif‌lung. Besonders bedrückend war es in der Nacht. Man hatte mir das Bett im Zimmer neben dem Schlafzimmer meines Bruders aufgeschlagen, und ich konnte hören, wie er nicht schlief, sondern wie er immer wieder aufstand und zu dem Teller mit den Stachelbeeren ging und sich eine Beere nahm. Ich führte mir vor Augen: wie viele zufriedene, glückliche Menschen es im Grunde doch gibt! Was für eine erdrückende Übermacht! Werfen Sie einen Blick auf dieses Leben: Unverschämtheit und Müßiggang der Starken, Unwissenheit und Barbarei der Schwachen, ringsum unmögliche Armut, Enge, Entartung, Trunksucht, Heuchelei, Lügen … Aber in allen Häusern und auf den Straßen Stille, Ruhe; unter den fünfzigtausend derer, die in der Stadt leben, kein Einziger, der aufschreien, der sich laut empören würde. Wir sehen sie, die zum Einkaufen auf den Markt gehen, die tagsüber essen, nachts schlafen, Unsinn daherreden, heiraten, altern, ihre Verstorbenen ergeben auf den Friedhof schleppen, aber wir sehen und hören nicht diejenigen, die leiden, und das, was im Leben Angst macht, geschieht irgendwo hinter den Kulissen. Alles ist still, ist ruhig, das Einzige, was protestiert, ist die stumme Statistik: so und so viele sind wahnsinnig geworden, so und so viele Eimer sind getrunken worden, so und so viele Kinder an Unterernährung gestorben … Und solch eine Ordnung ist offenbar notwendig; offenbar fühlt der Glückliche sich nur deshalb wohl, weil die Unglücklichen ihre Bürde schweigend tragen, ohne dieses Schweigen wäre das Glück unmöglich. Das ist eine allgemeine Hypnose. Vor der Tür jedes zufriedenen, glücklichen Menschen müsste jemand mit einem Hämmerchen stehen und ihn durch sein Klopfen beständig daran erinnern, dass es Unglückliche gibt, dass ihm das Leben, so glücklich er auch sein mag, früher oder später die Krallen zeigen, dass auch ihn das Unglück ereilen kann – Krankheit, Armut, Verluste –, und dass auch ihn dann niemand sehen und hören wird, so wie er heute die anderen nicht sieht und nicht hört. Aber den Menschen mit dem Hämmerchen gibt es nicht, der Glückliche lebt vor sich hin, die kleinen Sorgen des Lebens bewegen ihn nur leicht, wie der Wind die Espe, – und alles steht zum Besten.

– In jener Nacht wurde mir klar, wie zufrieden und glücklich auch ich war, – fuhr Ivan Ivanyč fort und stand auf. – Auch ich habe bei Tisch und auf der Jagd Lehren erteilt, wie man leben, wie man glauben, wie man das Volk regieren solle. Auch ich habe immer wieder gesagt, das Lernen sei das Licht, Bildung tue not, doch für die einfachen Menschen reiche vorerst, lesen und schreiben zu können. Die Freiheit sei ein hohes Gut, sagte ich, ohne sie könne man, wie ohne Luft, nicht leben, aber man müsse damit noch warten. Ja, so habe auch ich gesprochen, aber jetzt frage ich: warten im Namen wovon? – fragte Ivan Ivanyč mit einem zornigen Blick auf Burkin. – Warten im Namen wovon, frage ich Sie? Im Namen welcher Erwägungen? Man sagt mir, es ginge nicht alles auf einmal, jede Idee verwirkliche sich schrittweise, zu ihrer Zeit. Aber wer sagt das? Wo sind die Beweise dafür, dass das richtig wäre? Man beruft sich auf die natürliche Ordnung der Dinge und die Gesetzmäßigkeit ihrer Erscheinungen, aber liegen Ordnung und Gesetzmäßigkeit etwa darin, dass ich als denkender Mensch vor einem Graben stehend warte, bis er von selbst zuwächst oder vom Schlamm zugeschwemmt wird, während ich über ihn hinwegspringen oder eine Brücke bauen könnte? Noch einmal: warten im Namen wovon? Warten, bis man zum Leben keine Kraft mehr hat, wo man doch leben muss und leben will!

