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Kristas ruhiges Leben auf einer Nordsee-Hallig wird in wilde Turbulenzen gestürzt, als die weltgewandte Fotografin Liz auf die Insel kommt. Krista verliebt sich, und auch Liz entwickelt anscheinend Gefühle für sie. Nach einer gemeinsamen Nacht schwebt Krista im siebten Himmel. Doch das Glück währt nicht lange, denn Liz erhält Besuch von einer mysteriösen und nicht gerade sympathischen Frau namens Juliane und verlässt mit ihr ohne sich von Krista zu verabschieden die Insel. Mit gebrochenem Herzen bleibt Krista zurück, bis eine ehemalige Schulfreundin auftaucht und Krista zur Flucht in die Großstadt überredet – in Berlin soll sie ihr Herz heilen, doch es kommt alles anders als erwartet ...
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Seitenzahl: 345
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Roman
© 2018édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-249-7
Coverzeichnung:
»Schöne Kamera.«
Ein Kopf fuhr herum, mit der Kamera noch fast vor dem Auge, als ob die Linse nur eine natürliche Verlängerung wäre. Dann senkte sich das langgestreckte Objektiv. »Danke.« Graue Augen erschienen wie das Abbild eines Schwarzweißnegativs dahinter. Blonde Locken, doch kurz, nur oben durften sie sich ein wenig wellen.
»Die meisten Touristen haben Kameras dabei, wenn sie auf die Insel kommen, aber so ein großes Objektiv habe ich selten gesehen«, bemerkte Krista.
»Oh, ich –« Die grauen Augen schienen verwirrt. »Ich fotografiere für National Geographic. Vögel, Pflanzen, da brauche ich gute Objektive.«
»Sie sind also keine Touristin?« Krista hob fragend die Augenbrauen.
»Nicht direkt.« Kein Lächeln hob die Mundwinkel.
»Aha. Na dann: Willkommen.« Krista lächelte – und wenn nur aus Trotz. Sie hatte den Eindruck, diese Frau wollte sich unbedingt interessant machen, und so etwas mochte sie gar nicht. »Bleiben Sie länger bei uns auf der Insel?« Sie schaute über die Spitze der Fähre hinaus aufs Wasser, wo man in einiger Entfernung das kleine Nordsee-Eiland sah, auf das das Boot zusteuerte.
»Bei uns? Sie wohnen dort?« Die grauen Augen wirkten nun etwas lebendiger.
»Ja.« Krista wandte sich vom Wasser zurück wieder ihrer Gesprächspartnerin zu. »Ich bin auf der Insel geboren.«
Die Möwen schrien über der Fähre, sie wiesen den Weg zum Land. Eine fuhr ganz nah neben Krista herunter, streifte sie fast. »Na hör mal!« Krista wich geschickt aus und schlug spielerisch lachend nach dem Vogel.
»Begrüßen die Einheimischen Sie immer so intim, wenn Sie zurückkommen?« Ein unerwarteter Anflug von Humor schien in der trockenen Stimme mitzuschwingen.
»Intimität ist sozusagen das Hauptmerkmal einer kleinen Insel«, entgegnete Krista vergnügt. »Wussten Sie das nicht?«
Für einen Moment wirkte die Fotografin, als hätte sie eine solche Antwort nicht erwartet. Sie war sicherlich gut darin, keine Gefühle zu zeigen, aber wenn Krista sich nicht irrte, hatte sie welche.
»Das hätte ich vielleicht berücksichtigen sollen«, murmelte die Frau mit den kurzen blonden Haaren, als ob ihr gerade etwas sehr Wichtiges aufgefallen wäre.
Auf einmal tat sie Krista richtig leid. Manchmal brachten harmlose Bemerkungen Dinge zutage, die man gar nicht wissen wollte. Diese Frau war offenbar kein sehr extrovertierter Typ. Sie betrachtete die Welt wohl lieber gefiltert durch eine Linse, mit Abstand zu allem, was auf dem Bild zu erkennen war. Krista, die immer ziemlich direkt auf andere Menschen zuging, war ihr wahrscheinlich zu nahe getreten.
»Wo werden Sie denn wohnen?«, fragte sie, und die Frage hatte einen Grund.
Die Fremde schien überrascht. »Ich habe«, sie räusperte sich, »ein Haus gemietet. Soll direkt am Strand sein.«
Krista lachte. »Bei uns ist fast alles direkt am Strand.«
Sie bedauerte die Auskunft ein wenig, auch wenn sie nicht wusste, warum. Wie immer in den Ferien kam sie nach Hause, um ihren Eltern in ihrem Gasthof zu helfen, und da es nicht viele Möglichkeiten für Touristen gab, auf der kleinen Insel zu wohnen, hatte sie beinah unwillkürlich angenommen, dass diese Frau im Gasthof ihrer Eltern logieren würde. Aber das tat sie nun wohl nicht.
»Das kann fast nur die umgebaute Scheune der Hansens sein«, stellte sie freundlich fest. »Liegt ziemlich einsam.«
Es schien, als ob ein Mundwinkel im Gesicht der großen Frau zuckte. »Ich habe nichts gegen Einsamkeit«, sagte sie.
Krista betrachtete das etwas kantige Gesicht nur kurz. Sie wollte nicht in die Intimsphäre dieser Frau eindringen, an der ihr offensichtlich so viel lag. Zudem hatte Krista im Laufe der Jahre gelernt, sich nicht zu sehr für Menschen zu interessieren, die die Insel nur kurz besuchten. Im Gasthof ihrer Eltern herrschte ein Kommen und Gehen, das es kaum erlaubte, sich näher kennenzulernen.
Dennoch hatte sie die Leute vom Festland schon seit frühester Jugend faszinierend gefunden. Nun arbeitete sie selbst auf dem Festland, es war nichts Besonderes daran, aber als Kind hatten diese Menschen den Duft der großen, weiten Welt in ihre Vorstellung gebracht, regten ihre Phantasie an.
Was mochte dort hinter dem Horizont des trennenden Wassers vor sich gehen? Was erlebten all die Leute, die dort wohnten, die nicht in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren, die kein Boot oder Schiff brauchten, um an einen anderen Ort zu gelangen, die überall hingehen konnten, wo sie wollten?
Die große Freiheit hatte sie sich vorgestellt, und als sie das erste Mal das Festland betrat, war es wie die Entdeckung Amerikas gewesen. Ein neues Land, eine völlig andere Welt, deren Regeln sie nicht kannte.
Das hatte sich schnell geändert, und trotzdem hatte sie das Gefühl, sich jedes Mal in einen anderen Menschen zu verwandeln, wenn sie die Fähre betrat oder verließ.
