Soultaker 1 - Die zwei Seiten der Gabe - Christiane Grünberg - E-Book

Soultaker 1 - Die zwei Seiten der Gabe E-Book

Christiane Grünberg

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Taucht ein in die Welt der Soultaker - Euch erwartet eine düstere Gabe - ein neues Schicksal - Liebe, Freundschaft und Verrat! Band 1 der Soultakerreihe: Licht und Dunkelheit ... Was erwartet die junge Alexandra in Hamburg? Ein Überfall entfesselt eine dunkle Gabe in ihr – sie kann anderen Menschen die Lebensenergie entziehen. Alexandra ist ein Soultaker. Doch mit der Entdeckung ihrer Gabe gerät sie auch mitten in einen Krieg hinein. Die White Taker möchten ihr helfen, diese Fähigkeit zu trainieren und für das Gute einzusetzen. Allerdings zu einem hohen Preis. Sie muss ihr altes Leben aufgeben und damit auch ihre große Liebe André. Die Dark Taker versprechen ihr Freiheit, aber kann Alexandra ihre Wünsche mit dem Leben Unschuldiger erkaufen? Hin- und hergerissen zwischen ihrem neuen und alten Leben, wird sie immer tiefer in den Konflikt hineingezogen. Wie wird sie sich entscheiden? "Spannender Debütroman, der eine erfrischend neuartige Geschichte bietet und sich mit außergewöhnlichen Kräften befasst." - Winfried Brumma (Pressenet) Alle Infos zur Buchreihe unter www.soultaker.hamburg

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 479

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CHRISTIANE GRÜNBERG

Soultaker

Die zwei Seiten der Gabe

1. Auflage 2021

ISBN 978-3-947706-42-6 (Taschenbuch) ISBN 978-3-947706-43-3 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Lektorat Feder und Eselsohr – TroisdorfKorrektorat: Jana Oltersdorff – DietzenbachUmschlaggestaltung: Christiane Grünberg - Embsen Konvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

www.soultaker.hamburg

Diesen Roman widme ich meinem Sohn Darian.Fern bei den Sternen und doch so nah.

1. Der Überfall

Das Licht der vorbeifahrenden Autos brachte die Nebelwolken, die aus den Ablaufdeckeln aufstiegen, zum Glühen und hüllte die Straße in einen unheimlichen Schein. Die Luft roch nach feuchtem Laub und nasser Erde; der letzte Gewitterregen war erst vor wenigen Stunden über die Stadt gezogen. Es war zwar ungemütlich, aber für einen Januarabend erstaunlich warm. Auch dieses Jahr gab es kaum Schnee, immer nur Regen. Ich zog meinen Mantelkragen enger um meinen Hals, froh darüber, eine Jacke mitgenommen zu haben. Immerhin hatte am Nachmittag noch die Sonne geschienen, und jetzt hingen dunkle Wolken über der Stadt. Der nächste Guss schien nur eine Frage der Zeit.

Doch plötzliche Wetterumschwünge gehörten in Hamburg zur Tagesordnung. André neben mir fröstelte und steckte eine Hand in seine Hosentasche. Wie immer hatte er sich zwar auf kühles Wetter, aber nicht auf Niederschläge vorbereitet und trug nur einen dicken Pulli samt Weste, die die Feuchtigkeit nicht von seinem Körper fernhielt. Ich musste grinsen. Wie oft hatte ich ihm schon gesagt, dass er eine Jacke anziehen sollte statt dieser blöden Weste, die eh zu nichts nutze war? Aber hörte er auf mich? Natürlich nicht. Typisch Mann eben.

Meine rechte Hand schloss sich fester um seine linke, und ich deutete ihm mit einem Blick an, dass wir bald die S-Bahn-Station erreichen würden. Er kannte sich hier nicht so gut aus wie ich. Im Gegensatz zu mir war er erst zweimal bei meiner Schwester zu Besuch gewesen. Rothenburgsort war seiner Meinung nach auch kein angenehmer Wohnort für eine Frau. Vorurteile, die meine Schwester nicht nachvollziehen konnte. Immerhin wohnte sie in diesem Teil Hamburgs schon seit etwa zwei Jahren. In dieser Zeit hatte sie nie etwas Negatives erlebt, war weder belästigt noch ausgeraubt worden. Sie betonte, wie viele Familien und Studenten hier doch leben würden, es herrsche in vielen Häusern ein sehr freundliches und ruhiges Miteinander. Ausnahmen gäbe es ja in jedem Viertel. Sie warf André vor, er würde sich zu sehr von den Schauergeschichten seiner Kollegen beeinflussen lassen. Er sei ein Snob.

Ich für meinen Teil konnte das schlecht beurteilen, immerhin lebte ich erst seit knapp einem halben Jahr in der Hansestadt, und mein Studium ließ mir kaum Zeit, die Metropole besser kennenzulernen. Ein Hoch auf das Bachelorsystem! Wenn man - wie ich - versuchte, das Studium größtenteils aus eigenen Mitteln zu finanzieren, blieb kaum Zeit, sich selbst zu finden, und das war ja das eigentliche Ziel der ganzen Erfahrung ‚Uni‘, nicht wahr? Nach den ersten Wochen war ich so enttäuscht gewesen, dass ich beinahe alles hingeschmissen hätte. Doch ich hatte lange für einen Studienplatz gespart und extra noch eine Ausbildung als Industriekauffrau gemacht. Das sollte nicht umsonst gewesen sein. Ich war von Bielefeld hierhergezogen, und André hatte sich eine größere Wohnung gesucht, damit wir zusammenleben konnten.

