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Ein gutes Leben ist die beste Rache!
Falk Lutter ist vierzehn, etwas blauäugig und zu dick, als seine Eltern 1980 mit ihm und seiner Schwester nach einem Balaton-Urlaub in den goldenen Westen fliehen. Doch nur er und seine Mutter kommen auch an. Und was der Dresdener Junge dort erlebt, ist ein Kulturschock: Cool sein ist die Devise seiner neuen West-Berliner Mitschüler – eine Coolness, die während der Abi-Abschlussfahrt in einem Drama mündet. Und »Cool sein« heißt auch sein Sommerhit, der in den 90er Jahren die Tanzflächen rockt.
Jahre später gibt es ein Klassentreffen. Falk nennt sich jetzt Martin Gold und ist ein Star, der weiß, was er will und den niemand mehr so richtig auf dem Schirm hat. Der Tag der Abrechnung ist gekommen ...
Vom „Tal der Ahnungslosen“ ins West-Berlin der 80er Jahre – „Sommerhit“ erzählt die Geschichte von einem, der auszog, es allen zu zeigen: eine meisterhaft ausbalancierte Tragikomödie über Heimatgefühle, Außenseitertum, Lebensträume und nicht zuletzt Familie und Freundschaft.
„Ein Autor, den man in einem Atemzug mit Nick Hornby nennen kann.“ Radio AFK.
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Seitenzahl: 411
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Tom Liehr
Sommerhit
Roman
ISBN E-Pub 978-3-8412-0337-3
ISBN PDF 978-3-8412-2337-1
ISBN Printausgabe 978-3-352-00814-6
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2011 bei Rütten & Loening, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © 2011 by Tom Liehr
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Innentitel
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Prolog: Sie sind doch … (heute)
Eins
Klassenfeind (1980)
Reiseerlaubnis (1980)
Balaton (1980)
D.I.S.C.O. (1980)
Republikflucht (1980)
Stop Motion (1983)
Comment ça va? (1983)
Flammkuchen (1983)
Gewitter (1983)
Mord (1983)
Einschnitte (1984)
Erlösung (1984)
Zwei
Freiheit (1989)
Familienzusammenführung (1989)
Schwesterherz (1990)
Martin Gold (1990)
Vernichtung (1980/1990)
Lügen sind nie für immer (1993)
Wiedervereinigung (1995)
Sommerhit (1998)
Rückkehr (2005)
Après-Ski ( 2006)
Drei
Ich wusste es (heute)
Mein Haus, mein Auto, mein Boot
Kommssie, kommssie, kommssah!
Autolyse
Goldküste
Epilog: Dossier Thomas Müller
Cool sein
Sommerhit – die Playlist
Nachwort
»Du bist so lässig, dass es stinkt
Käpt’n Grundeis, dein Schiff sinkt
Kühl wird’s um dein fahles Licht
Wenn DAS cool ist, schauert’s mich
Du hast kein Selbst, bist nur ein Bild
Und Fremdgedanken sind dein Schild
Die Attitüde schützt den Wicht
Wenn DAS cool ist, weiß ich nicht«
(»Cool sein« auf »Gold für alle«)
Martin Gold
»Ein gutes Leben ist die beste Rache.«
Selim Özdogan
Für meine Familie
»Hier rechts«, sagte ich, aber der Taxifahrer hatte längst den Blinker gesetzt. Meine Anweisung quittierte er mit einem kurzen, fast arroganten Lächeln via Rückspiegel, das, wie schon einige Male zuvor, in eine Mimik gebettet war, die verriet, wie sehr es zugleich in ihm rumorte. Er dachte darüber nach, ob er fragen sollte. Er würde es tun, spätestens beim Bezahlen. In neunundneunzig Prozent der Fälle fragten sie.