Auf der Insel kannte sie jeden, und jeder kannte sie schon von Kindheit an. Sie wusste, wie die Leute reagierten, wie sie sprachen. Der Dialekt war auf der Insel viel ausgeprägter, und auch Krista, die sich im Berufsleben das reinste Hochdeutsch angeeignet hatte, verfiel wieder in ihn, sobald sie den ersten Inselbewohner begrüßte.
Es war jedes Mal eine glückliche Heimkehr in die Geborgenheit des Vertrauten.
Die Motoren wurden gedrosselt, die Fähre nahm Kurs auf die Anlegestelle. Einen Hafen hatte die Insel nicht. Der Kapitän in seinem kleinen Führerhaus schwenkte das Heck dem Landungssteg entgegen, um die Seite des Schiffes zentimetergenau am Tor des Steges andocken zu lassen.
Krista lächelte. »Sie haben Glück«, sagte sie. »Bei so spiegelglatter See sieht das alles wie ein Kinderspiel aus. Wenn die Wellen hochschlagen, ist es nicht so einfach, und die Fahrgäste müssen schon mal ein wenig sportlich sein, um an Land zu kommen.«
»Raues Wetter macht mir nichts«, sagte die blonde Frau und packte ihre Kamera sorgfältig in einen robusten Metallkoffer. »Da habe ich schon anderes erlebt.« Für einen Moment huschte ein Schatten über ihr markantes Gesicht, aber er verflüchtigte sich sofort wieder und machte einer Art gleichgültigen Maske Platz.
Was? dachte Krista. Was hast du erlebt? Denn sie spürte ganz deutlich, dass da etwas gewesen sein musste. Etwas, worüber diese Frau sicherlich nicht so leicht sprechen würde.
In diesem Augenblick gab es einen Ruck, und die Fähre wurde bereits von dem Matrosen vertäut, der schnell an Land gesprungen war.
Eine metallene Brücke quietschte, als der Landfährmann, der am Steg auf die Ankunft des Bootes gewartet hatte, sie durch die Reling der Fähre schob, und wurde dort von dem Matrosen eingehakt, der mittlerweile bereits wieder auf das Schiff zurückgesprungen war.
Das alles geschah schnell und routiniert, ohne dass eine Anstrengung zu erkennen war.
»Tscha, Krista, Deern . . .«, begrüßte der Landfährmann Krista, als sie die schwankende Metallverbindung zum Kai überquerte. »Ist denn schon wieder Weihnachten?« Er grinste breit durch eine Zahnlücke über dem unrasierten Kinn.
»Nee, Hinnerk.« Krista lachte und verfiel sofort in denselben Dialekt, in dem er sie angesprochen hatte. »Ich komm doch nicht nur an Weihnachten.«
»Ischa auch ’n büschen heiß dafür«, antwortete er, während er mit einem Auge die Fährgäste beobachtete, die den löchrigen Pfad überquerten. »Ischa Sommer.«
Heiß war ein relativer Begriff. Auf der Insel blies immer eine frische Brise, die selbst heißeste Tage – wenn es sie denn gab – in höchst angenehme Temperaturen verwandelte. Touristen unterschätzten die Sonne dann oft, die vom Meer auch noch reflektiert und verstärkt wurde, und holten sich einen ordentlichen Sonnenbrand, wenn sie nicht aufpassten.
Krista warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf die blonden Haare der Fotografin, die sich kaum von der hellen Haut abhoben. Sie war genau der Typ, der aufpassen musste.
Was geht das mich an? Krista schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Diese Frau würde wohl selbst wissen, wie sie sich schützen musste. Sie war ja kein kleines Kind mehr. Krista schätzte sie auf Mitte dreißig. In ihren Augenwinkeln bildeten sich schon kleine Fältchen. Die sie jedoch nur noch attraktiver machten.
Attraktiv? Bin ich denn blöd? Mit einem Satz sprang Krista über eine Kabelrolle, die am Rande des Piers lag. Sie sollte möglichst schnell hier verschwinden. Im Gasthof ihrer Eltern gab es sicherlich genug zu tun, um sie abzulenken.
Mit weitausholenden Schritten entfernte sie sich vom Ufer und beherrschte sich, stur geradeaus zu schauen. Irgendwie saß ein kleines Teufelchen auf ihrer Schulter, das ihr immer einreden wollte, sich umzudrehen.
Es konnte nur die Scheune der Hansens sein, dachte sie. So viele andere Möglichkeiten gab es ja gar nicht.
Und das geht mich immer noch nichts an, rief sie sich selbst zur Ordnung. Fast hätte sie es laut gesagt, aber im letzten Moment presste sie ihre Lippen aufeinander und blieb stumm.
Sie musste hoch auf den Deich, und von dort hatte man eine gute Übersicht. Schnell lief sie bergauf, dann drehte sie sich um.
Die blonde Frau hatte keine Eile gehabt, die Fähre zu verlassen, sie kam jetzt erst an Land.
Was hat sie so lange gemacht? fragte Krista sich. Noch eine kleine Joggingrunde eingelegt?
Zugegebenermaßen sah die Frau ziemlich sportlich aus, sie war groß und schlank, wahrscheinlich hatte sie als Teenager nur aus elend langen Armen bestanden und einem Knochengerüst, bei dem man sich fragte, was es zusammenhielt.
Jetzt sah sie zwar nicht mehr ganz so aus, sie war wohlproportioniert, aber mager hatte sie auf Krista auch gewirkt. Nicht von Natur aus mager, eher abgezehrt, als ob sie krank gewesen wäre und lange Zeit nicht richtig gegessen hätte.
Vielleicht war sie auch deshalb so blass. Als Fotografin, die sich in weiter Flur herumtrieb, um Tiere zu fotografieren, hätte sie eigentlich eine gesunde Bräune zur Schau tragen müssen.
Krista beobachtete, wie die Frau Hinnerk ansprach. Vermutlich fragte sie nach der Scheune der Hansens und wie sie da hinkam.
Das war auf der Insel nicht ganz so einfach, wenn man keinen fahrbaren Untersatz hatte. Wobei der allerdings bei den meisten Inselbewohnern in erster Linie aus einem Fahrrad bestand. So groß war die Insel ja nicht.
Hinnerk deutete den Deich hinauf, und Krista duckte sich schnell. Wenn die Fotografin jetzt hier heraufsah, würde sie sich vielleicht wundern, was Krista da oben machte.
Sie warf noch einen Blick auf den Landesteg hinunter, dann lief sie an der anderen Seite des Deichs hinab zum Gasthof ihrer Eltern.
»Sag mal, Mutti . . .« Krista half ihrer Mutter in der Küche beim Zubereiten des Frühstücks für die Gäste. »Wie ist das eigentlich mit der Scheune der Hansens?«
Seit sie gestern angekommen war, war ihr die blonde Frau nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und sie hätte gern gewusst, wo sie wohnte. Das mit der Hansenschen Scheune war natürlich nur eine Vermutung, aber sicher eine naheliegende.
