SOUL SURVIVOR - Chris Bradford - E-Book

SOUL SURVIVOR E-Book

Chris Bradford

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Beschreibung

Das atemberaubende Finale der Action-Abenteuerserie um die unsterblichen Seelen Phoenix und Genna!

Das sichere Versteck von Genna und Phoenix, ihrem Guardian und Begleiter durch die Jahrhunderte, und ihren Verbündeten ist zerstört. Wollen sie sich vor dem schrecklichen Geheimbund der Inkarnaten retten, müssen sie sich trennen und überall auf der Welt im Verborgenen nach einem Weg suchen, deren Anführer zu besiegen. Doch Genna ist sich sicher, dass der Schlüssel dazu in ihrer Heimatstadt London verborgen liegt – dort, wo man zuerst auf sie Jagd machen wird. Nur bleibt ihr keine andere Wahl, als zusammen mit ihren engsten Freunden genau diesen Weg zu wählen, wenn sie verhindern wollen, dass die Welt wie wir sie kennen auf immer zerstört wird ...
Das explosive Finale der »Soul«-Trilogie! Vom Autor der Bestseller-Serie »Bodyguard«

Die Bände der »Soul«-Trilogie:
Soul Hunters (Band 1)
Soul Prophecy (Band 2)
Soul Survivor (Band 3)

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Seitenzahl: 519

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CHRISBRADFORD

Aus dem Englischen von

Alexander Wagner

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© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2023 Chris Bradford

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel:

»Soul Survivor« bei Puffin, einem Verlag

der Verlagsgruppe Penguin Random House, London

Übersetzung: Alexander Wagner

Lektorat: Andreas Rode, München

Umschlagkonzeption: Isabelle Hirtz, Inkcraft,

unter Verwendung der Fotos von

© Shutterstock (BAZA Production; Alones; Seregraff; frank_peters)

MP · Herstellung: UK

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-22585-8V001

www.cbj-verlag.de

Para mi alma de amor Marcela,

tú eres la luz en mi vida.

1

»Kopf unten lassen«, flüstert Alwin und drückt mein Gesicht in den blutgetränkten Sand.

Ich ducke mich hinter der Sanddüne neben meinen Guardian. Mein Körper zittert, und mein Herz pocht so heftig, dass ich befürchte, man könnte es über das Rauschen der Wellen hinweg hören. Die Seelenjäger der Wikinger suchen immer noch den Strand nach Ersten Nachkommen ab, die den Kampf überlebt haben. Ihr wildes Geheul jagt mir einen Schauer über den Rücken, und als ich einen Blick riskiere, sehe ich ihre kohlschwarzen Augen in der Dunkelheit glitzern. Die furchterregende Gestalt ihres Anführers Tanas steht über dem zuckenden Körper Mercias, seine blutverschmierte Axt zeichnet sich vor den erlöschenden Flammen des heiligen Feuers ab.

»Was ist gerade passiert?«, zische ich und spucke Sand aus. »Warum hat Mercias Licht sie im Stich gelassen?«

»Ich weiß es nicht, Kendra«, murmelt mein Seelenbeschützer. Er greift nach seiner Heugabel, als sich ein Jäger unserem Versteck nähert. »Ich schätze, sie war doch nicht diejenige, die von der Seelenprophezeiung vorhergesagt wurde …«

Ich schüttele den Schimmer ab, der mich in meine Vergangenheit als Kendra im 9. Jahrhundert zurückgeführt hat, und kehre in meine Gegenwart als Genna zurück. Einen Moment lang habe ich das seltsame Gefühl, unstofflich zu sein, während sich meine Seele wieder in meinen Körper und mein jetziges Leben einfindet. Kendras blonde Strähnen verwandeln sich in meine vertrauten hellbraunen Locken, ihre milchweiße Haut wird bernsteinfarben, und ihr kleiner, gedrungener Körperbau, der so gut zu ihrem Leben als Bauerntochter passte, wird gegen meine athletischere Figur einer Turnerin ausgetauscht.

Obwohl diese Wiedergeburt mehr als zwölfhundert Jahre zurückliegt, überkommt mich jetzt dasselbe Gefühl der Verzweiflung, das ich damals empfand.

Ich muss miterleben, wie mein Erzfeind von den Toten aufersteht.

Tanas ist kein axtschwingender Wikinger mehr, sondern lebt in diesem Leben in der Gestalt der FBI-Agentin Alex Lin weiter. Die Anführerin der Seelenjäger ist groß, durchtrainiert und skrupellos. Sie trägt eine mattschwarze Schutzweste, ihr langes dunkles Haar fällt in einem eleganten Schnitt über ihre schmalen Schultern und umrahmt ihr hageres, markantes Gesicht und ihre Pilotensonnenbrille.

»Dein angebeteter Seelenseher hat dich wieder mal im Stich gelassen«, höhnt sie und wirft einen verächtlichen Blick auf den verletzten Caleb, der sich zu ihren Füßen windet. Tanas hat seine Brust mit dem Jadedolch durchbohrt, den sie in ihrer Hand hält.

Blut strömt aus der Wunde des weißhaarigen und faltigen Caleb – und auch aus seinem Mund. Verwirrt blickt er zwischen Tanas und mir hin und her. »A-a-aber die Prophezeiung hat sich er-erfüllt… Du solltest tot sein!«

Tanas schüttelt den Kopf. »O Caleb! Nach deinem ersten schwachen Versuch vor so vielen Jahrhunderten solltest du es eigentlich besser wissen und nicht auf falsche Prophezeiungen vertrauen.«

»Nein! Die Seelenprophezeiung ist wahr!«, beharrt Caleb. »Der Seelenheiler Empote und ich haben es beide vorausgesehen … Genna ist die einzig wahre Seele … Sie hat den Funken entzündet, als sie auf die dunkelste Probe gestellt wurde …« Caleb wendet sich mit flehenden Augen an mich.

Ich senke beschämt den Kopf. Ich fühle mich wie eine Betrügerin. Das Schicksal der Ersten Nachkommen lag in meinen Händen, und als die Zeit gekommen war, konnte ich unseren Feind nicht besiegen. Genau wie Mercia bin ich nicht diejenige, die in der Seelenprophezeiung vorhergesagt wurde.

Tanas lacht grausam. »Wollt ihr Nachkommen es denn nie lernen? Meine Seele kann nicht getötet werden. Nur ich habe die Macht, Seelen zu zerstören.«

Nachdem sie die unheilige Beschwörungsformel ihres Rituals gesprochen hat – »Rura, rkumaa, raar ard ruhrd …« –, schreit sie ein letztes Mal »Ra-Ka!« und rammt das Jademesser tief in Calebs Herz. Blaue Blitze züngeln um Tanas’ Hand und Dolch. Calebs sternenklare blaue Augen weiten sich im Todeskampf und leuchten für einen kurzen Moment auf, bevor das Licht seiner Seele für immer erlischt. Er sackt leblos zu Boden, sein Stock mit dem Löwenkopf klappert über die weißen Marmorplatten der zerborstenen Glaspyramide Havens.

»NEIN!«, schreie ich, als mich ein feuriger Schmerz durchzuckt. Die übrigen überlebenden Nachkommen – Santiago, Viviana, Sun-Hi, Tasha, Thabisa und ihr kleiner Sohn Kagiso – erleiden alle dieselben Qualen.

Der plötzliche Verlust des Lichts hinterlässt bei mir Orientierungslosigkeit und ein flaues Gefühl im Magen. Der sternenlose Nachthimmel senkt sich wie ein Leichentuch auf mich herab und meine Knie geben nach. Phoenix, mein Guardian, streckt die Hand aus, um mich zu stützen. Unser Oberster Guardian, Goggins, lässt seine Maori-Kriegskeule fallen und fängt die schon recht betagte Viviana auf, während die anderen Guardians und Seelenkrieger sich zusammenschließen, um ihren geschwächten Schützlingen zu helfen. Plötzlich ertönt ein klägliches Miauen rings um die Pyramide. Nofretete trauert um ihren geliebten Caleb und alle anderen Katzen Havens vereinen sich mit ihr zu einem Klagegesang.

Heiße Tränen rinnen mir über die Wangen und ich blicke Tanas hasserfüllt an. »Warum hat dich die Lichtbombe nicht getötet? Diese Intensität des Lichts hättest du auf keinen Fall überleben können!«

Tanas grinst amüsiert. »Musst du das noch fragen, Genna? Schließlich habe ich nicht umsonst unzählige Male gelebt und bin unzählige Male gestorben. Ich habe aus meinen früheren Fehlern gelernt.« Sie nickt in Tareks Richtung, der Thabisa mit ihrem Baby hilft. »Tareks früherer kleiner Einsatz der Leuchtgranate hat mich vor der Gefahr gewarnt, also habe ich mich entsprechend vorbereitet.« Stolz tätschelt sie ihren Kampfanzug. Dessen Oberfläche ist seltsam zweidimensional und abgrundtief schwarz, wie ein in Raum und Zeit gerissenes Loch. »Dieser Kampfanzug wurde hauchdünn mit speziellem Nano-Carbon beschichtet, das fast hundert Prozent aller Lichtwellen absorbiert. Und diese hier –«, sie nimmt ihre Sonnenbrille ab, sodass ihre schlangenartigen dunklen Augen zu sehen sind, »– haben eine di-elektrische Spiegelschicht, die den Großteil des Lichts reflektiert. Das schützt mich vor eurer Lichtexplosion.« Sie zieht eine dünne Augenbraue hoch. »Ich muss allerdings zugeben, dass ich auf eine derartige Explosion nicht vorbereitet war.«

Tanas weist mit einer Hand auf das Chaos um sie herum. Havens Pyramide ist nur noch eine Ruine, die Sonnenkollektoren sind zerborsten, Glasscherben liegen wie Schnee verstreut. Der Hauptaltar und sein kristallener Schlussstein sind in tausend Stücke zerbrochen und haben einen gezackten Stumpf hinterlassen. Überall liegen die Leichen der Inkarnaten – der namenlosen FBI-Agenten, Polizisten, Soldaten, Lastwagenfahrer, Landarbeiter und vieler anderer unglücklicher Seelen, die Tanas für ihre dunkle Sache rekrutiert hat. Um sie herum verstreut liegen ihre Waffen.

