Sor Juanas zweiter Traum - Alicia Gaspar de Alba - E-Book

Sor Juanas zweiter Traum E-Book

Alicia Gaspar de Alba

4,6

Beschreibung

An Unkonventionalität hat es Sor Juana Inés de la Cruz (1648 bis 1695) nicht gefehlt. Auch nicht an Schönheit und Geist, an Wissbegier und Leidenschaft. Wohl aber an Demut und Frömmigkeit. Mit dreizehn Jahren wird Juana Inés als intellektuelles Wunderkind an den Königshof gerufen, mit siebzehn von vierzig weisen Männern einer Wissensprüfung unterzogen, die sie bravourös besteht. Kurz darauf nimmt sie den Schleier und zieht sich hinter Klostermauern zurück. Eine Heirat, ein Leben als Gattin und Mutter, ist ihr unvorstellbar. Ihre Liebe gilt María Luisa, der Vizekönigin von Neuspanien, und ihre Kinder sind ihre Bücher, ihre Schreibutensilien, ihr Teleskop, ihr Schachspiel. Sie beharrt darauf, auch als Frau ihren Geist kultivieren, studieren und schreiben zu dürfen und wird als brillante Autorin gefeiert. Doch das ist ihren Glaubensschwestern wie den Kirchenvätern ein Dorn im Auge. Missgunst wird gesät, Intrigen werden gesponnen ... Ein vielschichtiger historischer Roman, dessen Faszination man sich nicht entziehen kann.

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FRAUEN IM SINN

Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

Alicia Gaspar de Alba

Sor Juanas zweiter Traum

Roman

No soy yo la que pensaís,

sino es que allá me habeís dado

otro ser en vuestras plumas

y otro aliento en vuestros labios,

y diversa de mí misma

entre vuestras plumas ando,

no como soy, sino como

quisisteis imaginarlo.

Ich bin nicht die, die Ihr denkt,

Eure Federn haben mir

dort ein anderes Wesen gegeben

und Eure Lippen eine andere Kraft,

und anders als ich selbst

wandele ich zwischen Euren Federn,

nicht wie ich bin, sondern wie

Ihr mich erdichten wolltet.

Juana Inés de la Cruz,

»An die unvergleichlichen Federn Europas«

(unvollendetes Gedicht)

Zu wissen heißt zu träumen, aber jener Traum ist alles,

para Deena

única musa

und in liebendem Gedenken an

Carmen Gaspar de Alba

Inhalt

Fianchetto: Juni 1693

Rochade: 1664 – 1670

Das Mittelspiel: 1672 – 1680

Onyx-Dame: 1681 – 1688

Das Endspiel: 1689 – 1692

Fianchetto 

Des Bischofs Bauernopfer

»Geh mir aus den Augen, schamlose Metze!«, donnerte Seine Erzbischöfliche Gnaden, Aguiar y Seijas, in dessen blauen Augen das blanke Entsetzen loderte. Er schleuderte seine Tasse nach der Magd, die mit einem Krug Schokolade in der Tür erschienen war. Erschrocken ließ das Mädchen den Porzellankrug fallen. Er zerschellte auf dem nackten Steinboden der Bibliothek, und Don Manuel Fernández de Santa Cruz, Bischof von Puebla, hielt sich die Ohren zu.

Der Erzbischof erhob sich. »Eine Schande ist das! Wie oft muss ich Euch noch sagen, dass kein Weib mich bedienen darf, Padre Antonio? Nicht eine Minute länger verweile ich hier.«

Padre Antonio erhob sich ebenfalls, doch Don Manuel blieb sitzen und säuberte sich mit einer Gabel die Fingernägel. »Vergebt mir, Ilustrísima«, sagte Padre Antonio. »Ich vergaß, nach dem Diener zu klingeln, statt nach der Magd. Der Fehler eines alten Mannes. Es ist kein Schaden angerichtet worden.«

»Ihr habt es zugelassen, dass das Zimmer durch die Anwesenheit eines Weibes besudelt wurde. Ihr wisst, dass das meiner Leber irreparablen Schaden zufügt.«

»Vergebt mir, Erzbischöfliche Gnaden«, wiederholte Padre Antonio. »Es wird nie wieder vorkommen. Ich werde das Mädchen auspeitschen lassen, weil es diesen Raum betreten hat, aber ich bitte Euch, bleibt noch. Wir müssen die Angelegenheit mit dem Sündenbekenntnis besprechen, das Sor Juanas Mutter Oberin vorgeschlagen hat. Madre Andrea wartet seit der Fastenzeit auf Antwort, und jetzt haben wir bereits Pfingsten. Es bereitet mir Unbehagen, Ilustrísima, meinen Verpflichtungen im Kloster San Jerónimo nachzukommen, ohne das Thema ihr gegenüber anzuschneiden.«

»Nichts kann mich veranlassen, in diesem Zimmer zu verweilen«, beharrte der Erzbischof.

»Warum begeben wir uns nicht in Euren Innenhof, Antonio?«, schlug der Bischof vor. »Ich weiß, dass Ihr keinem Dienstboten den Zugang zu jenem privaten Sanktuarium gestattet. Und vielleicht könnten wir nach dem hier« – er wies auf die Platte mit Aprikosenempanadas, von denen er die Hälfte verspeist hatte – »etwas Salziges bekommen. All dieses süße Zeug verursacht mir Zahnweh.«

In den langen Wochen seiner Krankheit war der Rosengarten im Innenhof das einzige gewesen, für das Padre Antonio Interesse aufgebracht hatte. Für den Gottesdienst erhob er sich, wie es seine Pflicht war, zog sich aber weder Schuhe an noch kämmte er sich das spärliche Haar; er geißelte sich dreimal täglich und verfasste sogar Vorträge für die wöchentlichen Treffen der Marien-Kongregation, auch wenn Sigüenza y Góngora sie an seiner Stelle hielt. Doch er führte keine Messen durch, nahm keine Beichten ab, hielt keine Predigten, erteilte seinen Schülern keinen Unterricht und widmete sich keiner seiner wohltätigen Aufgaben, sondern zog es stattdessen vor, im Haus zu bleiben und in den Viten der Heiligen zu lesen oder die Kirche oder das Mönchskloster zu fegen. Er wusste, dass die Stadt ihn nach den verheerenden Verwüstungen des vergangenen Sommers brauchte, aber er hatte die Kraft verloren, sich um irgendetwas zu kümmern. Einzig der Gedanke an seine Rosen, die nach all den Jahren der Hege und Pflege, des Zwiegespräches, das er durch sie mit Gott führte, des Experimentierens mit verschiedenen Züchtungen aus Valencia und Kastilien in der Dürre einzugehen drohten, ließ ihn pflichtbewusst zu Gartenschere und Wassereimer greifen und bewahrte ihn davor, sich der Krankheit vollständig hinzugeben.

Es war der einzige Luxus, dem er frönte, und dafür geißelte er sich fast so entschlossen wie für seinen Stolz. Hier im Rosengarten saß er gern morgens mit dem Rosenkranz, hier nahm er bevorzugt sein Mittagsmahl ein, hier saß er mit seinen engsten Freunden und Schülern am liebsten. Er wand sich bei dem Gedanken, sein privates Sanktuarium mit dem Erzbischof zu teilen, und erwartete, für seine Liebe zu den Rosen getadelt zu werden. Doch zu seiner Überraschung entpuppte sich der Erzbischof als großer Bewunderer wohlgestalter Blüten und nannte selbst einige Rosensträucher sein eigen.

»Sor Juanas Anerbieten, ein neuerliches Sündenbekenntnis zu verfassen, überrascht mich«, rief Don Manuel von der Bank aus herüber, auf der er es sich mit einer Platte Brot und Würstchen bequem machte, die der Koch als ihr Mittagsmahl angerichtet hatte. »Sie muss doch wissen, dass eine solche Chronik gegen sie verwendet werden wird. Wie wäre es auch anders möglich, nach dem Athenagorischen Brief?« Er bot den anderen die Platte an. »Möchtet Ihr, Ilustrísima?«

Der Erzbischof verzog beim Geruch der Würstchen unwillig das Gesicht und schüttelte den Kopf. Er nahm auf einer Bank dem Bischof gegenüber im Schatten eines Feigenbaumes Platz. Padre Antonio ließ sich zwischen den beiden auf dem Rand des Brunnens nieder und ließ die Hand durch das Wasser gleiten.