»Was soll damit sein?« Ihre Mutter drapierte frischen Fisch, der heute morgen noch in der Nordsee geschwommen war, auf einem Teller.
»Ist sie fest vermietet?«, fragte Krista harmlos weiter.
»Das große Ding?« Ihre Mutter sah sie an und lachte. »Hansens sind froh, wenn sie sie überhaupt vermietet kriegen. Außerhalb der Saison steht sie fast immer leer.«
»Auch jetzt?« Krista beschäftigte sich mit dem Pieksen der Eier und sah ihre Mutter nicht an. Es sollte alles sein wie immer. Ihre Mutter hatte einen siebten Sinn dafür, wenn sich auch nur Kleinigkeiten an der Routine änderten, und Krista wollte sie nicht auf etwas aufmerksam machen, von dem sie selbst noch nicht einmal wusste, was es war. »Jetzt ist ja Saison.«
Ihre Mutter zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Letzte Woche stand sie noch leer, als ich mit dem Rad über den Deich gefahren bin.«
Dann war sie auf jeden Fall frei, dachte Krista, und sie könnte jetzt dort eingezogen sein.
»Sollte ich auch mal wieder tun«, schloss sie nahtlos an die Aussage ihrer Mutter an. »Täte mir gut. In der Stadt komme ich überhaupt nicht dazu.«
»Ich halte dich bestimmt nicht davon ab. Kannst auch gleich ein paar Besorgungen machen, wenn du schon unterwegs bist.«
»Natürlich.« Krista schnitt zwei Scheiben Brot ab und legte sie in einen Korb. »Mach ich doch gern.«
Ihre Mutter lächelte sie liebevoll an. »Das ist so nett, wenn du hier bist. Schade, dass du nicht immer hier sein kannst.«
»Tja . . .« Krista verzog die Mundwinkel. »Ist eben leider nicht weit her mit Jobs hier auf der Insel.«
Ihre Mutter nickte. »Alle jungen Leute gehen weg. Das ist nun einmal so.«
Krista hatte sich schon lange daran gewöhnt, zwischen der Insel und dem Festland zu pendeln. Sobald man einen höheren Schulabschluss machen wollte, gab es auf der Insel bereits keine Möglichkeit mehr dazu. Und wenn man nicht gerade Fischer oder Bootsbauer werden wollte, gab es auch keine Ausbildungsplätze.
»Ich wünschte, ich könnte beides verbinden.« Krista seufzte. »Hier wohnen und arbeiten.«
»Könntest du.« Ihre Mutter lachte. »Hier bei uns.« Sie legte eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter. »Aber ich mache dir keinen Vorwurf. Die Selbständigkeit ist doch ein sehr zweischneidiges Schwert. Ich bin froh, dass du einen Angestelltenjob hast mit Krankenversicherung, Rente, festen Arbeitszeiten und Urlaub.« Sie drückte Kristas Schulter freundlich. »Und davon haben wir ja auch was. Dann kommst du ja zu uns.«
Krista empfand es wirklich als Urlaub, wenn sie zu ihren Eltern kam, obwohl sie hier mit anpacken musste. Aber sie konnte sich den ganzen Tag bewegen, musste nicht am Schreibtisch sitzen, war an der frischen Luft. Sie kam jedes Mal braungebrannt aus dem Urlaub zurück, so dass ihre Kollegen, die auf ihren teuren Auslandsreisen mit schlechtem Wetter belohnt worden waren, sie oft beneideten.
»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen«, sagte sie lächelnd. Sie hing sehr an ihren Eltern, und dass es Menschen gab, die möglichst wenig Zeit mit ihren Eltern verbrachten, war ihr unverständlich.
»Na, Deerns . . .« Ihr Vater kam sich die Hände reibend zur Tür herein. »Was gibt es denn zum Frühstück?«
»Genug.« Ihre Mutter wies auf die altmodische Anrichte. »Reicht für uns alle.« Sie lächelte. »Aber wenn du noch mehr willst, sag es Krista. Sie fährt mit dem Rad ins Dorf.«
»Dann bring mir doch mal gleich ’n neuen Motor mit«, seufzte ihr Vater, nahm sich ein Brot und setzte sich an den Tisch.
»Och nö.« Ihre Mutter stöhnte. »Schon wieder?«
»Tja, die olle Schaluppe . . .« Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Irgendwann wird es wohl gar nicht mehr gehen.«
Krista verzog das Gesicht. »Ich fürchte, der passt nicht aufs Fahrrad.«
Ihr Vater lächelte sie auf seine seebärige Art durch seinen Bart hindurch an. »War ja auch nicht ernst gemeint. Ich werd’ Lars Bescheid sagen, dass er sich das mal anschaut. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«
»Das heißt, morgen gibt es keinen frischen Fisch?«, fragte ihre Mutter und hob die Augenbrauen.
»Wird schon was geben. Die anderen fahren ja raus«, erwiderte ihr Vater und ließ sich den Fisch, den er heute selbst in aller Herrgottsfrühe auf dem Meer gefangen hatte, mit dem Brot schmecken.
»Den muss ich aber kaufen«, sagte ihre Mutter. »Wenn du ihn bringst, ist er umsonst.«
»Na ja, umsonst auch nicht.« Ihr Vater klopfte ein Ei auf. »Kostet Benzin und Öl und Netze und nicht zuletzt«, er warf sich gespielt in die Brust, »meine Arbeitskraft.«
Ihre Mutter schmunzelte. »Die paar kleinen Fische, die du fängst . . .«
Krista grinste. Sie kannte das Geplänkel ihrer Eltern. Das war die pure Liebe. Es gab nichts Schöneres als dieses selbstverständliche gegenseitige Necken, das sie beide so gern betrieben. »Ich kann Fische aus dem Dorf mitbringen«, bot sie an.
»Na, für heute haben wir ja noch, und ich habe einiges geräuchert«, erwiderte ihre Mutter. »Das geht schon eine Weile. Wenn ihr den Motor repariert bekommt, gibt’s ja dann auch bald wieder frischen.«
»Wenn . . .«, wiederholte ihr Vater zweifelnd. Er biss ab und kaute nachdenklich.
»Ach Vati . . .« Krista lachte. »Das sagst du jedes Mal. Und dann kriegst du es doch wieder hin.«
»Diesmal bin ich aber gar nicht sicher, min Deern«, entgegnete ihr Vater. »Wenn deine Mutter nicht mit dem Gasthof das Geld reinbringen würde . . .« Er sah nicht sehr glücklich aus. So gut er sich auch mit seiner Frau verstand, aber er war der Ansicht, der Mann musste die Familie ernähren.
