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Hattest du je einen Traum, der so echt war, dass du wusstest: Das muss ich schon mal erlebt haben?
Genna ist sicher: Endlich ist der Albtraum vorüber. Schließlich hat sie gemeinsam mit Phoenix, ihrem Guardian und Begleiter durch die Jahrhunderte, den ruchlosen Anführer der Inkarnaten, Tanas, auf immer ins Reich des Todes geschickt. Aber dann fallen ihre Eltern einem Überfall zum Opfer und Genna ist überzeugt, die Inkarnaten sind wieder auf der Jagd. Außer ihr gibt es jedoch bloß einen einzigen Menschen, der die ganze Wahrheit über den skrupellosen Geheimbund der Inkarnaten und dessen Auftrag, Genna und ihre unsterbliche Seele zu vernichten, kennt: Phoenix. Und so bleibt ihr nur ein Ausweg: Sie muss ihn finden, ansonsten ist die Menschheit verloren ...
Leserliebling und Erfolgsgarant Chris Bradfords große Action-Fantasy-Serie
Die Bände der »Soul«-Trilogie:
Soul Hunters (Band 1)
Soul Prophecy (Band 2)
Soul Survivor (Band 3)
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Seitenzahl: 472
CHRIS BRADFORD
Aus dem Englischen von
Alexander Wagner
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© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2021 Chris Bradford
Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel: »Soul Prophecy« bei Puffin, einem Verlag der Penguin Random House Verlagsgruppe, London
Übersetzung: Alexander Wagner
Lektorat: Andreas Rode, München
Covergestaltung: Isabelle Hirtz
MP · Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-22584-1V002
www.cbj-verlag.de
FÜR DIE ROSEN,
DENN IHR HABT MEHR VERDIENT
ALS BLOSSES BETRACHTEN :-)
Die Dunkelheit, die herrschte einst,
ist gebannt noch lange nicht,
denn das Licht wirft Schatten,
und Schatten vertreibt das Licht.
Die Seelenprophezeiung
Los Angeles, Gegenwart
Mit heulender Sirene und Blaulicht bahnt sich der Krankenwagen einen Weg durch den Verkehr, während die Sonne über Huntington Park versinkt. Das Fahrzeug fährt scharf an die Bordsteinkante, die Türen fliegen auf und zwei Sanitäter springen heraus.
Auf dem Gehweg liegt ein lebloser Körper.
Die beiden Sanitäter drängen sich durch die Menge der Schaulustigen und eilen zu einem muskulösen Mann in schickem Anzug und mit dunkel getönter Brille, der seine Hände fest auf die Brust des Verletzten drückt. Blut rinnt ihm zwischen den Fingern hindurch.
»Alex ist angeschossen worden!«, knurrt der Mann mit einem verzweifelten und zugleich fest entschlossenen Ausdruck in seinem wettergegerbten Gesicht.
Einer der Sanitäter, eine junge Frau mit zu einem straffen Pferdeschwanz gebundenem, kupferrotem Haar, deren Namensschild sie als BAILEY ausweist, kniet sich hin, um den Verletzten zu untersuchen. Der Mann im Anzug löst seine Hände von Alex’ Brust und tritt rasch zur Seite, damit die Sanitäterin ihre lebensrettende Arbeit tun kann.
»Jeweils eine klare Eintritts- und Austrittswunde … schätzungsweise Kaliber 9 Millimeter … erheblicher Blutverlust. Legen wir schnell ein paar Druckverbände und eine belüftete Wundversiegelung an.«
Der zweite Sanitäter, ein älterer Mann mit säuberlich gestutztem Bart, rasiertem Schädel und dem Namensschild CARTER, reißt sofort ein Paket mit sterilen Verbänden auf und kümmert sich um die Wunden.
»Alex, können Sie mich hören?«, fragt Bailey, aber sie erhält keine Antwort. Sie checkt die Vitalfunktionen des Verletzten, während ihr Partner eine Infusion vorbereitet, um überlebenswichtige Flüssigkeiten zuzuführen. »Der Verletzte atmet nicht mehr«, ruft sie und beginnt sofort mit der Herzmassage.
Carter zieht einen tragbaren Defibrillator aus seinem Notfallkoffer und bringt zwei Elektrodenpolster an der Brust des Verletzten an. Sobald das Gerät hochgefahren ist, piept der EKG-Monitor in einem schnellen und unregelmäßigen Rhythmus.
»Herzstillstand«, ruft Carter. Gleich darauf, als eine rote Kontrollleuchte aufblinkt, warnt er: »Zurücktreten!«
Bailey zieht ihre Hände weg, bevor der Defibrillator einen Stromschlag auslöst. Alex’ Körper zuckt leicht, aber die Kurve auf dem EKG-Monitor spielt weiterhin verrückt, bevor sie vollständig zu einer Nulllinie ausläuft. Während der Monitor unheilvoll brummt, nimmt die Rettungssanitäterin sofort die Herzmassage wieder auf –
Alex beobachtet diesen Kampf um sein Leben unbeteiligt von oben – als ob das alles jemand anderem widerfahren würde. Tatsächlich wirkt der Mann mit dem maßgeschneiderten blauen Anzug und der Sonnenbrille wesentlich beunruhigter. Er spricht schnell in sein Mobiltelefon, einen zutiefst besorgten Ausdruck auf seinem markanten Gesicht. Wie war noch mal sein Name? Clive, stimmt’s? Nein, nicht Clive, Clint!
Aber im Gegensatz zu Clint fühlt Alex keine Sorgen, keinen Schmerz und keinen Kummer mehr. Nach all den Kämpfen und Belastungen seines Lebens ist dieses Gefühl der losgelösten Ruhe wohltuend … und sogar willkommen. Die Verbindung zwischen Körper und Seele ist jetzt kaum mehr als ein feiner Silberfaden in der wachsenden Dunkelheit.
Während Alex auf die beiden Sanitäter herabschaut, die sich verzweifelt um seine Wiederbelebung bemühen, erscheint ein helles, warmes Licht am Ende eines langen Tunnels. Von dem Licht angezogen, lässt Alex seinen Körper auf dem Bürgersteig zurück und schwebt den Tunnel entlang, wobei der Silberfaden, der Seele und Körper verbindet, immer dünner und dünner wird …
»Adrenalinspritze!«, kommandiert Bailey, und ihr Partner beugt sich hektisch über seinen Koffer, um die richtige Spritze zu suchen. »Beeilung … oder wir verlieren den Patienten endgültig!«
In der Ferne ist jetzt das Heulen von Polizeisirenen zu hören, die sich aus allen Richtungen nähern, während Bailey mit einer Kombination aus Brustkompressionen und Mund-zu-Mund-Beatmung fortfährt.
Ihr Partner zieht die Kappe von der Spritze, sucht eine geeignete Vene, dann injiziert er das Stimulans, um das Herz in Schwung zu bringen …
Die spannungsgeladene Szene auf dem Bürgersteig verblasst langsam, die Farben und Geräusche werden schwächer, bis die beiden Sanitäter und ihr Patient kaum mehr sind als ein stummer Schwarz-Weiß-Film, der in der Ferne flackert. Alex driftet immer weiter den Tunnel entlang, das weiße, himmlische Licht wird mit jedem Augenblick heller und lebendiger.
Doch als sich das Ende des Tunnels nähert, blockiert ein langer, spindeldürrer Schatten das Licht.
Alex zögert, er kennt die Seele nicht, die da plötzlich vor ihm auftaucht. Hallo? Kenne ich dich?
Nein!, ertönt eine barsche Antwort. Aber dein Ende ist mein Anfang.
Mit beängstigender Geschwindigkeit huscht der Schatten auf Alex zu, verschlingt alles Licht und erstickt seine Seele in einer allumfassenden Dunkelheit …
»Immer noch keine Reaktion«, verkündet Carter, nachdem er eine zweite Adrenalinspritze injiziert hat.
Erschöpft und am Ende ihrer Optionen sieht sich Bailey gezwungen, die Wiederbelebungsmaßnahmen abzubrechen und den Patienten noch am Unfallort für tot zu erklären.
Der Mann im Anzug flucht und schleudert in einem Anfall von Wut und Trauer sein Telefon zu Boden.
Dann – gerade als Carter die Pads des Defibrillators entfernen will – ertönt aus dem Monitor ein schwaches Piepen.
»Warte, wir haben einen Herzschlag …«
St. Petersburg, Russland, 1904
»UND NUN, MEINE DAMEN UND HERREN!«, brüllt der Zirkusdirektor. »Die Nummer, auf die Sie alle gewartet haben … die Vielgerühmte, die Fantastische, die Fabelhafte, die Phänomenale … Yelena, der fliegende Feuervogel!«
Unter donnerndem Applaus renne ich in die Manege hinaus. Meine feuerroten Haarspitzen und mein glitzerndes Kostüm ziehen alle Blicke auf sich. Dmitry in seinem silbernen Trikot ist an meiner Seite, während wir perfekt synchron ein Rad schlagen, emporspringen und einen Salto vollführen, um in der Mitte der Manege zu landen. Die Menge jubelt und pfeift, bis der Zirkusdirektor sie zur Ruhe bringt.
