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Mitten im Zweiten Weltkrieg: Der elfjährige Michael bleibt auf der Flucht bei Sergej zurück, einem Freund seines Vaters. Der ukrainische Veteran zieht als Landstreicher umher, seit er sein Augenlicht verloren hat. Doch Sergej kümmert sich um den Jungen, nun Janek genannt. Er bringt ihm alles bei, was er weiß, auch, wie man sein eigenes Leben schützt, mit Angst, Hunger und Kälte lebt. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, müssen sich durchschlagen, werden von Bauern angegriffen. Doch zusammen überstehen der Junge und der alte Mann jede Gefahr, und sie erleben auch Freuden – Janek begegnet einem Mädchen, eine zarte Liebe. Auf ihrem Weg durch Nacht und Wälder lernen sie, mit der Vergangenheit umzugehen, ohne sich von ihr überwältigen zu lassen, Janek vom Judenhass, den er erleben musste, Sergej von der Wiederbegegnung mit einer Frau, die er einst liebte und verließ. Einer der letzten großen Romane aus dem Alterswerk Aharon Appelfelds. Eine Geschichte über eine Reise voller Schrecken und Abenteuer, über Freundschaft und Nähe und darüber, wie man allem Dunklen trotzt – so mitreißend wie eindringlich erzählt von einem großen, altersweisen Autor.
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Seitenzahl: 257
Aharon Appelfeld
Roman
Mitten im Zweiten Weltkrieg: Der elfjährige Michael bleibt auf der Flucht bei Sergei zurück, einem Freund seines Vaters. Der ukrainische Veteran zieht als Landstreicher umher, seit er sein Augenlicht verloren hat. Doch Sergei kümmert sich um den Jungen, nun Janek genannt. Er bringt ihm alles bei, was er weiß, auch, wie man sein eigenes Leben schützt, mit Angst, Hunger und Kälte lebt. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, müssen sich durchschlagen, werden von Bauern angegriffen. Doch zusammen überstehen der Junge und der alte Mann jede Gefahr, und sie erleben auch Freuden – Janek träumt von einem Mädchen, eine zarte Liebe. Auf ihrem Weg durch Nacht und Wälder lernen sie, mit der Vergangenheit umzugehen, ohne sich von ihr überwältigen zu lassen, Janek vom Judenhass, den er erleben musste, Sergei von der Erinnerung an eine Frau, die er einst liebte und verließ.
Einer der letzten großen Romane aus dem Alterswerk Aharon Appelfelds. Über eine Reise voller Schrecken und Abenteuer, über Freundschaft und Nähe und darüber, wie man allem Dunklen trotzt, so mitreißend wie eindringlich erzählt. Ein Junge, ein alter Mann – eine Lebensreise.
AHARON APPELFELD wurde 1932 in Czernowitz geboren, er starb 2018 bei Tel Aviv. Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor für Literatur. Seine Romane und Erinnerungen, unter anderem mit dem Prix Médicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet, sind in mehr als fünfunddreißig Sprachen erschienen, auf Deutsch zuletzt «Meine Eltern».
Sie ziehen von Feld zu Feld und von Hain zu Hain. Wenn sie eine Stunde gewandert sind, machen sie im Schatten eines Baumes Rast, verweilen eine Zeit, dann setzen sie ihren Weg fort.
Stoßen sie unterwegs auf eine Quelle oder einen Brunnen, schöpft Janek einen Eimer Wasser, und sie waschen sich das Gesicht und trinken, bis ihr Durst gestillt ist.
«Bist du müde?», fragt Großvater Sergei.
«Nein», antwortet Janek.
«Ruhen wir uns ein wenig aus, dann gehen wir weiter.»
So wandern sie, die immer gleiche Landschaft vor Augen. Im Frühling und Sommer schlafen sie unter einem Baum, im Herbst und Winter übernachten sie in einer Herberge am Wegesrand oder in der Wandnische einer Kirche.
Von dem wenigen Geld, das die Leute ihnen geben, kaufen sie sich etwas zu essen, doch an manchen Tagen müssen sie hungern.
Man nennt sie «Landstreicher». Es gibt Dörfer, wo man ihnen Böses will. Großvater Sergei sagt: «Das ist unser Los auf dieser Welt. Wir dürfen nicht klagen, wer klagt, ist ein armer Tropf.»
Unterwegs sprechen sie kaum. Fragt Großvater Sergei etwas, so antwortet Janek mit ein, zwei Worten. Großvater Sergei kann leeres Gerede oder Geschwätz nicht leiden. Manchmal vergeht ein ganzer Tag, ohne dass er ein Wort spricht.
Das Dorf erreichen sie meistens gegen Abend, wenn die Herde von der Weide heimkehrt. Janek liebt diese Zeit: den feuchten Geruch geschnittenen Klees und den Duft von Milch und Brot.
Sie gehen nicht ins Dorf hinein, sondern legen ihre Ranzen und Bündel neben einen Baum, an den Saum eines Wäldchens oder an einen Bach.