Links vor ihm an der Frontscheibe klebte, mit Saugnäpfen befestigt, eine Phalanx von Navigationsgeräten und sogenannten Smartphones – kleinen Computern, mit denen man auch telefonieren konnte, wenn man sich viel Mühe gab und dabei nicht versehentlich mit der Schläfe den Tatsch-Bildschirm berührte. In seinem rechten Ohr hing eine Gerätschaft, die ihm das Freisprechen gestattete, aber wie ein missratenes, viel zu großes Hörgerät aussah und trotz des futuristischen Designs nicht davon ablenken konnte, dass es sich um Technik handelte, die aus denkenden, freien Menschen Vollobst machte – sogar Vollfallobst. Vermutlich glühte sein rechtes Ohr abends. Ich besaß kein Smartphone, ich besaß auch kein Unsmartphone, kein Eifon, kein Henndie, einfach keine von diesen Gerätschaften, die scheinanglizistisch benannt wurden, um darüber hinwegzutäuschen, dass es sich um vollständig überflüssigen Quatsch handelte, dessen deutsche Bezeichnung gelautet hätte: »Teures, schwer zu verstehendes Spielzeug mit vielen Funktionen, die Sie lebenslang niemals benötigen werden.« Mit meiner Ablehnung dieser Dinger trieb ich mein Umfeld in den Wahnsinn, vor allem György, meinen Manager. Regelmäßig tobte er, wenn ich erst Stunden später zurückrief, nachdem er mir eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Auf einem Anrufbeantworter. Das war mein einziges Zugeständnis, eine Maschine, die für mich aufzeichnete, was Leute – die wenigen, die meine Nummer kannten – mir zu sagen hatten, die nicht darauf warten konnten, mich direkt zu sprechen. Ich hörte die Nachrichten gelegentlich ab, meistens von Hotelzimmern aus. Ich gehörte zu der aussterbenden Gruppe von Menschen, die überhaupt noch Telefone in Hotelzimmern benutzten. Und ich liebte es. György hatte mir schon ein, zwei Dutzend dieser Dinger geschenkt, und ich hatte sie alle weggeworfen oder weiterverschenkt.
Davon abgesehen hatte ich noch nie irgendwas Wichtiges verpasst, obwohl ich kein Mobiltelefon besaß.
Ich fragte mich kurz, ob es wohl gestattet war, das Sichtfeld eines Taxis in dieser Weise mit redundantem Klafutzki zu pflastern. Ich meinte auch, mich daran zu erinnern, dass Taxifahrer eigentlich Straßen, Strecken und markante Punkte auswendig kennen sollten. Natürlich war das Fahrzeug außerdem mit Funk ausgestattet. Vermutlich gab es in diesem ultraleisen Mercedes-Schiff sogar Bordelektronik, die den Weg ganz ohne Fahrer gefunden hätte.
Jetzt kam das Gebäude in Sicht. Wir befuhren einen langen Kiesweg, der zwischen hohen, dunkelgrün belaubten Bäumen zu einem kleinen Schloss führte, das irgendein Friedrich vor Jahrhunderten für irgendeine seiner Mätressen gebaut hatte. Es war kein sehr schönes Gebäude, sondern ein beigegelb angestrichenes, eher unförmiges Gemäuer, umgeben von einem kleinen Graben. Hier und da gab es Dekorzinnen, die Fenster waren klein und nach oben abgerundet, aber die Eingangspforte wirkte mächtig. Das Dach hatte man offenbar kürzlich restauriert; grauschwarze Schindeln glänzten im Sonnenlicht.
Ich fragte mich zum ungefähr hundertsten Mal, ob ich das hier wirklich tun sollte. Es sprach deutlich mehr dagegen als dafür.
Der Anruf hatte mich wirklich überrascht, zumal es nur wenige Menschen gab, die wussten, wie ich direkt telefonisch zu erreichen war. An einem der wenigen Abende, die ich zu Hause verbrachte, weil ich nicht gerade auf Tour, im Studio oder bei Promo-Terminen war, hatte das Telefon geklingelt, vor acht Wochen, während ich auf einem Nebenkanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens die »Hitparade« sah. Es war eine Folge, in der Nicole kurz nach ihrem Grand-Prix-Erfolg mit »Ein bisschen Frieden« auftrat, im weißen, knielangen Leinenkleid, auf einem Barhocker sitzend, mit weißer Akustikgitarre vor der Brust, obwohl die Musik vom Band kam, aber immerhin sangen sie damals tatsächlich. Live. Lebend. Bisher hatte mir niemand erklären können, warum es Wendungen wie »live gesungen« gab, wenn davon die Rede war, dass nicht alles aus der Konserve kam. Was war das Gegenteil von »live gesungen«? Dead gesungen? Zugegeben, es gab kein brauchbares deutsches Synonym für »live«. Und auch keines für »Playback«.