»Machen Sie sich nun auf einen waghalsigen Auftritt gefasst! Sie werden eine Sensation erleben!«, ruft er atemlos. »In dieser Manege sehen Sie eine Reihe tödlicher Hindernisse. Die Mauer der Messer! Die Grube voller Glas! Und die berüchtigten Flammenden Ringe der Hölle! Unser Feuervogel muss sie alle meistern!«
Dmitry ergreift eine brennende Fackel und entzündet eine Reihe von Reifen, die auf eiserne Ständern montiert sind. Der fünfte und letzte Ring ist so klein, dass mein Körper kaum hindurchpasst. Die sengende Hitze der Reifen bringt die erste Zuschauerreihe dazu, sich nach hinten zu lehnen, während das übrige Publikum gebannt zusieht, wie ich mich auf den tödlichen Spießrutenlauf vorbereite.
Ich beäuge die erste Hürde vor mir – eine Mauer, die komplett aus Messern besteht, deren Spitzen wie eine Reihe von Haifischzähnen aus dem oberen Rand herausragen. Ich atme tief durch und sprinte auf die mit Klingen bewehrte Wand zu, dann springe ich hoch in die Luft. Mit angezogenen Beinen vollführe ich einen eleganten Salto über die blitzenden Klingen hinweg und lande sicher auf der anderen Seite.
Das Publikum hat kaum Zeit zu applaudieren, da flitze ich bereits zum nächsten Hindernis – einem mit Glasscherben gefüllten Graben, über dem drei parallele Stangen hängen. Ich springe von einem hölzernen Sprungbrett ab, katapultiere mich in die Luft, umklammere die erste Stange und vollführe einen ganzen Überschlag, bevor ich zur zweiten Stange hechte. Hier führe ich einen Straddle Cut aus, schwinge mich dann zur dritten Stange und stemme mich mit Schwung in einen perfekten Handstand. Jetzt hat das Publikum Gelegenheit zu klatschen. Ich balanciere über dem Meer aus Glas unter mir, das bei einem Sturz meine schneeweiße Haut aufschlitzen würde. Nach ein paar Sekunden lasse ich mich aus dem Handstand fallen und mache einen doppelten Salto, um kurz hinter der Grube zu landen.
Schließlich stehe ich vor meiner letzten Herausforderung, den Flammenden Ringen der Hölle – ein Zirkuskunststück, das kein anderer Akrobat der Welt wagt. Die Hitze ist so intensiv, dass sie mir fast die Haut versengt, als ich in einer geschickten Abfolge von Sprüngen und Rollen nacheinander durch die Reifen fliege. Der kleinste erfordert all mein Können, um nicht zu Asche zu verbrennen. Und noch bevor ich richtig zu Atem gekommen bin, wirft Dmitry einen letzten Feuerring hoch in die Luft. Mit einem eleganten Sprung fliege ich hindurch, um mit ausgebreiteten Armen wie ein Adler neben ihm zu landen.
Die Menge ist auf den Beinen, johlt und klatscht.
Während ich den Applaus entgegennehme, fällt mein Blick auf eine mürrisch dreinblickende Frau in der ersten Reihe. Sie sitzt bewegungslos da, die Hände im Schoß, starrt mich an und scheint die Einzige zu sein, die von meiner waghalsigen Darbietung nicht beeindruckt ist. Aber es ist nicht ihr Mangel an Wertschätzung, der mich beunruhigt.
Es sind ihre Augen.
Pechschwarz und furchterregend leblos.
»Hey, alles in Ordnung?«, flüstert Dmitry, der meinen alarmierten Blick bemerkt.
»Ich … glaube, ich sehe eine Seelenjägerin«, antworte ich halblaut.
»Wo?« Dmitry ist plötzlich hellwach, sein Körper spannt sich wie ein Tiger auf der Lauer.
Ich schaue wieder ins Publikum, aber die Frau klatscht jetzt und ihre Augen sind blassgrün. Ich blinzle heftig. War es nur das Licht der brennenden Reifen gewesen, das mich geblendet hatte? »Nein … Ich habe mich geirrt«, sage ich unsicher.
»Yelena, mach dir keine Sorgen«, beruhigt Dmitry mich sanft und legt seine Hand auf meinen Arm. »Wir waren in den letzten sechs Monaten ständig in Bewegung und haben uns immer getarnt. Wir haben Tanas und seine Jäger weit hinter uns gelassen –«
»MEINE DAMEN UND HERREN!«, dröhnt der Zirkusdirektor über den abklingenden Applaus hinweg. »Bereiten Sie sich nun auf eine noch größere Sensation vor! Sie werden verzaubert und fasziniert sein, wenn unser flammenhaariger Feuervogel sich jetzt auf das lebensgefährliche Trapez des Schreckens wagt!« Bei diesen Worten deutet er auf die beiden Schaukelstangen hoch über den Köpfen der Zuschauer.
Während das Publikum aufschaut, zieht mich Dmitry zu sich heran und flüstert mir ins Ohr: »Aber sicher ist sicher, wenn diese Vorstellung vorbei ist, werden wir eine Weile untertauchen. Wir können jederzeit einem anderen Zirkus beitreten.« Mit einem beruhigenden Zwinkern seiner funkelnden blauen Augen schreitet er hinüber zu einer der Strickleitern und klettert flink empor bis in die Kuppel des Zirkuszeltes.
»Beachten Sie bitte, meine Damen und Herren«, verkündet der Zirkusdirektor in dramatischem Tonfall, »dass es KEIN Sicherheitsnetz gibt! Der kleinste Fehler Yelenas wird ihren sicheren TOD bedeuten!«
Er blickt zu mir und fragt sich zweifellos, warum ich noch in der Manege stehe. Ich setze ein breites Lächeln für das Publikum auf, das mein anhaltendes Unbehagen darüber verdeckt, eine mögliche Seelenjägerin erspäht zu haben, dann renne ich zur anderen Leiter. Ich klettere hinauf zu einer kleinen Plattform, wo ich, nun hoch und sicher vor jedem Zugriff, meine Ängste abschüttele und mich auf unsere Darbietung konzentriere.
Dmitry hängt kopfüber an den Beinen von der Auffangstange und schwingt leicht. »Gotov!«, ruft er und signalisiert damit, dass er bereit für einen Fang ist.
Ich ergreife die Schaukelstange und springe von meinem Brett. Das Gefühl, frei und unberührbar durch die Luft zu segeln, ist berauschend, und schnell sind alle meine Sorgen verflogen. Ich vergesse Tanas und seinen Hunger nach meiner Seele. Ich vergesse die ständige Angst, von seinen Jägern aufgespürt zu werden. Ich vergesse die Panik, die diese Frau mit den pechschwarzen Augen in mir ausgelöst hat.
Als ich zum zweiten Mal den Scheitelpunkt meiner Flugbahn erreiche, lasse ich die Stange los und vollführe einen dreifachen Salto, bevor Dmitry mich an den Armen auffängt. Wir schwingen weiter, dann wieder zurück zu meiner Stange, wobei ich bei der Rückkehr eine zweieinhalbfache Pirouette ausführe. Unten bricht das Publikum in tosenden Applaus aus. Als ich auf meinem Podest lande, blicke ich hinab und winke dankbar – dann erstarre ich. Selbst aus dieser schwindelerregenden Höhe kann ich einige weitere Zuschauer ausmachen, die statuenhaft still dasitzen und mit ihren eiskalten schwarzen Augen zu mir hochstarren.
Doch bevor ich den Schock richtig verarbeiten kann, beginnt das Publikum zu lachen.
»Was ist denn jetzt los?«, schreit der Zirkusdirektor.
Ein wilder Clown mit orangefarbenen Haaren kommt in die Manege gestürzt. Er watschelt zur Messerwand und testet mit einer großen, weiß behandschuhten Hand die Spitze einer Klinge. Brüllend vor Schmerz schüttelt der Clown seine scheinbar verletzte Hand. Noch mehr Gelächter ertönt aus der Menge.
Während Dmitry auf mich zuschwingt, höre ich ihn rufen: »Was macht Gretto, warum mischt er sich in unsere Nummer ein?«, aber auch ich habe keine Erklärung dafür.
Dann starrt Gretto zu mir hoch. Sein Gesicht ist knochenweiß geschminkt, die falsche Nase so rot und knollig wie ein Furunkel, die Lippen zu einem grotesken Lächeln verzogen. Aber es sind seine Augen – kohlschwarze Augen –, die mir einen Schauer über den Rücken jagen.
»Das ist nicht Gretto«, rufe ich. »Es ist Tanas!«
Der dämonische Anführer der Inkarnaten spielt weiter seine Rolle als Zirkusclown. Er zieht mehrere Messer aus der Wand und beginnt mit ihnen zu jonglieren, während er auf meine Strickleiter zusteuert. Das Publikum johlt, klatscht und lacht bei jedem Messer, mit dem er hantiert, und bei jedem Finger, den er zu verlieren vorgibt.