Er finanzierte uns eine schöne Altbauwohnung in einer ruhigen Lage in Uhlenhorst. Ich hoffte, mich später wenigstens an einem Teil der hohen Miete beteiligen zu können, auch wenn er es nicht wollte. Ich mochte einfach das Gefühl nicht, jemandem etwas schuldig zu sein, auch wenn das bei André natürlich etwas anderes war. Er liebte mich über alles, und das Wichtigste für ihn war, dass ich glücklich war und meine Zeit als Studentin wenigstens etwas genießen konnte. Manchmal konnte ich gar nicht fassen, dass ich ihn gefunden hatte. Ich lächelte zufrieden und streichelte seine Hand, als ich über ihn nachdachte. Stets betrachtete ich ihn als den Ruhepol meines Lebens. Er gab mir Sicherheit und fing mich auf.

Kleine Wassertropfen sammelten sich in den Spitzen seiner schwarzen, nach oben gestylten Haare, die seine hellblauen Augen gut zur Geltung brachten. Sein Gesicht war sehr markant und männlich geschnitten, ein breiter Mund, stark ausgeprägte Augenbrauen und eine kleine Narbe an der linken Schläfe. Er hatte mir aber nie richtig verraten, wie er sich diese Narbe zugezogen hatte. André war mit seinen 1,78 Metern gerade mal drei Zentimeter größer als ich, aber seine breiten Schultern und seine muskulösen Oberarme gaben mir das Gefühl, dass ich bei ihm immer beschützt sein würde. Ich teilte mit André eine Vorliebe für Sport und Fitness sowie die Schwäche für gutes Essen. Dank ausreichender Bewegung schaffte ich es aber stets, meine Jeansgröße 38 zu halten.

Der kühle Wind wehte mir meine dunkelbraunen Locken ins Gesicht; ich freute mich schon auf unsere schöne warme Wohnung. Vielleicht würden wir uns heute noch einen Film zusammen auf dem Sofa ansehen und ein bisschen kuscheln?

Still und jeder seinen Gedanken nachhängend, gingen wir den Weg zur Eisenbahnbrücke weiter, die man überqueren musste, um die S-Bahn zu erreichen. Obwohl wir auf dem Fußweg neben einer Straße entlanggingen, war es ziemlich dunkel. Wasser tropfte von den eng nebeneinanderstehenden Bäumen auf uns herab, und der Wind raschelte durch die Baumwipfel. Bis auf das Tropfen und Rascheln war es unheimlich still. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ein Schauer lief meinen Rücken hinab. Wäre das hier ein Horrorfilm, würde gleich irgendein Monster aus einem Gebüsch hervorspringen und uns fressen. Ich verdrehte die Augen über mich selbst und meine blühende Fantasie.

Aber dann tauchte auf der rechten Seite in einer Einmündung, die zu einem Waldweg entlang der Eisenbahnstrecke führte, eine Gruppe auf. Etwa fünf dunkle Schatten, die in unsere Richtung sahen und leise miteinander sprachen. Sie trugen alle lange schwarze Mäntel, und ihre Gesichter waren von Kapuzen verdeckt. Sie sahen fast wie Mitglieder einer Sekte aus; nicht nur die Kleidung war ähnlich, ihre Größe und Statur unterschied sich auch kaum voneinander. Ich vermutete, dass es sich, vom Körperbau her, um Männer handelte, sicher war ich mir aber nicht. Noch beunruhigender war die Aura, die sie umgab. Alles an ihnen rief in mir erhöhte Alarmbereitschaft hervor. André würde sicherlich über meine Gedanken lachen. Allerdings ließ mich das Gefühl nicht los, dass die Männer Ärger bedeuteten.

Plötzlich blitzte etwas in der Hand der einen dunklen Gestalt auf. Das Licht der schwachen Wegbeleuchtung spiegelte sich in einer Eisenstange. Sie maß etwa dreißig Zentimeter und schien knapp zwei Fingerbreit zu sein. Die Gruppe hörte auf zu flüstern und starrte uns an. Erschrocken sog ich die Luft durch meine Zähne, und auch Andrés Hand- und Armmuskeln spannten sich an, als sein Blick auf die Stange fiel. Er ließ meine Hand los und legte den Arm um mich. Er zog mich so fest an sich, dass er meine Angst eher noch schürte, anstatt sie zu mildern. Hatte ich erwähnt, dass ich mich mit ihm sicher fühlte? Das war eigentlich auch richtig. Aber in diesem Moment hatte ich weniger Angst um mich. Na ja, eigentlich schon, gleichwohl befürchtete ich, dass André versuchen würde, den Helden zu spielen. Meine Kehle schnürte sich bei dem Gedanken zu. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Ich neigte dazu, mich gedanklich in Horrorszenarien zu verfangen, obwohl mir noch nie etwas Schlimmes passiert war. Ich reagierte mal wieder über. Wahrscheinlich hatte ich einfach zu viele Horrorfilme gesehen, oder?

Meine Angst wurde noch verstärkt, als sich die Kapuzenmänner alle zu uns umdrehten und uns beobachteten. Nervös spielte die eine Person mit dem metallischen Gegenstand. Mein Herz raste, und ich glaubte, dass selbst André es hören oder fühlen konnte, denn er lehnte sich langsam zu mir und flüsterte mir ins Ohr, keine Angst zu haben und einfach weiterzugehen, egal was passierte. Ich nickte kurz, überlegte aber, was genau er damit meinte. Dass wir beide einfach weitergehen sollten, ohne auf die Männer zu reagieren, oder ob er meinte, dass ich alleine weitergehen sollte, falls die Situation brenzlig wurde? Das würde ich nicht tun. Ich war zwar gefühlsmäßig schon fast an der Grenze zur Panik und wollte am liebsten einfach zurück zu meiner Schwester laufen, aber nicht ohne ihn. Bei einem Angriff würde ich nicht weglaufen. Oder doch? Wozu würde mich mein Selbsterhaltungstrieb verleiten?