Ich starre wie betäubt auf die Verwüstung und kann immer noch nicht fassen, dass Tanas es geschafft hat, dem Tod auf so raffinierte Weise ein Schnippchen zu schlagen, da bemerke ich, wie Damien sich bewegt. Er stöhnt und streckt steif seine muskulösen Glieder. Die rabenschwarzen Haare des jungen Seelenjägers fallen aus seinem kreideweißen Gesicht und geben den Blick auf eine zerbrochene Sonnenbrille frei, die der Brille Tanas’ gleicht. Ausgerüstet mit demselben mattschwarzen Kampfanzug wie sein Meister, rappelt er sich schwankend auf.

»Na, das war ein Knaller!« Er schüttelt die Glassplitter von seiner Jacke und seinen Haaren.

»Du bist auch noch am Leben?« Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Dass Tanas überlebt hat, ist schon schlimm genug, aber dass der beharrlichste seiner Seelenjäger auch noch am Leben ist, übersteigt mein Fassungsvermögen.

Damien legt seine zerbrochene Sonnenbrille ab und grinst mich an. »Oh, danke. Es ist herzerwärmend zu wissen, dass du dich so sehr sorgst, Genna.«

Phoenix, der sein römisches Gladius vom Boden aufhebt, stellt sich zwischen uns. »Bleib zurück, Damien, oder ich schlitze dich auf der Stelle auf.«

Damien wedelt missbilligend mit dem Finger. »Ts, ts! Ich würde mich nicht so voreilig in einen Kampf stürzen, Phoenix. Vor allem, weil du nicht den Hauch einer Chance hast.«

Die scharfe Spitze eines Gladiatorendreizacks presst sich seitlich gegen Phoenix’ Hals. Das andere Ende der Waffe hält niemand anderes als Schlagring, die muskulöse junge Jägerin, die eine Sammlung gemeingefährlicher Ringe an ihren Fingern trägt und die Fieseste aus Damiens skrupelloser Bande ist. Ich schaue mich um und entdecke, dass auch die anderen aus der Bande noch leben – der drahtige und schnelle Blondie und der muskulöse, schiefnasige Schlägertyp. Nur Spider, das hagere Mädchen mit dem Tattoo einer Schwarzen Witwe am Hals, fehlt. Vermutlich ist sie immer noch mit ihrer eigenen Stilett-Klinge an der Wand der Schimmerkuppel festgenagelt, das Ergebnis ihres Zweikampfes mit Phoenix.

»Weg mit der Waffe, sonst mach ich einen Grillspieß aus dir«, knurrt Schlagring, wobei sie mit dem Dreizack noch fester zustößt, bis Blut an Phoenix’ Hals austritt.

Widerwillig lässt Phoenix das Schwert los und der Gladius fällt klappernd auf den Marmorboden. Der Lärm weckt weitere Inkarnaten in Schutzausrüstung, insbesondere die in Umhänge gehüllten Hohepriester Tanas’ und eine ausgewählte Gruppe von FBI-Agenten und Soldaten. Obwohl die Lichtbombe ihre Reihen dezimiert hat, ist Tanas’ bunt zusammengewürfelte Truppe uns zahlenmäßig immer noch dreifach überlegen.

»Eure Sache ist verloren«, erklärt sie. »Die Seelenprophezeiung hat sich als reines Märchen erwiesen. Jetzt ist es an der Zeit, das Licht der Menschheit auszulöschen … auf ewig!«

2

Die Inkarnaten erheben sich einer nach dem anderen und umzingeln uns. Nachdem wir jahrtausendelang für die Rettung des Lichts gekämpft haben, gibt es für uns keinen Ort mehr, wohin wir fliehen oder wo wir uns verstecken können. So kämpferisch und mutig unsere Guardians auch sein mögen, die Inkarnaten sind ihnen zahlenmäßig und waffentechnisch überlegen. Sie tragen Pistolen, Messer und sogar Granaten, während wir nur eine Handvoll alter Schwerter, Knüppel und anderer antiker Waffen haben, die Phoenix aus der Schimmerkuppel retten konnte.

Ein triumphierendes Grinsen umspielt Tanas’ schmale Lippen, als sie das Gefühl der Niederlage in unseren Augen sieht. Ihr selbstgefälliger Gesichtsausdruck erinnert mich daran, wie eine ihrer früheren Inkarnationen mich und meinen Guardian einst ansah. Ihr Blick ist genauso grausam wie der des römischen Befehlshabers der berüchtigten Zwölften Legion, der uns am Rande einer steilen Klippe stellte. Unsere Lage war damals hoffnungslos und in diesem Leben scheint es nicht anders. In Anbetracht mangelnder Optionen sehe ich mich gezwungen, die einzig mögliche Entscheidung zu treffen.

»Töte mich«, flüstere ich Phoenix zu.

Er starrt mich entsetzt an. Dann schüttelt er entschlossen den Kopf.

»Tu es jetzt!«, beharre ich. »Bevor es zu spät ist.«

Die Inkarnaten heben ihre Waffen, begierig darauf anzugreifen. Sie warten nur noch auf den Befehl ihrer Anführerin. Die einzige Möglichkeit, das Licht der Menschheit zu schützen, scheint ein schneller Tod – der zur Wiedergeburt in einem neuen Leben führen wird. Aber Tanas scheint sich dessen wohl bewusst zu sein, denn sie hält sich mit ihrem Angriff zurück. Sie weiß, dass sie zuerst alle Ersten Nachkommen lebendig fangen muss, um das notwendige Ritual zur Zerstörung unserer Seelen und zum Auslöschen des Lichts durchführen zu können.

»Nein, das kann ich nicht!«, antwortet Phoenix durch zusammengebissene Zähne. »Ich habe geschworen: nie wieder.«

Seine Miene spiegelt Schuld und Entsetzen, und in seinen saphirblauen Augen erkenne ich denselben qualvollen Ausdruck wie damals, als er als römischer Sklave Custos gezwungen war, mich von der Klippe in den Tod zu stoßen. Aber wie er mir unzählige Leben später einmal erklärte: Ein gewaltsamer oder unrechtmäßiger Tod schädigt die Seele, schwächt das Licht und auch das Band zwischen uns. Dich zu töten, ist der allerletzte Ausweg.

Ich werfe einen Blick auf die Versammlung schwarzäugiger Inkarnaten. Unsere derzeitige Lage rechtfertigt sicherlich einen letzten Ausweg!

Damien und seine Bande umrunden uns wie ein Rudel hungriger Wölfe. Die Hohepriester, deren Gesichter mit Kapuzen verhüllt sind, murmeln ihre Beschwörungsformeln und wiegen sich im Takt. Die anderen Inkarnaten verharren regungslos als Wächter mit gezückten Waffen. Mein Blick richtet sich auf meine Mit-Nachkommen. Die viel zu junge, eisblonde Tasha weint still vor sich hin, eine glitzernde Tränenspur rinnt über ihre schneeweißen Wangen. Der jähzornige, bärtige Santiago starrt grimmig unseren Erzfeind an, während Viviana, robust wie ein knorriger Olivenbaum, sich aufgerappelt hat und trotzig dreinschaut. Sun-Hi und Thabisa drängen sich schützend um den weinenden Kagiso. Die Guardians und Krieger, die neben ihnen stehen, tragen tapfere Mienen zur Schau, aber die Anspannung, mit der sie ihre Waffen umklammern, verrät, was sie wirklich denken: Dies könnte unsere letzte Schlacht sein.

Goggins’ finsterer Blick zeigt, dass er entschlossen ist, so viele Inkarnaten wie möglich mit sich zu reißen. »Kommt schon!«, knurrt er. »Worauf wartet ihr?«

»Ihr müsst nicht alle sterben«, sagt Tanas hinterhältig und tippt mit ihrem Fuß auf Calebs Körper. »Goggins, sag deinen Guardians und Kriegern, sie sollen ihre Waffen niederlegen und sich ergeben.«

»Niemals, Tanas. Nicht in einer Million Jahren.«

Tanas seufzt. »Es ist vorbei, Goggins. Selbst ein Blinder kann das sehen!«

Mein Blick fällt auf die abgeschlachtete Gestalt Calebs. Der Seelenseher hatte sein ganzes Vertrauen in mich gesetzt. Er hat mir meine Vergangenheit gezeigt, um mich auf die Zukunft vorzubereiten. Indem er Haven als geheimen, vor den Inkarnaten geschützten Zufluchtsort errichtete, tat er sein Möglichstes, um nicht nur mich, sondern alle Ersten Nachkommen zu schützen. Mein Magen ballt sich zu einem Knoten aus Schuldgefühlen. Es war meine fahrlässige Fehleinschätzung damals bei Phoenix’ Rettung, die uns an diesen äußersten Punkt brachte, die zu Havens Entdeckung und Untergang führte. Und auch Calebs grausamer Tod ist zum Teil meine Schuld.

Die einzige Möglichkeit, sein Leben zu ehren, besteht jetzt darin, das Licht weiter am Brennen zu halten.

Ich wende mich an Phoenix. »Vertraust du mir?«, flüstere ich, und es klingt wie ein Echo der Frage, die er mir vor langer Zeit als Custos gestellt hat. Er nickt. Ich sehe ihm in die Augen, suche seine Seele und will, dass er das Undenkbare tut. Unsere tiefe Verbindung, die in jener schicksalhaften Nacht, in der er mich im Großen Graben zum ersten Mal vor Tanas rettete, zwischen unseren Seelen geschmiedet wurde, strahlt noch immer hell und stark. Was auch immer geschieht, ich weiß, dass dieses Band niemals zerreißen wird … zumindest hoffe ich das.