»Ach, Jens, nu mal ma den Teufel nicht an die Wand«, entgegnete Gerke Nehls begütigend. »Du hast immer noch genug nach Hause gebracht, dass wir den Winter überstehen konnten. Wenn es kalt ist, kommen ja kaum Gäste.« Sie legte leicht den Kopf schief und horchte. »Da ist jemand aufgestanden. Fragst du mal, ob sie Tee oder Kaffee wollen, Krista?«
Krista nickte und ging in den Gastraum hinüber, wo die Tische bereits fürs Frühstück gedeckt waren.
»Kann ich hier frühstücken?«, fragte eine Stimme, die ihr nicht ganz unbekannt war.
»Guten Morgen erst mal.« Krista blickte die blonde Frau strafend an.
»Oh ja, Entschuldigung. Guten Morgen.« Ein leichtes Lächeln hob die Mundwinkel der Fotografin. »Meine Manieren sind wohl ziemlich eingerostet.«
Krista musste sich auch erst einmal von ihrem Schreck erholen. Dass ihr diese Frau, an die sie fast ununterbrochen gedacht hatte, nun plötzlich gegenüberstand, hatte ihr doch einen ziemlichen Schock versetzt. Sie räusperte sich. »Eigentlich frühstücken hier nur unsere Gäste. Das ist kein öffentliches Restaurant.«
»Wie schade.« Erneut hoben sich die Mundwinkel leicht. Aber so leicht, dass Krista sich langsam fragte, ob sie sich das nicht nur einbildete. »Durch das Fenster sah es so einladend aus.«
Unwillkürlich ließ Krista ihren Blick durch das ihr seit Kindheit bekannte Zimmer streifen. »Ja. Meine Mutter hat ein Händchen für Dekoration.«
»Ihre Mutter?« Blonde Augenbrauen hoben sich ebenso leicht wie die Mundwinkel. »Sie sind die Tochter des Hauses?«
»Wie das klingt!« Krista lachte. »So hochgestochen würde ich es nicht ausdrücken. Aber ja, das hier ist der Gasthof meiner Eltern.«
»Schön«, sagte die andere. »Na, dann werde ich mal weitersuchen. In meiner Unterkunft gibt es leider nichts zu essen.« Sie drehte sich um.
»Wenn Sie einkaufen wollen: Es gibt einen Laden im Dorf«, sagte Krista schnell. »Ist aber ein bisschen weg von hier. Mit dem Fahrrad über den Deich sind es nur zehn Minuten. Zu Fuß dauert es länger.«
»Gibt es dort ein Restaurant?«, fragte die Fotografin.
Krista lachte überrascht auf. »Nein.« Sie lächelte. »So etwas ist bei uns nicht üblich. Die Leute essen zu Hause.«
Die Mundwinkel der großen Frau zuckten. »Bei meiner Arbeit komme ich selten dazu. Und ehrlich gesagt: Ich bin keine große Köchin. Spiegeleier kriege ich gerade noch so hin.« Sie hob etwas resigniert die Hand. »Dann bleibt wohl nur Brot und eine Dose Fisch. Das wird es ja im Laden wohl geben.«
Mit einem Schmunzeln erwiderte Krista: »Wir essen Fisch nicht aus Dosen. Wir fangen ihn frisch.«
»Muss ich ihn dann erst noch ausnehmen?« Die hellen Augenbrauen zogen sich in einem komischen Ausdruck zusammen, der an Verzweiflung erinnerte.
»Wenn der Fisch gerade frisch aus dem Meer kommt, ja«, bestätigte Krista. Sie musste sich das Lachen verbeißen. »Aber ich bin überzeugt, Frau Petersen tut das für Sie, wenn Sie sie freundlich darum bitten.«
»Jetzt halten Sie mich wahrscheinlich für ein ziemliches Weichei«, erwiderte die Fotografin, und langsam begann sie wirklich zu lächeln. »Dabei komme ich meistens ganz gut allein zurecht.«
Krista erinnerte sich an den Satz »Ich habe nichts gegen Einsamkeit«, der auf der Fähre gefallen war. Sie bemerkte die scharfen Einkerbungen auf den Wangen der Frau, die nicht so aussahen, als hätte sie ein leichtes Leben gehabt.
»Wissen Sie was?«, sagte sie. »Setzen Sie sich einfach. Eine zusätzliche Person werden wir wohl noch durchgefüttert kriegen.« Sie lachte leicht.
»Das . . . ich möchte nicht . . .« Auf einmal schien die Fotografin unsicher. »Wenn es doch nur für Gäste ist . . .«
Krista schmunzelte. »Sie sind jetzt mein Gast. Dann stimmt es schon.« Sie wies auf einen Tisch. »Setzen Sie sich hierhin. Ich bringe Ihnen gleich Teller und Besteck.« Nicht alle Tische waren gedeckt, sondern nur so viele, wie sie Gäste hatten.
Die Fotografin zögerte. »Wirklich?«, fragte sie.
»Ganz sicher.« Krista kam sich für einen Moment so vor, als würde sie auf einer Wolke schweben. Warum habe ich das getan? fragte sie sich selbst. Aber sie kannte die Antwort. Jetzt, wo diese Frau wieder vor ihr stand, wollte sie sie nicht so schnell wieder gehen lassen. »Ich habe das schon mal gemacht, Teller und Besteck gebracht, wissen Sie?« Sie lächelte, und die andere Frau setzte sich so vorsichtig, als könnte der Stuhl unter ihr zusammenbrechen.
»Das würde ich niemals bezweifeln, Frau . . . Nehls?« Die Fotografin blickte fragend. »Draußen steht Gasthof Nehls.«
»Krista Nehls.« Krista nickte.
»Liz Fischer«, stellte sich die blonde Frau vor.
»Fischer?« Krista lachte.
»Ja.« Liz verzog selbstironisch das Gesicht. »Ich sollte mich eigentlich mit Fischen auskennen, nicht?«
»Es gibt ganz sicher eine Menge Leute, die Schneider heißen und nicht mal einen Knopf annähen können«, scherzte Krista gutmütig. »Und jetzt hole ich Ihnen Ihr Frühstück. Dauert nur einen Moment.« Sie drehte sich um und ging in die Küche zurück.
»Kaffee oder Tee?«, fragte ihre Mutter, als sie sie betrat.