Aber Dmitry und ich wissen beide, dass es keine Show ist. Die Absichten des Clowns sind klar. Mit dem verbliebenen Messer zwischen den Zähnen klettert Tanas wie eine heimtückische Spinne meine Strickleiter hinauf.
»Zu mir!«, schreit Dmitry und schwingt kraftvoll in meine Richtung.
Mehrere Sekunden lang kann ich nur dastehen und in purer Panik auf den schwarzäugigen Clown starren, der auf mich zuklettert. Wie hat er uns gefunden? Wir haben unser Leben bei der Durchquerung Sibiriens riskiert, nur um seinen Fängen zu entkommen. Wir haben seit Monaten kein Zeichen von Wächtern oder Jägern bemerkt. Wir haben fast jede Woche unsere Namen, unser Aussehen und unseren Aufenthaltsort geändert …
»YELENA!«, schreit Dmitry verzweifelt.
Seine Stimme bricht den Bann. Ich drehe mich um und stürze mich von der Plattform. Aber der erste Schwung reicht nicht aus, um mich für einen Fang vorzubereiten. Die Stange pendelt schon wieder zurück, als Tanas die Plattform besteigt. Er greift nach meinem Bein, aber ich trete ihn weg und schwinge mich über die Leere zurück. Einen Moment lang taumelt Tanas mit den Armen rudernd am Rand der Plattform und versucht, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Die Menge lacht entzückt, weil sie es für einen Teil der Show hält.
»Gotov!«, schreit Dmitry, die Hände zum Fang bereit.
Aber ich kann nicht. Tanas’ Griff nach mir hat unsere Schwungbewegungen aus dem Rhythmus gebracht, aus Angst vor einem Absturz kann ich meinen Griff um die Stange nicht lösen und kehre noch einmal zur Plattform zurück.
Tanas wartet bereits, er hat sein Gleichgewicht wiedergefunden. Auf seinen rot geschminkten Lippen liegt ein grausiges Grinsen und in seiner behandschuhten rechten Hand hält er jetzt das Messer.
»Komm zu Gretto!«, sagt er, sein Tonfall so gruselig wie sein Lächeln.
Als ich jedoch in seine Reichweite komme, macht Tanas keinen weiteren Versuch mich zu packen. Diesmal sticht er mit dem Messer zu. Ich verdrehe meinen Körper und löse eine Hand von der Stange. Die Klinge verfehlt mich um Haaresbreite – um dann eines der Seile zu durchtrennen, an denen die Stange befestigt ist!
Während ich in der Luft zappele, schnappen die Zuschauer plötzlich entsetzt nach Luft. Mit aller Kraft umklammere ich mit beiden Händen die Stange und schwinge mich auf Dmitry zu. Er ist bereit und streckt mir die Arme entgegen, die Finger gespreizt, um mich zu fangen.
»Vertrau mir!«, schreit er. »Dein Leben verbunden mit meinem, für immer.«
Aber gerade als ich mich in seine ausgestreckten Arme werfen will, reißt das ausgefranste Seil. Ich schreie entsetzt auf. Ich sehe noch, wie Dmitry sofort seine Knie von der Fangstange löst, sodass er nur noch an seinen Knöcheln hängt. Er streckt seine Hände aus, um meine zu packen …
Unsere Finger berühren sich …
Aber ich rutsche aus seinem Griff und stürze ins Bodenlose.
»Ich falle … falle … endlos … kein Boden unter mir … nur eine entsetzliche schwarze Leere …«
Ein Fingerschnippen und meine Lider öffnen sich ruckartig. Mein Puls rast und mein Atem geht schnell und flach.
»Beruhige dich, Genna«, besänftigt mich eine freundliche Stimme. »Du bist in Sicherheit.«
Nervös schaue ich mich um. Ich liege auf einer Ledercouch in einem pastellfarbenen Raum, durch dessen Bambusjalousien das Sonnenlicht hereinströmt. In einer Ecke steht eine große, rosa blühende Orchidee und an der gegenüberliegenden Wand hängt das gerahmte Bild eines schneebedeckten Berges mit der Aufschrift: Du weißt nie, wie stark du bist, bis stark zu sein, deine einzige Option ist.
»Das war sehr erhellend, Genna. Sag mir, wie fühlst du dich jetzt?«, fragt ein Mann mit schiefergrauem Haar. Er lehnt in einem Sessel gegenüber meiner Couch und blickt mich über seine Lesebrille hinweg an. In seinem Schoß liegt ein Notizbuch, seine schlanken Finger umklammern einen silbernen Füllfederhalter.
»Ähm … ein bisschen verwirrt«, antworte ich und setze mich auf. Er macht sich eine Notiz. Meine Gedanken werden langsam wieder klar, und ich erinnere mich, dass ich mich in meiner Therapiesitzung mit Dr. Larsson in seiner Praxis in West London befinde.
»Das ist verständlich«, sagt er freundlich. »Für Menschen, die für Hypnosetherapie empfänglich sind, kann es eine ziemlich tief greifende Erfahrung sein, und natürlich auch eine sehr effektive Behandlung. Kannst du jetzt verstehen, dass diese vergangenen Leben – oder Schimmer, wie du sie nennst – die Produkte deines Unterbewusstseins sind?«
Ich runzle die Stirn, aufgewühlt von meiner ersten Hypnoseerfahrung. »Dann habe ich mir alles also nur eingebildet?«
Mein Therapeut nickt.
»Aber ich war noch nie Zirkusakrobatin, geschweige denn in Russland!«, wende ich ein.
»Dein Unterbewusstsein arbeitet mit Bildern«, erklärt Dr. Larsson. »Erinnerst du dich noch, dass wir, bevor ich dich in Trance versetzt habe, über deine Gymnastikausbildung gesprochen haben? In Anbetracht deiner Erfolge bei schulinternen Wettkämpfen kann man davon ausgehen, dass du dich in deinem Kopf als Akrobatin gesehen hast. Warst du schon einmal in einem Zirkus?«
»Ja, aber vor vielen Jahren, als ich noch ein kleines Kind war«, erwidere ich.
»Na also«, antwortet er mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Du hast mir auch erzählt, dass du viele historische Romane liest. Gibt es in deiner Sammlung auch einen über Russland?«
Ich stelle mir das Bücherregal in meinem Schlafzimmer vor. »Tolstois Anna Karenina. Es spielt in … St. Petersburg …« Ich verstumme. Ich bestätige damit nur seine Auffassung.
Dr. Larsson beugt sich in seinem Sessel vor. »Genna, diese vergangenen Leben, die du vermeintlich hattest, wurden von deinem Verstand heraufbeschworen, um dir zu helfen, mit einer stressigen und traumatischen Erfahrung fertigzuwerden. Das ist nichts, wofür du dich schämen müsstest. Jeder, der etwas Ähnliches wie du durchgemacht hat, entwickelt zwangsläufig Bewältigungsmechanismen. Und ich darf sagen, du hast es wunderbar gemeistert.«
Meine Kehle schnürt sich zusammen und heiße Tränen schießen mir in die Augen, als ich mich an den Überfall Damiens und seiner Bande in einem Londoner Park erinnere, bei dem er versuchte, mich im Auftrag seines sogenannten Meisters Tanas zu entführen. Und daran, wie dieser böse und verrückte Priester mich in einer grausamen Opferzeremonie fast umgebracht hätte. Selbst jetzt, sechs Monate später, kann ich immer noch den bitteren Trank schmecken, den Tanas mir einflößte; ich spüre die zutiefst beunruhigende Spaltung von Körper und Seele, während er das Ritual durchführte; und ich erinnere mich an mein Entsetzen, als er mir mit einem alten Jademesser das Herz herausschneiden wollte. Ein Schauder durchläuft mich bei den albtraumhaften Erinnerungen.
Dr. Larsson reicht mir ein Taschentuch und ich tupfe mir die Tränen weg. »Geht es wieder?«, fragt er.
Ich nicke. »Es ist nur sehr belastend, wenn ich an den Moment in der Krypta zurückdenke.«
Seine bräunlichen Augen werden weich vor Mitgefühl. »Und das wird auch noch eine Weile so bleiben«, sagt er. »Aber du hast einen langen Weg hinter dir, Genna. Du bist viel zäher und widerstandsfähiger als das verängstigte und verwirrte Mädchen, das du noch bei unseren ersten Sitzungen warst. Die Zirkusvision, die du gerade erlebt hast, beweist das.«
»Inwiefern?«, frage ich.
Dr. Larsson lehnt sich in seinem Sessel zurück. »Nun, ich sehe es folgendermaßen«, beginnt er. »Die Lebendigkeit dieser Vision ist das Resultat der intensiven Gefühle, die mit deinem Trauma verbunden sind. Wie ich bereits angedeutet habe, ist das Setting beeinflusst von dem, was du gelesen hast, von deinen Kindheitserfahrungen mit dem Zirkus und deinem Talent zum Turnen. Aus unseren früheren Sitzungen und der heutigen geht hervor, dass du dich als Turnerin am stärksten und fähigsten fühlst. Also zeigt deine Rolle als Akrobatin in der Vision eine positive Verschiebung von der Selbstwahrnehmung als Opfer hin zur Rolle der Überlebenden. Mit der Zeit wirst du dich weiterentwickeln, zu einer entfalteten Persönlichkeit.«
Ich setze mich etwas aufrechter auf die Couch mit einem Gefühl der Stärkung, das ich schon lange nicht mehr verspürt habe.