»Dein Leben hängt an meinem, wie immer?«, wiederhole ich leise den Satz, der uns verbindet.

Er lächelt unendlich traurig und akzeptiert nur widerwillig das Unvermeidliche. »Immer«, antwortet er mit bebender Stimme. Doch gerade als Phoenix sich anschickt, ein letztes Mal sein Schwert zu ergreifen, und ich mich für den Schmerz des Todes stähle, huscht Nofretete an uns vorbei und schreitet mutig auf Tanas zu. Die Anführerin der Inkarnaten rümpft hochnäsig die Nase über meine schlanke, sandfarbene Katze.

»Nefe!«, rufe ich scharf, als sie an der leblosen Gestalt Calebs schnüffelt. Mit ihrer weichen Nase stupst sie die faltige Wange des Seelensuchers an und leckt ihn zärtlich ab. Als er nicht reagiert, richten sich ihre smaragdgrünen Augen anklagend auf Tanas. Fauchend zeigt Nefe ihre Reißzähne und stellt ihren Schwanz auf, während Tanas das grimmige Verhalten meiner Katze ignoriert. Dann miaut Nefe in einem Ton, den sie wohl für das Brüllen eines Pumas hält, der aber nur ein kläglicher, hoher Schrei ist.

Tanas kichert über die jämmerliche Herausforderung. »Ist das alles, was du zu bieten hast, Kitty-Kat?«

Doch Nefe gibt nicht klein bei. Ihr Ruf hat die anderen Katzen Havens herbeigerufen. Sie tauchen aus der Dunkelheit auf und stoßen ihr jämmerliches Wehklagen über den Tod ihres geliebten Caleb aus. Mit leuchtend grünen Augen und blitzenden Krallen umzingelt die Katzenarmee die Inkarnaten.

»Nun, wenn das eure Verstärkung ist«, spottet Blondie mit dünner, näselnder Stimme, »würde ich ernsthaft erwägen, mich jetzt zu ergeben.« Er holt mit seinem Stiefel nach einem rothaarigen Kater aus, der sich zu nahe herangewagt hat. Doch der Kater weicht dem Tritt geschickt aus, springt an Blondies Bein hoch und landet auf seinem pockennarbigen Gesicht. Mit ausgefahrenen Krallen schlägt das Tier nach den Augen des Jägers. Blondie brüllt vor Schmerz, lässt seinen Nunchaku fallen und versucht verzweifelt, die Katze wegzureißen, doch Nefe stößt einen weiteren Schrei aus, und wie auf Kommando gehen alle anderen Katzen zum Angriff über. Mit ohrenbetäubendem Gekreische stürzen sie sich auf die Inkarnaten, die schnell in die Defensive geraten.

Goggins nutzt die Ablenkung und schnappt sich seine Maori-Kampfkeule. »KÄMPFTFÜRDASLICHT!«, schreit er.

Als sich eine schwarz-weiße Katze auf Schlagrings Rücken stürzt, schlägt Phoenix den Dreizack weg und hebt sein Gladius auf. Ich renne dorthin, wo ich vorhin mein Katana habe fallen lassen. Damien will sich mir in den Weg stellen, aber eine getigerte Katze stürzt sich auf ihn und versenkt ihre Zähne in seinem Hals. Er schreit auf und fällt auf die Knie, um das pelzige Tier abzuschütteln.

Mit meinem Katana in der Hand kehren meine Kräfte zurück und ich stürze mich in den Kampf gegen die Inkarnaten. Ich wehre einen Trucker ab, der ein Brecheisen schwingt, und weiche dann einem Eisenrohr aus, das auf meinen Kopf zielt. Zu meiner Rechten schwingt Goggins seine Streitkeule mit wilder Hingabe und wirft die Jäger über den Haufen, als wären sie Bowlingkegel. Zu meiner Linken wirbelt Jude ihren Bo-Stab und drischt auf jedes Ziel in Reichweite ein, wobei sie sich bemüht, keine der Katzen zu treffen. Tarek steht dicht neben Thabisa und schlägt mit seinen Fäusten und Füßen auf einen Hohepriester ein, der versucht, ihren kleinen Sohn zu entführen. Die übrigen Krieger – Kohsoom, Steinar, Blake und Zara – haben sich auf die Hohepriester verteilt, die dem Katzenangriff größtenteils entkommen sind.

Ich ducke mich, als ein Inkarnat mit einem Baseballschläger nach mir ausholt, und kontere mit einem Hieb meines Samurai-Schwerts. Mein Gegner zieht sich schnell zurück, stolpert dabei über eine Siamkatze und landet hart auf seinem Hinterteil. Bevor er aufstehen kann, hämmert ihm Phoenix den Knauf seines Gladius auf den Kopf und setzt ihn außer Gefecht.

»Lasst uns von hier verschwinden!«, befiehlt Phoenix.

»Aber wir sind im Vorteil«, antworte ich, während ich einer Inkarnatin ihr Jagdmesser aus der Hand schlage.

»Nicht mehr lange«, stöhnt Phoenix und wehrt ein Stahlrohr ab, das gegen seinen Kopf geschleudert wurde. »Die Inkarnaten sind immer noch in der Überzahl und …«

»Lass mich los, du dumme Katze!«, schreit Tanas.

Ich schaue mich um und sehe, wie Nefe das Gesicht der Anführerin der Inkarnaten zerkratzt und Tanas sie am Genick packt. Ich eile hinüber, um Nefe zu retten, aber bevor ich sie erreiche, stellt sich mir der Koloss von Schlägertyp in den Weg. Er tritt mir hart gegen die Brust, sein Fuß fühlt sich an wie ein Rammbock. Nach Luft ringend taumle ich rückwärts, stoße gegen den gezackten Stumpf des Altars und verliere mein Katana. Der Schlägertyp stürmt vor und holt mit seinem Morgenstern aus. Ich kann gerade noch ausweichen, als die Überreste des Altars in Stücke unter der mit Stacheln besetzten Eisenkugel zerbersten.

»Mit dem nächsten Schlag zermalme ich dich!«, knurrt der Inkarnat und lässt seinen Morgenstern schneller wirbeln.

Ich höre, wie Nefe einen schmerzerfüllten Schrei ausstößt, und fahre herum. Tanas hält sie fest im Griff, um ihr den Hals umzudrehen. Ich spähe verzweifelt nach einer Waffe – irgendetwas, um dieses Monster davon abzuhalten, meine Katze zu töten! – und entdecke am Gürtel eines toten Inkarnaten-Soldaten eine Rauchgranate. Ich schnappe sie mir, ziehe den Stift und schleudere die Granate auf Tanas. Sie explodiert direkt zu ihren Füßen mit einem ohrenbetäubenden Knall und wirbelt dicke Gaswolken in die Luft. Die Augen aller beginnen zu tränen, die Katzen zerstreuen sich, es herrscht allgemeine Verwirrung. Tanas, Nefe und Schlägertyp sind alle in dem erstickenden Qualm verschwunden.

Als ich hustend und spuckend wegkrieche, spüre ich, wie eine Hand meinen Arm ergreift und mich hochreißt. Ich will meinem Angreifer gerade einen Kinnhaken verpassen, doch dann halte ich im letzten Moment inne, als Phoenix’ Gesicht aus dem Nebel auftaucht.

»Zum Tunnel!«, krächzt er.

3

Mit brennenden Augen und halb blind vom Rauch stolpere ich hinter Phoenix zur Wartungsluke im Boden der Glaspyramide. Auf dem Weg dorthin treffen wir auf Jude.

»Hol die anderen!«, befiehlt Phoenix ihr, während er den Fingerabdruckscanner betätigt und die Luke öffnet.

Sie rennt los. Einen Moment später erscheinen Tarek, Thabisa und Sun-Hi in Begleitung von Blake. Der Krieger, ein schlaksiger Schotte mit kurzem Ziegenbart, dunklen Augenbrauen und einem ständigen Stirnrunzeln, ist mit einer alten Luger-Pistole bewaffnet, die aus dem Ersten Weltkrieg zu stammen scheint.

Phoenix signalisiert Thabisa, mit dem kleinen Kagiso, der fast am Rauch erstickt, rasch in den Tunnel zu steigen.

»Nein, besser ich gehe vor«, sagt Blake, spannt den Hahn seiner antiken Pistole und steigt die Treppe hinunter. Sobald er Entwarnung gibt, hilft Tarek Thabisa und ihrem Baby hinunter. Sun-Hi folgt zügig. Phoenix drängt mich, als Nächste zu gehen, da tauchen Kohsoom und Zara mit dem keuchenden Santiago und der humpelnden Viviana aus dem Rauch auf. Ich lasse sie vor mir hinabsteigen. Dann kehrt Jude mit Tasha zurück, in Begleitung des bärtigen norwegischen Kriegers Steinar. Zu meiner Erleichterung scheint Tasha unverletzt zu sein, aber Judes Bo-Stab ist durch den Kampf in zwei Teile zersplittert.

»Wo ist Goggins?«, fragt Phoenix, als Tasha mit Steinar die Treppe hinunterhuscht.

»Er schaltet immer noch Jäger aus«, antwortet Jude. »Er hat schon einen ordentlichen Haufen von ihnen aufgetürmt!«

»Weiß er, dass wir von hier verschwinden?«

Jude nickt und folgt Tasha und Steinar in den Tunnel.