Sie strahlte jene überraschte, weltgierige Unschuld aus, die ich selbst schon bei vielen Künstlern miterlebt hatte, die sich nach Jahren der Herumkrebserei am Anfang einer auch als solche zu bezeichnenden Karriere befanden – nicht zuletzt an mir selbst. Sie war immer noch aktiv, wie ich wusste, sang allerdings inzwischen auf Mittelmeerkreuzfahrten vor saufenden Geronten oder sogar in Erlebnisgastronomieeinrichtungen wie dem wunderbaren »Oberbayern« auf Mallorca, nachts um drei, vor lallenden Sandalentouristen, die unterm Strich nicht sehr viel intelligenter waren als die Sangríaeimer, aus denen sie tagsüber soffen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin vor diesen Leuten auch schon aufgetreten.
Ich sah abwechselnd zu Nicole und zum Telefon, das immerhin mit Kurzwahlspeicher, Wahlwiederholung und Rufnummernanzeige ausgestattet war. Mein Weinglas war sowieso leer. Ich stand auf, nahm das Glas, kurz danach den Hörer.
»Ja?«, sagte und fragte ich.
»Falk?«, fragte eine Frauenstimme zurück, die ich nicht kannte.
Falk. So hatte mich schon lange niemand mehr genannt, von meinen wenigen Verwandten abgesehen.
»Ja?«, wiederholte ich.
»Oh. Mensch. Toll. Wahnsinn, dass ich dich erreiche.«
»Wer ist da?«
»Oh. Ja. Äh. Hier ist Sabine.«
»Sabine?«
»Ja. Sabine. Die Sabines drei. Erinnerst du dich? Ich war die mit den roten Haaren.«
Ich erinnerte mich sofort und bekam eine fantastische Gänsehaut dabei. Ich sah sie vor meinem geistigen Auge, die rothaarige Sabine aus der Clique die Sabines drei, jene mit den X-Beinen, dem deshalb etwas schlurfigen Gang, die Sabine, die nicht dazu in der Lage gewesen war, das Tie-Äjtsch richtig auszusprechen, bis zum Abitur. Seit jener Zeit hatte ich nichts mehr von ihr oder den anderen gehört, was alles andere als einen Missstand darstellte, und nun hing sie, siebenundzwanzig Jahre später, plötzlich an meinem Telefon.
»Woher hast du diese Nummer?«, fragte ich und gab mir nicht die geringste Mühe, es freundlich klingen zu lassen. Währenddessen prasselten Erinnerungen auf mich ein, und die meisten davon waren unschön.
»Von deiner Mama. Das war nicht leicht.«
Das klang nicht danach, als hätte sie mitbekommen, was ich in meine Antwort zu legen versucht hatte. Widerwillig nahm ich zur Kenntnis, dass sie meine Mutter »Mama« nannte. Das stand ihr nicht zu.
»Das hat seine Gründe«, sagte ich leise, fast zornig.
»Du, wir machen ein Klassentreffen. Endlich. Und alle kommen. Nur du fehlst noch.« Etwas leiser ergänzte sie: »Und Arndt, natürlich.« Dann fragte sie, wieder lauter: »Ist das nicht irre?«
Ich starrte auf das Telefon, den schwarzglänzenden Apparat, und fand es tatsächlich im ersten Augenblick irre. Was für eine Chuzpe, nach all dem, was damals geschehen war, auf die Idee zu kommen, ein Treffen zu veranstalten. Meine Gänsehaut blieb, nahm weitere Körperoberfläche ein. Gleichzeitig spürte ich, dass ein Teil von mir diese Idee irgendwie für reizvoll hielt. So, wie man Fallschirmsprünge reizvoll findet, bis man im Flugzeug sitzt und der Welt unter sich beim Kleinerwerden zuschaut.
»Ist das dein Ernst?«
Sie schwieg, vielleicht nickte sie; sie gehörte sicher zu den Frauen, die am Telefon nicken. »Ja, total«, sagte sie dann. »Wir machen ein richtig großes Event. Das wird sicher total lustig.«
Total, dachte ich. So, wie damals alles total lustig gewesen war. Und, vor allem, cool. Ich sah zum Fernseher, wo Dieter Thomas Heck jemanden anmoderierte, während Nicole im Hintergrund, mit Blumen beladen, die ihr Zuschauer überreicht hatten, winkend im Gang verschwand. Sie wusste noch nicht, dass die Zeit des großen Ruhms bald wieder vorbei sein, dass man sie jahrzehntelang auf diesen einen Song reduzieren würde, den sie bis heute vermutlich mehrere tausend Male gesungen hatte.