Dr. Larsson blickt auf seine Notizen. »Der Junge, Damien, scheint in deinen Gedanken nicht mehr aufzutauchen, es sei denn, er wird durch die mürrische Frau repräsentiert, die du in der ersten Reihe gesehen hast. Aber selbst wenn das der Fall ist, ist er nur ein Beobachter und nicht mehr ein aktiver Teilnehmer. Vor allem aber hast du begonnen deine größte Angst, Tanas, in etwas Komisches zu verwandeln – in einen Clown.«
»Er war immer noch furchterregend«, gebe ich zu bedenken.
»Ja«, räumt mein Therapeut ein. »Aber das Publikum hat über ihn gelacht und du hast dich aktiv gewehrt. Das ist ein weiteres positives Zeichen des Fortschritts. Schließlich hat der Junge, von dem du sagst, dass er dich gerettet hat –«
»Phoenix«, unterbreche ich, und sofort huscht ein Lächeln über meine Lippen. Ich stelle mir seinen immer ein wenig wilden braunen Haarschopf vor, seine hohen, markanten Wangenknochen und sein weltkluges, wissendes Grinsen. Vor allem erinnere ich mich an seine ungewöhnlich strahlenden Augen, die sich so blau wie Saphire von seiner sonnengebräunten Haut abheben. Phoenix Rivers, der Junge aus Arizona, der sich selbst als mein Guardian bezeichnete. Der Junge, der fast sein Leben gelassen hätte, um meines zu retten.
Dr. Larsson erwidert mein wehmütiges Lächeln. »Ja, Phoenix. Nun, er scheint von dem Trapezkünstler Dmitry repräsentiert zu werden. Er war da, um dich aufzufangen, aber er schaffte es nicht …«
»Phoenix hat mich aber gerettet«, erwidere ich trotzig. Sogar jetzt habe ich das Gefühl, ihn beschützen zu müssen, obwohl es doch eigentlich seine Aufgabe ist, mich zu beschützen. »In diesem Leben und in meinen anderen Schimmern – ich meine Visionen, oder was immer das ist.«
»Das mag der Fall sein. Aber in dieser speziellen Zirkusvision vermochte er es nicht«, erinnert mich mein Therapeut. »Und das deute ich als ein gutes Zeichen. Vielleicht lässt dein Verstand endlich die Vergangenheit los.«
Ich lasse mich in das weiche Leder der Couch zurücksinken und starre an die Decke, während ich die Einschätzung meines Therapeuten auf mich wirken lasse. In den letzten Monaten habe ich mich gegen vieles gewehrt, was er gesagt hat, und es vorgezogen, an die Wahrheit meiner eigenen Wahrnehmung und die Erfahrungen zu glauben, die ich mit Phoenix geteilt habe. Aber mit der Zeit und mithilfe der Therapie fange ich an, eine neue Sichtweise auf das Geschehene zu gewinnen, darauf, wie es mich beeinflusst und sogar meinen Blick auf die Realität verändert haben könnte. Während sich der Schmerz und das Trauma auflösen, schwindet auch meine Fixierung auf die Vorstellung von vergangenen Leben. Vielleicht gibt es das alles nur in meinem Kopf, denke ich.
»Aber es scheint so real zu sein«, sage ich.
»Erscheint ein Traum nicht real, wenn man schläft?«, wirft Dr. Larsson ein. »Und ich versichere dir, diese Visionen, die du erlebt hast, sind nicht realer als ein Traum.«
»Vielleicht. Aber Träume verblassen«, erwidere ich, »während diese Schimmer wie Erinnerungen in meinem Kopf bleiben.«
Dr. Larsson tippt nachdenklich mit seinem Stift auf sein Notizbuch. »Hattest du in den letzten sechs Monaten noch andere Visionen, abgesehen von der eben erlebten?«
»Keine«, gebe ich zu und kann die Enttäuschung in meiner Stimme nicht verbergen. Trotz ihrer nervenaufreibenden Intensität und ihrer oft aufwühlenden und hektischen Natur, geben mir die Schimmer auch großen Trost, als würde ich mich mit einem fehlenden Teil von mir wiedervereinen. »Die Letzte hatte ich, als ich mich von Phoenix am Flughafen verabschiedete.«
»Das bedeutet zwei Dinge«, sagt Dr. Larsson. »Erstens: Solche Visionen werden durch einen Zustand erhöhter Emotionalität oder durch extremen Stress ausgelöst. Und zweitens: Dieser Junge, Phoenix – der dir eingeredet hat, dass diese Visionen aus vergangenen Leben stammen –, ist derjenige, der sie in dir hervorgerufen und eingepflanzt hat, auf ähnliche Weise, wie ich den russischen Zirkus durch Hypnose ausgelöst habe.«
Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht sofort mit Phoenix’ Verteidigung loszulegen. Das Argument des Arztes ist überzeugend. Ich kann nicht leugnen, dass Phoenix’ saphirblaue Augen eine hypnotische Wirkung hatten. Einige der intensivsten und frühesten Schimmer traten auf, als wir uns Auge in Auge gegenüberstanden. Ich kann auch nicht leugnen, dass ich keinen Schimmer mehr hatte, seit er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt ist. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, ob Phoenix mich hypnotisiert hat, und fühle mich fast ein wenig betrogen.
»Ich schätze, Sie haben recht«, gebe ich mit einem Seufzer zu, und eine Last scheint von mir abzufallen. »Was Sie sagen, dass mein Unterbewusstsein das Trauma verarbeitet hat, macht Sinn – zumindest viel mehr, als zu glauben, ich hätte eine Menge früherer Leben gelebt!«
Dr. Larsson klappt sein Notizbuch zu und legt es beiseite. »Nun, Genna, ich denke, du machst ausgezeichnete Fortschritte. Ich werde deinen Eltern vorschlagen, dass wir deine Sitzungen in Zukunft auf ein Mal im Monat reduzieren.«
Ich habe das Gefühl, einen Durchbruch erzielt zu haben, und schwinge meine Beine von der Couch. »Danke, Herr Doktor, für all Ihre Hilfe.«
Er deutet mit der Spitze seines Silberstiftes auf mich. »Nein, du hast dir selbst geholfen.«
Mit leichterem Schritt als beim Betreten seines Sprechzimmers gehe ich auf die Tür zu. Doch als ich die Schwelle erreiche, bleibe ich stehen und drehe mich zu ihm um, um eine letzte Bestätigung zu erhalten. »Also … Habe ich mir wirklich alle meine früheren Leben nur eingebildet?«
Dr. Larsson nimmt seine Brille ab und mustert mich eingehend. »Meiner professionellen Meinung nach hast du das«, sagt er. »Aber das ist nichts Schlechtes, Genna. Es hat dir ermöglicht zu überleben.«
»Wir sind so stolz auf dich«, begeistert sich meine Mutter, während wir uns in unserem silbernen Volvo vom Klinikgelände entfernen, mein Vater am Steuer. Meine Mutter dreht sich auf ihrem Sitz um und berührt sanft mein Knie. »Eine Zeit lang habe ich nicht gewagt zu hoffen, dass wir unsere Genna zurückbekommen«, gibt sie zu, und Tränen steigen in ihren sanften blauen Augen auf. Dann, wie ein Sonnenstrahl auf Schnee, erwärmt ein sanftes Lächeln ihr Gesicht.
Ich ergreife ihre ausgestreckte Hand und drücke sie, um ihr zu zeigen, dass ihre Tochter zurück ist. Aber ich schaffe es noch nicht, es laut auszusprechen. Auch wenn ich mich vom schlimmsten Trauma erholt habe, bin ich nicht mehr dieselbe wie früher und werde es auch nie wieder sein. Die Verletzungen meiner Psyche sind verheilt, werden aber wie eine Narbe nie ganz verschwinden. Und obwohl ich inzwischen akzeptiert habe, dass die Schimmer von meinem Unterbewusstsein hervorgerufen wurden, kann ich sie dennoch nie vergessen.
Die Vorstellung, dass ich eine wiedergeborene Seele aus den Anfängen der Menschheit bin – eine Erste Nachkommin mit der Aufgabe, das Licht der Menschheit weiterzutragen, wie Phoenix behauptete –, erscheint mir jetzt allerdings etwas weit hergeholt. Genauso wie der Gedanke, dass es ein weltweites Netzwerk von Inkarnaten – Seelenjägern und Spähern – gibt, die nach mir suchen, damit ihr Anführer, Tanas, meine Seele herausreißen und dieses sogenannte Licht auslöschen kann. Ich lächle über die Absurdität des Ganzen. Wenn ich an die Erklärung denke, die Phoenix mir in diesem Luftschutzkeller gegeben hat, hätte ich wirklich meinen eigenen Instinkten vertrauen sollen und nicht dem, was mir ein Fremder erzählt hat.