»Seht Ihr nicht, Padre Antonio, wie das Weib uns mit dem Vorschlag, dieses Bekenntnis zu verfassen, zu bewegen versucht, ihr das Schreiben wieder zu gestatten?«

»Das ist zweifelsohne ihr Hintergedanke, Ilustrísima. Doch ich vertraue Madre Andrea und weiß, sie würde gewährleisten, dass Sor Juana nicht vom Wege abschweift. Außerdem denke ich, dass Juana mit jenem Dokument ihr Schicksal besiegeln würde. Ich sehe nicht, was es der Kirche schaden könnte, wenn sie ihre Sünden zu Papier brächte.«

»Brauchen wir ein weiteres Dokument?«, fragte der Bischof. »Haben wir nicht bereits genügend Belege von ihren Mitschwestern bekommen, die wir dem Tribunal zur Begutachtung vorlegen können? Zusammen mit ihren Büchern und Briefen haben wir hinreichend Beweise für Sor Juanas Sünden, Antonio.«

»Irre ich mich«, sagte Padre Antonio, »oder seid Ihr früher mit Sor Juana befreundet gewesen, Don Manuel?«

»Ein intellektuelles Einvernehmen vielleicht, aber kein freundschaftliches«, antwortete der Bischof und tunkte eine Brotkruste in das Öl. »Sie zählte einst zu meinen Günstlingen, das ist wahr, und noch immer bewundere ich einige ihrer frühen Werke, aber ich fühle mich von ihrer Anmaßung im Umgang mit dem geschriebenen Wort zunehmend abgestoßen. Und ich wage zu behaupten, dass sie das männliche Geschlecht hasst. Ich selbst geriet durch ihre logische Argumentation meinesgleichen gegenüber ins Wanken. Die Rhetorik dieser Frau ist gefährlich, Padre Antonio. Sie könnte den Papst höchstpersönlich auf ihre Seite ziehen.«

»Und wovon könnte sie uns noch überzeugen, wenn sie das Sündenbekenntnis zu Papier bringt? Wir wissen bereits, dass sie eine Sünderin ist.«

»Als Adressat eines früheren Bekenntnisses«, sagte der Bischof, »kann ich Euch versichern, dass sie Logik und Geschichte auf das Geschickteste zu ihren Gunsten einzusetzen weiß. Sie verfügt über die Gabe der Eloquenz und ist eine meisterhafte Rhetorikerin. Sie könnte vielleicht sogar die Inquisition für sich einnehmen. Ganz zu schweigen davon, dass sie einen Verleger in Spanien hat.«

»Seit wann ist die Inquisition so leicht beeinflussbar? Meisterhafte Rhetorikerin hin oder her – letztlich ist sie bloß eine Frau und Nonne. Nur jemand mit einem schwachen Willen lässt sich von ihren Worten überzeugen.«

»Wollt Ihr damit sagen, dass der Wille eines Spaniers wie mir schwächer ist als der eines Kreolen?«

»Ich habe mich nicht als Nonne ausgegeben, um sie zu maßregeln«, gab Padre Antonio zurück.

»Ihr seid derjenige, der sie wieder angenommen hat, nachdem sie Euch über ein Jahrzehnt zuvor als Beichtvater zurückgewiesen hat. Wenn sie mir diese Bittschrift gesandt hätte, ich hätte sie unverzüglich zurückgeschickt, ohne auch nur das Siegel zu brechen.«

»Don Manuel, bitte – wir alle wissen, dass Ihr ihr Freund gewesen seid, und Ihr selbst habt Euch gerade als ihr Bewunderer bezeichnet. Ihr könnt schwerlich ein objektives Publikum abgegeben haben.«

»Ich gestatte mir zu widersprechen. Letztlich war ich derjenige, der die Wahrheit aus ihr herausgelockt hat.«

»Ihr habt Spielchen mit ihr getrieben, indem Ihr Euch als Sor Filotea ausgegeben und sie durch diese verschleierte Identität getäuscht habt, nur um Eure Worte gedruckt zu sehen. Ihr hattet nicht die Absicht, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«

»Brüder, bitte!«, protestierte der Erzbischof. »Lasst uns nicht in die unmännliche Gepflogenheit des Gezänks verfallen. Die Frage ist, Padre Antonio, was Ihr tun werdet, um uns zu helfen, die verrufene Sor Juana Inés de la Cruz zurechtzustutzen.«

»Ihr könnt mir voll und ganz vertrauen, dass ich sie auf den Pfad der Tugend zurückleiten werde, Ilustrísima.«

»Seid kein Dummkopf! Ich will nicht, dass Ihr sie rettet. Ihr sollt sie zerbrechen. Warum wollt Ihr Eure Zeit mit dieser Ungläubigen vergeuden? Sobald sie von den Sakramenten ausgeschlossen ist, obliegt sie nicht mehr Eurer Fürsorge.«

»Verzeiht mir, Señores«, sagte Padre Antonio, »aber versuchen wir hier, Maria Magdalena zu kreuzigen oder zu retten? Nachdem ich die Angelegenheit ausführlich mit meinen Kollegen im Heiligen Offizium erörtert habe, war ich der Ansicht, dass diese eine Widerrufung verlangen, nicht eine Exkommunikation. Aus dem Grund habe ich die Mühe auf mich genommen, Sor Juana auf die Namensliste für die Bußprozession zu Fronleichnam setzen zu lassen ...«

Der Bischof kicherte hinter seiner Serviette. »Maria Magdalena kreuzigen? Ihr werft Eure Metaphern durcheinander, Antonio!«

Padre Antonio unterdrückte den Drang, den Bischof zu packen und mit dem Kopf unter Wasser zu drücken; stattdessen ballte er die Hand, die er noch immer durch das Wasser gleiten ließ, zur Faust. Wie kann er es wagen, sich mit meinem Essen zu mästen und mich in meinem eigenen Garten zu beleidigen, dachte er. Er spürte, wie ihm unter dem Haarhemd der Schweiß rann, und seine Haut begann zu jucken, wofür er dankbar war.

»Ich spreche von der Seele einer Frau, Señor, nicht von einer Rhetorik-Fibel.«

Der Erzbischof warf eine Feige nach ihm, und sie zerplatzte auf seiner Soutane. »Padre Antonio, Ihr werdet mir den Gefallen erweisen, diese beiden Worte nie wieder in meiner Gegenwart zu verbinden. Frauen besitzen keine Seele. Doch diese eine besitzt einen Verstand, und ich werde nicht dulden, dass sie möglicherweise eine weitere Abhandlung veröffentlicht, die sie zu unserem Nachteil verbreitet. Es wäre der letzte Tropfen in dem Becher Galle, den sie mir serviert, seit ich in Neuspanien eingetroffen bin. Jedes Wort, das sie schreibt, dient meinen Feinden als Futter. Also seid kein Dummkopf!«

»Aber, Ilustrísima, warum müssen wir die Angelegenheit so hochspielen? Wir haben es im Grunde doch nur mit der Erneuerung der Gelübde einer Nonne zu tun. Einem silbernen Profess-Jubiläum.«

»Padre Antonio«, erwiderte der Erzbischof, »wir haben es mit der einmaligen Gelegenheit zu tun, Sor Juana für die Vergehen, die sie gegen den Glauben und die Menschheit begangen hat, bezahlen zu lassen. Der Bischof hat bereits den ersten Schritt unternommen, indem er ihren gotteslästerlichen Athenagorischen Brief veröffentlicht hat. Jetzt möchte ich, dass ihre Bibliothek gereinigt und jedes einzelne Werk, das sie besitzt, mit dem Index abgeglichen wird. Als Zensor für die Inquisition, Padre Antonio, müsst Ihr all ihre verbotenen Bücher aussortieren. Ich werde dafür Sorge tragen, dass ihr alles genommen wird, was sie wertschätzt. Kann ich auf Euch als Verbündeten bei diesem Unterfangen zählen?«

Aber meine Augen, wollte Padre Antonio einwenden, ich kann doch kaum noch sehen. »Mir leuchtet nicht ein, wozu all diese Mühe nötig sein soll, wo wir doch nur eine Generalbeichte benötigen und ein vollständiges Abschwören von ihrer Vergangenheit. Das kann ich zuwege bringen, Exzellenz, da bin ich mir gewiss.«

»Ich habe genug von Eurer Naivität, Antonio! Wir wollen, dass sie sich der Kirche unterwirft, ein für allemal. Seid Ihr bereit, uns dabei zu helfen?« Weißer Schaum hatte sich in den Mundwinkeln des Erzbischofs angesammelt.

»Beruhigt Euch, Exzellenz«, sagte der Bischof.

»Aber warum sie exkommunizieren, Ilustrísima? Wollt Ihr sie wirklich bar jeder Führung in die Welt hinausstoßen? Ohne Ehemann? Ohne Gelübde?«

Der Stab des Erzbischofs traf ihn auf den Knien. »Sagt mir, Padre Antonio, Ihr, der Ihr von dieser Tochter einer kreolischen Hure zurückgestoßen wurdet, ist nicht jedes Wort, das sie schreibt, ein Schlag ins Gesicht der Patriarchen unseres Glaubens? Diese Stücke! Diese Liebesgedichte, die nicht an Unseren Retter und Erlöser gerichtet sind, sondern an Vizeköniginnen und Vizekönige. Diese skandalöse Antwort an Sor Filotea! Und nun diese Bücher! Zwei Bände ihrer Werke sind in Spanien im Umlauf. Einer von ihnen enthält eine Warnung – eine Warnung, über das geheimnisvolle Wirken der Gestirne, die ihre Gefühle der Zuneigung für die Condesa de Paredes hervorgerufen haben! Und der andere enthält die Unterschriften von sieben Spaniern, die ihrer Kritik an Vieira zustimmen! Wisst Ihr, in welches Licht mich das bei meinen Freunden in Spanien und Portugal rückt, dass der Erzbischof von Mexiko sich von einer seiner Nonnen darüber belehren lassen muss, wie die Bibel auszulegen ist? Seid Ihr so blind, wirklich zu glauben, diese Frau könnte widerrufen?«

»Ich glaube, Errettung ist immer möglich, Exzellenz.«

»Versteht Ihr denn nicht, Padre Antonio? In Gottes Gemeinschaft ist kein Platz für Frauen.«

»Aber Juana ist keine Ketzerin, Ilustrísima. Dafür verbürge ich mich. Sie ist vollkommen irregeleitet, und dafür muss ich ein gehörig Maß Verantwortung übernehmen, weil ich sie in einer kritischen Zeit allein gelassen habe. Aber einen Kirchenbann gegen sie zu verhängen, Exzellenz, ist ein schwerer Fehler.«