»Ich bin ein bisschen in Eile«, log ich, weil ich es einfach gruselig fand, mit dieser Frau, diesem Monster aus einem abgeschlossenen Leben, darüber zu sprechen, all diese Leute wiederzusehen. »Schick mir eine Mail.« Elektropost mochte ich, und natürlich hatte ich einen Computer, sogar mehrere, denn immerhin machte ich Musik, und das ging schon seit Jahren nicht mehr ohne. Dann diktierte ich ihr eine Adresse – keine offizielle – und legte auf. Mit einem Ruck. Es knallte. Anschließend saß ich minutenlang auf dem Sofa, starrte auf die Vergangenheit im Fernsehen und auf die in meinem Gedächtnis, die sich urplötzlich aus Sümpfen erhob, obwohl ich eigentlich der Meinung gewesen war, sie wäre darin erstickt, ertrunken, jedenfalls irgendwie gestorben.
Wir hielten. Die Strecke war nicht gerade kurz gewesen, vom Flughafen Tegel bis hierher, in die Nähe von Potsdam. Der Taxifahrer nannte eine solide Summe, drehte sich zu mir.
Während ich nach passenden Geldscheinen suchte, sagte er: »Sie hören das wahrscheinlich oft. Aber … sind Sie nicht … Sie sind doch …«
Ich nickte und reichte ihm den Schein.
»Es tut mir leid«, sagte Frau Perpel, wobei ihr Blick, nein, ihr gesamter Kopf mehrfach von mir zu Mama und wieder zurück huschte. Ihr Schädel ruckte wie bei einer Taube, die vom Picken aufsieht und nach Feinden Ausschau hält. Seltsamerweise schienen sich ihre Haare leicht verzögert zu bewegen. Die Stirn von Frau Perpel rutschte quasi unter den Haaren weg, und mit geringer Verspätung zog die graubraune, extrem gleichmäßige Perücke nach. Dass es sich tatsächlich um eine Perücke handelte, erfuhr ich später.
Frau Perpel, Rektorin des Walter-Gropius-Gymnasiums in Berlin-Schöneberg, mochte fünfundfünfzig oder auch sechzig Jahre alt gewesen sein, jedenfalls ziemlich alt aus meiner Sicht. Sie trug einen Anzug mit Weste, braun, mit feinen, orangefarbenen Längsstreifen – etwas, das ich noch niemals und erst recht nicht an einem weiblichen Menschen gesehen hatte, und sie vervollständigte dieses skurrile Bild durch ein violettes Hemd und eine grasgrüne, merkwürdig kurze Krawatte mit einem aufgestickten Motiv, das leider niemals vollständig unter dem Revers hervorlugte. Etwas an ihr erinnerte mich an Karl-Eduard von Schnitzler, den Mann, der die Sendung »Der schwarze Kanal« im »Fernsehen der DDR« moderierte. Auch sie trug eine dicke, schwarz gerahmte Brille, deren konkave Gläser so stark waren, dass sie ihre Augen um die Hälfte verkleinerten. Ihre Stimme war dumpf und kratzig, was zum starken, alles andere überdeckenden Rauchgeruch im Rektorenzimmer passte. Auf ihrem Schreibtisch stand ein voller Aschenbecher aus gelbem Glas, in dem eine »Marlboro« qualmte. Die Schachtel lag daneben – sie sah so viel perfekter, edler aus als die gleichsam holzigen Cabinet-und f6-Boxen, die ich kannte.
Ich sammelte diese Eindrücke – wie alles, was mir begegnete – seit drei Wochen. Drei Wochen befand ich mich jetzt schon im Westen, dem Land, von dem ich so viel gehört hatte, aber über das ich kaum etwas wusste.
»Aber Falk ist vierzehn. Er wird im Oktober fünfzehn. Sie können ihn doch nicht in die achte Klasse stecken«, protestierte Mama. »Er gehört in die neunte. Eigentlich sogar in die zehnte.«
Frau Perpel ließ den Kopf wieder hin und her rucken und fixierte mich dann.