Dad wirft einen Blick in den Rückspiegel und fängt meinen Blick auf. »Wir sind so froh, dass du bei dem Programm geblieben bist, Gen«, sagt er. »Ich weiß, es war nicht leicht für dich. Für uns war es übrigens auch nicht einfach. Aber gemeinsam, als Familie, haben wir es geschafft.«
»Danke, Dad«, antworte ich und denke an all die Opfer, die sie gebracht haben: die vielen Fahrten quer durch London zu meinen Beratungsgesprächen; die vielen schlaflosen Nächte, die sie ertragen mussten, um mich wegen meiner dunklen Albträume zu trösten; die stundenlangen verzweifelten Nachforschungen, um einen Weg zu finden, mein Trauma zu heilen; ihre Hilflosigkeit, wenn ich immer wieder Rückschläge erlitt und sie beide nicht mehr weiter wussten. »Es tut mir so leid –«
»Nein, das braucht es nicht«, unterbricht mich mein Vater. »Das Leben ist dazu da, uns herauszufordern. Aber denk daran, Genna: Wenn du über einen Berg gehst, werden deine Beine stärker. Und du bist aus dieser Prüfung stärker und widerstandsfähiger denn je hervorgegangen. Was auch immer für Herausforderungen in der Zukunft auf dich warten, du wirst viel besser vorbereitet sein, besser in der Lage, sie zu meistern.« Er strahlt mich im Rückspiegel mit einem stolzen Lächeln an. »In meinen Augen – obwohl du immer mein kleines Mädchen bleiben wirst – wächst du zu einer wirklich tollen jungen Frau heran.«
Ich spüre ein warmes Gefühl in meinem Herzen bei seinen Worten. Es ist eine große Erleichterung, meine beiden Eltern einmal glücklich und wirklich lächelnd zu sehen. Seit Wochen sind sie angespannt und gestresst, können ihre Angst kaum verbergen, dass das von mir erlittene Trauma zu tief sitzt, um behandelt werden zu können, und dass ich jeden Moment wieder in eine Depression zurückfallen könnte. Aber die monatelange Therapie hat sich ausgezahlt, und die ganze Familie scheint mit mir geheilt zu sein. Vielleicht sind wir uns jetzt sogar näher als zuvor.
Mama sieht mich an, ein Glitzern in den Augen. »Also, um deine Genesung zu feiern, haben wir eine Überraschung für dich«, verkündet sie.
»Was denn?« Gespannt beuge ich mich in meinem Sitz vor.
Sie klopft einen dramatischen Trommelwirbel auf dem Armaturenbrett, dann verkündet sie: »Wir fahren … nach Barbados!«
Einen Moment lang starre ich sie nur an, während ich die Nachricht verarbeite, dann juchze ich: »Barbados!«
Papa nickt. »Ja, ein zweiwöchiger Urlaub, und wir werden meine ganze Familie treffen, während wir dort sind«, sagt er, und sein Grinsen ist jetzt genauso breit wie meines. »Dein Urgroßvater kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Ebenso wie deine Cousins.«
»Ich werde Papaya wiedersehen!«, rufe ich begeistert. Als wir das letzte Mal auf Barbados waren, war ich noch ein Kleinkind und konnte »Urgroßvater« nicht aussprechen, also nannte ich ihn stattdessen Papaya, und der Name blieb hängen. Dad hat oft davon gesprochen, zu seinen Wurzeln zurückzukehren, aber wir scheinen nie das Geld dafür gehabt zu haben. Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. »Aber ich dachte, wir könnten uns keine teuren Urlaube leisten … besonders nach den Kosten für meine Therapiesitzungen.« Ein Anflug von schlechtem Gewissen schnürt mir den Magen zu. Ich hatte einen Blick auf die Rechnung des Arztes geworfen, die mein Vater bezahlt hatte, und die Endsumme war keineswegs gering.
Mum wedelt meine Besorgnis beiseite. »Das Leben ist zu kurz, um sich ständig Gedanken darüber zu machen, wie viel es kostet, es zu leben«, antwortet sie. »Die Ereignisse haben uns das bewusst gemacht. Also haben wir unsere Ersparnisse für schlechte Zeiten angezapft …«, sie blickt durch die Windschutzscheibe auf den grauen Nieselregen draußen, »… und für mich sieht es gerade wirklich nach schlechten Zeiten aus!«
»Wann fahren wir los?«, frage ich aufgeregt.
»Übernächstes Wochenende«, antwortet Papa. »Ich habe schon die Flugtickets reserviert und werde die Buchung bestätigen, sobald wir zu Hause sind.«
»Das wird die Auszeit, die wir uns alle verdient haben«, sagt Mum, tätschelt liebevoll den Oberschenkel meines Vaters und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. »Schatz, ich brauche einen neuen Badeanzug …«
»Natürlich. Ich brauche auch eine neue Badeshorts«, lacht er und bleibt an einer Ampel stehen.
Während meine Eltern aufgeregt plaudern, lehne ich mich in meinem Sitz zurück und blicke aus dem Fenster in den Regen und auf den vorbeifahrenden Verkehr. Mein Spiegelbild schaut mich an, mein nachdenklicher Gesichtsausdruck umrahmt von meinen hellbraunen Locken. Ich sehe immer noch aus wie ein junger glatthäutiger Teenager, der ich ja auch bin, aber meine haselnussbraunen Augen sind merklich gealtert. Sie wirken reifer, weiser und weltmüder. Ich betrachte sie genauer, suchend … Aber da ist kein blaues Funkeln in ihnen, wie ich es im Spiegel des Straßencafés gesehen habe, als ich mit Phoenix auf der Flucht war. Mein bernsteinfarbener Teint, eine ausgewogene Mischung aus den Hautfarben meiner Mutter und meines Vaters, überdeckt die Erschöpfung, die ich tief in mir spüre. Nach einer langen Therapiesitzung bin ich immer ein wenig ausgelaugt, und die heutige war noch anstrengender als sonst. Aber der Gedanke, in den Urlaub nach Barbados zu fahren, hebt meine Laune. Warmer Sonnenschein, goldener Sand und kristallklares Meer – das ist genau die Therapie, die ich im Moment brauche. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht bei dem Gedanken, wieder bei meiner Großfamilie zu sein, und meine Hand greift instinktiv nach dem Amulett um meinen Hals.
Ich ziehe an der schmalen Goldkette und hole den Guardian-Stein hervor, den Phoenix mir geschenkt hat. Dieses Amulett hat mir während Tanas’ Ritual das Leben gerettet, zumindest dachte ich damals, dass es das getan hätte. Aber seine Kraft – falls es überhaupt eine hatte – ist jetzt verbraucht, ein Riss zersplittert den runden, blau marmorierten Edelstein. Es ist mein einziges Andenken an Phoenix, und ich trage es bei mir, seit er in die Vereinigten Staaten zurückgeschickt wurde. Was auch immer die Wahrheit hinter meinen seltsamen Erlebnissen war, ob ich mir vergangene Leben einbildete oder nicht, die Verbindung zwischen mir und Phoenix habe ich mir nicht eingebildet. Das war real … oder nicht?
Aber wenn es so war, warum hat er mich dann nicht kontaktiert? Ich weiß, dass er der Technik nicht vertraut und deshalb kein Handy besitzt, aber das ist keine Entschuldigung dafür, nicht einmal einen Brief zu schreiben. Phoenix sagte, er würde wieder nach Hause nach Flagstaff, Arizona, zurückkehren oder an einem Strand in L. A. abhängen. Keiner der beiden Orte liegt am Ende der Welt. Wenn ich ihm wirklich etwas bedeuten würde, hätte er mir sicher eine Nachricht geschickt, wenigstens um zu sagen, dass er gut angekommen ist.
Ein tiefer, wehmütiger Seufzer entwischt meinen Lippen, als mich eine schmerzhafte Erkenntnis trifft. Wenn meine vergangenen Leben alle nur ein Hirngespinst waren, dann war es vielleicht auch unsere Verbindung. Schon in einer der ersten Sitzungen hatte mein Therapeut diagnostiziert, dass meine intensive Bindung zu Phoenix eine Folge des Stockholm-Syndroms sei und dass meine positiven Gefühle Phoenix gegenüber ein weiteres Mittel seien, um zu überleben und mit meiner Situation fertigzuwerden. Vielleicht hat er auch damit recht …
Ich reiße die Kette von meinem Hals. Einen Moment lang überlege ich, ob ich das Amulett aus dem Fenster werfen soll, aber um meine Eltern nicht durch unberechenbares Verhalten zu alarmieren, stecke ich es stattdessen in meine Gesäßtasche.
Ich darf nicht über das Vergangene nachgrübeln, sondern muss nach vorne schauen.