»Ihr wagt es, mir zu widersprechen, Padre Antonio?«

»Vergebt mir, Erzbischöfliche Gnaden, das lag nicht in meiner Absicht. Doch wir alle wissen, dass Juana keine gewöhnliche Ordensschwester ist. Sie ist mehr als eine Frau. Eben jene Theologen, auf die Ihr Euch beruft, stimmen dem zu. Hat nicht einer von ihnen gesagt, sie sei in jeder Hinsicht ein Mann? Würden wir einen Priester für das, was sie getan hat, exkommunizieren – für das Schreiben, für das Publizieren, für ein Leben, das dem Studium gewidmet ist? Sie hat keine Ketzerei begangen.«

»Ihr widersprecht Euch selbst, Antonio«, sagte Don Manuel mit vollem Mund. »Vorhin habt Ihr gesagt, sie sei bloß eine Frau und Nonne, und jetzt sagt Ihr, sie sei mehr als eine Frau. Ihr mögt recht haben. Es ist nicht nur das Studium, dem sie sich gewidmet hat. Wir haben hinreichend Beweise dafür, dass Juana und unsere ehemalige Vizekönigin eine ... sagen wir: eine besonders intime Freundschaft gepflegt haben.«

»Bitte, Manuel! Verderbt mir nicht den Appetit!«, rief der Erzbischof und verzog erneut das Gesicht. »Darüber erfahren wir bei der Beichte noch genug.«

»Ich weiß nichts von einer Beichte«, wandte Padre Antonio ein, »außer derjenigen, auf die sie sich unter meiner Anleitung seit sieben Wochen vorbereitet.«

»Wir – das heißt der Bischof von Puebla und ich – haben beschlossen, dass es anstelle des schriftlichen Bekenntnisses, das zu erlauben uns ihre Mutter Oberin ersucht hat, eine öffentliche Beichte geben soll, und zwar in den Räumen des Tribunals, und dass sie so viele Tage andauern soll, wie nötig, um all ihre Sünden preiszugeben und sie vor aller Welt zu demütigen. Damit wäre unsere ›Zehnte Muse‹ dann am Ende.«

»Aber es geht hier nicht um einen Prozess, Señores. Sondern einzig um eine Beichte. Und Beichten sind nicht öffentlich.«

»Diese schon, Padre Antonio. Zumindest, wenn sie weiterhin das Ordenskleid des heiligen Hieronymus tragen will.«

»Buße und Absolution sind alles, was dazu erforderlich ist, Ilustrísima.«

Der Bischof rülpste hinter vorgehaltener Hand. Dann erhob er sich und baute sich vor Padre Antonio auf, wobei er dem Jesuiten seinen feisten Wanst direkt vors Gesicht schob. Er stank nach Knoblauch und Pökelfleisch, und auf seiner Schärpe befanden sich Fettflecken.

»Als ihr Beichtvater seid Ihr für die Buße zuständig, Antonio. Wir werden das Tribunal entscheiden lassen, ob sie die Absolution verdient hat. Wir müssen nur wissen, ob wir auf Eure Einflussnahme bei den Inquisitoren rechnen können.«

Padre Antonio kratzte sich heftig wegen seines Haarhemdes und wagte es nicht, den Blick zu heben, damit der Bischof den Zorn in seinen Augen nicht sah. Er musste akzeptieren, dass dies die Strafe war, die Juana durch ihre Sündhaftigkeit heraufbeschworen hatte. Und es würde zweifelsohne sein letzter Akt der Rettung sein, bevor die gnädige Dunkelheit seine Augen schloss und ihn zu seinem Schöpfer heimführte.

»Ich bin nichts als ein Soldat Gottes«, antwortete er und starrte auf den ausgefransten Rand seiner Soutane. »Wer bin ich, Euren Befehl in Frage zu stellen?«

Rochade 

Kapitel 1

Onkel Juan sah sie über sein Hühnerbein hinweg finster an, sein eisiger Blick traf erst seine Frau, dann Juana Inés. Seine Wangen blähten sich, als er den Knorpel am Ende des Knochens zermalmte. Tante Marías Lider flatterten wie Schmetterlingsflügel. Juana Inés hielt den Blick unverwandt auf das Gesicht ihres Onkels gerichtet.

»Wo wart ihr beide heute?«, fragte er. Der Knochen krachte zwischen seinen Zähnen.

»Wir waren in der Messe«, erwiderte Tante María, bevor Juana Inés antworten konnte. »Und dann beim Apotheker, um die Kräuter für deine Aufgüsse abzuholen.«

Er zermalmte den Knochen bis aufs Mark, spuckte die Splitter auf den Boden und trank einen Schluck Wein. »Sonst nirgends?« Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und saugte Fleisch- und Knochenreste aus den Lücken.

Tante María senkte die Augen und schüttelte den Kopf.

»Sie lügen dich an, Vater«, mischte Nico sich ein, der ältere ihrer beiden Söhne. »Ich habe sie bei der Hinrichtung gesehen.«

»Ich habe sie auch gesehen«, sagte Fernando, der jüngere. »Und Juanita hat Mamás komische Sehgläser benutzt, die sie immer mitnimmt, wenn sie ins Theater geht.«

Die Farbe von Tante Marías Wangen entsprach dem Karmesinrot der Rosen auf dem Tisch.

»María, sieh mich an!« Er wartete, bis sie ihn anblickte, bevor er fortfuhr. »Sagen die Jungen die Wahrheit? Seid ihr beide bei der Hinrichtung gewesen?«

»Ja, Onkel. Wir waren dort«, sagte Juana Inés, die die Demütigung ihrer Tante nicht länger ertrug. »Die ganze Stadt war dort. Es war ein öffentliches Spektakel, keine heimliche Zeremonie.«

»Es ist mir egal, was es war, Fräulein Anmaßung. Ich entsinne mich genau, gestern Abend gesagt zu haben, dass ich heute keinen von euch in der Nähe der Plaza Mayor wissen will. Die Frauen und Nichten von Edelmännern besuchen keine Hinrichtungen.«

»Es war kaum zu umgehen«, wandte Tante María ein. »Wir mussten nach der Messe einkaufen, und der Laden des Apothekers ist direkt in den Arkaden.«

Onkel Juan schlug Tante María mit dem Handrücken ins Gesicht. »Ein schönes Beispiel gibst du!« Dunkle Reste von Knochenmark spritzten aus seinem Mund auf die Tischdecke. »Deshalb ist diese marisabia so frech geworden.« Mit gerunzelter Stirn wandte er sich erneut an Juana Inés, doch sie bot ihm Paroli und erwiderte seinen Blick – eine Herausforderung, die ihn stets zur Weißglut trieb. Er stand auf und beugte sich mit ausholendem Arm über den Tisch, doch die Stimme der Küchenmagd ließ ihn innehalten, bevor er zuschlagen konnte.

»Entschuldigung, Señor.«

»Was willst du?«

»Eine Botschaft, Señor. Vom Palast, sagt der Mann.«

»Wer sagt das? Herrgott, Mädchen, schick den Mann rein!«

Onkel Juan straffte die Schultern und riss die Serviette aus seinem Kragen; er räusperte sich, als sich die Tür zum Esszimmer öffnete. Juana Inés erwartete, dahinter einen livrierten Pagen stehen zu sehen, doch stattdessen war es ein kleiner Junge, ein Mulatte von der Straße, der eine Schriftrolle mit dem blauen Siegel des Palastes in den Händen hielt.

»Wer bist du?«, fragte Onkel Juan. Der Junge erbot ihm die Schriftrolle und hielt die Hand auf. Onkel Juan winkte ihn fort, von Brief und Siegel wie gebannt. »Gebt ihm etwas zu essen«, sagte er beiläufig, und Tante María sprang auf und führte den Jungen hinaus.

»Öffne ihn, Onkel!« Juana Inés konnte sich nicht enthalten, ihren Onkel anzutreiben.

»Öffne ihn, Onkel!«, äffte ihre Cousine Gloria sie nach und trat sie unter dem Tisch gegen den Knöchel. Juana Inés spürte, wie sich ihre Augen vor Schmerz trübten, aber sie gab keinen Laut von sich und trat auch nicht zurück; sie saß einfach nur da und wartete darauf, dass Onkel Juan sich endlich mit dem Brief befasste.

»Seht, er ist an mich adressiert, Don Juan de Mata«, las er vor und zeigte es seinen Söhnen. »Mein erste Einladung in den Palast. Ich wusste, dass dieser Tag einst kommen würde.«

»Woher weißt du, dass es eine Einladung ist, Papá?«

»Was soll es sonst sein, du Schwachkopf? Der Palast lässt kein Schreiben überbringen, um sich nach unsereiner Befinden zu erkundigen.« Onkel Juan nahm sein Messer und versuchte das Siegel zu lösen, ohne es zu brechen, aber es zerbröselte über seinem Teller. Er warf das Messer beiseite und öffnete den Brief behutsam. Seine Augen glitten über das Blatt.

»Ich fasse es nicht!«, rief er.

»Was steht drin, Papá?«, fragte Gloria.

»María!«, brüllte er, und seine Stimme hallte im Gebälk wider. »María! Juana Inés wird in den Palast gerufen!«

Tante María kam mit wogendem Busen ins Esszimmer zurückgeeilt. »Was steht da?«

»Erlauchter Don Juan de Mata«, las er vor. »Ihre Majestät, die Vizekönigin, la Marquesa de Mancera, bittet um die Ehre, die Bekanntschaft Eurer Nichte machen zu dürfen. Dem Hof ist daran gelegen, das gelehrte Mädchen kennenzulernen, über das die ganze Stadt spricht. Wir freuen uns auf die Audienz am nächsten Dienstag nach der Vesper. Gezeichnet: der Vizekönig von Mexiko.«

»Gütiger Gott!« Tante María bekreuzigte sich schnell.