Mein Freund hingegen dachte mit Sicherheit, er könnte mit allen fünf Kontrahenten fertig werden. Er betonte immer, wie gut er als Jugendlicher in Karate gewesen war und auch später in anderen Kampfsportarten, die er in seiner Unisportzeit trainiert hatte. Diese Selbstsicherheit bewunderte ich, und gleichzeitig könnte sie sein Verhängnis werden. Ehrlich gesagt wollte ich seine Fähigkeiten im Kampfsport nie in der Realität erleben. Warum hatten wir eigentlich kein Taxi genommen? Warum musste ich immer meinen Willen durchsetzen? Wenn es nach André gegangen wäre, säßen wir nun in einem, und ich bräuchte mir nicht solche Sorgen zu machen. Wenn wir das hier überlebten, schwor ich mir, würde ich das nächste Mal auf ihn hören und ein Taxi rufen. Selbst wenn das hier glimpflich ablaufen sollte, der Schreck saß tief.

Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, und vor Angst konnte ich kaum schlucken. Bitterer Speichel sammelte sich in meinem Mund. Mir drohte, schwindelig zu werden. Oh Gott, reiß dich zusammen, sagte ich mir. Es würde nichts passieren, wir würden einfach weiter zur S-Bahn gehen. Das versuchte ich mir jedenfalls einzureden. Wie hoch war die Chance, in seinem Leben ausgeraubt oder verprügelt zu werden? Sehr gering. Oder? Geringer, als bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, oder höher? Ich rief mich zur Ordnung. Ich durfte meiner Panik nicht nachgeben und mich in Gedanken verlieren. Ich musste wachsam bleiben.

Inzwischen waren die Männer nur noch wenige Meter von uns entfernt, als einer aus der Gruppe auf den Fußweg trat und uns den Weg versperrte. Das schwache Licht und auch die Kapuze verhinderten, dass man sein Gesicht sehen konnte. Andrés Arm zog sich fester um meinen Körper, und er drückte mich zur linken Seite des Fußweges, um an dem Hindernis vorbeigehen zu können. Ich sah André kurz an. Während meine Mimik Panik signalisierte, wirkte er fokussiert. Sein Gesicht war starr, seine Lippen vor Konzentration aufeinandergepresst. Sein Blick auf den Fußweg gerichtet, aber aus dem Augenwinkel versuchte er, die Situation abzuschätzen. Kein direkter Blickkontakt, um nicht zu provozieren, dennoch beobachtend.

Als wir den Mann auf dem Fußweg umgehen wollten, stellte er sich uns abermals in den Weg, und zwar so, dass wir stoppen mussten. Wir wollten uns umdrehen, als er seine Hand nach Andrés Arm ausstreckte und „Halt“ rief.

Mein Atem stockte, und mein Herz drohte stehenzubleiben.

„Wir wollen keinen Ärger!“, sagte André ruhig und schüttelte langsam die Hand ab.

„Wir auch nicht, wenn du uns einfach deine Freundin gibst. Wir tun ihr auch nichts, wir wollen nur ein bisschen Spaß haben. Kannst auch zugucken, wenn du willst.“

Der Kapuzenmann sprach gelassen, und man sah durch einen seichten Lichteinfall, dass er grinste. Mein Verstand setzte aus. Ich versuchte, den Unterton zu deuten. War das ein Scherz gewesen? Er konnte das um Himmels willen doch nicht ernst meinen? Allein das Grinsen ließ mich schaudern, und ein beklemmendes Gefühl überwältigte mich, das ich noch nie zuvor in meinem Leben empfunden hatte. Ausgeraubt zu werden, war ja schon ein extremes Erlebnis, aber eine Vergewaltigung? Dazu die Gewissheit, dass André mich bis zum letzten Atemzug beschützen würde, und meine Befürchtung, dass wir beide nicht heil aus dieser Sache herauskommen würden.

Mein Kopf schmerzte, und ich fühlte eine erneute Schwindelattacke. Wenn mein Freund mich nicht so fest an sich gezogen hätte, wäre ich ins Wanken geraten. Mein Mund war trocken und mein Hals kratzig. Die Luft, die Atmosphäre, alles fühlte sich auf eine gewisse Art giftig an. Ich wollte einfach nur weg. Adrenalin durchflutete meinen Körper und bereitete mich auf die Flucht vor. Aber würde ich flüchten können? Würde André die Gruppe finsterer Gestalten aufhalten können? Würde ich dann überhaupt weglaufen und ihn hier alleine zurücklassen können? Eigentlich wollten sie ja nur etwas von mir, aber wer wusste, was sie mit André anstellen würden, wenn er sie an ihrem Vorhaben hinderte. So kämpfte ich endlose Sekunden mit meinen Emotionen, mit meiner Vernunft, meinem Körper, der auf Flucht ausgerichtet war, und mit meinem Herzen, das zerbräche, wenn André etwas zustoßen sollte. Das durfte einfach nicht passieren!

„Lasst uns einfach weitergehen!“, sagte mein Partner ruhig, aber angespannt.