Ich denke an unseren bevorstehenden Urlaub auf Barbados, versuche, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern, und stelle mir das Wiedersehen mit Papaya, die Umarmungen und die langen Gespräche mit ihm vor.
Ein lautes Hupen reißt mich aus meiner Träumerei. »Aus dem Weg!«, murmelt mein Vater gereizt.
Ein einzelner Mann in einem Kapuzenmantel steht mitten auf dem Fußgängerüberweg, einsam und still. Papa hupt erneut, aber der Mann verharrt regungslos, obwohl der Regen auf ihn herabprasselt. Fluchend dreht mein Vater am Lenkrad, um den störrischen Fußgänger zu umrunden.
Als wir an ihm vorbeifahren, vergeht mir das Lächeln. Seine verhüllte Erscheinung und sein dunkles Auftreten erinnern mich an Damien und seine Bande. Unter der dunklen Kapuze seines Regenmantels scheint der Blick des Mannes mir zu folgen. Regen tropft an seiner schnabelartigen Nase herunter und glitzert auf seinem unrasierten Kinn. Als mein Vater losfährt, drehe ich mich um und schaue aus dem Rückfenster. Der Mann steht immer noch mitten auf der Straße, seine im Schatten liegenden Augen lassen mich nicht los.
Genau wie ein Wächter.
Ich kriege Gänsehaut, während mich ein eiskalter Schauer durchfährt. Ich versuche, das beunruhigende Gefühl abzuschütteln.
Es ist alles nur meine Einbildung, oder?
»Barbados! Du Glückspilz!«, ruft Mei, als sie die Nachricht erfährt. »Ist in deinem Gepäck noch Platz für deine beste Freundin?«
Ich schließe meinen Schulspind und lächle. »Na klar! Bin mir aber nicht sicher, ob du durch die Sicherheitskontrolle kommst.«
»Was soll das heißen?«, ruft Mei beleidigt aus. »Es ist ja nicht so, dass wir mit mir das Gewichtslimit für Gepäckstücke überschreiten würden, oder?«
Ich mustere Mei von oben bis unten. Sie ist gertenschlank, hat langes schwarzes Haar und durchdringende dunkelbraune Tigeraugen. »Nein, du fällst eher unter die Rubrik gefährliche Waffe«, sage ich.
»Da hast du recht«, sagt sie und springt in eine Kung-Fu-Stellung. »Mein Bruder hat mir ein paar abgefahrene Wing-Chun-Moves beigebracht. Wusstest du, dass Wing Chun von einer Frau entwickelt wurde? Die Legende besagt, dass die Äbtissin eines Shaolin-Tempels namens Ng Mui es ihrer Schülerin Yim Wing Chun beibrachte, damit die sich gegen unerwünschte Annäherungsversuche verteidigen konnte.«
»Nö, wusste ich nicht …«, erwidere ich, obwohl Meis Worte eine vage Erinnerung an einen Tempel in den Bergen und an Mönche in safrangelben Gewändern wecken – doch ich schiebe diese Gedanken beiseite. Nur ein weiteres Hirngespinst meiner überbordenden Fantasie. Ich werfe meiner Freundin einen prüfenden Blick zu. »Seit wann interessierst du dich eigentlich so sehr für Geschichte?«
Obwohl Meis Eltern berühmte Archäologen sind, teilt sie deren Leidenschaft für Altertümer nicht. Mich hingegen fasziniert das Thema ausgesprochen; Dr. Larsson hält mein tiefes Interesse an Geschichte sogar für eine mögliche Erklärung für die detaillierte und vielfältige Natur meiner Schimmer.
»Oh, ich bin nicht sonderlich interessiert daran«, gibt Mei zu. »Aber nach dem, was dir passiert ist …« Sie zögert und fährt dann umständlich fort: »Nun ja, meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich dem Kung-Fu-Club beitrete, in den Lee geht. Unser Sifu ist sehr daran interessiert, dass wir auch die Geschichte und die Philosophie des Wing Chun lernen, ebenso wie die Techniken. Aber um ehrlich zu sein, will ich nur wissen, wie man sich gegen Jungs wehrt.«
Während sie in die Luft tritt und boxt, schaue ich mich im Umkleidebereich um. Ein Strom von Schülern fließt vorbei. Abgesehen von ein paar merkwürdigen Blicken in Meis Richtung schenkt uns niemand Beachtung. »Ja«, sage ich, »ich sehe schon, wir haben echt Probleme, sie alle abzuwimmeln.«
Mei zuckt mit den Schultern. »Ist ja nicht unsere Schuld, wenn keiner von denen wirklich Geschmack hat, oder?« Sie schnappt sich ihre Schultasche und hängt sie sich über die Schulter. »Sollen wir zum Mittagessen gehen?«
Ich nicke und folge ihr den Korridor entlang. Als wir um die Ecke biegen, stoßen wir mit einer Gruppe von Mädchen zusammen, die in die andere Richtung unterwegs sind. Unter ihnen bemerke ich auch Annas sommersprossiges Gesicht. Ich habe sie seit meiner Rückkehr weder gesehen noch gesprochen, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mir aus dem Weg geht. Ich schenke ihr ein zaghaftes Lächeln, aber sie ignoriert mich einfach.
»Achtung, Leute, hier kommt die Teenage-Terroristin!«, stichelt ein kurzhaariges Mädchen mit einem Piercing in der Nase. Mit dramatischer Geste hält sie alle auf Abstand zu mir.
»Du bist so erbärmlich, Lozza«, erwidert Mei. »Warum lässt du das nicht einfach bleiben? Oder ist dein Verstand im Rückwärtsgang stecken geblieben?«
Lozza verzieht das Gesicht. »Ohhhh, du verteidigst die Clapham-Killerin, was? Pass bloß auf, dass sie dich nicht platt walzt!«
Die anderen Mädchen lachen, Anna unter ihnen, und ich werde knallrot. Ich weiß, dass ich mich nicht aufregen sollte, aber Lozzas Beschimpfungen rufen mir in Erinnerung, was ich zu vergessen versuche. Unvermittelt tauchen die Erinnerungen wieder auf: Damiens Versuch, mich zu entführen … Damien, der einen unschuldigen Passanten anschießt … Seine rücksichtslose Jagd auf Phoenix und mich durch den Clapham Market in dem weißen Van … Die Fahrerin, die Menschen rammt bei dem Versuch, uns über den Haufen zu fahren …
Plötzlich ringe ich nach Luft. Mein Herz pocht laut und schnell. Meine Hände beginnen zu zittern, während das spöttische Lachen der Mädchen in meinen Ohren klingt. Ich habe seit Wochen keine Panikattacke mehr gehabt, aber ich erkenne die Anzeichen. Mit den emotionalen Schleusen, die sich in meinem Kopf öffnen, kehren auch die Ängste und Befürchtungen zurück, die ich auf der Flucht erlebt habe … die Polizei, die den Van für einen Teil eines terroristischen Anschlags hält und mich mit dem Vorfall in Verbindung bringt, die Zeitungen, die anfangs mit mir sympathisieren, sich aber dann gegen mich wenden, als sich herausstellt, dass ich freiwillig mit Phoenix geflohen bin, woraufhin sie Schlagzeilen wie »Teenager-Terroristen« und »Clapham-Killer« fabrizieren, die sie mit meinem Foto und den Bildern anderer Verdächtiger auf die Titelseiten setzen.
»Genna hat niemanden umgebracht«, entgegnet Mei grimmig, während ich mich bemühe, meine chaotischen Gedanken zu beruhigen.
»Ja, aber ihr Freund schon«, stellt Anna klar. Man merkt, dass sie zu Lozza aufschaut wie ein bedürftiges Hündchen, das Anerkennung sucht. »Deshalb wurde er abgeschoben.«
»Phoenix hatte keine andere Wahl. Er hat mir das Leben gerettet!«, platze ich heraus, unfähig, meine Zunge länger im Zaum zu halten.
»Er war also dein Freund«, erwidert Lozza mit einem süffisanten Grinsen, dann singt sie mit höhnischer Stimme: »Genna and Phoenix sitting in a tree, K-I-L-L-I-N-G!«
Ich verkrampfe mich, meine Unterlippe bebt. Ich will dieser Nervensäge nicht die Genugtuung geben, dass sie mich mit ihren Sticheleien aus der Fassung bringt. Aber es ist schwer. Die Therapie mag mir zwar helfen, mit dem Trauma fertigzuwerden, aber die Ereignisse liegen erst sechs Monate zurück, und Lozza und ihre Clique hören einfach nicht auf, mich zu provozieren. Ihre ständigen Sticheleien reißen genau die Wunden auf, die Dr. Larsson zu heilen versucht.
»Lozza, fehlt ohne dich nicht irgendwo in einem Dorf ein Trottel?«, faucht Mei, als sie bemerkt, wie ich um Fassung ringe. »Ignorier sie, Gen, sie ist es nicht wert«, worauf sie meinen Arm nimmt und mich schnell wegführt. »Teenager-Terroristin«-Rufe und hämisches Gelächter hallen uns im Korridor hinterher.