Juana Inés wagte weder zu atmen noch ihren Blick zu heben. In ihrem Kopf klang die Wendung nach: das gelehrte Mädchen, über das die ganze Stadt spricht, und plötzlich wallte Panik in ihr auf, dass ihr Onkel die Einladung des Vizekönigs ausschlagen würde. Marisabia, nannte er sie stets – marí für Mädchen, sabia für Gelehrte, als ob die beiden Begriffe einander ausschlössen –, voller Verachtung für die Mühe, die sie auf ihre Studien verwandte. Wer hat je von einem gelehrten Mädchen gehört?, pflegte er auszurufen. Willst du die Aufmerksamkeit der Inquisition auf dich ziehen?

Es stimmte, dass Juana Inés las, seit sie drei Jahre alt war, dass sie sich die Grundzüge der Rhetorik, der Geometrie und Astronomie beigebracht und sich mit griechischer Philosophie und römischem Recht befasst hatte; es stimmte auch, dass sie in zwanzig Lektionen Latein gelernt hatte, doch sie selbst hielt sich nicht für eine Gelehrte, geschweige denn ein Wunderkind, wie manche sie zum äußersten Entsetzen ihrer Anverwandten nannten, die täglich damit rechneten, von der Inquisition beschuldigt zu werden, eine Ketzerin in ihrer Mitte zu dulden. Aber der Klatsch wurde von den Bediensteten genährt, und in ganz Mexiko-Stadt verbreitete sich die unerhörte Kunde von einem Mädchen, das die Sternenkonstellationen ebenso leicht lesen konnte wie Noten.

»Es ist unnatürlich, dass ein Mädchen so viel weiß wie du, Juana Inés«, hatte ihre Tante sie oft gescholten. »Du solltest lernen, zu sticken und zu häkeln, wie deine Cousine Gloria. Das sind Dinge, die zu wissen für ein Mädchen ungefährlich sind. Aus guter Nadelarbeit kann dir die Inquisition keinen Strick drehen.«

Juana Inés widersprach ihrer Tante nicht. Sie empfand Mitleid für die arme Frau, deren Bildung nicht über die eines Kindes hinausging, aber sie wusste, dass ihre eigenen Geistesgaben nicht durch ein Nadelöhr zu fädeln waren. Sie wusste, dass ihr Verstand selbst das Muster war, dem Nadel und Faden zu folgen trachteten, eben jener Stoff, ohne den das Muster nutzlos wäre.

»Darf ich gehen, Onkel? Ich würde so gern den Palast sehen.«

»Darf ich gehen, Onkel?«, äffte ihre Cousine sie wieder nach. »Wiesel!«

»Sie verdient eines auf den Kopf, weil sie so eine Angeberin ist«, sagte Nico.

Fernando warf ein Stück Brot nach ihr. »Angeberin!«

»Hört auf, Jungs!«, schalt Tante María. »Das ist sehr ungalant.«

»Ich weiß nicht, Juanita«, meinte ihr Onkel. Er strich sich über den Bart und blickte durch die offene Esszimmertür auf den dämmrigen Innenhof hinaus. »Ich muss erst herausfinden, worum es geht. Es könnte vorteilhaft für uns sein, doch andererseits könnte es auch bedeuten, dass du die Familie in Schwierigkeiten gebracht hast. Und dann steht natürlich noch die Strafe für deinen Ungehorsam aus, weil du zu der Hinrichtung gegangen bist, obwohl ich es dir ausdrücklich verboten hatte.«

»Ich hab dir ja gesagt, dass sie das reinste Ärgernis geworden ist«, sagte Nico zu seinem Vater, und seine schwarzen Augen funkelten unter den dunklen Balken seiner Brauen. »Alle Studenten reden über sie und sagen, dass sie in Wirklichkeit ein verkleideter Junge ist.«

»Ich wusste es«, sagte Tante María und barg das Gesicht in den Händen. »Den Bediensteten ist einfach nicht zu trauen. Wer weiß, was sie für Geschichten erzählen. Das könnte dein Ende bedeuten, Juanita.«

Sei keine Närrin!, hätte sie ihre Tante am liebsten angeschrien, aber die Angst, dass ihr Onkel ihr nicht erlauben würde, der Aufforderung der Vizekönigin Folge zu leisten, ließ sie ihren Zorn zügeln. Sie musste einen anderen Ansatz verfolgen – einen, der an die einzige Logik anknüpfte, die ihr Onkel verstand.

»Nicht viele Edelmänner werden zu einer Audienz bei der Vizekönigin gebeten, Onkel«, sagte sie ruhig. Gloria trat sie wieder unter dem Tisch und lächelte unschuldig, um nicht den Tadel ihrer Mutter auf sich zu ziehen. Juana Inés langte verstohlen hinüber und kniff sie so fest sie nur konnte in den Schenkel und sah sie dabei drohend an, damit Gloria ja keinen Mucks machte.

»Es besteht auch die Möglichkeit, dass man mir im Palast eine Stellung anbietet«, fügte sie dann hinzu.

»Als was?«, fauchte ihre Tante. »Im Haushalt bist du so nutzlos wie die Jungen. Was könntest du schon für die Marquesa tun?«

»Ihr vorlesen, schätze ich, das ist alles, was sie kann«, sagte Fernando und steckte seine Nase in ein von seinen Händen gebildetes Buch.

»Das Mädchen hat nicht ganz unrecht, María«, sagte ihr Onkel, nahm eine Knoblaucholive von seinem Teller und steckte sie sich in den Mund. »Wenn man irgendeine Anklage gegen sie erheben wollte, würde die Vizekönigin doch gewiss nicht ihre Bekanntschaft suchen. Über derlei Angelegenheiten wird von der Inquisition befunden.« Seine Augen blitzten wie Saphire bei der Aussicht, eine Verwandte unter dem königlichen Gefolge zu haben. Juana Inés wusste, dass er ihren Köder geschluckt hatte, aber er musste immer noch seine Zustimmung erteilen. Sie bedachte ihre Cousins mit ihrem hochnäsigsten Blick.

»Sie kriegt immer ihren Willen«, jammerte Gloria und rieb sich unter dem Tisch ihren Schenkel. »Selbst wenn sie ungezogen ist und nicht gehorcht. Warum will die Vizekönigin mich nicht sehen? Ich bin schließlich die Tochter eines Edelmannes.«

Juana Inés konnte es nicht lassen. »Wahrscheinlich, weil der Hof keine weitere Witzfigur braucht.«

Glorias Grübchen verschwanden in ihrer finsteren Miene.

»Juanita!«, sagte ihre Tante.

Fernando lachte. »Vielleicht brauchen sie eine Leseratte!«

»Kinder, bitte! Ihr seid allesamt absolut unerträglich. Die Lage ist wirklich ernst«, fuhr Tante María fort.

Onkel Juan lutschte an dem Olivenkern. »Es könnte sich als äußerst günstig für uns erweisen, María. Könnte dem Wappen, das ich immer noch abzahle, ein wenig mehr Gewicht verleihen.«

Juana Inés nutzte die Chance. »Ich gebe dir mit Vergnügen, was immer sie mir zahlen, Onkel. Falls sie mich bezahlen.«

»Ich hoffe, dass sie dich bezahlen«, meinte Nico.

Onkel Juan leerte seine Tasse und erhob sich. »Nun, ich denke, ich werde es überschlafen, María. Ich muss entscheiden, ob Juana Inés dieser Ehre würdig ist. Heute Abend fürchte ich, sie ist es nicht.«

»Aber Onkel –«

»Juanita, ich habe gesagt, ich werde es überschlafen. Bis nächsten Donnerstag haben wir noch etwas Zeit.«

»Ja, Onkel, aber du wirst doch die Vizekönigin nicht verärgern wollen.«

»Da haben wir’s wieder«, sagte Nico. »Es ist hoffnungslos mit ihr. Sie würde mit dem Teufel streiten, wenn sie könnte.«

»Schweig, mein Sohn!«, fuhr Onkel Juan ihn an. »Das ist genau die Art von Gerede, das die Bediensteten weitertratschen. Also, Juanita, ich werde Erkundigungen einziehen, und wenn ich mir Gewissheit verschafft habe, was die Absichten der Vizekönigin anbelangt, werde ich eine Entscheidung treffen und dich davon in Kenntnis setzen. Gute Nacht.«

Eine Woche lang wanderte Juana Inés ruhelos durchs Haus, unfähig, sich auf ihre Studien zu konzentrieren, bei der Messe teilnahmslos, bei den Mahlzeiten so ruhig, dass sie sich ihrem Körper fern fühlte. Jeden Tag entzündete sie in der Kathedrale eine Kerze für den heiligen Judas Thaddäus, den Schutzheiligen für verzweifelte Situationen, und betete inbrünstig zu sämtlichen Heiligen um Fürsprache. Dann verbrachte sie Stunden in Don Lázaros Buchhandlung und las sich durch die Regale, doch sie war nicht wirklich konzentriert bei der Sache, sondern wartete darauf, dass die Zeit verstrich, und stellte insgeheim die Befugnis ihres Onkels in Frage, zu entscheiden, was sie tun durfte und was nicht. Bis Donnerstagmorgen hatte ihr Onkel noch immer nicht seine Einwilligung gegeben, und Juana Inés war nun davon überzeugt, dass er sich gegen ihren Besuch entschieden hatte. Sie stand vor einer neuen Schiffssendung von Tagebüchern und Schreibkästen, als die Frau des Buchhändlers zu ihr trat.

»Gratuliere, Doña Ramírez«, sagte sie.

Juana Inés zog ein finsteres Gesicht.