Phoenix dreht sich zu mir um. »Geh jetzt«, fordert er. »Bevor sich der Rauch lichtet.«

»Aber Nefe …«, erwidere ich und suche das Kampffeld verzweifelt nach meiner geliebten Katze ab. Meine Brust zieht sich zusammen bei dem Gedanken, sie könne dort irgendwo verletzt und mit Schmerzen liegen. Als mein Blick über die Pyramide schweift, entdecke ich im Dunst Goggins neben einem Haufen lebloser Körper. Er ragt über dem knienden Damien auf, seine Maori-Kriegskeule erhoben. Obwohl er den jungen Jäger in seiner Gewalt hat, scheint Goggins zu zögern. In dem Moment bemerke ich die Silhouette eines Inkarnaten, der sich von hinten an ihn heranschleicht.

»Goggins!«, rufe ich, meine Stimme heiser vom Rauch.

Er wirbelt herum und schlägt seinem Angreifer mit dem Knüppel auf den Kopf, sodass der Haufen stöhnender Körper noch größer wird. Dann lässt er Damien auf den Knien zurück und stapft zu uns herüber.

»Ist Viv bei euch?«, knurrt er, die Augen vom Qualm gerötet.

Phoenix nickt.

Goggins wirft einen Blick zurück auf die Horde der Inkarnaten, die wütend die Pyramide nach den verschwundenen Ersten Nachkommen durchkämmen. »Dann lasst uns leben, um einen weiteren Tag zu kämpfen …«

»Haltet sie auf!«, kreischt Tanas, und ihre dunklen Augen glühen, als sie uns schließlich durch den dünner werdenden Rauch erspäht.

Mit einem letzten vergeblichen Blick nach Nefe lasse ich mich in den Servicetunnel fallen, dicht gefolgt von Phoenix und Goggins, der die Luke hinter uns zuschlägt. Wir eilen den anderen hinterher, wobei mich Nefes Schicksal nicht loslässt. Ist sie entkommen? Oder hat Tanas ihr das Genick gebrochen? … Was, wenn sie verletzt ist und meine Hilfe braucht? Erneut treten mir Tränen in die Augen, diesmal nicht mehr wegen des Rauchs. Ich fühle mich schrecklich, weil ich sie im Stich gelassen habe, zumal sie es war, die uns alle gerettet hat. Wieder einmal verdanke ich dieser treuen Katze mein Leben.

Die Neonröhren über uns flackern, während wir den engen Gang hinunterrennen. An einer Kreuzung biegen wir links ab und erreichen eine weitere Treppe, die zu einer verschlossenen Tür führt.

Goggins drückt auf den Scanner, die Tür gleitet auf, und wir betreten den Flugzeughangar Havens. Im Vergleich zu dem Chaos in der Pyramide ist der Hangar seltsam leer und ruhig. In seiner Mitte steht ein großer, schnittiger Jet, der wie ein Silberpfeil in der Dämmerung glänzt.

»Zara und Tarek, ihr macht das Flugzeug startklar. Phoenix, hilf mir, die Hangartore zu öffnen«, befiehlt Goggins. »Ihr Übrigen bringt die Ersten Nachkommen an Bord und schnallt sie an!«

Als wir zu Calebs Privatjet eilen, senkt sich eine Treppe im Vorderteil zu Boden. Zara und Tarek steigen die Stufen hinauf und verschwinden im Cockpit. Steinar hilft Viviana in die Kabine, die anderen folgen ihr. Plötzlich ertönt ein lautes, metallisches Kreischen, das mich aufhorchen lässt. Goggins hat einen schweren Metallbolzen zurückgezogen und Phoenix bedient die Schalttafel des Hangars. Die Stahltüren beginnen aufzurollen, ihr rumpelndes Geräusch ist fast so laut wie das Quietschen des Bolzens. Sofern Tanas und ihre Jäger unseren Fluchtort noch nicht kannten – spätestens jetzt kennen sie ihn.

Die Tore gleiten auf und geben den Blick auf den wolkenlosen, aber seltsam sternlosen Nachthimmel der Mojave-Wüste frei. Nur der Halbmond wirft sein fahles Licht auf die Rollbahn. Ansonsten ist das verborgene Tal, in dem Haven liegt, in Schatten gehüllt; die fünf verbliebenen Säulen aus rotem Fels, die einst den heiligen Steinkreis um den Komplex bildeten, sind stumme Zeugen unserer überstürzten Flucht.

Die Triebwerke des Jets heulen auf.

»Genna, komm an Bord!«, drängt Jude vom Fuß der Treppe aus. Alle anderen sind bereits sicher im Flugzeug. Goggins hat die Türen des Hangars entriegelt und räumt eilig die Trümmer eines früheren Raketenangriffs der Inkarnaten beiseite.

Ich nicke Jude zu, dann rufe ich Phoenix. Er reckt den Daumen nach oben. Doch als ich gerade die Treppe hinaufsteigen will, sehe ich aus dem Augenwinkel eine blitzartige Bewegung. Ich spähe in die Dunkelheit und erkenne einen sandfarbenen Streifen, der über Havens Trainingsgelände auf den Hangar zurast.

»NEFE!«, rufe ich und drehe mich instinktiv um, um sie zu holen.

»Nein!«, schreit Jude und hält mich am Arm fest. »Lass die Katze. Wir müssen jetzt gehen.«

»Aber wir schulden ihr unser Leben – ich werde sie nicht zurücklassen.« Ich winde mich aus ihrem Griff und renne los.

»Genna, komm zurück!«, schreit Jude. »Es ist doch nur eine verdammte Katze!«

Ich ignoriere sie und renne aus dem Hangar. Doch kaum habe ich den Rand der Landebahn erreicht, schlägt meine Freude in Panik um. Nicht weit hinter Nefe folgt ein wütender Mob von Inkarnaten, Tanas an ihrer Spitze.

»Da sind sie!«, kreischt Tanas, ihr Gesicht blutet aus den Wunden, die Nofretete mit ihren scharfen Krallen gerissen hat. »Stoppt das Flugzeug!«

Nefe springt vor ihren Verfolgern auf mich zu, und ich nehme sie in meine Arme. Gemeinsam rennen wir zurück zum Flugzeug. Zara und Tarek lassen den Jet bereits auf die Startbahn rollen. Als sie an Goggins vorbeikommen, klettert er die Stufen hinauf in die Kabine.

»RENNT!«, brüllt er mir und Phoenix zu.

Mit Nefe unter dem Arm sprinte ich über das Rollfeld, dem startbereiten Flugzeug hinterher. Hinter mir erschüttert eine dumpfe Explosion den Hangar und die Tür zum Servicetunnel wird aus den Angeln gesprengt.

Gleich darauf tauchen Damien und seine Bande durch die Rauchschwaden auf. Sie entdecken Phoenix und mich und stürmen auf uns zu.

»LOS! LOS! LOS!«, schreit Phoenix und eilt an meine Seite.

Der Jet rumpelt über die Startbahn, Goggins und die anderen drängen zu mehr Tempo. Von links rücken Tanas und ihre Inkarnaten immer näher.

»Wir schaffen es nicht!«, keuche ich und drücke Nefe fester an meine Brust, während ich mich bemühe, das Tempo zu halten.

»Doch, wir schaffen es«, antwortet Phoenix, legt mir eine Hand auf den Rücken und schiebt mich weiter. Zur gleichen Zeit lehnt sich Blake aus der Kabinentür und feuert mit seiner Luger in die herannahende Reihe der Inkarnaten. Ein Jäger geht zu Boden und reißt zwei weitere Inkarnaten mit sich. Blake feuert noch weitere Schüsse ab, die den Feind zerstreuen und sein Vorankommen verlangsamen … doch dann klickt die Waffe leer. Immerhin hat er uns ausreichend Zeit verschafft, um die Flugtreppe zu erreichen. Ich greife nach dem Geländer und springe auf die erste Stufe.

Da packt eine Hand den kleinen Rucksack auf meinem Rücken.

»Wo ist deine Bordkarte, Genna?«, schreit Damien über das Triebwerksgeräusch des Jets hinweg. Er reißt mich nach hinten und ich verliere den Halt an dem Geländer.

»Lass sie los!«, brüllt Phoenix. Er verpasst Damien einen harten Kinnhaken und versucht, mich loszureißen.

Aber Damien weigert sich, seinen Griff zu lockern. »Du hast keine Starterlaubnis!«, knurrt er und zerrt noch fester an meinem Rucksack.

Während der Jet immer weiterrollt, entbrennt zwischen Phoenix und Damien ein wildes Tauziehen um mich. Ich versuche, Damien abzuschütteln, aber er hängt an mir wie ein Pitbull-Terrier. Jetzt kommt mir Nefe zu Hilfe, die sich in die Hand des Jägers verkrallt und tiefe, blutige Furchen in seine blasse weiße Haut ritzt. Mit einem wütenden Aufheulen lässt Damien los, und Phoenix tritt ihm gegen das Knie, sodass er nur noch humpeln kann.

Wir rennen weiter.

Aber jetzt sitzt uns der Rest von Damiens Bande im Nacken.

»Weiter!«, ruft Phoenix und drängt mich in Richtung des immer schneller werdenden Jets. »Und dreh dich nicht um!«

Ich sprinte, was das Zeug hält. Als ich erneut die Treppe erreiche, springt die furchtlose Nefe aus meinen Armen die Treppe hinauf und in die Kabine. Dann ergreife ich Judes ausgestreckte Hand und klettere ebenfalls an Bord.

»Schließt die Tür!«, schreit Zara aus dem Cockpit. »Wir müssen abheben. Jetzt!«

»Nein!«, rufe ich, als die Triebwerke aufheulen und das Flugzeug Tempo aufnimmt. »Phoenix ist noch nicht an Bord.«

Ich blicke zurück auf die Startbahn, wo mein Beschützer im Alleingang gegen Schlagring, Schlägertyp und Blondie kämpft. Schnell wird er überwältigt und zu Boden geschleudert, wo Tanas, wütend über unsere Flucht, ihren Zorn an ihm auslässt, indem sie ihm wiederholt in den Bauch tritt. Dann, wie die Aasgeier, die um eine Beute kreisen, nähern sich ihre Hohepriester, um ihr Ritual zu beginnen.