Wut zeigte sich auf seinem Gesicht. Seine Augen funkelten, und sein Kiefer knirschte, als er seine Zähne aufeinanderpresste. Und da war noch etwas anderes; jetzt wollte er nicht nur kämpfen, um mich zu beschützen, sondern auch, um den Unruhestiftern eine Lektion zu erteilen. Ich kannte ihn gut genug, um genau diese Emotionen von seinem Gesicht ablesen zu können. Fassungslos sah ich ihn an und schrie in Gedanken, dass er auf keine dummen Ideen kommen und sich die Gegneranzahl noch mal durch den Kopf gehen lassen sollte. Sie waren zwar nicht größer oder muskulöser als er, aber sie waren zu fünft und sie hatten eine Eisenstange! Selbst zwei waren schon übermächtig. Aber fünf?

Der Wind wehte erneut durch meine schulterlangen Haare und blies sie mir ins Gesicht. Der uns gegenüberstehende Mann griff plötzlich in mein Gesicht und spielte mit einer Haarsträhne, wobei er ganz leicht meine Wange berührte. Ich sog die Luft durch die Zähne, und André schlug blitzschnell die Hand weg. Schützend stellte er sich vor mich und zischte den dunklen Mantelträger an.

„Fass sie noch einmal an und du wirst nie wieder eine Frau anfassen können!“

Der Angesprochene senkte seine Hand.

„Du kannst nichts gegen uns ausrichten.“

Er grinste abermals bei diesen Worten, kurz darauf änderte sich sein Tonfall, und sein Lächeln verschwand.

„Mach es für dich nicht noch schlimmer. Wir wollen nur sie. Du kannst gehen.“

„Tu, was er sagt, wenn dir dein Leben lieb ist“, meinte eine Stimme rechts von uns.

Dann ging alles so schnell, dass ich zunächst gar nicht richtig mitbekam, was passierte. André schlug seinem Gegenüber ohne Vorwarnung ins Gesicht. Ein ohrenbetäubendes Krachen war zu hören, und der Mann krümmte sich vor Schmerzen. Er hielt sich die Nase. Aus den Augenwinkeln heraus nahm ich wahr, wie die anderen Gestalten sich regten, doch mein Freund war schneller. Er erreichte mit einem großen Schritt den Angreifer mit der Eisenstange und drehte seinen Arm auf den Rücken, dabei trat er ihm in die Kniekehle, so dass dieser zu Boden sackte und die Stange fallen ließ.

Zwischenzeitlich positionierten sich die drei anderen Männer seitlich von André und umkreisten ihn. Er sah den ersten Schlag wahrscheinlich gar nicht kommen, der ihn mitten ins Gesicht traf. Blindlings versuchte er, mit einem Tritt den Gegner an der Hüfte zu erwischen, dieser drehte sich jedoch gekonnt zur Seite. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Eines war sicher: André war anscheinend nicht der Einzige mit einer Kampfsportausbildung. Zu dieser Erkenntnis kam mein Freund wohl auch. Allerdings hatte er nicht viel Zeit zum Nachdenken. Sein Hals wurde von zwei starken Armen umschlungen, so dass er keine Luft bekam. André wollte dem Angreifer in den Arm beißen, da schlug ihm einer der anderen abermals ins Gesicht und dann in die Bauchgegend. Keuchend krümmte sich mein Partner und wäre wahrscheinlich gefallen, wenn er sich nicht so fest im Schwitzkasten befunden hätte. Sein Gesicht war rot vor Wut und Schmerz. An den Schläfen traten die Adern hervor, und sein Blick wurde glasig. Das alles schien innerhalb weniger Sekunden zu passieren, in denen ich wie angewurzelt mit offenem Mund dastand und das Geschehen nur beobachtete. Auf einmal erhob sich der Angreifer mit der Stange, nahm sie fest in die Hand und holte in Richtung Andrés Knie aus. Ein erstickter Schrei kam aus meiner Kehle, und ich stellte mich in panischer Raserei zwischen den Mann und meinen Freund. Andrés Augen traten hervor, und er brüllte, dass ich verschwinden sollte. Sofort! Doch meine Angst, dass er noch schlimmer verletzt werden würde, ließ mich meinen Selbsterhaltungstrieb ignorieren. Mein Gegenüber lachte, als er mir prüfend ins Gesicht blickte.

„Wie interessant. Du hast also Courage. Da wird unser Spielchen gleich noch interessanter werden!“

Er schubste mich währenddessen zur Seite und holte abermals aus, um André mit der Stange zu schlagen.

Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Meine Angst und Panik wurden in diesem Augenblick von etwas anderem überlagert. Ich war wütend, nein, ich raste vor Wut. Ich hasste diesen Menschen. Ich verabscheute ihn wegen dem, was er und seine Leute mit mir vorhatten und was er meinem Freund angetan hatte. Ich hasste ihn mit einer solchen Intensität, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Und dann geschah etwas noch viel Unheimlicheres. Gerade als der Mann die Stange in Andrés Gesicht schlagen wollte, griff ich blitzschnell nach seinem Arm und stoppte ihn mitten in seiner Bewegung. Mit der anderen Hand umfasste ich seinen Hals. Ich wusste nicht, was ich tat, mein Körper agierte wie aus einem Instinkt heraus. Mein Freund schrie und versuchte, sich aus der Gewalt seines Peinigers zu befreien.