Janek erzählt Großvater Sergei, was seine Augen sehen. Es gibt nicht viel Abwechselung, doch sobald sich etwas ändert, teilt Janek es freudig mit. Großvater Sergei ist blind, er hält den Kopf geneigt und angespannt; manchmal fragt er nach einem bestimmten Gebäude oder einer Scheune, die ihn früher einmal beeindruckt haben. Dann zeigt sich sein gewaltiges Gedächtnis.
Im Sommer sitzen sie tagsüber unter einem Baum, machen ein Lagerfeuer und rösten Kartoffeln. Großvater ist in Gedanken versunken, und Janek betrachtet all die Wunder um sie herum.
Wortlos essen sie ihre Mahlzeit. Anschließend sagt Großvater: «Das war alles sehr köstlich, Dank sei Gott.»
Zum Nachtisch reicht Janek Großvater Sergei eine Tasse Tee und zündet ihm die Pfeife an. Eine ganze Weile schlürft Großvater den Tee und pafft.
Im Sommer dauern die Abende bis tief in die Nacht hinein. Janek liebt diese lichten Stunden. Wenn sie eine Melone haben, schneidet Janek sie in Stücke, und sie teilen sich die roten Streifen.
Auch nach Mitternacht flackern dann noch Reste von Licht. Großvater fragt: «Wie sieht der Himmel aus?» Und Janek antwortet: «Noch sehr hell.»
«Trotzdem ist es spät, wir müssen schlafen», sagt Großvater, bettet seinen Kopf auf einen zusammengefalteten Sack und schläft ein.
Janek betrachtet weiter die Lichter der Nacht, sieht im Geiste noch einmal den Weg vor sich, den sie an diesem Tag zurückgelegt haben. Bis zum Sonntag würden sie jetzt hier ausruhen.
Sonntags gehen sie in die Kirche. Landstreicher, Aussätzige und Geisteskranke dürfen die Kirche nicht betreten. Janek nimmt den Hut vom Kopf und legt ihn neben seine Füße: damit man weiß, dass er und der Mann neben ihm um ein Almosen bitten.
Die Leute öffnen ihr Herz nicht so leicht. Meistens eilen sie zum Gebet und ignorieren die Bedürftigen, doch manchmal geschieht es, dass jemand einen Geldschein aus der Tasche zieht und ihn in Janeks Hut legt. Rasch wünscht Janek ihm dann Gottes Segen.
So hat vor rund einem Monat ein Mann etwas in Janeks Hut gelegt, eine echte Überraschung, ein ganzer Zweihunderter. Großvater Sergei pries Gott und rief aus: «Gott sorgt für seine Geschöpfe.»
Manchmal verharren sie auch nach der Messe noch an ihrem Platz. Meistens nähert sich ihnen kein Mensch, doch manchmal kommt eine Frau und bringt ihnen eine warme Mahlzeit, wartet, bis sie fertig gegessen haben, und fragt: «Wohin seid ihr unterwegs?» Großvater Sergei zählt ihr die nahe gelegenen Dörfer auf und sagt: «Heute Nacht schlafen wir vermutlich in Jadowze.»
«Erwartet euch jemand?», möchte die Frau wissen.
«Nein», antwortet Großvater knapp.
«Und was macht ihr dort?», fragt sie nach.
«Wir rasten einige Tage im Schatten eines Baums, dann ziehen wir weiter.»
«Und wohin seid ihr unterwegs?»
«Wohin die Füße uns tragen.»
Als sie Großvater Sergeis Antwort hört, lacht die Frau lauthals. Schließlich sammelt sie das Essgeschirr ein und fragt: «Geht ihr nie nach Hause?»
Großvater Sergei offenbart ihr die Wahrheit: «Wir haben kein Zuhause, der Himmel ist unser Dach überm Kopf.»
Die Frau sieht ihn an und sagt: «Der Mensch braucht ein Zuhause.»
«Früher haben wir eins gebraucht, jetzt nicht mehr», sagt Großvater Sergei, und die Frau ist erneut verwundert.
«Wie ihr wollt, aber gebt auf euch acht», sagt sie und verschwindet.
Anderthalb Jahre zuvor hatte der Vater Janek nachts zu Großvater Sergei gebracht und gesagt: «Ich vertraue dir meinen Sohn an. Gib auf ihn acht, mein Lieber.»
«Ehrenwort», erwiderte Großvater Sergei so erstaunlich knapp wie immer.
«Nimm dieses kleine Bündel, da ist ein wenig Geld drin, die Eheringe von mir und meiner Frau und meine Armbanduhr. Morgen vertreiben sie uns aus der Stadt.»
«Behalte das. Du brauchst diese wertvollen Sachen gewiss dringender als ich. Du ziehst in die Ferne, wer weiß, wohin. Ich bleibe hier.»
«Nimm bitte. Ich habe dir nicht viel zu geben. Wenn wir uns wiedersehen, sollst du doppelt und dreifach so viel bekommen.»
«Trink eine Tasse Tee», bat Großvater Sergei ihn inständig.
«Ich kann nicht, mein Lieber. Ich muss zurück.»
Er umarmte Janek und flüsterte ihm ins Ohr: «Tu, was Großvater Sergei dir sagt. Das hier geht vorüber, und danach kehren wir heim.» Dann wandte er sich an Großvater Sergei, umarmte ihn und sagte: «Mein Sohn ist ein guter Junge.» Dabei unterdrückte er seine Tränen.