Mein erster Instinkt ist es, aus dem immer schneller rollenden Jet zu springen, um Phoenix zu Hilfe zu eilen. Ich versuche es wieder und wieder – aber ich kann mich keinen Zentimeter bewegen. Steinar hält mich unerbittlich im Griff. Wütend zappele ich in seinen Armen, während ich mit ansehen muss, wie sich die Kabinentür schließt und mein Guardian seinem Schicksal überlassen wird.

4

»Warum bist du gestartet?«, fahre ich Zara wütend an, als ich ins Cockpit stürme. »Warum hast du Phoenix zurückgelassen?«

»Ich hatte keine andere Wahl«, antwortet sie knapp, während das Flugzeug steil in den Himmel steigt. »Tanas war uns auf den Fersen und ich durfte nicht länger zögern.«

»Wir müssen zurück«, flehe ich und umklammere ihren Sitz. »Phoenix braucht unsere Hilfe.«

»Es gibt keinen Weg zurück«, beharrt Zara. Sie behält die Flugroute des Jets bei, während wir das Tal hinter uns lassen.

Ich wende mich an Tarek, der auf dem Sitz des Co-Piloten sitzt. »Du kannst ein Flugzeug fliegen?«

Er nickt. »Ich war im Zweiten Weltkrieg Jagdflieger.«

»Dann flehe ich dich an, Tarek, wende das Flugzeug.«

Er schüttelt bedauernd den Kopf. »Geht nicht. Tut mir leid, Genna. Zara ist der Captain.« Er konzentriert sich auf das Armaturenbrett, um meinem wütenden Blick auszuweichen.

»Ist dir nicht klar, dass Tanas Phoenix opfern will?«, schreie ich frustriert. »Wir müssen ihn retten …«

»Es ist zu spät, Genna. Sieh es ein – er ist tot.« Jude legt mir eine Hand auf die Schulter. »Komm, lass sie die Maschine fliegen«, sagt sie fest und führt mich zurück in die Kabine zu den anderen.

Ich zittere so sehr, dass ich kaum noch gehen kann. Ich schüttle ihre Hand ab.

»Hör zu. Ich verstehe, dass du aufgewühlt bist«, fährt sie fort. »Aber Phoenix würde nicht wollen, dass du oder jemand anderes sich für ihn in Gefahr begibt. Das hat er das letzte Mal, als wir ihn gerettet haben, mehr als deutlich gemacht.«

Ich will ihr widersprechen, doch ich weiß, dass sie recht hat. Phoenix war wütend, als ich die Sicherheit Havens verlassen hatte, um ihn aus der Sicherheitsabteilung des Therapiezentrums in Arizona Valley Springs zu befreien. In der Folge wären wir fast alle durch Tanas’ Hände gestorben, und anschließend hatte Phoenix darauf bestanden, dass ich nie wieder ein solches Risiko eingehen dürfe.

»Du solltest stolz auf ihn sein, Genna. Ich bin es jedenfalls.« Jude schluckt hart und verrät damit ihren eigenen Schmerz über den Verlust.

Der blonde Steinar nickt zustimmend. »Er hat seine Pflicht als dein Guardian erfüllt.« Seine Stimme ist genauso rau wie sein kampferprobtes Aussehen. »Hätte er nicht gestoppt, um es mit Damiens Bande aufzunehmen, hättest du es nicht geschafft. Und am Ende ist das alles, was zählt.«

Ich starre ihn kühl an. »Alles, was zählt?«, frage ich, und meine Stimme überschlägt sich. »Aber er ist alles, was für mich zählt.«

Verzweifelt lasse ich meinen Rucksack fallen und sinke auf den nächstbesten freien Sitz. Nefe spürt meine Verzweiflung, springt auf meinen Schoß, kuschelt sich an mich und schnurrt tief, um mich zu trösten. Ich streichle sie abwesend, während ich mich von Steinar und Jude abwende und mürrisch aus dem Fenster in die schwarze, sternenlose Nacht blicke, in einen Himmel, der noch dunkler zu sein scheint als zuvor. Wieder einmal hat sich Phoenix für mich geopfert. Hat sein Leben gegeben, damit ich leben kann. Damit das Licht der Menschheit, das ich in meiner Seele trage, weiterbrennen kann.

Ich verfluche das Licht und die Last, die es mit sich bringt. Obwohl Phoenix’ Tod immer eine schmerzhafte Erfahrung ist, hatte ich bisher immer die Gewissheit, dass er wiedergeboren werden würde. Doch dieses Mal weiß ich, dass er niemals zurückkehren wird. Tanas wird Phoenix nicht einfach töten. Sie wird ihm die Seele herausreißen und sie für immer zerstören. Ich kann mich nicht länger an die Hoffnung klammern, wieder mit ihm vereint zu sein. Weder in diesem Leben, noch in einem meiner zukünftigen Leben.

Plötzlich überkommt mich eine so große Trauer, dass ich kaum noch Luft kriege. Es kommt mir vor, als hätte das Flugzeug einen Druckabfall erlitten und der gesamte Sauerstoff wäre aus der Kabine gesaugt worden. Ich klammere mich an die Armlehnen, als würde der Jet vom Himmel stürzen. Mein Guardian. Mein Guardian. Mein Freund. Mein einziger wahrer Seelenverwandter … verloren … für immer.

Ich bin zu verzweifelt, um zu weinen. Mein Herz fühlt sich wie ausgehöhlt an. Mein jetziges Leben und all die anderen Leben, die noch kommen werden, sind leer und völlig sinnlos. Ich schluchze erschüttert auf, als ich daran denke, wie nahe Phoenix und ich dem Glück gekommen waren. Für einen kurzen Moment, als die Lichtbombe Tanas zerstört zu haben schien, waren wir beide frei gewesen, uns zu lieben, einfach so verliebt zu sein, ohne die Bedrohung durch die Jäger, die über unseren Seelen schwebt. Aber dieser Moment wurde uns viel zu schnell auf gewaltsame Weise entrissen.

Dein Leben hängt an meinem, wie immer.

Jetzt wird es niemals mehr so sein und ich bin am Boden zerstört.

Benommen schaue ich mich in der Kabine um. Das Innere des Flugzeugs ist hell erleuchtet und geschmackvoll eingerichtet, mit cremefarbenen Teppichen, weichen Ledersitzen und Holzverkleidungen. Makellos schön und friedvoll, wirkt es nach den brutalen Kämpfen seltsam unwirklich. Im vorderen Bereich befinden sich eine Hightech-Computerkonsole und ein Bildschirm, im Heck ein schmaler Esstisch und eine kleine Bordküche mit Minibar. So stelle ich mir das Reisen erster Klasse für megaberühmte Popstars, Präsidenten und Tech-Milliardäre vor. Der Kontrast zwischen diesen A-Promis und der Gruppe zerzauster und abgekämpfter Passagiere, die sich gerade an Bord befindet, könnte kaum größer sein.

Alle scheinen von dem Überraschungsangriff auf Haven geschockt zu sein. Der Verlust so vieler Nachkommen und Guardians, das unerwartete Überleben von Tanas und ihren Jägern und unsere verzweifelte Flucht haben einen hohen Tribut gefordert. In der zweiten Reihe streichelt Viviana mit zitternder Hand das eisblonde Haar der mit glasigen Augen dreinschauenden Tasha. Dahinter stillt Thabisa ihren Sohn Kagiso, um ihn zu beruhigen und zum Einschlafen zu bringen. Sun-Hi liegt in den Armen ihres Beschützers Blake, weint leise und betrauert den Verlust ihrer Familie. In einer der hinteren Reihe hocken Kohsoom und Steinar zusammengekauert und flüstern heimlich, ihre Mienen sind grimmig und niedergeschlagen. In der Zwischenzeit hat Santiago die Bar entdeckt und genehmigt sich eine großzügige Menge irgendeines dunklen Alkohols.

Goggins sitzt allein am Esstisch, den kahlen Kopf in die Hände gestützt.

Eine plötzliche Welle der Wut steigt in mir auf. Warum hat er Damien nicht getötet, als er die Gelegenheit dazu hatte?Dann wäre Phoenix jetzt vielleicht noch am Leben, hier bei mir, und nicht tot durch Tanas’ teuflische Hand!

»Goggins!«, rufe ich, was alle aufblicken lässt.

Er starrt mich ausdruckslos an. Sein Gesicht ist ausgezehrt, die Augen rot umrandet, die Wangen hohl. Er wirkt irgendwie geschrumpft, als wären alle Muskeln verkümmert und seine einst beeindruckende Gestalt in sich zusammengefallen. Der Oberste Guardian ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich öffne den Mund, um ihn zu befragen, als mir dämmert, dass auch er tief in Trauer sein muss. Denn Goggins hat nicht nur einen Guardian aus seinen Reihen verloren, sondern auch einen Seelensohn.

Phoenix – oder, wie er in seinem ersten Leben hieß, Asani – war Goggins’ zweitgeborener Sohn, als Goggins der Kriegerhäuptling Zuberi war, der Anführer des Hakala-Bergstammes, der den Nachkommen im Großen Grabenbruch vor Jahrtausenden zum ersten Mal zu Hilfe kam. Kurz vor dem jüngsten Angriff auf Haven hatte ich von Phoenix erfahren, dass Goggins bereits seinen erstgeborenen Seelensohn Jabali an Tanas verloren hatte; dieser tragische Tod hatte die Entschlossenheit des Seelenvaters über die Jahrhunderte hinweg verstärkt, die Ersten Nachkommen zu schützen und den Anführer der Inkarnaten zu besiegen. Nun aber hat sich das Unglück wiederholt: Tanas hat ihm seinen zweiten Seelensohn geraubt.