»Ach, das habe ich jetzt gar nicht –« Krista brach ab. »Es ist keiner unserer Gäste«, erklärte sie. »Eine Frau, die mit mir auf der Fähre herübergekommen ist. Da haben wir schon ein paar Sätze gewechselt. Sie ist Fotografin, und sie hat kein Frühstück in ihrer Unterkunft. Da habe ich ihr erlaubt, sich in die Gaststube zu setzen. Ist das in Ordnung?«
»Kein Frühstück?« Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Die Zimmervermieter bieten das doch alle an.«
»Bei ihr anscheinend nicht«, sagte Krista. Sie schnappte sich einen Brotkorb und ein Ei. »Ich werde sie fragen, ob sie Kaffee oder Tee will.«
Kurz darauf kehrte sie in die Küche zurück. »Kaffee«, sagte sie. »Sie hat darum gebeten, ob er besonders stark sein könnte.«
»Na, schwach ist mein Kaffee nicht.« Ihre Mutter lachte. »Selbst nach so vielen Jahren mit den Gästen ist für mich Tee das einzig Wahre. An Kaffee kann ich mich nicht gewöhnen. Meistens tue ich zu viel Pulver in den Filter.«
»Dann wird sie wohl zufrieden sein.« Krista schmunzelte, jedoch nur kurz. »Sie sieht ein bisschen blass aus«, fuhr sie etwas besorgt fort. »Wahrscheinlich braucht sie was, das ihren Blutdruck hebt.«
»Dann sollte sie besser zum Arzt gehen«, entgegnete ihre Mutter. Sie nahm den Filter von der großen Kaffeekanne herunter und goss einen Teil der schwarzen Flüssigkeit in ein kleineres Kännchen um. »Allerdings weiß ich nicht, was wir für das Frühstück berechnen sollen«, fügte sie stirnrunzelnd hinzu. »Das ist ja normalerweise im Zimmerpreis enthalten.«
»Ich kenne die Preise auf dem Festland.« Krista nickte ihrer Mutter zu. »Eigentlich müsste es hier bei uns sogar mehr kosten. Inselzuschlag. Weil wir ja alles erst vom Festland herbringen müssen.«
»Bis auf den Fisch«, wandte ihre Mutter ein. »Aber da es eine Ausnahme ist, nehmen wir den Preis vom Festland. Jetzt bringst du ihr erstmal das Frühstück.« Sie drückte Krista das Kaffeekännchen in die Hand.
Krista stellte den Rest des Frühstücks auf einem Tablett zusammen und brachte es in den Gastraum. »Guten Appetit«, sagte sie lächelnd, als sie es auf dem Tisch verteilte. »Besonders exotische Frühstücksbeilagen haben wir allerdings nicht. Croissants oder so etwas sind hier auf der Insel eher unbekannt.«
»So ein gutes Frühstück habe ich schon lange nicht mehr gehabt«, erwiderte Liz. »Das ist wunderbar. Danke.« Ihr Lächeln wirkte etwas unsicher. »Ich hoffe, ich mache Ihnen nicht zu viele Umstände.«
Gerade wollte Krista antworten, als ein älteres Ehepaar den Frühstücksraum betrat. »Entschuldigung«, sagte sie und wandte sich an die neuen Gäste. »Guten Morgen. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Tee oder Kaffee?«
»Ach, wir schlafen hier doch immer gut, ganz anders als zu Hause«, erwiderte die Frau mit einem geradezu glücklichen Gesichtsausdruck. »Das macht die herrliche Seeluft. Das reine Sanatorium.«
»Selbst wenn man nicht krank ist«, ergänzte ihr Mann und lachte. »Und der Tee schmeckt nirgendwo so gut wie bei Ihrer Mutter.«
Krista lachte auch. »Ja, ihr Tee ist wirklich der Beste, sie kocht ihn mit Liebe. Tee für Sie beide?«
»Ja, bitte«, sagte die Frau. »Gleich nach dem Frühstück wollen wir einen Spaziergang im Watt machen. Es ist doch Niedrigwasser jetzt, oder?«
»Richtig.« Krista nickte. »Aber Sie wissen ja, dass Sie rechtzeitig zurück sein müssen. In sechs Stunden ist wieder Hochwasser, und schon lange vorher laufen die Priele voll. Das ist gefährlich.«
»Wir sind erfahrene Wattwanderer«, meinte der Mann. »Wir kehren rechtzeitig um.«
»Dann bringe ich jetzt Ihr Frühstück«, erwiderte Krista, »damit sie gut gestärkt loswandern können.«
Die eifrigen Wanderer waren bereits zwanzig Minuten später auf dem Weg ins Watt, und Krista räumte den Tisch ab.
»Sie kennen sich ja sehr gut mit den Gezeiten aus«, bemerkte Liz Fischer, die seltsamerweise noch immer nicht mit ihrem Frühstück fertig zu sein schien. »Mit dem Watt.«
Krista lachte, während sie die benutzten Teller auf ein Tablett stellte. »Natürlich. Für mich ist das wie Essen und Trinken. Wenn man hier aufgewachsen ist, weiß man alles darüber. Aber leider«, sie verzog besorgt das Gesicht, »sind viele Urlauber nicht hier aufgewachsen. Und wir haben tatsächlich immer wieder Tote. Sie unterschätzen die Priele. Wenn sie trockenfallen, sehen sie harmlos aus, aber sie füllen sich so schnell mit Wasser, dass selbst die besten Schwimmer dann keine Chance mehr haben. Das können sich manche Leute einfach nicht vorstellen.« Sie schaute ihren Gast an. »Sollten Sie also eine Wattwanderung planen, nehmen Sie lieber jemanden mit, der sich auskennt.«
Liz Fischer sah aus, als wollte sie etwas sagen, tat es dann aber doch nicht.
Krista brachte das Tablett in die Küche und kehrte zurück, um das Tischtuch noch von den restlichen Krümeln zu säubern.
»Sie zum Beispiel?«, fragte Liz.
Mit einem Stirnrunzeln drehte Krista sich zu ihr um. »Ich zum Beispiel?«
»Sie kennen sich doch aus«, erläuterte Liz. »Also könnte mir mit Ihnen im Watt wohl nichts passieren. Würden Sie mich bei einem Spaziergang dort begleiten?«
Krista spürte eine merkwürdige Beklemmung in der Brust, als ob sie plötzlich keine Luft mehr bekäme. Sie fegte das Tischtuch weiter ab, obwohl gar keine Krümel mehr darauf lagen.
»Verzeihung«, sagte Liz. »War wohl kein so guter Vorschlag.«
»Nein, ich –« Krista richtete sich auf und betrachtete das kantige Gesicht mit den tiefen Furchen, die im Schatten des Raumes nun noch mehr hervortraten. »Mit unseren Gästen habe ich das schon oft gemacht.«
Liz wirkte leicht amüsiert. »Aber nur mit Ihren Gästen?«, fragte sie. »Ist das wie mit dem Frühstück? Nicht für Fremde?«
»Bislang hat noch nie jemand danach gefragt.« Kristas Mundwinkel zuckten. »Sie sind es wohl gewöhnt, für alles eine Ausnahmeregelung zu bekommen.«
»Ich bin mehr mit Vögeln zusammen als mit Menschen«, meinte Liz und verzog entschuldigend das Gesicht. »Für menschlichen Umgang bin ich nicht sehr gut sozialisiert, fürchte ich.«
Warum ziehst du die Gesellschaft von Vögeln der von Menschen vor? fragte Krista sich innerlich. Ist da denn niemand, an dem du besonders interessiert bist? Es schien so. Hätte es in ihrer Unterkunft etwas zu essen gegeben, hätte sie ein einsames Frühstück wohl nicht gestört.