Ohne länger zu säumen, zog er los.
Großvater Sergei kennt Janeks Vater gut. Viele Jahre hat er in dessen Holzwarenlager gearbeitet. Selbst als er schon blind war, kam er weiter ins Warenlager und beriet die Kunden. Die Kunden liebten ihn und schätzten seine Ratschläge. In der Zehn-Uhr-Pause aßen sie gemeinsam ein Butterbrot und tranken eine Tasse Kaffee. Janeks Vater zahlte ihm weiterhin seinen Lohn. Ihre Freundschaft währte lange Jahre, bis Janeks Vater in ernste wirtschaftliche Not geriet, bankrottging und das große Warenlager gepfändet wurde. Blind und mit niemandem an seiner Seite begab sich Großvater Sergei auf Wanderschaft, zog über die Felder und von Dorf zu Dorf.
Nachdem der Vater in der Dunkelheit verschwunden war, fragte Großvater Sergei den Jungen: «Bist du hungrig?»
«Nein», sagte Janek.
«Du musst aber etwas essen. Wie viele Stunden seid ihr gegangen?»
«Drei oder vier.»
«Wir müssen essen, du wanderst jetzt mit mir. Landstreicher haben kein Haus, sie müssen stark sein.»
Nach einer Pause fügte Großvater Sergei hinzu: «Wir schlafen in unseren Kleidern. Nur wenn rundherum alles still ist, ziehen wir die Schuhe aus. Mach dir keine Sorgen, du wirst dich schnell an dieses Leben gewöhnen. Landstreicher sind wie Soldaten: immer in Alarmbereitschaft. Aber es gibt auch kleine Freuden, die wirst du genießen.»
Janek war sprachlos gewesen. Er wusste nicht, was er sagen oder fragen sollte. Innerlich war er noch zu Hause, bei seiner Mutter. Bevor er aufgebrochen war, hatte der Vater versucht, die Mutter zu beruhigen. Sie stand zitternd neben dem Ofen.
In derselben Nacht sprach Großvater Sergei: «Du musst deinen Namen ändern. Von jetzt an heißt du Janek und nicht mehr Michael. Du bist klug, du verstehst, warum das sein muss. Sobald der Krieg vorüber ist, nimmst du wieder deinen alten Namen an.»
Janek fühlte sich müde und taumelig. Die vergangenen Tage im Keller, die Angst, dass Soldaten kommen, ihn mitnehmen würden, und dann der verworrene Weg zu Großvater Sergei – all das hatte ihn erschöpft. Er legte den Kopf auf den Boden und schlief ein.
Als Janek erwachte, wusste er nicht, wo er sich befand. Großvater Sergei war schon auf den Beinen, trank Tee und paffte seine Pfeife.
«Wie hast du geschlafen?», fragte Großvater Sergei.
«Ich habe zu Hause geschlafen», antwortete Janek verwirrt.
«Das war ein Traum, du hast hier geschlafen, in meinem Wintermantel.»
«Wird man mich nicht umbringen?»
«Hab keine Angst. Dir wird nichts Böses geschehen. Ich bin zwar blind, aber ich kenne diesen Ort wie meine Westentasche. Während meines Militärdienstes war ich in dieser Gegend stationiert. Viele Monate habe ich hier exerziert und später Soldaten ausgebildet.»
Janek erinnerte sich an die Anweisungen, die sein Vater ihm gegeben hatte: «Frag nicht zu viel, tu, was Großvater Sergei dir sagt. Wenn es schwer wird, beklage dich nicht. Der Krieg wird zu Ende gehen, dann komme ich dich holen.»
Großvater Sergei spürte Janeks Unruhe. Er beschwor ihn mit leiser Stimme, sagte: «Es gibt nichts, wovor du dich fürchten musst. Ruh dich aus. Wenn du dich ausgeruht und etwas zurechtgefunden hast, machen wir uns ein schönes Mittagessen.»
Noch am selben Tag zeigte ihm der Ort sein hässliches Gesicht. «Bastard», blitzte ihn ein Junge im Vorbeigehen an.
Großvater Sergei hörte es und sagte: «Gib nichts um diese kleine Schlange. Den machst du bald zu Kleinholz.»
Am Abend sagte Großvater Sergei zu ihm: «Du musst die Kleider wechseln. Wenn du wie ein Stadtkind aussiehst, bist du verloren. In meinem Bündel findest du Hemd und Leinenhosen. Sie sind dir vermutlich ein bisschen zu groß, aber keine Sorge: Die Hosen kann man unten umschlagen, und ich habe noch zwei große Nadeln aus Militärzeiten, damit machen wir sie am Bund enger.»
Janek schlüpfte in die neuen Kleider und fühlte sich wie kostümiert.
Großvater Sergei setzte hinzu: «Verzeih mir, aber damit die Tarnung perfekt ist, hänge ich dir noch ein kleines Holzkreuz um. So erweckst du keinen Verdacht.»
«Muss ich diese Kleider die ganze Zeit tragen?», fragte Janek.