Kein Wunder, dass der ganze Kämpfergeist aus ihm gewichen ist, denke ich. Es geht nicht nur mir so. Auch Goggins trauert um Phoenix.

Ich beschließe, ihn jetzt nicht danach zu fragen, warum er Damien verschont hat. Stattdessen murmele ich: »Es tut mir leid wegen deines Verlusts.«

Goggins nickt wortlos und senkt noch einmal den Kopf, aber Santiago knurrt: »Das sollte es auch!«

Alle Aufmerksamkeit richtet sich nun auf Santiago an der Bar.

Er sieht mich mit einer erschreckenden Gehässigkeit an, während er einen weiteren Schluck nimmt. »Der Verlust Calebs und Fabians und Micks, Jintaos, Nams und Songs … und meiner Lena und all der anderen Guardians und Krieger, die heute ihre Seelen verloren haben, sollte dir sehr leidtun. Deinetwegen hat Tanas Haven gefunden und war so kurz davor« – er bringt Daumen und Zeigefinger dicht aneinander – »das Licht auszulöschen.«

Meine Wangen erröten bei seinem Angriff.

»Wenn du nur auf Caleb und Goggins gehört hättest, anstatt dich auf deinen nutzlosen Irrweg zu begeben …«

»Santiago, es reicht!« Viviana unterbricht ihn wütend. »Es ist nicht Gennas Schuld. Tanas wusste bereits von Havens Existenz. Erinnerst du dich daran, wie sie Saul und Maddy zu Tode gefoltert hat, um den Standort zu erfahren? Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden würde.«

»Ja, ja, wie auch immer«, schnauzt Santiago und verschüttet seinen Drink über die Bar. Er füllt sein Glas erneut auf. »In meinen Augen ist sie schuld. Caleb hat sich bei der Seelenprophezeiung wieder einmal getäuscht, und wir haben den Preis dafür bezahlt!«

»Und Caleb hat den höchsten Preis bezahlt«, erinnert ihn Viviana traurig.

Daraufhin murmelt Thabisa ein Gebet im Gedenken an den Seelenseher, woraufhin Sun-Hi noch mehr weint und Tasha ein leises Schluchzen ausstößt. Ich beiße mir auf die zitternde Lippe und blinzle frische Tränen der Trauer weg, dieses Mal über den tragischen Verlust Calebs.

Santiago runzelt die Stirn. »Er war ein Idiot, überhaupt an diese dumme Prophezeiung zu glauben.« Seine brennenden blauen Augen starren mich an. »Genna ist keine Retterin. Sie ist unser Untergang!«

Seine Bemerkung trifft mich bis ins Mark. »Ich habe nie gesagt, dass ich eure Retterin bin«, protestiere ich. »Das wollte ich auch nie sein. Ich habe das alles nie gewollt.«

Nur mit Mühe bewahre ich die Fassung, denn all die Wut, die Enttäuschung und der Kummer drohen aus mir hervorzubrechen wie durch einen geborstenen Damm. Ich stehe auf, um mich ihm zuzuwenden, und verscheuche Nefe von meinem Schoß. Sie huscht unter den Schreibtisch der Computerkonsole.

»Noch vor ein paar Wochen dachte ich, ich könnte als normales Schulmädchen in mein Leben in London zurückkehren«, erkläre ich wütend. »Ich hatte meine Entführung durch Tanas hinter mir gelassen. Mein Therapeut hatte mir meine Erlebnisse aus der Vergangenheit als einen Mechanismus zur Bewältigung des Traumas erklärt. Ich hatte mich auf einen Urlaub mit meinen Eltern auf Barbados gefreut, wo wir meine Familie besuchen wollten. Aber dann …« Plötzlich scheint alle Luft aus meinen Lungen gepresst zu werden, und meine Kehle ist wie zugeschnürt, als in mir das grausige Bild von zwei auf dem Küchenboden liegenden Leichen aufblitzt. Am liebsten würde ich meinen Kummer herausschreien, mir den Schmerz aus dem Herzen reißen. »Aber dann wurden meine Eltern von Damien und seinen Jägern ermordet!«

Viviana streckt eine Hand aus, um mich zu trösten, aber ich spüre sie kaum, während ich voller Wut weiterrede. »Die Jäger waren auf der Suche nach mir! Ich bin der Grund, warum meine Eltern tot sind«, schreie ich. »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sich das anfühlt?«

Santiago senkt seinen Blick, eingeschüchtert von meinem Zorn. »Das haben wir alle durchgemacht«, murmelt er.

»Dann wirst du meinen Schmerz wohl verstehen«, fauche ich. »Wieder mal war mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich war zur Flucht gezwungen, musste England verlassen, weil ich des Mordes an meinen eigenen Eltern verdächtigt wurde. Eine Mordverdächtige! Es klingt verrückt, wenn ich es einfach nur ausspreche! Ich musste mich nicht nur mit ihrem Tod abfinden, sondern auch erneut damit fertigwerden, dass ich eine Erste Nachkommin bin, eine wiedergeborene Seele, die das sogenannte kostbare Licht der Menschheit in sich trägt. Und dann, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, verkündete Caleb, ich sei diejenige, die in der Seelenprophezeiung vorhergesagt wurde. Diejenige, die die Finsternis überwinden und Tanas besiegen wird. Was für eine Verantwortung. Also, Santiago: Nein, ich wollte das alles nie!«

Nach meinem Gefühlsausbruch lasse ich mich zitternd in meinen Sitz zurücksinken. Mehrere Sekunden lang sagt niemand etwas.

Dann meldet sich Viviana leise zu Wort: »Keiner von uns wollte das, mia cara. Aber das ist die Aufgabe unserer Seelen. Das Licht am Leben zu erhalten und die Menschheit vor Tanas und ihren Inkarnaten zu schützen.«

Santiago stößt einen Finger in meine Richtung. »Und diese Aufgabe hat sie in Gefahr gebracht.«

»Genna hat ihr Bestes getan«, sagt Jude zu meiner Verteidigung. Sie lehnt mit verschränkten Armen am Bugschott, ihr stacheliges blondes Haar ist zerzaust. Ich schenke ihr ein dankbares Lächeln für ihre Unterstützung, aber sie lächelt nicht zurück.

»Das mag ja sein«, sagt Sun-Hi, setzt sich auf und blickt mich durch ihre Tränen hindurch an. »Aber ihr Bestes war nicht gut genug. Es hat weder meinen Jintao noch meine wunderbaren Nam und Song gerettet.«

»Gennas Idee mit der Lichtbombe hätte fast funktioniert«, sagt Tasha aufmunternd.

»Fast? Fast hilft uns nicht weiter«, sagt Santiago bissig.

Ein bedrückendes Schweigen macht sich breit, nur das Dröhnen der Triebwerke erfüllt die Kabine, während wir durch die Nacht fliehen. Unsere Niederlage hat uns geschwächt und entzweit. Ich werfe Santiago seine Wut nicht vor. Oder Sun-Hi ihre Verbitterung. Auch ich bin enttäuscht und wütend auf mich selbst. Für eine kurze Zeit habe ich selbst geglaubt, ich sei die in der Seelenprophezeiung Vorhergesagte: die eine Seele, die heller und stärker leuchtet als die übrigen, die den Funken entzündet, wenn sie auf die finsterste Probe gestellt wird, und die Tanas’ Seele ein für alle Mal auslöscht. Mein Kampftraining mit Phoenix in der Schimmerkuppel schien Empote und Caleb in ihrem Glauben an mich zu bestärken, und die Tatsache, dass das Licht meiner Ersten Schwester Lakeisha ebenso in meiner Seele leuchtet wie mein eigenes, hatte mich ermutigt.

Aber als die Zeit kam, mich zu beweisen, genügte ich immer noch nicht.

Ich starre aus dem Fenster in den schwarzen Himmel. Wenn ich nicht diejenige bin, die in der Seelenprophezeiung vorhergesagt wird, wer dann? Oder ist die Prophezeiung tatsächlich ein Märchen?

5

»Was machen wir jetzt?«, fragt Thabisa besorgt, wobei sie den schlafenden Kagiso in ihren Armen wiegt. Das gleichmäßige Brummen der Triebwerke und ein mit Milch gefüllter Magen haben den jungen Nachkommen eindösen lassen. Da Caleb nicht mehr da ist, wenden sich alle an Goggins. Aber der Oberste Guardian scheint nicht in der Verfassung uns anzuführen. Er scheint nicht einmal mitzukriegen, dass wir ihn alle anstarren.

»Solange wir leben«, antwortet Viviana, für ihn, »brennt das Licht der Menschheit weiter.«

Santiago schnaubt. »Ja, aber wie lange noch? Tanas wird Jagd auf uns machen. Dabei wird sie jede verfügbare Ressource nutzen. Und als FBI-Agentin hat sie überall Zugang. Wir leben auf Abruf, meine Freunde.«

»Die Schlacht mag verloren sein, aber der Krieg ist noch nicht vorbei«, entgegnet Kohsoom. Sie hämmert eine Faust in ihre Handfläche. »Unser Häuptling sagte, wir sollen für das Licht kämpfen! Tanas wird nicht mit uns rechnen, wenn wir jetzt angreifen.«

Blake wirft der Thai-Kriegerin einen ungläubigen Blick zu. »Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen, Kohsoom? Wir sind nicht in der Lage zu kämpfen. Sieh dich um – wir haben einfach nicht mehr genug Krieger oder Guardians, um es mit Tanas und ihren Inkarnaten aufzunehmen. Wir haben kaum genug, um unsere Ersten Nachkommen zu schützen.«

»Aber das ist vielleicht unsere beste Chance – unsere einzige Chance, die Inkarnaten in diesem Leben zu besiegen«, beharrt sie. »Wir müssen der Schlange nur den Kopf abschlagen!«

Santiago stößt ein hohles Lachen aus. »Das wäre ein Selbstmordkommando!«, sagt er verächtlich und schenkt sich einen weiteren Drink ein. »Tanas hat wieder einmal bewiesen, dass das Böse nie stirbt.«

»Also geben wir einfach auf?«, entgegne ich, bestürzt über seine pessimistische Haltung.