„Alexandra, hör auf! Lauf weg. Verdammt noch mal, was tust du?“

Seine Stimme überschlug sich. Während der Mann mit der Stange mich weiterhin belustigt anfunkelte und meinte: „Weitaus interessanter. Du wirst ein gutes Opfer abgeben. Und dein Freund darf sogar zugucken, wie wir alle unseren Spaß mit dir haben werden, und sobald wir mit dir fertig sind, bekommt er seine Lektion.“

Mein Griff wurde fester, und sein Grinsen verschwand. Ich war wütend, aber zugleich auch verstört. Warum befreite er sich nicht einfach, warum halfen ihm die anderen nicht? Seine Augen wurden größer, Mundwinkel und Wangenmuskulatur vermittelten den Eindruck von Angst und Schmerz. Ich spürte eine unbekannte Macht und Kraft meinen Körper durchfließen und ich sog sie tief ein wie die Luft zum Atmen. Augenblicklich wurde mir bewusst, woher dieses Gefühl stammte. Es begann in meiner Hand, die noch immer die Kehle des Mannes umklammerte. An seinem Hals traten bereits die Adern hervor, obwohl ich gar nicht fest zudrückte. Das Gefühl verstärkte sich, als ob aus seinem Körper Energie in meine Hand herüberfloss.

Es war elektrisierend und unbeschreiblich. Die Verwunderung hielt mich nicht auf. Im Gegenteil, die angesammelte Wut schürte den Wunsch nach der allmählich stärker werdenden Macht und Energie, die jede Pore meines Körpers durchströmte. Aber dann begann mein Peiniger nach Luft zu ringen, seine Kapuze rutschte nach hinten, und ich konnte sein Gesicht erkennen. Er schien jünger als André zu sein. Sein Haar war rötlich, und er wirkte sehr gepflegt. Fast sympathisch. Jetzt sah ich in seine Augen und ich erschauderte bei dem Anblick. Ich erkannte, dass er enorme Schmerzen durchlitt und das durch meine Hände. Aus seiner Nase lief ihm Blut über das Gesicht und tropfte mir auf die Hand. Von Sekunde zu Sekunde wurde die Blutung schlimmer.

Alles um uns herum war still. Selbst André wand sich nicht mehr in der Umklammerung seiner Angreifer. Alle starrten mich und mein Gegenüber an. Dann ließ ich ihn los, und er fiel mit einem Stöhnen zu Boden. Meine Hand blieb noch ausgestreckt, und ich sah mich verwirrt um. Das Gefühl von Macht und Energie versiegte. Ich fühlte mich stark, aber mein Körper schrie danach, mehr von dieser Kraft zu fordern. Etwas in meiner Seele heulte auf, als ich ihn losließ. Ich erschrak vor mir selbst und begann zu zittern.

André versuchte erneut, sich loszureißen, und schlug der schwarzen Person zu seiner Rechten in den Bauch. Diese wollte sich wehren. Ohne zu zögern, stellte ich mich abermals dazwischen, und meine Hand griff nun nach seinem Hals. Die Zeit schien wieder stehenzubleiben. Ich fühlte erneut diese Energie in mich hineinfließen. Alles andere schien keine Bedeutung mehr zu haben. Meine Finger begannen zu kribbeln. Diese Energie verlieh mir Stärke und Macht in einem Ausmaß, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Die Adern im Gesicht des Mannes schwollen an, und er hustete. Kleine Äderchen in seinen Augen platzten. Im Gegensatz zu seinem Kumpel wirkte er nicht überrascht; eher als ob er mein Handeln erwartet hätte. Er schien die Prozedur ohne Gegenwehr über sich ergehen zu lassen. Sein Blick wurde glasig, und er drohte das Bewusstsein zu verlieren. Plötzlich durchbrach Andrés Stimme die Stille.

„Alex, was … was machst du da?“

Ich hörte auf, die Energie des Mantelträgers zu nehmen, und drehte mich zu André. Als unsere Blicke sich trafen, erschrak ich. Er wirkte entsetzt. Sein Gesicht, sein ganzer Körper war angespannt und seine Augen starr vor Angst. Aber nicht wegen des Kampfes. Nein, er hatte Angst vor mir, vor dem, was ich machte, was ich getan hatte. Und diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich ließ den Angreifer los und machte einen Schritt in Andrés Richtung. Die anderen Männer wichen vor mir zurück, aber ließen mich nicht aus den Augen. Andrés Blick war starr auf mich gerichtet.

„André, ich …“

Ich streckte meine Hand aus und wollte ihn berühren. Seine Reaktion ließ mich aus allen Wolken fallen. Er wich mit schreckgeweiteten Augen zurück. Hatte André etwa plötzlich Angst vor mir? So stand ich inmitten der Gruppe von dunklen Gestalten. Drei von ihnen lagen auf dem Boden und krümmten sich vor Schmerzen, die beiden anderen taxierten mich, während mein Freund direkt vor mir stand, in einer Haltung, die nach Abwehr aussah. Was um Himmels Willen hatte ich getan? Ich wusste, was ich gefühlt hatte, aber wie hatte es für einen Außenstehenden ausgesehen? Andrés Zurückweisung traf mich bis ins Mark. Meine Lippen zitterten, und ich wollte etwas sagen, aber mir versagte die Stimme.

„Schluss jetzt. Wird Zeit, dass wir gehen!“, sprach der Mann, dem André zu Anfang die Nase gebrochen hatte.

Sein Gesicht und seine Hände waren blutverschmiert. Ich hörte ein Geräusch hinter mir und als ich mich umdrehte, sah ich einen Gegenstand auf meinen Kopf niedersausen. Ich spürte keinen Schmerz, dafür ging alles zu schnell. Die Welt um mich herum verblasste von einer Sekunde auf die nächste und machte einer schwarzen Leere Platz.