»Sprichst du Englisch?«, fragte sie. Dabei erschien etwas wie ein Grinsen in ihrem Gesicht, und das sah so komisch aus, dass ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Mama hatte mich instruiert, ernsthaft und intelligent sollte ich wirken, aber diese ältere Dame mit ihrem hinterherrutschenden Haar und dem merkwürdigen Kostüm stimmte mich irgendwie fröhlich. Dabei war mir durchaus bewusst, dass sie mein Gegner war – aus Gründen, die ich bestenfalls ahnte.
»Nein«, sagte ich. »Nur sehr wenig. Aber ich kann gut Russisch.« Tatsächlich konnte ich so gut Russisch, dass ich Kolja, meinen rumänischen Brieffreund, mit dem ich mir in dieser Sprache geschrieben hatte, am Ende völlig überfordert hatte. Aber das war vorbei, für immer.
Mama stöhnte kaum hörbar.
»Hier spricht niemand Russisch«, knarzte die Rektorin. Ihre Miniaugen funkelten hinter den Lupengläsern.
»Ich weiß«, sagte ich leise und blickte kurz zu Boden, weil mir das passend schien.
Frau Perpel beugte sich vor und faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. Ihre Fingernägel waren violett lackiert, und auf ihren Handrücken konnte ich hellbraune Flecken erkennen.
»Sie sind nicht die ersten Menschen aus dem Osten, mit denen ich zu tun habe. Das WGG genießt einen guten Ruf, wir gehören zu den besten Gymnasien in Berlin.«
Westberlin, korrigierte ich im Geist. Und dann korrigierte ich mich gleich wieder. Hier hieß Westberlin schlicht Berlin, und Berlin, Hauptstadt der DDR, hieß Ostberlin. Wir waren im Westen, aber kaum jemand nannte es Westen, dafür nannten alle die DDR abfällig Osten, und das hatte bei uns kaum jemand getan. Inzwischen hatte ich begriffen, dass die beiden Himmelsrichtungen in diesem Zusammenhang als Synonyme für Gut und Schlecht standen.
Ich konzentrierte mich auf die schwarze Fassung von Frau Perpels Brille und dachte darüber nach, wie ich dazu beitragen konnte, meine Position zu verbessern. Ich wollte die achte Klasse nicht wiederholen. Ich war ein guter Schüler. Physik, Mathe, Deutsch, Staatsbürgerkunde, Chemie, Erdkunde, sogar Kunst und erst recht Musik – in all diesen Fächern hatte ich an der Polytechnischen Oberschule in Dresden zu den Besten gehört. Aber hier ging es um Englisch, das die meisten Schüler schon seit der dritten Klasse lernten, und als zweite Fremdsprache um Französisch. Und außerdem, das hatte sogar ich verstanden, ging es darum, dass diese Frau keine Ostler mochte – und wir waren welche.
»Liebe Frau Perpel«, sagte Mama, und die Rektorin verzog das Gesicht. »Falk ist ein hervorragender Schüler, er lernt schnell und ist sehr diszipliniert.«
Frau Perpel murmelte etwas, das in meinen Ohren nach »FDJ« klang.
»Er wird sicher bei den neuen Fremdsprachen Schwierigkeiten haben, aber …«
»Und was ist mit Geschichte?«, unterbrach die Dame im skurrilen Anzug.
Mama setzte sich auf und schob die Schultern nach hinten.
»Was soll mit Geschichte sein?«, fragte sie zurück, und erstmals seit unserer Ankunft schien die lähmende Traurigkeit, die sie umgab, vollständig einem anderen Gefühl zu weichen.
»Liebe Frau Lutter, wir beide wissen, dass in der sogenannten DDR eine Form von Geschichte unterrichtet wird, die mit der Wahrheit nichts zu tun hat.«
»Ja und?«, gab Mama zurück. Es war vielleicht nicht für jedermann zu erkennen, aber ich bemerkte, dass sie langsam sehr wütend wurde, was mich in gewisser Weise sogar freute. Vermutlich hätte sie jetzt lieber einen Streit angefangen, als nur so knapp zu widersprechen. Streite mit Mama endeten unschön. Sie gewann immer.