»Das habe ich nicht gesagt«, schnauzt Santiago und sieht mich kaum an. »Unsere beste Hoffnung ist jetzt, uns aufzuteilen und zu verstecken.«

»Wäre es nicht besser, zusammenzubleiben?«, entgegnet Tasha. Sie umklammert Vivianas Hand wie eine Rettungsleine.

Viviana drückt Tashas Hand und nickt zustimmend. »Sie hat recht, Santiago. Gemeinsam sind wir stark.«

»Pah!«, spuckt Santiago. »Es ist genau andersherum. Sicherheit durch zahlenmäßige Überlegenheit gibt es nicht mehr!«

»Wir könnten ein neues Haven aufbauen«, schlägt Steinar vor. Sein Sitz knarrt, als der massige Norweger sich nach vorne lehnt, um sich in das Gespräch einzuschalten. »Eines mit besseren Verteidigungsanlagen.«

Ein paar von uns nicken zustimmend. Ich halte mich mit meiner Meinung zurück, denn ich bin etwas zwiegespalten. Einerseits empfand ich Haven als einen goldenen Käfig und bin ein wenig erleichtert, ihm entkommen zu sein. Andererseits kann ich nicht leugnen, dass die Anlage einen gewissen beruhigenden Schutz bot. Jetzt sind wir so gut wie ungeschützt.

Blake schüttelt den Kopf über Steinars Idee. »Das würde viel zu lange dauern. Außerdem, wo sollen wir das bauen? Und womit? Dieser Jet ist so ziemlich alles, was wir noch haben.«

»Das stimmt nicht ganz«, sagt Viviana. »Caleb hat einen Treuhandfonds für die Ersten Nachkommen eingerichtet. Wir haben immer noch Zugang zu Finanzmitteln …«

»Vergesst die Idee eines neuen Havens«, unterbricht Santiago mit einer verächtlichen Handbewegung. »Calebs vermeintlicher Zufluchtsort war nichts weiter als ein Narrenparadies! Wir haben es Tanas nur leichter gemacht, uns alle auf einen Schlag zu finden.«

»Hilft unser vereintes Licht nicht, unsere Anwesenheit zu verbergen?«, werfe ich ein. »Zumindest hat Caleb mir das erklärt.«

»Ein wenig«, gibt Santiago widerwillig zu. »Das Problem ist, dass Tanas mit jeder zerstörten Nachkommenseele stärker wird, und unser Licht wird jedes Mal schwächer.«

»Aber wenn wir uns trennen, sind wir anfälliger für Angriffe«, argumentiert Thabisa und drückt Kagiso schützend an ihre Brust.

»Vielleicht«, räumt Santiago ein, »aber Tanas muss erst jeden von uns finden, und die Chancen dafür sinken, je weiter wir über die Welt verstreut sind.«

»Was ist mit Tanas’ Wächtern?«, fragt Viviana und erinnert alle an das Netz von Spionen, die im Auftrag ihres Meisters nach Ersten Nachkommen Ausschau halten. »Sie sind inzwischen überall. Stimmt’s, Jude?«

»So ziemlich«, antwortet Jude. »In L. A. waren sie es jedenfalls.«

»Ein Grund mehr zusammenzuhalten«, sagt Thabisa entschieden.

»Nein. Eher ein Grund weniger«, entgegnet Sun-Hi. »Ich stimme mit Santiago überein. Wir müssen uns aufteilen.«

Als eine hitzige Debatte über unsere beste Überlebensstrategie entbrennt, ziehe ich mich zurück und kuschele mich in meinen Sitz. Ich schaue noch einmal aus dem Fenster auf die dunklen Wolken unter mir und denke über meine eigenen Optionen nach. Ohne Phoenix fühle ich mich ausgesetzt. Ungeschützt. Klar, ich habe jetzt Jude als meine Seelenkriegerin. Aber sie ist kein Phoenix, und ich habe nicht die gleiche tiefe Verbindung zu ihr wie ein Erster Nachkomme zu seinem Guardian.

Ich werfe einen Blick in Judes Richtung. Sie ist schlanker als Phoenix und ein ganzes Stück kleiner. Ihr Nasenring, die schräg aufgesetzte Baseballkappe und die verspiegelte Sonnenbrille lassen auf eine lässige Haltung schließen, doch ich habe sie in Aktion erlebt, und als Kämpferin ist sie Phoenix fast ebenbürtig. Dennoch weiß ich immer noch nicht, was genau vor all den Jahren in der alten sumerischen Stadt Uruk abgelaufen ist. Jedenfalls war sie nicht da, als mein Seelenzwilling sie dringend gebraucht hätte. Ich vertraue ihr nicht uneingeschränkt. Wie könnte ich das, wo sie doch beim Schutz meines Seelenzwillings vor Tanas versagt hat? Wird sie auch mich im Stich lassen?

Natürlich könnte ich auf eigene Faust losziehen. Ich bin nicht völlig schutzlos. Während meiner langen Sessions in der Schimmerkuppel und dank meiner früheren Lebenserfahrungen habe ich Fähigkeiten in Samurai-Schwertkampf, Karate, Taiji, Capoeira, der indischen Kampfkunst Kalarippayattu und sogar im mongolischen Bökh-Ringen erworben. Aber die Vorstellung, von einem Tag auf den anderen allein und auf der Flucht zu sein, ohne zu wissen, wem ich vertrauen oder an wen ich mich wenden kann, erfüllt mich mit Grauen. Lieber bleibe ich bei den anderen, um den Trost der Gesellschaft und die Sicherheit mehrerer Krieger zu genießen, selbst wenn das bedeutet, dass ich mich auf den Schutz von Jude verlassen muss. Außerdem sind meine Alleingänge nicht immer gut geendet, weder für mich noch für meine Mitstreiter.

»Goggins, was denkst du?«, fragt Viviana, als es zu keiner Einigung kommt. Alle verstummen, während sie seine Antwort abwarten.

Langsam blickt er auf, der übliche blaue Schimmer in seinen Augen ist verschwunden. Dann erhebt er sich, wobei ihm die Anstrengung fast zu groß erscheint. »Ihr wisst, dass ich als Oberster Guardian immer darauf bedacht war, Tanas zu bekämpfen, weil ich glaube, dass Angriff die beste Verteidigung ist.«

Kohsoom nickt enthusiastisch und hebt eine geballte Faust zur Unterstützung.

»Caleb hingegen bevorzugte eine eher vorsichtige Vorgehensweise. Daher auch sein Glaube an Haven.«

Nun brummt Steinar zustimmend.

»Aber keine dieser Taktiken hat funktioniert«, gibt Goggins zu und sieht uns allen nacheinander in die Augen. »Wenn wir also das Licht schützen wollen, bleibt uns nur eine Möglichkeit: Wir müssen fliehen und uns zerstreuen und verstecken.«

6

Der Jet setzt auf einer abgelegenen Landebahn der mexikanischen Halbinsel Yucatán auf. Die Morgendämmerung lässt noch auf sich warten, die Sonne scheint nur widerwillig aufzugehen. Als das Flugzeug zum Stehen kommt, gähne ich, strecke meine Glieder und schlurfe müde in die Bordküche. Während des Fluges habe ich unruhig gedöst, mein Schlaf war durchsetzt von albtraumhaften Visionen der von den Toten auferstandenen Tanas, von dem am Boden liegenden Caleb, in dessen Augen kein Licht mehr leuchtet, und von der rituellen Opferung Phoenix’ durch Tanas und ihre Hohepriester. Ich finde eine Flasche Wasser und versuche, den bitteren Nachgeschmack dieser schrecklichen Erinnerungen hinunterzuspülen.

»Kohsoom wird deine Seelenkriegerin«, höre ich Goggins zu Santiago sagen, als ich mich wieder auf meinen Platz setze. Angetrieben von seinem Plan, die Nachkommen über die ganze Welt verteilt zu verbergen, scheint unser oberster Beschützer etwas von seiner früheren Souveränität zurückgewonnen zu haben. »Es sei denn, du möchtest lieber Steinar?«

»Nein, ich bin einverstanden mit Kohsoom«, antwortet Santiago, dessen Stimme nach der durchzechten Nacht heiser klingt. »Bei allem Respekt vor Steinar, aber ich denke, Kohsoom wird sich besser einfügen, und wenn ihre Kampffähigkeiten denen meiner Lena ähneln, dann ist sie als meine Beschützerin mehr als geeignet.«

Als ich Lenas Namen höre, beginne ich zu verstehen, warum Santiago gestern so feindselig war. Er trauerte um den Verlust seiner Seelenbeschützerin in diesem Leben.

Goggins nickt. »So sei es«, sagt er. »Kohsoom, mach dich bereit. In der Abstellkammer neben dem E-Jeep stehen die Taschen mit der Notfallausrüstung.«

Kohsoom salutiert vor ihrem Chef und verschwindet durch eine Tür am Heckschott, um kurz darauf mit einem fertig gepackten Rucksack zurückzukehren.

Santiago schreitet den Gang entlang, um sich zu verabschieden. Er küsst Vivianas faltige Hand, wuschelt Tasha durch ihr blondes Haar, lächelt Thabisa und Kagiso aufmunternd zu und umarmt Sun-Hi. Als er zu mir kommt, bleibt er stehen und starrt mich an, seine Augen sind vom Schlafmangel und vom Alkohol rot umrandet.

»Es tut mir leid«, stottere ich.