2. Die Gabe

Das Hämmern in meinem Kopf war das Erste, was ich wahrnahm. Der Schmerz war so überwältigend, dass ich am liebsten wieder eingeschlafen wäre. Schlafen. Hmm, hatte ich überhaupt geschlafen? Keine Ahnung. Ich konnte mich weder erinnern, wo ich war, noch was passiert war. Völlige Desorientierung, zu der sich Kopf- und Gliederschmerzen gesellten. War ich krank? Hatte mich mal wieder die Grippe erwischt?

Langsam öffnete ich meine Lider, doch das war schwerer als gedacht. Immer wieder musste ich gegen die ungewohnte Helligkeit anblinzeln. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es mir schließlich, die Augen wenigstens lange genug offen zu halten, um meine Umgebung schemenhaft wahrzunehmen. Ich lag auf einem Bett mit weißen Laken. Das Licht im Raum wurde von den ebenfalls weißen Wänden reflektiert und verstärkt. War ich in einem Krankenhaus? Ich versuchte, mich zu erinnern, und schloss noch mal die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. Mir kamen nur verwirrende Bilder und Empfindungen in den Sinn. Ein wahres Gefühlschaos tobte hinter meiner Stirn, und ich fand keinen Weg, meine Gedanken zu ordnen. Alles wirkte so konfus. Wenn ich in einem Krankenhaus war, warum war ich hier und war ich allein? Bei dem Gedanken, ob ich allein war, musste ich an André denken. Der Besuch bei meiner Schwester. Der Weg nach Hause, die Männer und was dann geschah.

„André!“, schrie ich und richtete mich schlagartig auf.

Augenblicklich schienen alle Erinnerungen an den Angriff wieder präsent zu sein. Doch die Bewegung war eindeutig zu schnell für meinen Körper. Mein Kopf schmerzte explosionsartig, die Adern an den Schläfen pochten. Dann machten sich Schwindel und Übelkeit breit und ließen mich aufstöhnen.

„Vorsicht! Du hast eine leichte Gehirnerschütterung, du musst dich langsam bewegen“, sagte auf einmal eine helle, weibliche Stimme.

Eine Hand berührte meine Schulter und drückte mich sanft zurück. Vorher spürte ich, wie mir ein zusätzliches Kissen in den Rücken geschoben wurde. Ich schloss abermals die Augen und atmete tief ein und aus. Die Übelkeit und der Schwindel schienen langsam besser zu werden, zumindest, solange ich mich nicht bewegte, aber die Kopfschmerzen blieben. Ich versuchte, meinen Körper so weit zu beruhigen, dass ich wenigstens einen klaren Gedanken fassen konnte, bevor ich erneut meine Augen öffnen würde. Die Stimme, die ich eben gehört hatte, schwieg. Ich konnte aber jemanden spüren. Jemanden, der in der Nähe meines Bettes saß und mich ansah. Und anscheinend sehr geduldig war. Also konnte es keine Krankenschwester sein. Die hätte, dank unseres vernachlässigten Gesundheitssystems, nie so viel Zeit aufbringen können. Die schemenhafte, aber helle Umgebung schmerzte in meinen Augen, und das Übelkeitsgefühl verstärkte sich erneut. Ich horchte in meinen Körper hinein. War ich verletzt? Vielleicht sogar vergewaltigt worden? Aber bis auf die Schmerzen in meinem Kopf schienen alle anderen Körperteile in Ordnung zu sein. Jedenfalls im Liegen. Vielleicht war ich auch betäubt? Stand ich unter Drogen? Oder war ich gar gelähmt? Ich bewegte vorsichtig meine Arme, meine Beine und meine Füße. Keine Beeinträchtigungen. Ich rieb mir schließlich die Augen und blinzelte, bis die Bilder an Schärfe zunahmen.

Ich befand mich in der Mitte eines kleinen Raumes. Offensichtlich lag ich in einem Doppelbett, und gegenüber standen zwei Holzkommoden. Das große Bett und die drei surrealistischen Bilder an den Wänden ließen darauf schließen, dass es sich eher nicht um ein Krankenhauszimmer handelte. Es sei denn, ich befand mich in einer Privatklinik. Jedoch bezweifelte ich, dass selbst die so komfortabel aussahen, ganz davon abgesehen, dass ich mir keinen Grund vorstellen konnte, warum man ausgerechnet mich in eine Privatklinik bringen sollte. Links von mir sah ich ein großes Fenster, das viel Sonnenlicht hereinließ. Auf der Fensterbank standen mehrere Topfpflanzen. Warte mal – Sonnenlicht? Es war Tag! Diese Erkenntnis ließ sofort die Erlebnisse vom Vorabend auf mich einstürzen.

„André“, flüsterte ich wieder.

Diesmal bemerkte ich, wie kratzig und rau sich meine Stimme anhörte. Ich nahm nun die Frau zu meiner Rechten genauer in Augenschein. Sie hatte lange, hellblonde Haare, die in großen Locken ihre Schultern bedeckten. Sie lächelte mich an und legte eine Hand auf meinen Arm, sagte aber nichts. Sie schien auf eine Reaktion meinerseits zu warten. Ihre braunen Augen wirkten freundlich und warm. Obwohl sie eine Fremde war, fühlte ich mich wohl in ihrer Nähe, geborgen und sicher.

Meine Gedanken wurden wieder düsterer, als ich an den Angriff dachte. Ich wollte etwas sagen, allerdings bekam ich durch die Trockenheit in meinem Mund und meiner Kehle einen Hustenanfall. Die Frau reichte mir wortlos ein Glas Wasser. Vorsichtig nippte ich daran, um mich nicht zu verschlucken. Als der Hustenreiz langsam nachließ, trank ich in größeren Zügen. Danach gab ich ihr das Glas zurück.