«Du wirst dich rasch daran gewöhnen.»
Die Kleider rochen nach Tieren, Janek musste immerzu niesen.
«Auch an den Geruch wirst du dich gewöhnen, das verspreche ich dir.»
Janek wusste nicht, was er sagen oder fragen sollte. Etwas war ihm genommen worden. Es fiel ihm schwer, Großvater Sergei dieses Gefühl zu erklären. Großvater Sergei kam ihm entgegen: «Das ist nicht für immer. Der Tag ist nicht mehr fern, da wirst du diese Tarnung ablegen und wieder zu dem werden, der du warst.»
Großvater Sergeis Worte beschwichtigten ihn. Doch nachts im Traum fühlte er sich schwer, wie in Ketten.
Von allen Seiten waren Schreie zu hören. Vergebens versuchte er mit aller Kraft zu fliehen. Schließlich segelte er aus großer Höhe abwärts – und erwachte.
Großvater Sergei fragte: «Fühlst du dich unwohl in deinen neuen Kleidern? Wir werden sehen, vielleicht kaufen wir dir in den kommenden Tagen Hemd und Hose in deiner Größe. Derweil musst du dich in die Lage fügen. Vergiss nicht: Soldaten an der Front fügen sich in jede Lage.»
«Sind wir Soldaten?»
«Wir sind wie Soldaten.»
Janek wollte fragen, was «wie Soldaten» bedeutete, aber er hielt sich zurück. Er erinnerte sich an das, was ihm sein Vater mehrmals eingeschärft hatte: «Frag nicht zu viel.»
So wandern sie einige Wochen. Manchmal scheint es Janek, als seien sie seit eh und je unterwegs.
«Sind Landstreicher anders als Menschen, die in Häusern wohnen?», fragte Janek.
Nach einer Pause antwortete Großvater Sergei: «Sie reden weniger, beobachten und lauschen dafür gern.»
«Arbeiten sie nicht auf dem Feld?»
«Sie haben keine eigenen Felder.»
«Und wovon leben sie?»
«Wie du gesehen hast: von einer milden Gabe aus Menschenhand», beeilte sich Großvater Sergei zu antworten.
Großvater Sergei hielt Janek eine trockene Scheibe Brot hin und sagte: «Landstreicher mäkeln nicht, sie essen, was da ist.»
«Heute Nacht hat mich ein kleiner Fuchs besucht», verriet ihm Janek.
«Hab keine Angst, der tut dir nichts. Du bist in einen dicken, starken Militärmantel eingepackt, und nachts knöpfe ich ihn bis über deinem Kopf zu. Sogar deine Beine stecke ich unter den Mantel. Ist dir warm?»
«Ja.»
«Dieser Mantel hat mich beim Militär beschützt, jetzt wird er dich beschützen.»
Wenn Janek sich in den Mantel schmiegt, sieht er Vater und Mutter vor sich, und sein Herz rauscht vor Sehnsucht. Nur einen Augenblick lang. Die vielen Wochen, die er bei Großvater Sergei ist, haben die geliebten, vertrauten Gestalten aus seinem Kopf gelöscht. Er träumt nicht länger vom Hausmeister oder vom Dienstmädchen. Er sieht nur noch die Felder und Wälder um sie herum.
Großvater Sergei erlaubt ihm nicht, allein umherzustromern. Man müsse diese gefährlichen Gebiete kennen, bevor man sich in ihnen bewegt. Die meiste Zeit des Tages ist Janek in den Militärmantel gehüllt, sitzt neben Großvater Sergei und betrachtet ihn.
«Was muss ich tun, Großvater Sergei, wenn ich Landstreicher sein will?»
«Schauen und denken.»
Manchmal kommt es Janek so vor, als hätte der Vater ihn nicht hierhergebracht, um ihn vor dem Krieg zu verstecken, sondern damit er das Landstreicherleben kennenlernt.
Großvater Sergei redet wenig mit den Menschen. Fragt man ihn etwas, antwortet er knapp, doch passiert es, dass freche Jungs ihn einen dreckigen Bettler nennen. Großvater Sergei schreckt das nicht ab. Er steht auf und verwünscht sie.
«Komm, mein Lieber, ich zeige dir, wie man Tee aufbrüht. Den Körper verlangt es nach solch einem Getränk. Den trinken wir zwei-, dreimal am Tag. Denn Tee nährt Körper und Seele. Selbst ein einfacher Blütentee belebt das Herz.»
«Nachts sehne ich mich nach zu Hause», gestand ihm Janek.
«Sehnsucht ist ein edles Gefühl, sie trägt uns weit fort von uns, hin zu denen, die wir lieben. Bewahre dir deine Sehnsucht, aber mehre sie nicht noch. Und jetzt stecke Beine und Kopf unter den Mantel und schließe die Augen. Gute Nacht.»
Manchmal meint Janek in der Nacht, dass Hunde sich ihnen nähern, um ihn zu beißen. Er hält den Atem an und drückt sich in das Futter des Mantels.
Am Morgen kam ein Mädchen auf ihn zu und fragte: «Woher kommt ihr?»
«Von hier», antwortete Janek.
«Wohnt ihr im Dorf?»