Ich verließ meinen Bruder frühmorgens, und seitdem war es mir unerträglich, in der Stadt zu leben. Mich bedrücken diese Stille und Ruhe, ich fürchte mich, zu den Fenstern hineinzuschauen, denn es gibt für mich heute kein bedrückenderes Schauspiel als den Anblick einer glücklichen Familie, die um den Tisch versammelt sitzt und Tee trinkt. Ich bin schon alt und tauge nicht mehr zum Kampf, ich bin sogar unfähig zu hassen. Es bekümmert mich in der Seele, es reizt, es ärgert mich, nachts brennt mir der Kopf unter dem Ansturm der Gedanken, und ich kann nicht einschlafen … Ach, wenn ich doch noch jung wäre!

Ivan Ivanyč ging erregt im Zimmer auf und ab und wiederholte:

– Wenn ich doch noch jung wäre!

Plötzlich trat er auf Alëchin zu und begann, ihm bald die eine, bald die andere Hand zu drücken.

– Pavel Konstantinyč, – begann er mit flehentlicher Stimme, – lassen Sie sich nicht beruhigen, lassen Sie sich nicht einschläfern! Solange Sie jung, stark und munter sind, werden Sie nicht müde, das Gute zu tun! Es gibt das Glück nicht und darf es nicht geben, und wenn das Leben einen Sinn und ein Ziel hat, so liegen dieser Sinn und dieses Ziel mitnichten in unserem Glück, sondern in etwas Vernünftigerem und Größerem. Tun Sie das Gute!

Und all das sagte Ivan Ivanyč mit einem kläglichen, bittenden Lächeln, so als bitte er um etwas für sich persönlich.

Danach saßen alle drei in ihren Sesseln, in verschiedenen Ecken des Salons, und schwiegen. Ivan Ivanyčs Erzählung hatte weder Burkin noch Alëchin befriedigt. Während aus ihren Goldrahmen die Generäle und Damen herabblickten, die in der Dämmerung lebendig zu sein schienen, der Erzählung von einem armen Beamten zuzuhören, der Stachelbeeren isst, war langweilig. Gesprochen und gehört hätte man irgendwie lieber von eleganten Menschen, von Frauen. Und dass sie in einem Salon saßen, wo alles – der Kronleuchter in seiner Hülle, die Sessel, die Teppiche unter den Füßen – davon sprach, dass hier früher einmal ebendie Menschen, die aus den Rahmen herabblickten, gegangen waren, gesessen und Tee getrunken hatten, und dass heute hier die hübsche Pelageja umherging, – all das war schöner als alle Erzählungen.

Alëchin war sehr müde; der Wirtschaft halber war er früh aufgestanden, in der dritten Morgenstunde, und jetzt fielen ihm die Augen zu, doch er fürchtete, die Gäste könnten in seiner Abwesenheit etwas Interessantes erzählen, und ging nicht. Ob klug, ob richtig war, was Ivan Ivanyč eben gesagt hatte, suchte er nicht zu ergründen; die Gäste sprachen nicht von Graupen, nicht von Heu, nicht von Tee, sondern von etwas, das zu seinem Leben keine unmittelbare Beziehung besaß, und er war froh und wollte, sie führen darin fort.

– Aber es ist Schlafenszeit, – sagte Burkin und erhob sich. – Erlauben Sie mir, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen.

Alëchin verabschiedete sich und ging zu sich nach unten, die Gäste blieben oben. Ihnen beiden hatte man für die Nacht ein großes Zimmer zugewiesen, in dem zwei alte Holzbetten mit geschnitzten Verzierungen standen und in der Ecke ein Kruzifix aus Elfenbein hing; ihre Betten, breit und kühl, von der hübschen Pelageja bezogen, rochen angenehm nach frischer Wäsche.

Ivan Ivanyč entkleidete sich schweigend und legte sich hin.

– Herrgott, vergib uns Sündern! – sagte er und deckte sich bis über beide Ohren zu.

Sein Pfeifchen, das auf dem Tisch liegengeblieben war, roch stark nach Tabakasche, und Burkin schlief lange nicht ein und konnte lange nicht begreifen, woher dieser strenge Geruch kam.

Der Regen klopf‌te die ganze Nacht an die Fenster.

Unangenehme Geschichte

– Dein Herz, Kutscher, ist von Teer verklebt. Du, Freund, bist nie verliebt gewesen, deshalb kannst du meine Psychik auch nicht begreifen. Dieser Regen kann den Brand in meiner Seele nicht löschen, so wie die Feuerwehr die Sonne nicht löschen kann. Hols der Teufel, wie poetisch ich mich ausdrücke! Du, Kutscher, bist nicht zufällig Poet?

– Nichts da.

– Na siehst du …

Žirkov ertastete schließlich das Portemonnaie in seiner Tasche und machte sich ans Bezahlen.