„Wo bin ich, und wo ist mein Freund?“, wollte ich ohne Umschweife wissen.

Das Lächeln der Frau wirkte nicht mehr ganz so warm, jetzt schien es eher zögerlich zu sein. Ihre ganze Körperhaltung änderte sich, und sie wirkte, als ob sie sich bei der bevorstehenden Antwort nicht wohlfühlte. Mein Magen zog sich zusammen, ich hatte Angst zu erfahren, dass mit André etwas Schlimmes passiert war.

„Du bist in Sicherheit und hast bis auf eine leichte Gehirnerschütterung keine weiteren schlimmen Verletzungen. Wir befinden uns hier in einer privaten Einrichtung.“

Sie schaute kurz zur Tür, die, wie ich jetzt erst wahrnahm, mehrere Zentimeter offenstand. Eine Pause entstand, die meine Nerven strapazierte.

„Was ist mit dem Mann geschehen, der bei mir war? Sein Name ist André. Wie geht es ihm, und wo ist er? Haben diese Kriminellen ihm etwas getan?“

Die Fragen sprudelten nur so aus mir heraus. Ich lehnte mich dabei weiter nach vorne, und mein Körper war von Kopf bis Fuß angespannt.

„Ihm geht es gut. Bis auf ein paar Prellungen hat er keine Verletzungen“, sagte sie kurz.

„Und wo ist er, kann ich ihn sehen?“

Einerseits fühlte ich mich erleichtert über ihre Antwort, die Anspannung fiel etwas von mir ab, andererseits war ich irgendwie nicht überzeugt. Nicht so lange, bis ich ihn nicht selbst gesund und wohlauf gesehen hatte. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand nun ganz, und sie blickte erneut zur Tür. Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nichts erkennen oder gar hören. Dann atmete sie tief ein.

„Das wird nicht möglich sein.“

Ich wollte gerade etwas erwidern, als sie die Hand hob, um mich zu unterbrechen.

„Das wird sicherlich schwer für dich zu verstehen sein. Ich weiß, du willst Antworten, und ich werde dir welche geben. Ich bitte dich nur, erst einmal zuzuhören und alles zu verarbeiten, bevor du eventuell vorschnell handelst.“

Ihr Blick wirkte nun mitfühlend, aber auch wachsam. Sie schien jede meiner Bewegungen und Gesten genau in Augenschein zu nehmen, wie eine Art Scanner. Mein Magen zog sich wieder zusammen, und mein Körper spannte sich abermals an. Ich nickte wortlos und hoffte, dass die Erklärungen schnell vorgebracht würden. Allerdings bereute ich die Handlung sofort wieder, als die Übelkeit erneut aufwallte und meine Kopfschmerzen ebenfalls. Daher versuchte ich, ab sofort ganz still zu liegen und den Schmerz weg zu atmen.

Als er nachließ, wälzte ich immer wieder die Informationen, die ich bislang erhalten hatte. Die Grübelei verschlimmerte meine Kopfschmerzen und sorgte wieder für eine leichte Übelkeit. Wann hörte das endlich auf?

„Michael, Sam, kommt herein“, sagte sie etwas lauter Richtung Tür.

Es dauerte nicht lange, da wurde diese ganz geöffnet, und zwei Männer traten ein. Ein jüngerer, etwa Mitte zwanzig, mit rotblondem Haar und einem schlanken, sportlichen Körperbau. Seine blauen Augen fixierten mich, und er grinste. Er blieb an der linken Seite stehen und lehnte sich mit der Schulter an die Wand; er trug eine schwarze Jeans und ein schwarzes Poloshirt. Seine rotblonden Haare standen in starkem Kontrast zu der dunklen Kleidung. Er sagte keinen einzigen Ton, doch irgendwie kam er mir bekannt vor. Seine Augen funkelten vergnügt; nicht bedrohlich, eher herausfordernd. Dann begutachtete ich den zweiten Mann, der von der Größe her etwa gleich war, aber von kräftiger Statur. Im Gegensatz zum Rothaarigen passte die Kleidung zu seinem Styling. Er hatte kurze tiefschwarze Haare und dunkelbraune Augen mit einem wachsamen Blick. Ein Pflaster klebte auf seiner Nase, und ein starker Bluterguss breitete sich bis zum rechten Auge aus. Er wirkte unfreundlich und blieb mit verschränkten Armen vor dem Bett stehen. Auch er kam mir bekannt vor, sein Gang, die Augen, die Haare.

Plötzlich wusste ich auch, woher. Mein Herz, das bis jetzt vor Anspannung förmlich gerast hatte, blieb fast stehen vor Schreck. Meine Augen wurden groß, und ich verkrampfte mich. Es waren zwei der Männer, die uns angegriffen hatten. Das Grinsen des ersten und der Nasenbruch des zweiten bestätigten meine Befürchtung. Ich kroch weiter nach hinten in meine Kissen, und meine Finger krallten sich in das Laken. Meine Augen waren starr vor Angst auf die beiden Männer gerichtet, die kein bisschen in ihrer Haltung oder Gestik auf meine Panik reagierten. Ich spürte wieder die Hand der Frau auf meinem Arm.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Sie werden dir nichts tun.“

Sie zögerte kurz, bis sie wieder meine Aufmerksamkeit hatte.