«Nein, wir sind unterwegs in ein anderes Dorf.»
«Seid ihr Landstreicher?»
«Sieht so aus», sagte Janek, weil ihm nichts anderes einfiel.
«Seid ihr Landstreicher oder Bettler?»
Janek wusste den Unterschied nicht. Um sich aus der Verlegenheit zu befreien, sagte er: «Warum ist das wichtig?», schob aber sogleich hinterher: «Und was machst du?»
«Ich gehe in die Schule.»
«Wie alt bist du?»
«Elf.»
«Ich bin auch elf und gehe in die sechste Klasse.»
«Wo ist deine Schule?»
«Großvater Sergei ist mein Lehrer.»
«Ist er streng?»
«Nein.»
«Sonderbar», sagte das Mädchen.
«Bist du eine gute Schülerin?», fragte Janek.
«Meine Noten sind in Ordnung. Nur im Rechnen habe ich eine Fünf.»
«Mach dir keine Sorgen. Im nächsten Jahr wirst du besser sein.»
«Wann geht ihr fort?»
«Sonntag, nach der Messe.»
«Schade. Vielleicht sehen wir uns ein anderes Mal wieder», sagte sie und ging fort.
Als das Mädchen verschwunden war, sah Janek seine Schule vor sich, sah die Kinder über den Korridor laufen, die Lehrerin Olga am Eingang zum Spielplatz eine Zigarette rauchen. Das vertraute Bild, dem er nie besondere Beachtung geschenkt hatte, wühlte ihn plötzlich auf, und er fragte sich: Warum haben sie nur mich von der Schule verwiesen?
Später sagte Großvater Sergei: «Heute, nach dem Frühstück, beginnen wir mit dem Exerzieren. Wenn du nicht trainierst, bleibst du schwach. Die jungen Burschen im Dorf werden dich hänseln und verspotten. Laufen ist die Grundlage für jedes körperliche Exerzieren. Wenn du regelmäßig in gleichförmigem Rhythmus, mit der richtigen Atmung läufst, streckst du dich und bekommst Muskeln in Armen und Beinen. Du wirst überrascht sein, wie sich dein Körper nach einem Monat anfühlt, auch die traurigen Gedanken werden verfliegen wie nie gewesen.»
Janek brach auf, um eine Runde um die Felder zu laufen. «Nicht so schnell, achte lieber auf einen gleichförmigen Rhythmus», wies Großvater Sergei ihn an.
Als er vom Laufen zurückkam, schmerzten seine Beinmuskeln, außer Atem und erschöpft sank er auf die Erde. Großvater Sergei sagte ihm, er solle seine Beine mit ein wenig Öl massieren. «Das ist erst der Anfang des Weges, Janek. Ein starker Körper wird dich und deine Seele schützen. Die Seele ist zart und fein, es braucht einen starken Körper, der sie schützend umhüllt.»
«Kann man die Seele sehen?», fragte Janek.
«Nein, ebenso wie man Gott nicht sehen kann.»
Janek unternimmt jeden Tag einen Morgenlauf. Anfangs erschöpfte ihn das Laufen, doch mit jedem Mal hatte er danach weniger Muskelkater.
Die nächste Übung, die Großvater Sergei ihm aufgab: auf Bäume klettern. Auch diese Übung fiel ihm erst nicht leicht. Doch nach und nach lernte er, Hände und Beine richtig zu gebrauchen, sich gekonnt an den Ästen festzuhalten und vorwärtszubewegen. Oder sich mit Schwung hinüber zum benachbarten Baum zu hangeln. Großvater Sergei steht unten neben den Bäumen und fragt: «Wo bist du? Was machst du jetzt?» Janek beschreibt ihm alles so genau wie möglich.
Noch im selben Monat trug Großvater Sergei ihm auf, ein Stück von einem Baumstamm zu suchen und Gewichtheben zu üben.
Als er zwei Monate hart trainiert hatte, fühlte Janek die Muskeln in seinem Körper, und als Jungen Steine nach ihnen warfen, wehrte er sich wütend. Bei den ersten Zusammenstößen reagierte er noch verhalten, doch allmählich wurde er immer furchtloser.
Großvater Sergeis Anweisung, die sich Janek gelegentlich ins Gedächtnis rief, lautete: «Je öfter du exerzierst, umso besser. Mit jedem Training mehrt sich die Kraft. Die meisten Menschen sind feige. Courage und Beharrlichkeit jagen ihnen Angst ein. Schade, dass sie keine Angst vor Gott haben.»
Eines Nachts versuchten zwei Jungen, ihnen ihre Bündel zu stehlen. Janek erwachte und sprang auf sie zu. Binnen kurzer Zeit überwältigten sie gemeinsam die beiden Räuber. Großvater Sergei war zufrieden, wie beherzt Janek gehandelt hatte.
Als junger Mann hatte Großvater Sergei in einer Spezialeinheit gedient. Er war ein unerschrockener Kämpfer gewesen, Meister im Langstreckenlauf und Gewichtheben, ein exzellenter Soldat. Darum hatte man ihn zum Oberleutnant ernannt. Hätte er seine Reifeprüfung machen können, dann wäre er Offizier geworden.