Als ich außer Sichtweite bin, kann ich mich nicht mehr beherrschen und die Tränen kullern über meine Wangen.
»Genna, lass sie nicht an dich heran«, sagt Mei und legt einen Arm um meine bebenden Schultern. »Sie haben keine Ahnung, was du durchgemacht hast.«
»A-aber Anna schon!«, schluchze ich und lasse mich in ihre Umarmung ziehen. »Ich verstehe einfach nicht, warum sie sich so verhält. Sie war doch mal meine Freundin …« Ich schließe meine Augen und zwinge mich, tief und langsam zu atmen und bis zehn zu zählen, wie Dr. Larsson es mir beigebracht hat, wenn ich mich überfordert fühle.
Mei drückt mich fester an sich. »In einer Situation wie dieser, Genna, verliert man keine Freunde. Man lernt einfach nur, wer die wahren sind.«
Langsam lässt die Panikattacke nach und ich blicke zu ihr auf. »Du bist mehr als eine Freundin für mich, Mei. Du bist wie die Schwester, die ich nie hatte.« Bei diesen Worten spüre ich eine tiefe Liebe und Dankbarkeit ihr gegenüber, die eine unerklärliche Leerstelle in meinem Herzen zu füllen scheint. Allein die Vorstellung, Mei könnte meine Schwester sein, gibt mir Kraft. »Danke, dass du zu mir gehalten hast. Ich weiß, dass ich in den letzten Monaten nicht ich selbst war, aber ich habe –«
Plötzlich stockt mir der Atem. Durch das Prisma meiner Tränen bemerke ich einen großen Jungen, der am äußersten Ende des Korridors steht. Seine Arme sind verschränkt, sein Kopf ist gesenkt, sein Gesicht von einem dunkelgrauen Kapuzenpullover verdeckt.
»Du hast was?«, hakt Mei nach, dann bemerkt sie meinen verängstigten Gesichtsausdruck.
»D-Damien!«, stottere ich.
»Wovon redest du?«, fragt sie, mit dem Rücken zu der furchterregenden Gestalt stehend. »Dieser Widerling ist doch in einer Jugendstrafanstalt eingesperrt.«
»Aber ich schwöre, das ist er.« Wütend wische ich mir die Tränen aus den Augen und schaue wieder hin. Mei folgt meinem Blick. Der Junge steht immer noch da, dunkel, gefährlich und einschüchternd. Erneut fühle ich die Panik in mir aufsteigen.
»He!«, ruft ein Lehrer. »Lass das Handy verschwinden und zieh die Kapuze runter! Du bist hier in der Schule!«
Der Junge blickt von seinem Handy auf. Widerwillig steckt er sein Handy ein und klappt seine Kapuze zurück, wobei ein Büschel rotblonder Haare zum Vorschein kommt. Während er zügig auf den Schulhof hinauseskortiert wird, stoße ich einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Nein, es war definitiv nicht Damien. Die Haare meines Peinigers sind rabenschwarz und sein Teint ist viel blasser als die sandfarbene Haut dieses Jungen.
»Siehst du?«, sagt Mei. »Es ist nur einer aus der Oberstufe.«
Ich nicke und schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. »Sorry. Einen Moment lang dachte ich, er wäre es.«
Mei schüttelt mitfühlend den Kopf. »Diese bescheuerte Lozza hat dich echt aus der Fassung gebracht, stimmt’s? Versuch, dich nicht so von ihr runterziehen zu lassen«, rät sie sanft. »Vergiss nicht, du bist jetzt in Sicherheit. Das liegt alles in der Vergangenheit.«
Während mich das Bild des vermummten Damien weiter verfolgt, betrete ich mit Mei die Kantine. Wir holen uns jeder eine Pizza, eine Schüssel Salat und einen Saft, bevor wir uns zu unserer Freundin Prisha an einen Tisch in der hintersten Ecke setzen. Ein Hauch von Knoblauch und Kardamom steigt aus ihrer Lunchbox auf.
»Riecht gut«, sage ich und schaue auf den dampfenden Teller vor ihr. »Was steht heute auf dem Speiseplan?«
»Chole«, antwortet Prisha und nimmt einen Löffel des selbst gemachten Kichererbsencurrys.
Nachdem ich die Kochkünste ihrer Mutter probiert habe, kann ich nicht anders, als Prishas köstliches Mittagessen mit meinem schlappen Stück Pizza zu vergleichen, dessen Reiz schnell verblasst.
Aber Mei lässt sich davon nicht abschrecken, sie schlingt ihr Stück hungrig in sich hinein. »Hast du schon gehört? Genna fährt nach Barbados«, nuschelt sie, den Mund voll mit Peperoni.
Prisha blickt mich überrascht an. »Echt, wann?«
»Nächstes Wochenende, für zwei Wochen«, antworte ich und nehme einen Schluck von meinem Saft. »Meine Eltern dürfen mich vom Unterricht befreien lassen.«
Das Lächeln auf Prishas Gesicht verschwindet. »Oh … bedeutet das, dass du meine Geburtstagsparty mit Übernachtung am Freitag verpasst?«
Für eine Sekunde rattert mein Verstand. In der Aufregung über den karibischen Strandurlaub habe ich ihre Einladung völlig vergessen. »Nein, natürlich nicht … Das geht immer noch in Ordnung«, antworte ich optimistisch. »Wir fliegen erst am Samstagabend.«
»Ah, gut!«, sagt Prisha und widmet sich wieder fröhlich ihrem Essen. Dann bemerkt sie meine geröteten, geschwollenen Augen. »Alles in Ordnung, Gen?«
Mei antwortet für mich. »Wir sind gerade Lozza über den Weg gelaufen. Wie üblich war sie entzückend.«
Prisha schnaubt empört und wirft mir einen mitfühlenden Blick zu. »Oh Gen, warum lässt sie dich nicht in Ruhe? Das Mädchen ist ein Albtraum! Kein Wunder, dass du aufgebracht bist.«
»Nicht nur das«, sagt Mei, senkt ihre Stimme und sucht Prishas Blick über ihr Pizzastück hinweg, »Genna dachte, sie hätte Damien in der Schule gesehen.«
Prisha legt abrupt den Löffel weg. »Damien? Ich dachte, der ist eingesperrt.«
»Ist er auch«, erwidere ich. »Es war nur meine Einbildung. Ich hatte eine Panikattacke und konnte nicht klar denken. Gestern dachte ich sogar, ich hätte einen Wächter gesehen!«, füge ich hinzu und stoße ein befangenes Lachen aus.
Mei und Prisha tauschen besorgte Blicke aus.
»Aber ich weiß, dass das ganz unmöglich ist«, fahre ich hastig fort. »Selbst wenn die ganzen Geschichten mit den vergangenen Leben und den Ersten Nachkommen wahr wären, so hat Phoenix gesagt, dass mit Tanas’ Tod auch sein Einfluss auf seine Anhänger schwindet. Alle Seelenjäger oder Wächter werden inaktiv – zumindest bis Tanas sich wieder inkarniert, und das wird in diesem Leben nicht passieren …« Unter den besorgten Blicken meiner Freundinnen verstumme ich.
Prisha greift über den Tisch und nimmt meine Hand, ihre sanfte Berührung ist warm und beruhigend. »Gen, ich glaube, dieser Urlaub ist genau das, was du brauchst«, sagt sie freundlich. »Eine Pause von allem. Ein Neuanfang. Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit. Wenn du zurückkommst, wirst du so gut wie neu sein.«
»Das hoffe ich«, antworte ich mit einem unsicheren Lächeln. »Dr. Larsson sagt, dass ich mich gut erhole, dass ich mich von einem Opfer zu einer Überlebenden entwickelt habe. Aber ich könnte auf diese Flashbacks von Damien und meiner Entführung gerne verzichten. In meiner letzten Sitzung konnte Dr. Larsson nachweisen, dass meine Schimmer nur Produkte meines Unterbewusstseins sind.«
Prishas runzelt die Stirn auf beiden Seiten ihres Bindi. »Echt? Wie hat er das gemacht?«
»Er hat durch Hypnose einen neuen Schimmer hervorgerufen«, erkläre ich.
»Um was ging es bei diesem Schimmer?«, fragt sie und beugt sich interessiert vor. Prisha hat meine Geschichten über vergangene Leben immer ernster genommen als alle anderen. Also erzähle ich meine Vision vom russischen Zirkus, von meinem Auftritt als tollkühne Akrobatin und Trapezkünstlerin und wie ich auf der Flucht vor Tanas in den Tod stürzte.
»Das ist faszinierend«, sagt Prisha atemlos. »Du beschreibst alles so detailliert. Kein Wunder, dass du glaubst, dass die Schimmer echt sind.«
Ich schüttele den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Ich habe Dr. Larssons Erklärung akzeptiert. Reinkarnation ist nicht real.«
Prisha versteift sich ein wenig. »Hindus glauben an Reinkarnation«, entgegnet sie in einem leicht eingeschnappten Tonfall. »Genauso wie Buddhisten und Sikhs.«
»Aber da geht es um Glauben, nicht um Beweise«, sagt Mei, während sie die Reste ihrer Pizza vertilgt und ihren Teller beiseiteschiebt.