»Bei einem Wattspaziergang könnten wir zumindest überprüfen, was die Vögel dazu sagen.« Sie schmunzelte. »Die müssten Sie ja dann gleich in ihre Mitte aufnehmen.«
»Da sind Vögel sehr eigen«, erwiderte Liz. Das leichte Lächeln, das ihr Gesicht viel weniger kantig erscheinen ließ, streifte Krista mit einem Hauch von Hoffnung. »Sie würden also mit mir gehen?«
»Ich habe meiner Mutter versprochen, beim Frühstück mit den Gästen zu helfen«, wandte Krista ein. »Und die sind noch lange nicht alle aufgestanden.«
Liz nickte. »Ja, ich bin eine Frühaufsteherin. Morgens gibt es ganz besondere Lichteffekte, für die das frühe Aufstehen lohnt.« Sie erhob sich. »Dann gehe ich wohl besser allein. Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Und mit Ihrer Mutter will ich es mir auch nicht verderben.«
Sah Krista da eine leichte Amüsiertheit um die Mundwinkel herum spielen? »Meine Mutter meinte –«, setzte sie schnell an. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, diese merkwürdige und doch so interessante Frau nicht so schnell gehen zu lassen. »Sie sagte«, fuhr sie sich räuspernd fort, »dass alle Zimmervermieter Frühstück anbieten. Wo wohnen Sie denn, dass es dort keins gibt?« Oh Krista, noch plumper geht es wohl nicht, oder?
Sie fühlte, dass ihr heiß wurde. Hoffentlich schlug sich das nicht auf ihrem Gesicht nieder. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das der Fotografin gefallen hätte, aber auf eine Art, die Krista wiederum nicht gefallen hätte.
Sie kannte diese Frau überhaupt nicht, und trotzdem machte sie sich solche Gedanken? Am liebsten hätte sie über sich selbst den Kopf geschüttelt. Wenn sie im Urlaub bei ihren Eltern war, sah sie viele Gäste, einige kamen als Paare, einige allein, aber bisher hatte sie deren Privatleben genauso wenig interessiert wie was sie von Krista dachten.
Natürlich war sie immer höflich und freundlich, so war sie aufgewachsen, und es war ihr fast zur zweiten Natur geworden, aber obwohl der Gasthof Nehls für seine familiäre Atmosphäre gelobt und auch deshalb von den Gästen immer wieder gebucht wurde, gab es doch eine gewisse Schwelle, die man nicht überschritt. Gäste waren Gäste und keine Familie.
Außerdem war Liz Fischer noch nicht einmal ein Gast. Sie war nur für ein Frühstück hereingeschneit, wie der kalte Wind, der unaufgefordert hereindrang, wenn man die Tür öffnete.
»Es ist kein Zimmer«, sagte Liz, die kurz gezögert hatte, als Krista sie fragte. »Ein alleinstehendes Haus. Ich glaube, es war früher mal eine Scheune. Die Vermieterin sagte, es kommen ab und zu Maler her, die nicht nur draußen, sondern bei schlechtem Wetter auch drin malen können, weil die ehemaligen Scheunentore jetzt verglast sind. Dadurch kommt viel Licht herein.«
»Das ist für Sie als Fotografin bestimmt auch wichtig«, vermutete Krista. Sie hatte genug gehört. Das war eindeutig die Scheune der Hansens.
Liz zuckte die Schultern. »Ich kann weder Tiere noch Landschaft zu mir hereinholen, um sie zu fotografieren. Aber es ist angenehm, bei Wind und Wetter den weiten Blick über die See zu haben. Das gibt einem fast das Gefühl, auf einem Schiff zu sein.«
»Nur schwankt es nicht so.« Krista lachte.
Liz Fischers Lippen verzogen sich leicht. »Ich bin durchaus seefest. Allerdings hätte ich daran denken sollen, etwas Schiffszwieback mitzubringen.«
»Dann sollten wir vielleicht zuerst ins Dorf gehen statt ins Watt«, schlug Krista vor.
»Wir?« Helle Augenbrauen hoben sich.
»Ich . . . muss sowieso noch etwas für meine Mutter besorgen.« Krista fasste sich schnell. »Und falls Frau Petersen keine Zeit hat: Ich kann auch Fische ausnehmen.«
Liz lachte. Es war das erste Mal, dass Krista sie nicht nur leicht lächeln sah, wobei man sich oft auch noch fragen musste, ob man sich nicht täuschte. »Soweit möchte ich Sie denn doch nicht in Anspruch nehmen. Ehrlich gesagt: Ich kann das durchaus selbst. Ich bin nur ein wenig aus der Übung. Und jetzt . . . hier . . . wollte ich mich eigentlich nur erholen und am liebsten gar nichts tun.«
»Dann hätten Sie eher bei uns buchen sollen.« Krista lächelte. »Meine Mutter ist immer bemüht, es den Gästen so erholsam wie möglich zu machen. Und sie ist eine hervorragende Köchin.«
»Tja, wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet . . .« Der Blick, der Krista streifte, sagte allerdings, dass es weniger Kristas Mutter war, die die Attraktivität des Gasthofes Nehls ausmachte.
Krista räusperte sich. »Wenn Sie kurz warten, sage ich meiner Mutter Bescheid, dass wir jetzt gehen. Ich würde vorschlagen, wir machen einen Schlenker übers Watt ins Dorf, dann können wir beides verbinden.« Sie hob die Augenbrauen. »Es sei denn, Sie ziehen eins von beidem vor.«
»Das Watt«, bemerkte Liz, »ist fotografisch vermutlich interessanter als der Laden.« Sie wies auf ihre Kamera, die auf einem Stuhl an ihrem Tisch lag. Offenbar verließ sie das Haus nie ohne sie. »Aber andererseits muss ich auch meinen Kühlschrank füllen. Ich bleibe ja noch eine Weile.«
Ach ja? Wie lange? hätte Krista am liebsten gefragt, aber sie wollte nicht noch mehr dieser Blicke provozieren, die sie so verunsicherten. »Also beides«, nickte sie. »Ich werde meinen Rucksack holen. Denn wie ich sehe, haben Sie nichts dabei, um Ihre Einkäufe zu verstauen.«
Liz blickte für einen Moment verwirrt.