Der lange Militärdienst hatte ihn zu einem Nachtgeschöpf gemacht; er besaß ein scharfes Gehör, nahm als Erster jeden Geruch wahr. Ebenso erschmeckte er sofort, ob etwas frisch oder verdorben war. Mit feinem Gespür ertastete er jedes Detail.
Seitdem er blind ist, sind Großvater Sergeis restliche Sinne umso sensibler. Manchmal bleibt er mitten auf dem Feld stehen und sagt: «Es kommt Regen. Wir müssen einen Baum mit dichter Krone finden.» Obwohl nichts auf Regen deutet. Die Sonne steht mitten am wolkenlosen Himmel, kein Lüftchen regt sich. Aber der Seher in Großvater Sergei behält immer recht. Rasch zieht der Himmel sich zu, und es fällt Regen.
Die Erblindung hat ihm sein Leben, aber nicht seinen Glauben an Gott und an gute Menschen verleidet. Wenn sich Großvater mit seinem Stock vorantastet, wirkt er zaudernd, aber seine Stimme ist klar, und selbst sein Schweigen entfaltet eine immense Kraft. Sein ganzer Gang verrät den Kommandanten. Zwei Wochen zuvor trafen sie einen von Großvater Sergeis ehemaligen Rekruten, der vor lauter Aufregung kein Wort herausbrachte. Schließlich fragte er: «Wie geht es Ihnen, Herr Kommandant?»
«Gut», gab Großvater Sergei kurz zurück.
«Ich sehne mich nach der Militärzeit», sagte er und brach beinahe in Tränen aus.
«Alles hat seine Zeit. Ein junger Mann erklimmt Berge, spannt das Seil über den Abgrund und trotzt jauchzend jeder Gefahr. Im Alter ist mehr Zeit zum Nachdenken.»
«Meine Gedanken machen mich wahnsinnig, Herr Kommandant.»
«Sagen Sie sich immer: Ich für meinen Teil tue das Gute, der Rest – liegt in Gottes Händen.»
«Diese Stufe der Weisheit habe ich noch nicht erreicht, mein Kommandant.»
«Man muss das Leben gelassen nehmen, Gregor», wandte sich Großvater Sergei mit tiefer Stimme an ihn.
«Wie kann man es gelassen nehmen? Meine Frau macht mich wahnsinnig, und meine Töchter pflegen einen schlechten Umgang.»
«Genau das meinte ich: gelassen. Denn sonst verlieren Sie den Verstand. Sie schätzen die Situation ein, prüfen, welche Aussichten bestehen, und dann handeln Sie.»
«Einst besaß ich diese Haltung, mein Kommandant. Das Militär und die Gefahren lehrten mich, langmütig zu sein.»
«Auch heute können Sie sich sagen: Ich tue, was in Gottes Augen recht ist, alles andere liegt in seinen Händen.»
Gregor seufzte: «Wie gut, dass ich Sie getroffen habe, mein Kommandant. Dank Ihnen ist für einen Moment meine schöne Jugendzeit wiederaufgelebt. Ich war stolz, Ihr Untergebener zu sein. Wir alle waren stolz auf Sie. Wir haben dort gewirkt, wo es Gotteskräfte bedurfte, haben Menschen aus Schneelawinen und plötzlichen Überschwemmungen gerettet. Unser Zusammengehörigkeitsgefühl war gewaltig. Zu Fuß gelangten wir an all die gefährlichen Orte, haben selbst das Unmögliche versucht. Das Leben hatte einen Sinn.»
«Gregor, mein Freund, seien Sie mir nicht böse, wenn ich Ihnen sage: Das Leben hat auch jetzt einen Sinn.»
Gregor senkte den Kopf und schwieg.
Eine Weile saß Gregor, ohne einen Ton zu sagen, neben seinem Kommandanten. Schließlich wandte er sich an Großvater Sergei und sagte: «Mein Kommandant, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Sie denke. Möge Gott Ihnen helfen. Sie sind es wahrlich würdig, dass er Sie erhört.» Ohne ein weiteres Wort zog er seines Weges.
Im Sommer sind die Tage lang. Stunden sitzt Janek da und schaut zu, wie sich der Himmel verfärbt. Großvater Sergei zieht an der Pfeife und fragt ab und an: «Wie sieht der Himmel aus?» Janek antwortet: «Noch ist es sehr hell.» Meistens schweigen sie. Doch manchmal bricht Großvater Sergei das Schweigen und erzählt von seiner Militärzeit, seinen Waffenbrüdern, vom Exerzieren, den Invasionen und Rettungsmanövern. Nicht jeder Soldat wird zur Rettungseinheit zugelassen. Die Aufnahmeprüfungen sind hart. Durchhaltevermögen, Findigkeit und Pflichtergebenheit sind hier gefordert. Wer diese Eigenschaften nicht mitbringt, wird nicht angenommen. Großvater Sergei schärfte seinen Soldaten immer wieder ein, dass es ein großes Privileg bedeute, in einer Spezialeinheit dienen zu dürfen. Oftmals pries er das Berufsethos eines Soldaten mit den Worten: «Sie sind mit Leib und Seele Soldat, halten Sie sich strikt an die Waffenreinheit und überheben Sie sich niemals.»