»Sagt nicht, Ihr habt es noch nicht gehört. Wir haben kürzlich erfahren, dass der Vizekönig beabsichtigt, Euch eine Stellung anzubieten. Wie glücklich Ihr Euch schätzen könnt – eine junge Dame von Eurer Herkunft im Palast.«

»Señora, seid Ihr sicher?«

»Nun, wir müssen es als Gerücht bezeichnen, denke ich. Aber es stammt aus zuverlässiger Quelle.«

Spontan schloss Juana Inés die Frau in die Arme.

Don Lázaro war so beeindruckt, dass er anbot, einen Schreibkasten für sie beiseite zu legen, für den Fall, dass sich das Gerücht als wahr erwiese und sie es sich leisten könnte, die zwölf Pesos für den Kasten und die darin enthaltenen hundert Bogen Pergament zu bezahlen.

Juana Inés dankte ihnen beiden, raffte dann ihre Röcke bis über die Knöchel hoch und legte die fünf Straßen bis zum Haus ihres Onkels beinahe im Laufschritt zurück. Sie hielt nur inne, um von einem Händler vor der Kathedrale ein Katharinenrad zu kaufen. Als Schutzheilige der Studenten und Universitäten schien es naheliegender, die heilige Katharina anzurufen als den heiligen Judas Thaddäus. Juana Inés war sechzehn. Sie hatte den Spott und die Borniertheit der Matas nun schon acht Jahre lang erdulden müssen. Die Vorstellung, am Hofe zu leben, und sei es nur, um dort die Fußböden zu schrubben, erschien ihr wunderbar. Gewiss würde es bei Hofe eine Bibliothek von außergewöhnlicher Qualität geben. Gewiss würde der Vizekönig die Inquisition nicht fürchten.

»Wo ist Onkels Kutsche? Ist er fort?«, fragte sie die Mestizin, die das Vestibül fegte, und rang um Atem.

»Euer Onkel ist zum Palast gefahren, Señorita. Eure Tante wartet im Nähzimmer auf Euch.«

Juana Inés flog die Treppe hinauf.

Ihre Tante änderte eines ihrer Seidenkleider für Juana Inés um, und Gloria packte hastig eine Truhe mit den Besitztümern ihrer Cousine, für den Fall, dass die Vizekönigin Juana Inés bitten würde, am Hof zu bleiben.

»Warum hast du mir das nicht gesagt, Tía? Du wusstest doch, dass ich eine Woche lang mit ganzer Seele gebangt habe.«

»Dein Onkel war sehr aufgebracht darüber, dass du beim Frühstück nicht da warst. Er hatte es dir selbst sagen wollen. Es wäre vielleicht dein letztes Mahl mit der Familie gewesen.«

»Ich habe die Frühmesse besucht. Ich wusste doch nicht ... Ach, Tía, glaubst du wirklich, dass sie mich dabehalten wollen?«

»Den Gewährsmännern deines Onkels zufolge haben sie genau das vor. Wenn sie Gefallen an dir finden, heißt das. Wenn du dich als nützlich erweist. Hier, zieh das an. Ich hoffe, du trägst dieses Kleid nicht am Ende zu deinem Autodafé, Juanita.« Ihre Tante murmelte mit geschlossenen Lippen, zwischen denen Nadeln steckten. »Was soll ich deiner Mutter bloß sagen, wenn sie dich als Ketzerin brandmarken? Sie wird denken, es sei meine Schuld, weil ich zu nachsichtig mit dir gewesen bin.«

»Würden sie das wirklich tun, Mamá?«, fragte Gloria mit glitzernden Augen. »Würden sie Juana Inés wirklich im Büßergewand durch die Stadt treiben und sie zwingen, in aller Öffentlichkeit Asche zu essen?«

»Jetzt hört mir mal zu«, sagte Juana Inés. »Es wird kein Autodafé geben. Es mag auch keine Stellung für mich geben, also glaub nicht, du könntest mich so leicht loswerden, Gloria. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde mein Bestes tun, die Vizekönigin zu beeindrucken.«

Am selben Abend, nach einem tränenreichen Abschied von ihrer Tante María, begleitete ihr Onkel Juana Inés in seiner feinsten Kutsche zum Hofe. Sie war nicht mehr allein mit ihrem Onkel unterwegs gewesen, seit er sie acht Jahre zuvor aus dem Haus ihrer Mutter in Panoayán abgeholt hatte. Die Erinnerung daran wühlte sie auf, und sie blinzelte heftig, um sie zu vertreiben. Er würde jetzt nichts unternehmen, sagte sie sich, aber dennoch rückte sie so weit wie möglich von ihm ab.

»Das Kleid deiner Tante steht dir gut, Juanita.«

»Danke, Onkel«, erwiderte sie. Sie legte die Hände im Schoß übereinander und starrte zum Fenster hinaus, bis sie den Haupteingang des Palastes erreichten. Ein Lakai, gekleidet in Rock und Kappe aus grünem Samt, half ihr aus der Kutsche. Sie wurden durch einen großen Innenhof mit einem Rosengarten, in dessen Mitte sich eine mit einem Türmchen verzierte Laube befand, in eine Halle geführt, deren Wände von langen Bänken gesäumt war. Juana Inés und ihr Onkel waren die einzigen Wartenden.

»Ich erwarte, dass du dich benimmst, wie es sich für die Nichte eines Edelmannes geziemt«, sagte ihr Onkel und schritt auf und ab.

»Ja, Onkel.«

»Ich habe alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Jetzt liegt es einzig an dir, Juana.«

»Das weiß ich, Onkel!«

»Sei nicht streitlustig!«

Juana Inés biss sich auf die Zunge und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Diamantmuster der Spitzenmanschetten an den Ärmeln ihres Kleides. Rhomben, wurden sie genannt, ein geometrisches Muster, das leichter zu zeichnen als mit der Häkelnadel zu erschaffen war. Ihr Onkel schritt noch immer auf und ab und probte dabei mit lautem Gemurmel die einführenden Worte, die er sprechen wollte. Kurz bevor sie in den Empfangssalon gerufen wurden, zog Juana Inés ihr Katharinenrad unter dem Kleid hervor und legte es über den Kragen. In dem großen Salon saß das königliche Paar in ausladenden goldenen Sesseln, und dennoch ließ der riesige Kamin im Hintergrund sie zwergenhaft erscheinen. Zu beiden Seiten des Paares standen die Damen und Herren des Hofes, alle in glänzenden Samt und schimmernde Seide gekleidet, und hinter ihnen fiel das letzte korallenrote Licht des Sonnenuntergangs auf die marmornen Wände.

Juana Inés nahm nicht wahr, wie sie dem königlichen Paar vorgestellt wurde. Sie hatte ihren Blick auf die Vizekönigin geheftet, sah ihr in die Augen und flehte sie stillschweigend an, sie in ihren Dienst aufzunehmen, sie von der Borniertheit der Matas zu erlösen. Der Vizekönig, Don Antonio Sebastián de Toledo, Marqués de Mancera, zwirbelte das eine Ende seines dünnen Schnurrbartes, während er Juana Inés mit gehobenen Brauen musterte.

»Ihr sagt, sie habe sich selbst Latein beigebracht?«, fragte der Vizekönig ihren Onkel.

»Nun, für eine gewisse Zeit wurde sie von einem Lehrer unterwiesen, Majestät, aber im Großen und Ganzen hat sie es sich selbst beigebracht. Sie ist auch auf vielen anderen Gebieten bewandert. Wisst Ihr, Juanita ist ein äußerst lernbegieriges Mädchen. Sie beeindruckt all unsere Freunde mit ihrer Konversation. Natürlich verstehen wir nicht, warum ...«

»Beherrscht sie ein Musikinstrument?«, unterbrach ihn der Vizekönig.

»Oh, sie ist eine ausgezeichnete Musikerin, Majestät. Sie spielt hervorragend Mandoline und Gitarre. Sie kocht auch sehr gern, aber vom Nähen versteht sie nicht viel ...«

Juana Inés’ Finger wandelten sich zu Holz. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde.

»Wir wünschen eine Probe ihres Könnens«, sagte der Vizekönig und schnippte mit den Fingern.

»Hol eine Mandoline aus dem Musikzimmer«, wies er einen Lakaien an. »Rasch!«

Der Lakai verneigte sich und huschte davon. Ihr Onkel fuhr fort, ihre Verdienste als Musikerin zu preisen, doch Juana Inés hörte kaum zu. Sie überlegte, welches Musikstück am angemessensten wäre. Das Stück musste bescheiden und originell sein und zugleich den Lobpreisungen ihres Onkels gerecht werden, also musste es ... wie war es am besten zu beschreiben? ... ja, es musste unvergänglich sein. Sie musste das eingängigste, feinfühligste Stück spielen, das sie je komponiert hatte.

Die Vizekönigin lächelte Juana Inés an, während sie sich mit einem Chinesischen Drachen gelassen zufächelte.

»Was werdet Ihr für uns spielen, Doña Ramírez de Asbaje?«, fragte der Vizekönig Juana Inés.

»Ich möchte eine meiner eigenen Kompositionen spielen, wenn Euer Majestät nichts einzuwenden haben.« Die Unterwürfigkeit, die in ihrer Stimme mitschwang, versetzte sie selbst in Erstaunen.

»Ganz und gar nicht, meine Liebe. Das wäre wundervoll«, ergriff die Vizekönigin endlich das Wort. »Hat Eure Komposition einen Namen?«

Der Lakai kam mit einer Mandoline in den Salon zurückgeeilt.

»Gib sie der jungen Dame«, wies der Vizekönig den Lakaien an. Juana Inés nahm die Mandoline entgegen und legte die mahagoni- und fichtengestreifte Wölbung des Instruments an ihren Leib. Sie atmete den erlesenen Duft des Holzes ein, stimmte die Saiten und war sich der Bedeutsamkeit ihrer Vorstellung bewusst, der Augen der Vizekönigin, der juwelenverzierten Schuhschnallen des Vizekönigs, der nervösen Atemzüge ihres Onkels.