»Ja, bei uns hier gibt es keine Plastiktüten.« Krista lachte. »Jeder bringt seine eigenen Einkaufstaschen mit.«
»Jenseits aller Zivilisation«, murmelte Liz. »Genau das hatte ich mir gewünscht.«
»Aber Sie sind nicht richtig darauf vorbereitet«, ergänzte Krista vergnügt. »Sie müssen noch einiges über das Inselleben lernen.«
»Arbeiten Sie schon lange im Gasthof Ihrer Eltern?«, fragte Liz, als sie vom Strand ins Watt hinaus stapften. Der Schlick klebte so an den Schuhen, dass sie nur langsam vorankamen.
»Oh, seit ich geboren bin.« Krista lachte. »So fühlt es sich jedenfalls an. Ich habe keine wirkliche Erinnerung an eine Zeit, in der nicht irgendetwas im Gasthof zu tun war. Zu Anfang war es mehr ein Zubrot, aber seit die Fischerei immer schwieriger wird, kann mein Vater damit nicht mehr so viel verdienen.« Sie seufzte. »Wenn der Motor der Seelöwe kaputtgeht, verdient er gar nichts. Und die Reparatur – wenn er sie nicht selbst machen kann – kostet viel Geld.«
»Das ist sicher schwierig.« Liz nickte verständnisvoll. »Werden Sie den Gasthof einmal übernehmen? Oder das Boot Ihres Vaters?«
Krista schüttelte den Kopf. »Ich fische gern«, entgegnete sie stirnrunzelnd, »aber als Broterwerb ist das nichts. Es wird immer schwerer. Die Umweltverschmutzung macht es auch nicht gerade leichter.« Sie hob die Augenbrauen. »Nein, ich habe einen anderen Beruf. Ich helfe meinen Eltern nur noch im Urlaub in der Ferienzeit, wenn viele Gäste kommen.«
»Ach so.« Liz wandte das Gesicht zu ihr, während sie vorher ziemlich konzentriert auf den Boden gestarrt hatte. Der Untergrund war ihr offensichtlich nicht geheuer. »Ich dachte, Sie arbeiten immer im Gasthof.«
»Nein, nein. Ich bin die meiste Zeit auf dem Festland. Ich arbeite in der Raiffeisenbank in Husum.«
»Oh, eine Bankerin.« Liz schaute sie überrascht an.
»Hätten Sie nicht gedacht, was?«, scherzte Krista. »Aber als Bankerin würde ich mich sicher nicht bezeichnen. Ich arbeite in einer Bank, das ist alles.«
»Können Sie das denn?«, fragte Liz. »Immer drin sein? Wenn Sie hier . . .«, sie schaute über die Weite des nun freigelegten Meeresbodens, die unendlich schien, »aufgewachsen sind?«
Krista lächelte etwas wehmütig. »Schon in der Schulzeit musste ich mich umgewöhnen. Die ersten vier Jahre war ich hier, wir hatten einen wunderbaren Lehrer, der den Unterricht oft am Strand abgehalten hat. Wir waren nur fünf Kinder in der Klasse, alle in unterschiedlichem Alter.«
»Fünf?« Liz wirkte sehr erstaunt. »Dafür gibt es einen Lehrer?«
»Tja.« Krista zuckte die Schultern. »Das ist eben eine Inselbesonderheit. Was soll man machen? Die andere Alternative wäre, dass die Eltern die Kinder zu Hause unterrichten. Solange sie noch klein sind, kann man sie ja nicht allein aufs Festland schicken.«
»Unterricht am Strand.« Liz schmunzelte. »Das hätte ich mir auch gewünscht.«
»Sind Sie denn am Meer aufgewachsen?«, fragte Krista überrascht.
Das Gesicht der großen blonden Frau verschloss sich, und ihre grauen Augen schienen sich nach innen zu kehren. »Nein«, erwiderte sie knapp. Mehr nicht.
Krista wartete auf eine weitere Bemerkung, eine weitere Frage, aber es kam nichts. »Haben Sie schon einmal einen Wattwurm gesehen?«, fragte sie betont aufgeräumt, um die plötzlich etwas angespannte Stimmung zu lockern.
Anscheinend brachte das Liz wieder zu ihr zurück. »Ist das so ein Riesending, das plötzlich aus dem Boden hochschießt und alles verschlingt?«, fragte sie, allerdings nicht besonders ernst.
»Nein.« Krista lachte. »Das ist so etwas hier.« Sie ging auf einen Stein zu und hob ihn an, ließ ihn wieder fallen, hob den daneben auf und drehte ihn um, griff mit einer Hand tief in den Schlick und zog sie voller Dreck wieder heraus. Mit der anderen teilte sie die braune Masse und hielt Liz die Hand unter die Nase. »Darf ich vorstellen? Nils, der Wattwurm.«
In ihrer Hand kringelte sich ein Wurm, der Ähnlichkeit mit einem Regenwurm hatte, aber er war dicker, und außerdem sah er irgendwie zweifarbig aus.
»Das Besondere an Wattwürmern ist, dass sie Salzwasser vertragen und Kiemen haben«, erklärte sie. »Regenwürmer könnten hier nicht überleben. Wenn die Flut kommt, wären sie tot. Aber Wattwürmer überleben alles.«
Liz blickte über ihre Hand hinweg auf einige Vögel, die über das Watt hüpften oder wie ältere Spaziergänger schlenderten, den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet. Fast ununterbrochen pickten sie schnell hinein. »Na, alles wohl nicht«, bemerkte sie.
»Ja«, stimmte Krista zu, die ihrem Blick folgte. »Fressen und gefressen werden, das ist nun einmal der Lauf der Welt.« Sie lächelte. »Aber die Vögel erwischen oft nicht den ganzen Wurm. Er kann nämlich sein dünnes Hinterteil«, sie zeigte auf den Wurm in ihrer Hand, der vorn dick und hinten dünn war, »in kleinen Stücken abstoßen. Das erwischt dann der Vogel, und Nils hier«, sie betrachtete den Wurm in ihrer Hand fast zärtlich, »rettet sich mit dem wichtigsten und längsten Teil seines Körpers in seine Röhre, die er unter der Oberfläche gebaut hat.«
»Was für ein schlaues Kerlchen«, bemerkte Liz, betrachtete aber weniger den Wurm als Kristas ihm zugewandtes Gesicht.
»Weniger schlau als Instinkt.« Krista beugte sich hinunter und ließ den Schlickklumpen wieder neben den Stein fallen. Der Wurm war innerhalb von Sekunden unter der Oberfläche verschwunden.