Wenn Großvater Sergei über seine Jahre im Militär spricht, flattern seine Augenlider, seine Stirn glänzt, und man merkt, dass er im Geiste klare Bilder vor sich sieht.
«Ging es hart zu in der Spezialeinheit, Großvater Sergei?», fragt Janek vorsichtig.
«Hart, aber gut», erwidert Großvater Sergei. «Ich war jung und stark, sprang wie ein Panther. Hatte das ganze Leben noch vor mir und keine Sorgen. Das war die schönste Zeit meines Lebens. Wenn ich heimkehrte, applaudierte mir das ganze Dorf. Später häuften sich die Orden an meiner Uniform. Die Kinder sahen voller Bewunderung zu mir auf, zählten und sortierten meine Orden: die wichtigsten zuerst. Sonntags in der Kirche drückten mir die angesehensten Leute im ganzen Dorf die Hand. Um ehrlich zu sein – mir schwoll die Brust vor Stolz.»
«Großvater Sergei, gehe ich auch zum Militär?»
«Das nehme ich an, aber du hast noch viele Jahre vor dir bis zur Einberufung. Wie alt bist du?»
«Elf.»
«Du hast noch viel Zeit.»
Großvater äußert sich sparsam, gibt nichts Genaueres preis. Janek lauscht, ohne ihn mit überflüssigen Fragen zu belästigen. Jede Geschichte, die er erzählt, behält er im Gedächtnis. Janek liebt Großvaters Stimme und den Tabakgeruch, den seine Pfeife verströmt. Wenn er aufgeregt ist, verschluckt Großvater die Hälfte seiner knappen Sätze, und Janek hört nur einige Worte der Geschichte, doch auch die merkt er sich gut.
Jetzt müssen sie sich erst einmal mit frischen Lebensmitteln versorgen. Also läuft Janek flink zu der Bäuerin, bei der er beim letzten Besuch zu essen gekauft hat. Vergangenen Sonntag haben sie von den Kirchgängern besonders großzügige Spenden erhalten. Darum hat Janek jetzt genug Geld in der Tasche, um etwas zu kaufen. Die Bäuerin erkennt Janek wieder und ruft ihn beim Namen. Sie holt Gurken, Tomaten, Schalotten und Kartoffeln aus dem Garten und gibt ihm dazu noch einen warmen Laib Brot, einen Krug Milch und ein Stück Käse. Die Bäuerin schlägt einen Preis vor, und Janek antwortet sofort: «Zu teuer. So viel Geld habe ich nicht.»
«Wie viel hast du?», fragt die Bäuerin.
«Einen Fünfziger.»
«Meiner eigenen Hände Arbeit: Das kann ich dir nicht für fünfzig geben.»
«Mehr habe ich nicht», antwortet Janek.
«Dann aber ohne das Brot und die Milch.»
«Dann gehe ich zu einer anderen Bäuerin», sagt Janek.
«Eine andere Bäuerin gibt dir verrottetes Gemüse und saure Milch.»
«Sie sind eine anständige Bäuerin. Letztes Mal haben Sie mir frische Lebensmittel gegeben», schmeichelt Janek ihr.
«Bei mir ist alles frisch, aber nicht umsonst», sagt die Bäuerin.
«Ich gehe», sagt Janek. «Letztes Mal haben Sie mir dasselbe für fünfzig gegeben und waren zufrieden.»
«Geh ruhig, wir werden sehen, ob jemand anders dir so frische Waren gibt wie ich.»
«Ich gehe», sagt Janek.
«Gut», sagt die Bäuerin.
«Nehmen Sie weg, was Sie wollen, nur nicht das Brot und den Käse», schlägt Janek ihr vor.
«Ich nehme auch den Milchkrug weg.»
«Den Milchkrug lassen Sie bitte.»
«Geh, dass du mir ja nicht mehr unter die Augen kommst», zürnt die Bäuerin gekünstelt. Schließlich hält Janek ihr den Fünfziger hin, dann noch zwei kleine Scheine, packt die Lebensmittel in den Sack, nimmt den Milchkrug in die Hand und wendet sich zum Ausgangstor.
«Möge Gott Sie segnen», sagt er.
Die Bäuerin erwidert seinen Gruß nicht, damit er weiß, dass sie noch immer zürnt.
Großvater Sergei hört Janeks Schritte und ruft: «Janek.»
Janek lässt den Sack von der Schulter gleiten, erzählt, was er mitgebracht und wie er um den Preis gefeilscht hat.
Großvater Sergeis blinde Augen lächeln. Auch das Feilschen hat er von Großvater Sergei gelernt, was man am besten sagen oder nicht sagen sollte. Das Wichtigste beim Verhandeln ist, dass man gleichgültig, nicht begierig wirkt.
«Wie war das Verhandeln?», will Großvater Sergei wissen.
«Anstrengend», antwortet Janek.
«Was hast du ihr gesagt?»
«Ich habe ihr gesagt: Ich gehe zu einer anderen Bäuerin.»
«Wackerer Held», meint Großvater Sergei und klopft ihm auf die Schulter.