»Ein bisschen zu spät für Entschuldigungen«, unterbricht er mich. Dann stößt er einen müden Seufzer aus und seine schroffe Miene wird etwas sanfter. »Ich schätze, ich war gestern ein bisschen hart. Der Alkohol hat aus mir gesprochen. Ich werde dir verzeihen, Genna, auch wenn es ein paar Wiedergeburten dauern könnte – wenn wir bis dahin überleben.«

»Ich verspreche, dass ich es wieder gutmachen werde.«

Santiago schnaubt. Dann murmelt er ein widerwilliges »Auf Wiedersehen« und schiebt sich an mir vorbei zur Flugtreppe, wo Goggins ihn und seine neue Leibwächterin Kohsoom hinunterbegleitet.

Da ich selbst etwas frische Luft brauche, mache ich mich ebenfalls auf den Weg zur offenen Tür. Nefe hebt von ihrem provisorischen Lager in einem Gepäckfach den Kopf und blickt mich neugierig an. »Keine Sorge, Nefe – ich gehe nirgendwo hin«, beruhige ich sie und kraule sie hinter den Ohren. Mit einem leisen Schnurren schließt sie die Augen und legt sich wieder schlafen.

An der Treppe schlägt mir feuchtheiße Luft entgegen, die weder meinen Kopf frei macht noch meine Laune hebt. Die Landebahn ist dunkel und verlassen, der Asphalt rissig. Hohe Büsche säumen das Areal, der Maschendrahtzaun ist verrostet und das einzige Gebäude in Sichtweite ist eine kleine, baufällige und von Ranken überwucherte Hütte. Der ganze Ort wirkt menschenleer.

»Wir werden eine Weile untertauchen«, sagt Santiago zu Goggins. Ihre Gestalten zeichnen sich als Silhouetten in der Dämmerung ab. »Dann machen wir vielleicht die Überfahrt nach Kuba per Segelboot. In meinem Heimatland fühle ich mich sicherer.«

»Wo auch immer ihr landet, ich wünsche euch viel Glück«, antwortet Goggins, schüttelt Santiago und Kohsoom die Hand. »Bleibt wachsam und haltet euch versteckt.«

Santiago und Kohsoom schlüpfen durch eine Lücke im Zaun und nach einem letzten Winken in Richtung Flugzeug verschwinden sie in den Büschen. Ich spüre einen schmerzhaften Verlust, in dem Sorge mitschwingt. Sie sind die Ersten, die uns verlassen. Sie könnten auch die Ersten sein, die von Tanas und ihren Jägern gefunden werden.

Als Goggins das Flugzeug wieder besteigt, blicke ich zum Horizont. Der schwarze Umhang der Nacht hängt immer noch schwer herab.

»Wie spät ist es?«, frage ich ihn und blicke zweifelnd auf meine Uhr.

»Sieben«, antwortet er.

Ich runzle die Stirn. »Sollte die Sonne nicht schon aufgegangen sein?«

Viviana antwortet hinter mir: »Ich fürchte, das ist der Einfluss Tanas’.« Ich drehe mich um und sehe, dass sie aus dem Fenster nach der Morgendämmerung Ausschau hält. »Da unser Licht so geschwächt ist, wird die Welt unweigerlich dunkler und die Tage werden kürzer.«

Bei ihren Worten kriege ich Gänsehaut. Ich erinnere mich an den su’mach-Traum, nachdem ich von einer Schlange gebissen worden war, an diese seltsame Vision, in der ich eine endlose Nacht vorausahnte. Meine Vision scheint sich bereits zu erfüllen.

»Und wenn wir uns nicht alle vor Tanas verstecken, stehen uns noch dunklere Tage bevor«, warnt Goggins grimmig. Er fährt die Treppe ein und gibt den Befehl zum Starten.

Sobald der Jet Reiseflughöhe erreicht hat und wir unser nächstes Ziel ansteuern, öffnet sich die Cockpittür, und Tarek tritt heraus. Er hat Zara das Steuer überlassen, lässt sich auf den Sitz neben mir fallen, nimmt seine Brille ab und reibt sich die Augen. Sein drahtiges schwarzes Haar glitzert noch immer von den Glassplittern der Pyramidenexplosion, sein Poloshirt ist zerrissen und blutverschmiert und riecht nach dem beißenden Gestank der Rauchgranate. Ich schätze, ich rieche auch nicht viel besser.

»Wie kommt ihr zurecht?«, frage ich und reiche ihm eine Flasche Wasser und eine Decke. Er sieht erschöpft aus nach dem nächtlichen Flug.

»Ganz gut, denke ich«, antwortet er mit einem unterdrückten Gähnen. »Wie geht’s dir?«

Ich zucke mit den Schultern. »Könnte besser sein«, gebe ich zu.

Tarek wirft mir einen schuldbewussten Blick zu. »Hör mal, es tut mir leid, dass wir nicht wegen Phoenix umkehren konnten, aber …«

»Du trägst keine Schuld«, unterbreche ich ihn. »Ich verstehe, warum das nicht möglich war.« Wut steigt in mir auf bei dem Gedanken, dass Tanas Phoenix geopfert hat, und ich balle eine Faust. »Kohsoom hat recht, wenn sie sagt, wir müssen der Schlange den Kopf abschlagen!«

»Leichter gesagt als getan«, bemerkt Goggins müde. Er wendet sich von der Computerkonsole des Jets ab, wo er unseren Kurs berechnet und nach geeigneten Plätzen für eine unbemerkte Landung sucht. »Jedes Mal, wenn wir das tun, scheint der Schlange ein neuer Kopf zu wachsen!«

»Aber es muss einen Weg geben, Tanas dauerhaft zu töten«, beharre ich. »Ihre Seele zu zerstören.«

»Aber das setzt ja voraus, dass sie eine Seele hat«, sagt Jude und reicht mir einen Energieriegel aus der Notration an Bord des Flugzeugs.

Ich packe ihn aus und merke gar nicht, wie hungrig ich bin, bis ich einen Bissen nehme und heftig kaue. »Sie muss eine Seele haben, sonst könnte sie nicht reinkarnieren«, argumentiere ich. »Und wenn Tanas unsere Seelen für immer zerstören kann, dann müssen wir doch auch in der Lage sein, ihre auszulöschen?«

Goggins stößt einen tiefen Seufzer aus. »Nun, wenn es einen Weg gibt, dann müssen wir ihn erst noch finden. Glaub mir, Caleb und ich haben jahrtausendelang nach einem Weg gesucht. Natürlich hatte Caleb sein ganzes Vertrauen in die Seelenprophezeiung gesetzt.« Er wirft mir einen traurigen Blick zu.

Der Bissen Müsliriegel scheint plötzlich in meiner Kehle anzuschwellen, und ich habe Mühe, ihn hinunterzuschlucken. »Können wir nicht einfach Tanas’ Ritual kopieren und es an ihr durchführen?«

Goggins schüttelt den Kopf. »Nur diejenigen, die geopfert wurden, kennen das vollständige Ritual, und die sind natürlich tot. Außerdem scheint das Auslöschen einer Seele mehr zu erfordern als das Aussprechen einiger archaischer Worte der dunklen Magie. Laut Caleb muss, um etwas so Reines wie eine Seele zu zerstören, eine böse Absicht vorhanden sein – eine Finsternis im Herzen, die das Licht verzehren kann.«

»Nun, ich habe auf jeden Fall die Absicht, sie zu töten«, erkläre ich grimmig, während sich meine Trauer um Phoenix und Caleb in eine von Rachegelüsten getriebene Entschlossenheit verwandelt.

Goggins hebt eine Augenbraue. »Ja, aber bist du von Natur aus böse? Ich bewundere deine Entschlossenheit, Genna. Aber du hast es bereits versucht und bist gescheitert.« Sein Ton ist nicht anklagend wie der Santiagos, sondern sachlich. »Wenn eine Lichtbombe Tanas’ Seele nicht zerstören kann, dann weiß ich nicht, was sonst.«

»Tanas wird allerdings eindeutig durch das Licht geschwächt«, gibt Tarek zu bedenken.

»Stimmt«, knurrt Goggins. »Aber sie hat jetzt die Möglichkeit, sich vor einem solchen Angriff zu schützen. Auf diese Waffe können wir uns nicht mehr verlassen.«

Zornig zerknülle ich die Verpackung, springe auf und werfe sie in den Mülleimer. Dann wende ich mich wieder an die anderen. »Tanas muss doch noch andere Schwachstellen haben, die wir ausnutzen können, oder?«

»Es gibt noch den Obsidianstein«, sagt Jude. »Zumindest dachten wir das, bis du uns erzählt hast, dass Tanas, nachdem er in Gestalt eines Priesters von Phoenix mit einer Obsidianklinge getötet wurde, sofort wieder als Agent Lin inkarniert wurde.«

»Ja, aber dieser Priester starb in einem Pentagramm seiner eigenen schwarzen Magie«, erinnere ich sie. »Caleb vermutete, das sei der Grund, warum seine Seele überlebte und mit der physischen Welt verbunden blieb. Außerdem war die Obsidianklinge nicht die ursprüngliche Klinge, die Tanas zuerst verwundet und den Splitter in ihrem Herzen hinterlassen hat.«

»Und wo ist die ursprüngliche Klinge?«, fragt Jude.

Ich zucke mit den Schultern. »Wer weiß? Verloren in der Zeit.«

»Dann hilft es nicht weiter«, sagt Goggins. Er wendet sich wieder dem Computer zu, setzt seine Recherchen fort, als sei das Gespräch damit beendet.

Enttäuscht platze ich heraus: »Wir geben also einfach auf? So wie du?«

Goggins dreht sich abrupt um, das altbekannte Feuer lodert wieder in seinen Augen. »Ich habe nicht aufgegeben!«, schnappt er. »Ich erkenne nur, wann ein Kampf das Opfer nicht wert ist. Aber vielleicht, nur vielleicht, können wir den Inkarnaten zuvorkommen. Mein Rat an dich, Genna, lautet also: Vergiss die Rache und konzentriere dich aufs Überleben.«

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