Liz lachte. »Er weiß anscheinend ganz genau, wo er zu Hause ist.«
»Oh ja«, bestätigte Krista und schaute sie nun wieder an. »Sie kennen die besten Plätze.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf kleine Erhebungen, die überall die glattgespülte Oberfläche durchbrachen. »Das sind alles Wattwürmer. Bei Niedrigwasser säubern sie ihre Wohnungen und bringen den Dreck nach draußen.«
»Als ob man das unterscheiden könnte.« Liz schüttelte den Kopf. »Hat alles dieselbe Farbe.«
»Sie sind wirklich nicht am Meer aufgewachsen«, lächelte Krista. »Im Grunde genommen ist es natürlich schon dasselbe. Der Wattwurm frisst den Sand, ernährt sich von den darin enthaltenen Mineralien und bringt alles für ihn Unverdauliche durch seine Röhre nach oben. Dann nimmt er die nächste Portion und so weiter. Es gibt ungeheuer viele Wattwürmer«, sie wies noch einmal auf die fast dicht an dicht liegenden spaghettiförmigen Haufen auf der Oberfläche. »Sie fressen im Laufe eines Jahres einmal das ganze Watt und filtern dadurch den Sand, halten ihn locker und verschieben ihn Stück für Stück, so dass sich der Boden erneuern kann.«
»Junge, Junge«, meinte Liz verblüfft. »Was Sie alles wissen.«
Krista lachte. »Wie gesagt: Ich mache nicht zum ersten Mal eine Wattführung. Und abgesehen davon hat mir das mein Vater schon als kleines Kind beigebracht.«
Liz lächelte leicht und wandte den Blick dann auf die weite Fläche, die von Vögeln übersät war. »Welche Vögel sind das?«, fragte sie.
»Meistens Austernfischer«, erklärte Krista, »oder wie wir sagen: Halligstörche.«
Mit einer fließenden Bewegung hob Liz die Kamera vors Gesicht. Es sah aus, als wäre sie ein Teil ihres Körpers, den sie einfach nur anheben musste wie einen Arm. »So groß wie Störche sind sie aber nicht«, stellte sie fest, als sie die Vögel durch das Objektiv zu sich herangeholt hatte.
»Lange nicht«, nickte Krista. »Aber Halligen sind ja auch nicht so groß.« Sie lachte. »Dann passt es wieder.«
Liz machte eine Aufnahme nach der anderen, als ob sie Krista ganz vergessen hätte, bis Krista sagte: »Wir müssen weiter, sonst kommen wir vor der Flut nicht mal bis zur nächsten Sandbank.«
»Daran muss ich mich erst gewöhnen.« Mit einer ebenso fließenden Bewegung wie beim Anheben ließ Liz die Kamera sinken. Sie lächelte leicht. »Wie beruhigend, dass Sie so gut auf mich aufpassen.«
Krista schmunzelte. »Ehrlich gesagt habe ich selbst auch keine Lust zu ertrinken.« Sie zeigte nach vorn. »Wir müssen da lang. Über den Priel.«
Sie staksten los, und nach ein paar Metern meinte Liz: »Wäre es nicht besser, wir würden die Schuhe ausziehen?« Sie schaute etwas missmutig auf ihre verdreckten Füße hinunter.
Mit einem schnellen Blick suchte Krista die Umgebung ab, dann ging sie auf etwas zu und hob es an. »Wenn Sie ganz genau aufpassen und sich daran nicht die Fußsohlen aufschneiden . . .«
Liz trat neugierig näher.
»Die pazifische Auster«, erklärte Krista und drehte den Fund in ihrer Hand. »Sie breiten sich immer mehr aus, fast wie Unkraut. Und die Kanten sind so scharf, dass man sich den halben Fuß zerfetzen kann, wenn man drauftritt.« Sie warf den Brocken, der mehr wie ein kalkverkrusteter Stein aussah, wieder auf den Wattboden. »Ich sehe viele Wattwanderer ohne Schuhe, aber ich rate eher davon ab. Man weiß nie, was sich unter dem Schlick versteckt.«
»Dann werde ich Ihrem Rat wohl folgen.« Liz runzelte die Stirn und betrachtete ihre schlammbedeckten Schuhe fast etwas melancholisch. »Jetzt ist es ohnehin zu spät.«
»Lässt sich alles abwaschen«, bemerkte Krista wegwerfend. Sie nahm mit großen Schritten ihren Weg wieder auf. »Dahinten die Vögel, die werden Sie bestimmt interessieren. Wenn wir uns beeilen, können Sie noch ein paar gute Aufnahmen machen.«
Sie liefen los, und Krista legte ein solches Tempo vor, dass sie die Vögel fast aufgescheucht hätten.
»Trainieren Sie für die Olympiade?«, fragte Liz, während sie keuchend neben ihr stehenblieb, als sie endlich anhielt.
»Die Flut kommt«, erwiderte Krista ernst. »Schneller als Sie denken. Wenn wir dann noch hier sind, haben wir Pech gehabt.«
Sie wies mit einer allumfassenden Handbewegung auf die vielen Vögel, weiße und hellbraune Tupfen, manchmal mit schwarzen Flügelspitzen, wie Farbspritzer, die sich von dem einheitlich matschfarbenen Schlick abhoben, ihm Lebendigkeit verliehen, da sie ununterbrochen in Bewegung waren, um das reichhaltige Menü des Meeresbodens auszunutzen, solange es ihnen zur Verfügung stand.
»Bitte«, fuhr sie fort. »Mehr Auswahl gibt es nirgendwo. Hier sind sämtliche Vogelarten versammelt.«
Liz hob ihre Kamera an und schwenkte das Objektiv von links nach rechts und wieder zurück, während sie es noch weiter ausfuhr wie die Nase von Pinocchio. Als hielte sie es für ihre Lebensaufgabe, mit den meisten Klicks ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen, arbeitete der Verschluss ihrer Kamera fast ununterbrochen.
»Wir müssen zurück«, drängte Krista endlich. »Es wird schon knapp.«
In diesem Moment hörten sie Rufe. Krista legte ihre Hand über die Augen und schaute aufs Meer hinaus, das immer näherkam. Gar nicht so weit entfernt stand ein Mann bis zu den Hüften im Wasser und schwenkte ein rotes T-Shirt.
»Ach du liebe Güte.« Sie öffnete weit die Augen. »Der kommt da nicht mehr weg.«
»Warum kommt er nicht einfach zu uns?«, fragte Liz erstaunt. »Das sind doch höchstens hundert Meter.«
»Mit einem Priel dazwischen«, erklärte Krista. »Da kommt er nicht drüber. Der ist schon viel zu tief. Und die Strömung würde ihn wegreißen und aufs offene Meer hinaustragen.« Sie schaute sich schnell um. »Wir müssen in die andere Richtung. Sonst passiert uns dasselbe.«
»Wollen wir ihm nicht helfen?«, fragte Liz.