Janek wärmt einige Äpfel im Lagerfeuer und reicht Großvater Sergei ein Stück Brot, Käse und eine Tomate. Sie sitzen zusammen und essen. Das Brot ist frisch und köstlich, die Tomate saftig und süß. Die Essensvorräte werden für zwei, drei Tage reichen, dann schnüren sie ihre Ranzen und Bündel und machen sich wieder auf den Weg.
Im Sommer ist das Wandern leichter: Sie gehen von Dorf zu Dorf. Es gibt stille, angenehme Dörfer, aber auch solche, in denen die Bewohner den Landstreichern und Almosensammlern Böses wollen und sie mit Drohgebärden vertreiben.
«Keine Sorge, Janek, mit denen wird Gott noch abrechnen.»
Sie hatten daran gedacht, bis Sonntag zu bleiben, am Eingang der Kirche zu sitzen und auf eine milde Gabe zu hoffen. Doch Großvater entschied, dass es besser sei, diesen Platz zu verlassen und weiterzuziehen. Einige junge Burschen gingen an ihnen vorüber und verspotteten sie, sogar eine ältere Frau schrie ihnen entgegen: «Schert euch weg von hier.»
Am nächsten Tag nach dem Frühstück, nachdem Janek seine tägliche Runde gelaufen, auf einen Baum geklettert war und seine Turnübungen absolviert hatte, brachen sie auf. Unterwegs kamen sie an Bäumen in frischem Grün vorbei, stießen auf einen weißen Hasen und sogar auf einen Kirschbaum mit reifen Früchten. Großvater Sergei erlaubte Janek nicht, die Kirschen zu pflücken, obwohl die Bäume allen Menschen gehören; er wollte nicht, dass man sage: «Die Landstreicher stehlen.»
Bevor sie das Dorf betreten, waschen sie sich im Bach. Am Mittag ist das Wasser erwärmt, sie legen die Kleider ab und steigen hinein. Trotz seines Alters ist Großvater Sergeis Körper noch stark behaart und kräftig. Aber er schwimmt nicht. «Blinden ist das Schwimmen verboten», sagt er mit einem leichten Lachen.
Das Dorf erreichen sie gegen Abend. Der Baum, an dessen Fuße sie beim letzten Besuch gelagert hatten, ist inzwischen dicht belaubt. Das Wiedersehen erfreut sie. Sie legen die Ranzen und Bündel ab, und Janek erzählt Großvater, was seine Augen sehen. Währenddessen bereitet er das Lagerfeuer vor. Noch haben sie einige Kartoffeln übrig, die Janek nun rasch im Lagerfeuer aufwärmt.
Nach einer halben Stunde ist die Mahlzeit fertig. Janek reicht Großvater eine Kartoffel, ein Stück Käse und eine Gurke, dazu dampft neben ihnen eine Tasse braunen Tees. Großvater Sergei isst langsam; nachdem er fertig gegessen hat, zündet Janek ihm die Pfeife an, setzt sich und beobachtet ihn: Großvater Sergeis Bewegungen sind still, harmonieren mit dem bedächtigen Gang seiner Gedanken.
«Soll ich Tabak kaufen gehen?», fragt Janek.
«Nicht nötig, ich habe mehr als genug», antwortet Großvater Sergei.
Lange Zeit sitzen sie wortlos da. Was das Reden angeht, vertritt Großvater eine strikte Lehre: Reden ist unnötig, tu und rede nicht. Reden schürt nur Unruhe. Zuhören ist besser. Vom Zuhören lernst du etwas.
Seitdem er mit Großvater Sergei umherzieht, befolgt er streng seine Weisungen, aber dieses Mal hält er sich nicht zurück und fragt: «Großvater Sergei, wohin haben sie die Juden vertrieben?»
«Wer weiß? Aber sorge dich nicht, dein Vater ist klug und findig.» Nach einer Pause fügt er hinzu: «Die Juden hat man immer vertrieben, auch im letzten Krieg, aber sie sind zurückgekehrt und haben ihre Häuser wiederaufgebaut.»
«Was haben die Juden Böses getan, dass man sie immer schikanieren muss?»
«Fragen, die wir nicht beantworten können, sollten wir besser gar nicht erst stellen.»
Nachts führt ein Traum ihn nach Hause, wo alles noch beim Alten ist. Nachmittags kommt Janek aus der Schule heim, und Vater kehrt aus dem Holzwarenlager zurück. Mama bereitet ein Mittagessen zu: Borschtsch mit Rahm und Käsebliny. Nach der Mahlzeit zündet Vater sich eine Zigarette an und nippt am Tee.
«Wie war die Prüfung?», fragt Vater, und Janek antwortet: «Ich habe eine Eins.» Als der Vater die Antwort hört, strahlt er vor Freude, und Janek, vor lauter Glück und Bangen, erwacht aus dem Schlaf.
Großvater Sergei ist schon aufgestanden, er hält eine Tasse Tee in der Hand, die Pfeife verströmt einen angenehmen Geruch.
«Wie hast du geschlafen?»
«Gut. Ich war zu Hause. Zu Hause ist alles beim Alten.»
«Hast du dich gefreut?»