»Juanita, die Marquesa hat dich nach dem Namen der Komposition gefragt«, sagte ihr Onkel.

Juana Inés hob den Kopf und sah die Vizekönigin an. »Ich nenne sie Die Zelle, Señora. Das ist der Name des Zimmers, in dem ich auf dem Gut meines Abuelo zur Welt gekommen bin.«

»Wie außergewöhnlich«, erwiderte die Vizekönigin.

Juana Inés atmete tief ein. Mit der linken Hand umfasste sie den Hals der Mandoline. Mit dem Plektrum in der rechten begann sie zu spielen. Sie hatte das Stück zu dunkler Morgenstunde an ihrem fünfzehnten Geburtstag geschrieben, als sie aus einem Traum erwacht war. Ihr Großvater stand in einem Lichtkreis am Flussufer, gestützt auf einen Bischofsstab. Um zu ihm zu gelangen, musste Juana Inés sich auf dem Rücken über den Fluss treiben lassen, die Arme über dem Kopf, aber als sie den Lichtkreis erreichte, war es eine Frau – nicht ihre Mutter oder eine ihrer Schwestern, sondern eine fremde Frau –, die am Flussufer stand und einen schwarzen Schal in den Händen hielt. »Wo ist mein Abuelo?«, fragte Juana Inés. Die Frau antwortete: »Hab keine Angst. Du bist in Sicherheit.« Als sie aus dem Traum erwachte, vernahm sie die Musik in ihrem Kopf. In den Noten schwang das Sakrament der Taufe und das Mysterium des Todes mit, und deshalb hatte sie die Melodie Die Zelle genannt. Ihre Mutter hatte sie in jenem Raum zur Welt gebracht, und acht Jahre später war ihr Großvater darin gestorben.

Juana Inés zupfte die letzten Noten. Dann setzte sie das Instrument auf ihrem Schoß ab und heftete die Augen auf das Gesicht der Vizekönigin.

»Vortrefflich!«, sagte der Vizekönig und klopfte mit den Fingern der einen Hand auf die Handfläche der anderen. Neben ihm sah die Vizekönigin Juana Inés unverwandt an, auf eine Weise, die sie nicht zu deuten wusste, auf eine Weise, die ihr Herz mit einer Frage pochen machte, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte.

»Wir hörten, dass Ihr hervorragend zu parlieren versteht«, richtete der Vizekönig das Wort an sie, »dass Ihr über jedes Euch gestellte Thema zu sprechen vermögt. Ist das wahr, Doña Ramírez?«

Juana Inés antwortete: »Ich bezweifele, dass ich so viel weiß wie Ihr, Majestät. Ich bin schließlich ein Mädchen und habe keine formale Bildung genossen. Ich habe einige Bücher gelesen. Und ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen.«

»Wenn das Mädchen zwischen essen und lesen wählen müsste, so wäre sie inzwischen ein Skelett«, sagte ihr Onkel. »Sie hat sogar Käse zurückgewiesen ...«

»Vor die Wahl wird sie hier nicht gestellt werden«, erwiderte der Vizekönig und lächelte Juana Inés unter seinem Schnurrbart hervor an. »Würdet Ihr gern bei Hofe bleiben, Doña Ramírez, und la Marquesa aufwarten?«

»Señor, ich würde la Marquesa als Sklavin dienen«, antwortete Juana Inés, und die Erleichterung lag dick wie Puder auf ihrer Stimme.

»Nun, Señora Marquesa«, wandte sich der Vizekönig an seine Gemahlin, »wie steht Ihr dazu?«

»Ich glaube, Ihr habt eine weise Entscheidung getroffen, mein Gemahl«, erwiderte die Vizekönigin. Sie schloss ihren Fächer und neigte den Kopf, als wollte sie Juana Inés aus einer anderen Perspektive betrachten. »Ich bin sicher, dass Juana Inés mir zur Inspiration gereichen wird.«

Juana Inés schlug die Augen nieder und versuchte, das Zittern ihres Kinns zu unterdrücken, aber die Tränen der Dankbarkeit, die ihr über die Wangen rollten und zwischen die Saiten der Mandoline tropften, konnte sie nicht zurückhalten.

»Und ich glaube, sie tauft gerade die Mandoline«, sagte der Vizekönig schmunzelnd. Juana Inés sprang auf und versuchte das Instrument mit dem Ärmel ihres Seidenkleides zu trocknen.

»Macht nichts«, sagte der Vizekönig zu ihr. »Es ist Eure Mandoline, damit Ihr auch weiterhin la Marquesa bezaubern könnt.« An ihren Onkel gewandt fügte er hinzu: »Kann sie sofort in unseren Dienst treten?«

»Noch am heutigen Abend, wenn Ihr es wünscht, Majestät.«

»Ausgezeichnet! Mir gefällt es, wenn ein Mann über Voraussicht verfügt. Willkommen bei Hofe, Doña Ramírez!«

Juana Inés warf sich der Vizekönigin zu Füßen und küsste wieder und wieder den brokatenen Saum ihres Gewandes. »Danke, Señora! Danke!« war alles, was sie herausbrachte.

Die Hand der Vizekönigin näherte sich ihrem Gesicht, und einen Augenblick hielt Juana Inés den Atem an, doch dann griff die Hand nach dem Katharinenrad. »Wie faszinierend«, sagte la Marquesa und hielt das silberne Medaillon gegen ihre Handfläche. »Erzählt uns, was es damit auf sich hat, Juana Inés.«

»Es ist das Rad der heiligen Katharina von Alexandria, Señora, auf dem der römische Kaiser sie foltern wollte, weil sie sich weigerte, ihn zu heiraten. Es ist das Symbol ihres Widerstandes gegen seinen Willen.«

»Sehr originell«, sagte la Marquesa. »Doch nun bestehe ich darauf, dass Ihr Euch erhebt.«

Juana Inés gehorchte und glättete die Falten ihres Kleides.

»Wollt Ihr Euch nicht von Eurem Onkel verabschieden, Kind?«

Aus dem Augenwinkel sah Juana Inés, wie der Vizekönig und ihr Onkel langsam zur Tür des großen Salons schritten. Zweifelsohne besprachen sie die Bedingungen ihres Dienstverhältnisses.

»Auf Wiedersehen, Onkel!«, rief sie, der Vizekönigin zuliebe, doch tief in ihrem Herzen war sie froh, ihn von hinten zu sehen.

»Sagt mir, Juana Inés«, sagte la Marquesa, »spielt Ihr Domino und Karten? Keine meiner Damen scheint die gleiche Leidenschaft für den Spieltisch zu hegen wie ich.« Am Rande ihrer Wahrnehmung vernahm Juana Inés das Gekicher der Hofdamen. »Ich erwarte, gelegentlich eine Partnerin in Euch zu finden.«

»Für Euch, Señora«, erwiderte Juana Inés, »würde ich lernen, Latein rückwärts zu sprechen.«

»Ein Sprachspiel! Welch wunderbare Idee!«, rief die Vizekönigin. Sie klatschte in die Hände, um ihr Gefolge zusammenzurufen. »Meine Damen! Heute Abend wird es einen Zungenbrecher-Wettbewerb geben. Doch erst führt die neue Hofdame Juana Inés in Euren Schlafsaal und zeigt ihr alles. Ich werde Euch zu einem privaten Souper in meinem Salon erwarten, Juana Inés.«

Plötzlich war Juana Inés in einen Wirbel aus Röcken und Fächern gehüllt. Sie wurde aus dem Salon geleitet und fühlte sich halb gedrängt, halb getragen.

Kapitel 2

9. Dezember 1664

LIEBSTE MUTTER,

Tía María sagt, dass die Post zwischen der Stadt und den Provinzen sehr zuverlässig ist, und versichert mir, dass Du meinen letzten Brief bekommen hast, aber ich bin jetzt schon nahezu einen Monat im Palast und habe noch immer nichts von Dir gehört, deshalb vermute ich, dass der Brief unterwegs verlorengegangen ist. Falls Du es also noch nicht wissen solltest, dann wird die Nachricht, dass ich jetzt Hofdame unserer neuen Vizekönigin bin, eine freudige Überraschung für Dich sein, wo Du doch immer befürchtet hast, ich würde nie eine angemessene Beschäftigung finden, angesichts dessen, was Du immer meine schwarze Neigung zum Studieren genannt hast. Bei Hofe bleibt nicht viel Zeit für das Studium, zumindest nicht für die Art, die ich mit Büchern in Verbindung bringe. Ich bin stets von Menschen umgeben, und es scheint eine stillschweigende Übereinkunft zu geben, dass alle zu jeder Zeit bei ausgezeichneter Stimmung sind und eifrige Beflissenheit an den Tag legen. Das, zusammen mit einem Mangel an Zeit zum Lesen, hat mir die größten Anpassungsschwierigkeiten bereitet. Ich bin nicht von sanguinem Temperament, wie Du weißt, und ich ziehe die Art der Klausnerin der der Spielleute vor, und doch bin ich hier einer Hofbardin nicht unähnlich, und ständig bittet mich jemand, ein Gedicht vorzutragen oder ein Lied zu spielen oder mich an einem Ratespiel zu beteiligen. Es herrscht eine solche Mischung aus betont guter Laune und geschäftiger Aktivität, dass schon das leiseste Stirnrunzeln, der stummste Seufzer einen scharfen Tadel hervorruft. Ich weiß, ich sollte mich nicht beklagen, und darin liegt wahrhaftig auch nicht der Grund für diesen Brief, doch Du kennst mich gut und weißt, wie schwer es mir fällt, die ganze Zeit zu lächeln und zu lachen, statt ein Buch aufzuschlagen oder die Zeit damit zuzubringen, allein im Garten herumzuwandern und mein Erinnerungsvermögen zu prüfen. Ja, wer hätte gedacht, dass ich hier landen würde? Willst Du nicht in die Stadt kommen und mich besuchen? Und auch Josefa und María mitbringen? Ich glaube, ich habe vergessen, wie Ihr alle ausseht, und von mir kannst Du gewiss nicht erwarten, dass ich nach acht Jahren noch so aussehe wie damals. Ich muss jetzt Schluss machen. Die Siesta ist beinahe vorüber, und ich muss mein Schönheitsmal auftragen und mein Haar erneut locken (immer noch das alte widerspenstige Haar, das sich weigert, länger als eine Stunde in Locken zu liegen) und dann mit meiner Mandoline im Salon der Vizekönigin meinen Platz einnehmen. Bitte veranlasse Josefa oder María, mir zu antworten.