»Die Lernkurve ist zu steil für einen Vierzehnjährigen.« Frau Perpel öffnete die verschränkten Hände und platzierte die Handflächen auf der grünen Linoleummatte, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Ich bin Pädagogin. Ich weiß, wovon ich rede. Sie tun Ihrem Sohn wirklich keinen Gefallen, wenn Sie gegen meine Empfehlung handeln. Ich müsste Ihnen in diesem Fall dazu raten, eine andere Schule zu wählen. Vielleicht sogar eine andere Schulform.«
Mama japste. Sie sah mich kurz an, ziemlich fassungslos, und sank dann im Stuhl zusammen. Plötzlich waren die Wellen der Melancholie, die sie seit drei Wochen verströmte, wieder spürbar.
»Aber wenn er beweist, dass er es kann«, sagte sie leise. »Geben Sie ihm dann eine Chance?«
Frau Perpel grinste wieder, und dieses Mal war es nicht komisch. Dann nickte sie sehr langsam. »Wenn Falk« – sie sprach meinen Namen auf eine Art aus, die mich an meinen Staatsbürgerkundelehrer, Herrn Kosczyk, denken ließ, wenn er »Klassenfeind« sagte – »meine Erwartungen erfüllt, werde ich sehen, was ich für ihn tun kann.« Sie pausierte kurz und fixierte mich dabei. »Aber meine Erwartungen sind sehr, sehr hoch.«
Also kam ich in die achte Klasse.
Ich war vierzehn und drei Wochen zuvor über Ungarn aus der DDR geflohen, gegen meinen Willen – es hatte mich einfach niemand gefragt. Ich hatte kurze, weißblonde Haare, hellblaue Augen, war eins dreiundfünfzig groß und wog mit präadipösen siebzig Kilo gut und gern zehn bis zwölf zu viel. Ich hatte gerade den allerschönsten und zugleich tragischsten Urlaub meines Lebens hinter mir, und außerdem hatte ich meinen Vater und meine Schwester verloren. Ich lebte bei Tante Gisela, die eigentlich nicht wirklich meine Tante war, sondern die Cousine meiner Mutter, aber ich sollte sie Tante nennen. Und Gerhard, ihren Mann, Onkel. Ich befand mich in Westberlin, im kapitalistischen Westen, und schlief im Doppelbett neben Mama in einem fast fünf Meter hohen, stuckverzierten Raum, von dessen Fenstern aus man auf eine Straße hinunterschauen konnte, auf der selbst morgens um vier mehr Verkehr war als in Dresden um kurz nach sieben, wenn die Werktätigen in ihren Trabis und Wartburgs in die Kombinate fuhren, um Pläne zu erfüllen.
In diesen ersten Wochen lag ich nachts lange wach, meistens bis in den frühen Morgen, lauschte auf den Atem und das gelegentliche, tieftraurige Seufzen meiner Mutter und die Fahrzeuge draußen, die zwar einzeln viel leiser waren als »unsere«, aber in der Summe lauter, und außerdem war die Art der Geräusche fremd für mich. Ich fand es erstaunlich, mich jetzt in einer Welt zu befinden, die in wenigen Kilometern Entfernung an diejenige grenzte, in der ich zuvor gelebt hatte (allerdings hatte ich erst über tausend Kilometer hinter mich bringen müssen auf dem Weg von dort nach hier), sich aber auf unglaubliche Weise von ihr unterschied. Ich hatte das Gefühl, dass im Prinzip alles anders war. Vor allem aber die Gerüche unterschieden sich. Schon beim Aufwachen erinnerte mich dieser Umstand immer wieder sofort daran, dass ich mich in einer unbekannten Welt befand, von der ich nicht ahnte oder gar wusste, was sie für mich bereithielt oder wenigstens bedeutete.
Meine sehr feine Nase war mir zunächst selbst nicht bewusst gewesen, weil man einen Unterschied nicht feststellen kann, wenn der Vergleich fehlt. Erst als ich in die Schule gekommen war und auf dem Heimweg manchmal meine Schwester Sonja begleitete, die zwei Jahre älter war als ich und bald auf die Erweiterte Oberschule gehen würde, stutzte sie irgendwann, weil ich schon lange vor dem Betreten unseres Hauses in der Lage war, punktgenau vorherzusagen, was es zum Essen geben würde. Eigentlich, aber das verriet ich ihr erst später, roch ich es schon am Gartentor, manchmal sogar bereits, obwohl das geduckte, graue Einfamilienhaus mit dem fleckigen Ziegeldach, in dem wir wohnten, noch nicht einmal in Sichtweite war. Ich konnte den säuerlich-senfigen Geruch von Königsberger Klopsen vom säuerlich-muffigen Geruch gebratener Nierchen schon von weitem unterscheiden und ihn aus dem olfaktorischen Angebot herausfiltern, das sich in unserer Straße darbot. Dazu gehörten die omnipräsenten, leicht asbestigen Ausdünstungen der Dachpappe, mit der alle Häuser gepflastert waren, das Aroma des Zements, der im Sommer etwas ausamtete, das mich an Plaste erinnerte, die Deodorants und vor allem Seifen von »nautik« über »Karibik« bis »riwal« und natürlich die ölig-petrochemischen Abgase der vielen Zweitakter. Von den Gerüchen, die Flieder, Forsythien, Narzissen, Glockenblumen, Obstbäume, Gemüsebeete, die Komposthaufen neben den Häusern und die Sickergruben hinter ihnen ausströmten, ganz zu schweigen.