»Nein, es ist bewiesen«, antwortet Prisha ernsthaft. »Es gab in den Dreißigerjahren ein Mädchen aus Delhi, das behauptete, ein früheres Leben gehabt zu haben. Eine von Mahatma Gandhi selbst eingesetzte Kommission kam zu dem Schluss, dass ihre Geschichte wahr sein musste. Sie –«
»Prisha, das ist nicht hilfreich«, unterbricht Mei und wirft ihr einen warnenden Blick zu.
Ich stochere mit einer Gabel in meinem Salat und schiebe ohne Appetit eine Tomate auf dem Teller umher. Ich hatte im Internet über dieses spezielle Mädchen gelesen, als ich auf der Suche nach einer Erklärung für meine seltsamen Visionen mit Phoenix war. Shanti Devi war ihr Name. Der Fall war sehr überzeugend, und als ich darüber las, gab mir das großen Trost. Aber jetzt lässt mich Shantis Geschichte die Dinge nur wieder infrage stellen.
»Tut mir leid«, murmelt Prisha mit zerknirschter Miene, »aber du kannst die Möglichkeit der Reinkarnation nicht einfach so abtun.«
»Man kann auch nicht einer Geschichte von vor hundert Jahren vertrauen«, antwortet Mei spitz.
»Ihr habt beide recht«, sage ich und picke weiter lustlos in meinem Salat herum. »Aber jetzt weiß ich nicht, was ich glauben soll.«
»Schau, es gibt vielleicht einen Weg, wie wir das ein für alle Mal klären können«, sagt Mei entschlossen.
»Wie?«, frage ich.
»Mit ein bisschen Detektivarbeit«, antwortet sie, holt ihren Laptop heraus und schaltet ihn ein. Während wir uns um ihren Bildschirm versammeln, öffnet Mei ihren Browser und tippt eine Webadresse ein. »Also, dieses angebliche frühere Leben im russischen Zirkus«, sagt sie und wendet sich mir zu. »Wann war das?«
»Im frühen 20. Jahrhundert.« Ich runzle nachdenklich die Stirn, während ich versuche, mich an das genaue Datum zu erinnern.
»Das reicht«, sagt Mei und gibt den Zeitraum 1910–20 in das Suchfeld ein. »Und du hast gesagt, der Zirkus war in St. Petersburg. Wie hieß deine Nummer noch mal?«
Mit einem leicht verlegenen Grinsen antworte ich: »Yelena, der fliegende Feuervogel«.
Mei hebt amüsiert eine Augenbraue. »Einprägsam! Das sollte nicht allzu schwer zu überprüfen sein.«
»Also, wonach genau suchst du?«, fragt Prisha, während Mei den Ort und die Schlüsselwörter eintippt.
»Nun, wenn Gennas Schimmer echt sind – was ich sehr bezweifle –, dann müsste ihr Tod als berühmte Akrobatin damals in den Zeitungen gestanden haben«, erklärt Mei, drückt die Eingabetaste und beginnt die Suche. »Meine Eltern nutzen diese Archiv-Website oft, wenn sie auf der Suche nach Hinweisen auf verlorene Schätze sind. Dort sind Zeitungen aus der ganzen Welt eingescannt, das Archiv reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Wenn es in den Zeitungen stand, dann finden wir es auf dieser Website.«
Nach ein paar Sekunden füllt eine Liste mit relevanten Treffern den Bildschirm. Mein Puls beschleunigt sich ein wenig, als wir die Suchergebnisse durchgehen. Die meisten sind Hinweise auf Aufführungen des Balletts Der Feuervogel des russischen Komponisten Igor Strawinsky. Es gibt auch eine Reihe von Artikeln über einen magischen, brennenden Vogel aus der slawischen Folklore. Mein Herz setzt sogar einen Schlag aus, als ich den Namen Phoenix in einem Link entdecke, bevor mir klar wird, dass es nur ein weiterer Verweis auf den mythischen Feuervogel ist. Aber es scheint keine Treffer für eine russische Zirkusartistin namens Yelena zu geben.
Mei lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, verschränkt die Finger hinter dem Kopf und sagt mit zufriedener Stimme: »So. Punkt bewiesen. Gennas Schimmer war nicht real.«
Auch wenn ich ein klein wenig enttäuscht bin, macht sich doch ein gewaltiges Gefühl der Erleichterung in mir breit. Dr. Larssons Einschätzung ist jetzt wirklich über jeden Zweifel erhaben.
Aber Prisha verschränkt die Arme und schüttelt den Kopf. »Das beweist nicht, dass es nicht wirklich passiert ist«, argumentiert sie. »Nur, dass es nicht gemeldet wurde.«
Mei scrollt erneut durch die lange Liste der Links. »Diese Suche ist ziemlich umfassend. Und ich denke, ein derart dramatischer Todesfall hätte zumindest im Nachrufteil einer Zeitung irgendwo erwähnt werden müssen –«
»Warte mal«, unterbreche ich, und mein Herz pocht heftig, als mir eine Überschrift ins Auge fällt. »Geh eine Seite zurück – Stopp! Was ist das?« Ich deute auf einen Verweis in der Zusammenfassung eines Links mit dem Titel »Fataler Flug des berühmten Feuervogels«.
Mei klickt die Datei an und ein eingescannter Artikel aus einer Ausgabe des The Daily Telegraph vom 23. Oktober 1902 wird auf dem Bildschirm hervorgehoben:
Fataler Flug des berühmten Feuervogels
Bei einem tragischen Unfall im letzten Monat starb die berühmte russische Akrobatin Yuliana Petrovski, bekannt als »Yuliana der Feuervogel«, während einer Zirkusvorstellung in Yamburg, Russland. Während ihrer legendären und todesmutigen Trapeznummer riss laut Zeugenaussagen das Seil und sie verfehlte den Fang ihres Partners. Ihre Beerdigung fand fünf Tage später in St. Petersburg statt.
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich wechsle einen entsetzten Blick mit Prisha, deren Augen genauso groß sind wie meine.
»Na ja … hundertprozentig schlüssig ist das nicht«, argumentiert Mei und rutscht unbehaglich auf ihrem Sitz herum. »Der Name ist schon mal falsch.«
Prisha wirft Mei einen Blick zu. »Du musst aber zugeben, dass eine große Ähnlichkeit besteht.«
»Schon, aber es gibt trotzdem zu viele Unterschiede«, beharrt Mei. »Sogar der Ort ist ein anderer.«
»Zugegeben«, räumt Prisha ein. »Aber eins steht fest: Eine berühmte Artistin starb in Russland, als sie Anfang des 20. Jahrhunderts vom Trapez fiel. Genau wie in Gennas Schimmer. Das ist ein ziemlich zwingender Beweis für ein früheres Leben.«
»Es könnte aber auch nur reiner Zufall sein«, kontert Mei. »Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, dass es wahr ist, Prisha, aber vergiss nicht, dass es Gennas Therapeut war, der diesen Schimmer herbeigeführt hat.«
Prisha zuckt mit den Schultern. »Und? Er könnte unfreiwillig eine Erinnerung aus einem ihrer vergangenen Leben wachgerufen haben.«
»Oder, was wahrscheinlicher ist, es handelt sich dabei um ein reines Hirngespinst Gennas«, erklärt Mei mit Nachdruck. »Wir wissen beide, dass Genna ein Geschichtsfan ist, also könnte sie diese Geschichte in einem ihrer Bücher gelesen oder sie im Radio gehört oder sogar in einem Film gesehen haben!«
»Möglich«, lenkt Prisha unter Meis strengem Blick ein. »Aber vielleicht ist es auch gesünder, die Schimmer als das zu akzeptieren, was sie wirklich sind, anstatt zu versuchen, sie zu leugnen oder zu unterdrücken.«
»Du bist nicht Gennas Therapeutin, Prisha!«, platzt Mei laut heraus, worauf es in der Kantine plötzlich still wird.
»Nein, ich bin ihre Freundin«, antwortet Prisha, wobei ihre Stimme leicht bebt und ihre Wangen sich röten. »Und genau wie du versuche ich, ihr zu helfen.«
Während meine beiden Freundinnen in ein angespanntes Schweigen verfallen, starre ich weiter auf die Schlagzeile der Zeitung und bin wie gebannt von der surrealen Möglichkeit, dass ich meinen eigenen Nachruf aus einem früheren Leben lese.
»Happy Birthday, Prisha«, sage ich und füttere sie mit einem kleinen Stück Geburtstagskuchen, bevor ich zurücktrete, damit Mei dasselbe tun kann. Der Streit der beiden von Anfang der Woche ist vergessen, ebenso wie ich den Gedanken verworfen habe, ich könnte in einem früheren Leben eine russische Artistin gewesen sein. Um meiner geistigen Gesundheit willen muss ich davon ausgehen, dass diese Zeitungsmeldung nur ein seltsamer Zufall war.