Deine andere Tochter

Juana Inés Ramírez

Nach den ersten Wochen, in denen sie wie in Trance umhergewandert war und die vielen Innenhöfe und Säle und Gärten und Galerien des Palastes erforscht hatte, befand Juana Inés das Leben bei Hofe als erstaunlich oberflächlich und zugleich unendlich geschäftig. La Marquesa verlieh ihr den Titel einer Privatsekretärin, was bedeutete, dass sie morgens, nach der Messe in der Palastkapelle, am Schreibpult in la Marquesas Salon saß und sich um deren Korrespondenz kümmerte und la Marquesa anschließend auf ihrem täglichen Spaziergang durch einen der Gärten begleitete. Bis zum Mittagsmahl las sie vor, während sich la Marquesa zusammen mit ihren Hofdamen der Stickerei widmete; zur Siesta spielte sie im Schlafgemach der Marquesa Mandoline, um sie in den Schlaf zu geleiten; am Nachmittag stand sie in albernen Kostümen in la Marquesas Innenhof Modell, um sich zeichnen zu lassen, und abends, nach der Vesper, diente sie – sofern weder Gäste zu unterhalten noch höfische Spiele angesetzt waren – der Marquesa als Partnerin beim Domino oder Kartenspielen.

Monat für Monat wuchsen die Anforderungen der Vizekönigin an Juana Inés, so dass diese am Ende ihres ersten Jahres bei Hofe nicht nur als die Sekretärin der Marquesa bekannt war, sondern auch als deren Favoritin und engste Vertraute. Der Vizekönig suchte ihre Gesellschaft ebenfalls und genoss es, mit ihr zu debattieren und sie beim Schachspielen herauszufordern. Sie erlaubte ihm gelegentlich zu gewinnen, doch beide waren weit mehr an ihrem Gespräch interessiert als an ihrem Spiel, und er ging dazu über, sie Hofdame Athene zu nennen, wenn niemand außer der Vizekönigin zugegen war.

Neben ihren üblichen Pflichten wurde von ihr erwartet, mit dem Vizekönigspaar zusammen alle möglichen öffentlichen Veranstaltungen zu besuchen, einschließlich Theateraufführungen und Stierkämpfen, sie auf Ausfahrten durch die Alameda und zu Picknicks in Chapultepec zu begleiten, ihre Gäste mit ihren musikalischen Fähigkeiten zu unterhalten, bei allen Staatsangelegenheiten neben der Vizekönigin zu sitzen, sich am intellektuellen Geplänkel der Höflinge zu beteiligen und sich während der Oktava-Prozessionen nach Fronleichnam dem königlichen Gefolge anzuschließen, gleich hinter der Sänfte der Marquesa. Auf diese Weise erlebte sie die ersten beiden Jahre bei Hofe wie ein fortwährendes Spektakel, und obwohl sie wusste, dass der Sand durch das Stundenglas rann, konnte sie sich dem höfischen Leben nicht fernhalten. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Großvaters wurde Juana Inés Aufmerksamkeit geschenkt, und sie sonnte darin.

Zum Dank für das Sonett, das sie zum Gedenken an den verstorbenen König Felipe geschrieben hatte, ließ der Vizekönig ein silbernes Tintenfass in Gestalt einer Eule mit Granataugen anfertigen, in dessen Boden die folgende Widmung eingraviert war: Für unsere Hofdame Athene. Herzlich, Leonor und Antonio, Vizeregenten von Mexiko, 1666.

Der Vizekönig ließ außerdem ein Konto beim Buchhändler für sie einrichten: ein Buch pro Monat, egal, was für eines, solange es nicht auf dem Index stand. Das Erste, was sie auf ihr Konto buchen ließ, war die Summe, die sie für ihren Schreibkasten schuldig war – ihre Büchse der Pandora, wie sie ihn nannte.

Sie hatte keine Zeit zum Schreiben oder Studieren, außer in den Stunden zwischen dem Abendläuten und der Frühmesse. Sie überließ die anderen Hofdamen ihrem abendlichen Tratschen über diesen oder jenen Höfling, begab sich in die Bibliothek des Vizekönigs im Westflügel des Palastes und nahm an dem riesigen Eichentisch am Fenster Platz. Sie öffnete gern das Fenster und lauschte dem Springbrunnen unten im Hof, während sie las und der Lärm des abendlichen Markttreibens in der Ferne erscholl. Der Vizekönig hatte einen seiner Bücherschränke für sie freigeräumt und ihr den einzigen Schlüssel dazu gegeben; darin bewahrte sie ihre kleine Bibliothek, ihr Tagebuch und ihre Notizbücher auf. Auch die Büchse der Pandora verwahrte sie – eigens verschlossen – in diesem Schrank.

Wenn die Glocken zur Frühmesse läuteten, brannten ihre Augen vom angestrengten Lesen im rauchigen Licht der Öllampe, doch wenn sie Glück hatte, waren dann auch die Spinnweben der Unruhe fortgebrannt, die im Laufe des Tages entstanden waren. Sie wusste, dass die Ursache dieser Unruhe nicht allein darin lag, keine Zeit für sich zu haben, sondern dass sie in etwas gründete, das so vage und durchscheinend war wie ein Traumgespinst. Zuweilen kamen ihr unzusammenhängende Gedanken über dieses Gefühl, das sowohl melancholisch wie ahnungsvoll war, in den Sinn, und sie schrieb sie in der Büchse der Pandora nieder.

In jenen Nächten, in denen ihre Studien den Aufruhr in ihrem Kopf besänftigt hatten, wanderte sie langsam zum Schlafsaal der Hofdamen zurück, verweilte eine Zeitlang auf einer Bank im großen Innenhof, lauschte den Nachtigallen in den Magnolienbäumen und den Stimmen der Karmelitinnen im nahegelegenen Kloster, die ihre morgendlichen Loblieder sangen. In jenen Nächten, in denen sich ihre Unruhe nicht legte und selbst das Tagebuchschreiben zur selbstauferlegten Tortur wurde, ging sie zur Palastkapelle, in der sich die Hofpriester zur Mitternachtsmesse sammelten. Dann ließ sie sich ganz hinten in der Kapelle nieder, am Fuße der Nische des heiligen Petrus, des Schutzheiligen ihres Abuelo, und nahm das tiefe Timbre des Chorals in sich auf, der im Hauptschiff widerhallte und sie zuzeiten zum Weinen brachte, zuzeiten in unheimliche Träumereien versinken ließ.

Einmal zu Vollmond war sie beim Verlassen der Kapelle auf die Vizekönigin gestoßen, die in einem hauchdünnen Nachtgewand draußen schlafwandelte. Die Brustwarzen mit ihren dunklen Höfen waren aufgerichtet, der dunkle Flecken ihres Schamhaares zeichnete sich deutlich durch den Stoff ab. Sie war auf der Suche nach Juana Inés und rief mit lauter Stimme, die mit dem Gesang der Priester verschmolz, ihren Namen. Plötzlich klopfte jemand der Vizekönigin auf die Schulter, und sie erwachte. Der oberste Hofkaplan verneigte sich vor ihr, zog ein finsteres Gesicht und wies sie an hineinzugehen.

Morgens fiel es Juana zumeist schwer, rechtzeitig zur Frühmesse aufzustehen, und gewöhnlich war sie die Letzte, die den Schlafsaal verließ. Noch während sie ihr Mieder schnürte oder ihre Mantille feststeckte, lief sie von der Galerie des Ostflügels den ganzen Weg durch die vier Innenhöfe des Palastes, um die Kapelle durch den Seiteneingang zu betreten und an ihren Platz hinter dem Stuhl der Marquesa zu huschen. Sie vernahm das Geflüster der anderen Hofdamen, während sie um Atem rang. La Marquesa warf ihr einen raschen Blick über die Schulter zu und schüttelte sachte den Kopf.

»Ich weiß nicht, warum du abends so lange aufbleibst«, beschwerte sich la Marquesa eines Morgens beim Frühstück. »Sieh dir die tiefen Schatten unter deinen Augen an. Du ruinierst dir deinen Teint, Juanita.«

»Es ist die einzige Zeit, die mir zum Studium bleibt, Señora. Ich bemühe mich, niemanden zu stören.«

»Mich weckst du jedes Mal, wenn du von Gott weiß wo zurückkehrst«, klagte Hofdame Eugenia.

»Und mich auch«, fiel Hofdame Cristina ein.

»Wir sind alle unausgeschlafen, und das haben wir ihr zu verdanken«, sagte Hofdame Hilda.