Ich roch aber noch weit mehr als das. Ich konnte ausmachen, wer zu Hause war, nachdem ich die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, und sogar, wer als Letzter am Morgen gegangen war. Im Flur schnuppernd fiel es mir leicht, Sonjas momentanen Aufenthaltsort im Haus zu bestimmen, wenn sie vor mir aus der Schule gekommen war. Sie benutzte ausschließlich das Schauma-Apfelshampoo, das sie für viel zu viel Geld von einer Klassenkameradin kaufte, die, im Gegensatz zu uns, gute Westkontakte hatte. Dieser Duft war nicht nur von anderer Intensität als diejenigen der DDR-Kosmetikprodukte, sondern auch in jeder anderen Hinsicht komplett unterschiedlich. Das BRD-Haarwaschmittel, das Sonja so vorsichtig dosierte, dass eine Flasche davon trotz täglicher Wäsche fast drei Monate lang ausreichte, stellte für mich eine echte Herausforderung dar. Ich rätselte lange daran herum, die Inhaltsstoffe auszumachen, was mir bei den heimischen Pendants meist sehr schnell gelang, fand die Lösung aber nie. Ganz sicher allerdings enthielt es keine Äpfel, denn es roch nicht einmal entfernt wie die grünbraunen Boskops, die am weit ausladenden und den gesamten hinteren Garten beherrschenden Baum wuchsen, der auf dem Grundstück unseres Nachbarn, Herrn Leder, stand. Herr Leder war weit über siebzig, ein glatzköpfiger, sehr kleiner Mann, der eine ganze Palette von Aromen verströmte, aber das intensivste war eines, das demjenigen einer langsam verschorfenden Wunde ähnelte, von denen ich mir im Sommer regelmäßig Dutzende zuzog, vor allem an den Knien. Herr Leder war wortkarg, und ich erfuhr nie, was er vor seinem Ruhestand getan hatte, aber manchmal ging Mama zum Wohnzimmerfenster, schob die Nase durch die Gardinen und flüsterte dann: »Der alte Leder beobachtet uns schon wieder.« Immerhin durften wir die Äpfel behalten, die von seinem breitkronigen Boskop-Baum auf unser Grundstück fielen, und dafür mochte ich den kleinen alten Mann, der nach Schorf, Nordhäuser Doppelkorn und kaltem Achselschweiß duftete.
Das Apfelshampoo war auch das Erste, was ich an Karen bemerkte, als ich sie traf. Karen war das Mädchen, mit dem ich meine Unschuld verlor. Karen kam aus dem Westen. Sie stellte für mich die Quelle für eine ganze Flut von Neuigkeiten dar, vor allem aber lernte ich durch sie, einen Geruch einzuordnen, den ich schon als kleiner Junge ein bis zwei Mal pro Woche an meinen Eltern, an ihnen später dann aber irgendwann immer seltener, wahrgenommen hatte und den ich jetzt vermisste, als ich neben meiner Mutter im Bett lag, ihrem gleichmäßigen Atem zuhörte und ihren Duft atmete, der neuerdings von »Lux«-Seife und einem viel zu intensiven Parfüm dominiert wurde, das Tante Gisela ihr lieh, das nicht zu Mama passte und »Tosca« hieß. Ich nahm an, dass ich ihn nie wieder an ihr bemerken würde, diesen eigenartigen Geruch, denn der Mann fehlte, mit dem sie ihn zusammen erzeugen konnte – mein Vater.
Es war der Geruch von Sex.
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