»Vielleicht sollte ich meinen Gemahl bitten, dir ein eigenes Zimmer zu geben, Juanita. Ich möchte kein Gezänk unter meinen Damen.«

»Wir zanken nicht, Marquesa«, sagte Hilda. »Wir möchten nur, dass sie begreift, dass ihre nächtlichen Gewohnheiten sich auf uns alle auswirken.«

»Sie ist nicht die einzige, die in der Messe einnickt«, fügte Cristina hinzu.

»Ich nicke nicht ein!«, widersprach Juana Inés.

»Meine Damen, bitte! Ihr enttäuscht mich. Ich sehe, dass ich dich unverzüglich anderweitig unterbringen muss, Juanita. Pack nach dem Frühstück deine Sachen, und ich werde einen Lakaien beauftragen, sie in dein neues Zimmer zu schaffen. Ich denke, ich werde dich bei mir im Flügel unterbringen.«

»Verzeiht mir, Marquesa«, wandte Eugenia ein, »aber ich glaube nicht, dass eine unter uns es gerecht finden würde, wenn die Jüngste – und am wenigsten Vornehme von uns – ihr eigenes Zimmer hätte.«

»Ich stimme Eugenia zu«, sagte Juana Inés, die mit Schrecken daran dachte, bei ihren Gefährtinnen in Ungnade zu fallen. »Ich möchte keine besonderen Privilegien gewährt bekommen. Doch wenn ich vielleicht tagsüber mehr Zeit ...«

»Jetzt möchte sie auch noch ihre Pflichten einschränken«, sagte Cristina.

»Ihre Pflicht besteht darin, mir zu Gefallen zu sein!«, fauchte die Vizekönigin. »Und mir gefällt es, wenn sie mit ihren Studien fortfährt. Sie ist die Hofgelehrte, vergesst das nicht. Sag mir, Juana: Nehme ich zu viel von deiner Zeit in Anspruch? Die Wahrheit!«

»Keineswegs, Señora.«

»Natürlich tue ich das. Ich nehme all deine Zeit in Anspruch, und deshalb musst du diese mitternächtlichen Ausflüge in die Bibliothek unternehmen. Lass mich überlegen. Du bist mir so unentbehrlich geworden ...«

Juana Inés bemerkte, wie die übrigen Hofdamen einander ansahen und die Augen verdrehten.

»Bitte, Marquesa, Ihr braucht mir wirklich keine besonderen Vergünstigungen zu gewähren.«

Die Vizekönigin beachtete sie nicht. »Ich denke, ich könnte auf meinem Morgenspaziergang ohne dich auskommen, ebenso abends im Salon, natürlich nur, sofern wir keine Gäste haben. Würde das genügen? Was meinst du? Oder würdest du die Zeit der Siesta dem Abend vorziehen?«

Sie hatte sich daran gewöhnt, des Nachts zu arbeiten, und konnte sich nicht vorstellen, in der lärmenden Geschäftigkeit des Tages zu studieren. Außerdem war ihr, um der Wahrheit die Ehre zu erweisen, der abendliche Zeitvertreib im Salon der Vizekönigin lieb geworden. In den Pausen zwischen den verschiedenen Spielen machten die Höflinge, die sich um ihren Tisch versammelt hatten, gern Scherze zu ihren Gunsten oder gaben Rätsel auf, die zu lösen nur sie imstande war. Dies alles erzeugte viel Heiterkeit und Gelächter und machte sie bei den Herren sehr beliebt, auch wenn ihr zuallererst am Beifall und Frohsinn der Vizekönigin gelegen war.

»Vielleicht wäre die Zeit der Siesta am besten«, antwortete sie la Marquesa.

»Ach je, ich vergaß, wie sehr ich mich auf deine Mandoline verlasse, Juana.«

»Lasst sie am Morgen arbeiten«, sagte Eugenia. »Eine von uns kann Euch auf Eurem Spaziergang begleiten, Señora.«

Und so ward beschlossen, dass Juana Inés sich ihren Studien widmen würde, nachdem sie die Korrespondenz erledigt hatte. Sie musste ihre Bücher und Aufzeichnungen aus der Bibliothek des Vizekönigs holen, da dieser des Morgens stets mit seinen Ratgebern zusammenkam, aber la Marquesa überließ ihr ein kleines Zimmer, das von ihrem Salon abging und ein Erkerfenster mit Blick auf den Obstgarten des Palastes besaß, und stattete es mit einem großen Schreibtisch aus, einem verschließbaren Bücherschrank und einem gepolsterten Sessel. Juana Inés bat um den Schlüssel zu diesem Zimmer, und wenn sie sich nicht mit ihrem Tagebuch und ihren Notizbüchern zusammen im Zimmer einschloss, was sie morgens zu tun pflegte und auch spätabends, denn ihr Körper fand keine Ruhe, ehe sie nicht die Geschehnisse und Gefühle des Tages niedergeschrieben hatte, dann hielt sie ihre Bücher im Schrank unter Verschluss. Manchmal versäumte sie das Mittagsmahl, und dann war la Marquesa verärgert, doch der Vizekönig pries sie für ihre Disziplin und ihren Eifer, nicht ahnend, dass sie die meiste Zeit damit verbrachte, ihre Gefühle auf dem Papier festzuhalten, statt die Bände über Geschichte und Philosophie zu studieren, die sie von Don Lázaro erworben hatte.

3. September 1666

Ich werde von einer eigentümlichen Melancholie verfolgt, die zu einem Teil Heimweh ist, zum zweiten Einsamkeit und zum dritten eine Art Sehnsucht, die ich weder benennen kann noch darf. Wie absurd, sich bei Hofe einsam zu fühlen, wo ich doch von Damen umgeben bin und von Höflingen, die meine Gesellschaft fast ebenso beständig suchen wie la Marquesa oder der Vizekönig. Die Damen dulden mich, aber sie mögen mich nicht. Als ich anfangs an den Hof kam, wollte keine ihr Bett mit mir teilen, und so bekam ich die Pritsche am Fenster, wo ich mich, wie sie hofften, denn so hörte ich sie flüstern, verkühlen würde und den Palast wieder verlassen müsste. Die Vizekönigin dulde keinerlei Krankheit unter ihrem Gefolge, heißt es. Sie wissen nicht, dass die Luft, die ich auf dem Gut meines Abuelo in den Ausläufern der Berge geatmet habe, viel kälter war als die Luft hier in der Stadt. Und ich bin froh, ein Bett für mich allein zu haben, egal wie durchgelegen es auch ist.

Ich bin die einzige criolla unter den Damen und außerdem noch die Jüngste, und sie verstehen nicht, wie ich das Hätschelkind der Vizekönigin habe werden können, wie sie es nennen, und sie heißen es auch nicht gut. Sie behaupten allesamt, vornehme spanische Damen zu sein, doch ich habe von einigen der Höflinge gehört, dass mehrere meiner Gefährtinnen ebenso kreolisch sind wie ich und dass andere schon als kleine Kinder die Reise von Spanien hierher unternommen und dementsprechend fast ihr ganzes Leben hier in Mexiko verbracht haben.

Don Fabio de García y Godoy und ich haben darüber debattiert, ob man sie als criollas bezeichnen kann, wenn sie nicht in Neuspanien geboren sind, aber praktisch ihr ganzes Leben hier verbracht haben, genährt von der Luft und dem Wasser und dem Licht und den Gepflogenheiten und der Sprache und den Speisen der Neuen Welt. Was trennt sie von jemandem wie mir, wenn der einzige Unterschied zwischen uns darin besteht, dass mein Geburtsort am Fuß der Vulkane liegt und ihrer auf der anderen Seite des Meeres? Wir sehen gleich aus, sprechen gleich, haben dieselben Vorfahren. Ist also der Geburtsort allein hinreichend, um den Stand zu bestimmen? Hat die Gesellschaft, in der wir aufwachsen, in der wir unsere Fähigkeiten und Werte ausbilden, nicht Einfluss darauf, wer wir sind? Don Fabio, getreuer sevillano, der er ist, glaubt das nicht. Der Geburtsort sei alles entscheidend, meint er. Die Erde unseres Geburtsortes bestimme unser Schicksal. Man bedenke, sagt er, den Unterschied zwischen den zivilisierten Menschen von Sevilla und den Barbaren von Barcelona oder den abergläubischen Dummköpfen von Galizien. Was ist mit all dem Gesindel, das aus Spanien hergekommen ist und hier auf den Straßen bettelt?, fragte der dunkelhäutige Don Victor, ein Kreole wie ich. Dieses Land sei verantwortlich, antwortete Don Fabio. Kaum hätten sie den Fuß auf dieses Land des Lasters und der Ausschweifung gesetzt, seien sie zügellos geworden.

Welche Beschreibung, fragte ich ihn, würde er den Menschen in Neuspanien angedeihen lassen? Inzwischen waren wir vom ganzen Hof umringt, la Marquesa und der Vizekönig eingeschlossen, und ich sah, dass Don Fabio angesichts der Aufmerksamkeit ein wenig erregt war. Er sann über meine Frage nach und schüttelte den Kopf. Er habe keine Beschreibung für die Menschen in Neuspanien, antwortete er. Da es nicht sein Land sei, kenne er die Einheimischen nicht. Und so steuerten die übrigen Herren von der Pyrenäenhalbinsel ihre Scherflein bei: Wilde, sagte einer; Magier, sagte ein anderer; Primitive; Diebe; Faulpelze; Sturköpfe; Trunkenbolde. Selbst der Vizekönig erbot seine Meinung: die Indios seien aufrührerisch wie Sklaven, sagte er, und schmiedeten fortwährend Ränke, um ihren Herren eines auszuwischen.

Ich hatte gerade Bernal Díaz del Castillos Wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Neuspanien (Mexiko)