„Sie hätten dir auch gestern nichts getan. Wir mussten dich nur“, sie sah wieder kurz zu ihren Begleitern und dann zu mir zurück, „wir mussten dich testen.“

Ich sah von einem zum anderen. Die Frau, die mit einem eher missratenen Lächeln mein Vertrauen gewinnen wollte, der rotblonde junge Mann, der zwar nicht mehr grinste, dennoch aber ein spöttisches Glitzern in seinen Augen hatte, und der andere dunkelhaarige, immer noch mürrisch drein blickende Mann, der mich weiterhin ohne jegliche Regung taxierte.

„Nichts tun? Der da“, ich deutete mit meinem Finger auf den Rothaarigen, „hat gedroht, mich zu vergewaltigen! Und was meint ihr mit ‚Testen‘, wer seid ihr überhaupt?“

Ich bekam Panik und wurde zugleich wütend. Wer waren diese Typen? Was wollten sie von mir? Mich übermannte das Bedürfnis, auf der Stelle zu fliehen. Doch so gut funktionierte mein angeschlagener Kopf noch, dass ich verstand, dass meine Chancen zur Flucht minimal waren. Ich würde es wahrscheinlich nicht einmal bis zur Tür schaffen. Zudem wollte ich wissen, was sie von mir wollten, was hinter dem Angriff steckte. Was hatten sie mit mir vor?

Vielleicht Lösegeld? Erpressung? Prostitution? Die schrecklichsten Szenarien spielten sich hinter meiner Stirn ab. Hatten sie André von mir getrennt, damit er mich nicht mehr beschützen konnte? Und was war wirklich mit ihm passiert? Ich musste sofort hier raus. Verdammt sei die Logik.

Ruckartig schlug ich die Decke zurück und wollte gerade die Beine aus dem Bett schwingen, als die Frau und der Rotschopf gleichzeitig zu mir stürzten und mich zurückdrängten. Dabei fiel mir auf, dass ich nur ein dünnes Nachthemd anhatte und darunter komplett nackt war. Das war jedoch nicht der richtige Moment für Schamgefühle. Ich kämpfte gegen den Griff der beiden an, aber ich hatte keine Chance. Wut und Verzweiflung machten sich in mir breit. Diese Art von Emotionen hatte ich mein Leben lang noch nicht gespürt, und nun durchlebte ich es gleich zweimal und das kurz hintereinander. Am Vorabend hatte ich mir selbst helfen können. Konnte ich es wieder? Was hatte ich überhaupt getan? Ich rekonstruierte den Angriff in meinen Erinnerungen. Falls diese aufgrund der Gehirnerschütterung richtig waren, so musste ich meinen Peiniger berühren und dann den tiefen Wunsch verspüren, ihn zu verletzen. Ich hob meinen Arm und streckte ihn nach dem Rotschopf aus. In wenigen Sekunden fühlte ich schon das merkwürdige Kribbeln in meiner Hand, das Gefühl der Energie und ein stilles, aber intensives Verlangen danach. Das Machtgefühl zog mich in seinen Bann. Aber dann schien sich alles ins Gegenteil zu wenden. Mein Körper begann plötzlich zu zittern, und ich wurde immer schwächer. Meine Arme und Hände sanken nach unten. Meine Brust zog sich zusammen und machte mir das Atmen schwer. Die Adern an meinen Schläfen pochten erneut aufs Brutalste, und mein ganzer Körper fühlte sich so schwach an, dass ich langsam ins Kopfkissen zurückfiel und nichts mehr machen konnte, als den dunkelhaarigen Mann am Ende des Bettes zu beobachten, der ebenfalls seinen Arm in meine Richtung ausstreckte.

„Michael, hör auf, das reicht!“, befahl die Frau.

Sie warf ihm einen strengen Blick zu und hielt außerdem meinen rechten Arm umklammert, um mich zu stützen.

„Michael. Schluss jetzt, sie ist doch noch jung!“, schrie sie fast.

Nach kurzem Zögern reagierte er endlich und ließ den Arm sinken. Mich durchfuhr ein Ruck, und die beängstigende, zerrende Kraft hörte auf. Keuchend rang ich nach Luft. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Hatte der Mann mir eben die Lebenskraft entzogen? Oder träumte ich etwa? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich verrückte Träume hatte, aber dieser hier wirkte durchaus real.

„Raus. Alle beide raus!“, befahl die Frau in einem sehr verärgerten Ton.

„Irina, wir sollten dich nicht …“

„Raus!“, unterbrach sie den Rotschopf.

Er zögerte. Ließ meinen Arm aber schließlich los, ohne mich eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dann wandte er sich ab und verließ den Raum. Der andere war bereits, ohne ein Wort gesagt zu haben, gegangen. Die Frau, Irina, schaute den beiden eine Weile düster dreinblickend hinterher, bis sie seufzte und sich wieder an mich wandte.

„Es tut mir leid. Du solltest nicht auf diese Art und Weise die Wahrheit erfahren. Und schon gar nicht so behandelt werden. Sie haben nur Angst, du könntest mir etwas antun. Bitte urteile nicht gleich schlecht über sie. Wenn du mir versprichst, bis zum Ende zuzuhören, dann können wir das erst mal allein klären.“

Ich nickte, panisch vor Angst. Hatte ich denn überhaupt eine Wahl? Mir war im Moment alles recht, solange der Kerl mit den schwarzen Haaren nicht mehr in meine Nähe kam. Aber warum sollten sie Angst vor mir haben? Was auch immer ich konnte, er konnte es anscheinend besser.

„Also, ehrlich gesagt, habe ich dieses Gespräch schon oft geführt, allerdings fällt es mir immer noch schwer, es schnell und verständlich zu erklären, ohne demjenigen Angst zu machen.“

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort.

„Du hast gestern Abend gemerkt, dass du in der Lage bist, anderen Menschen Kraft zu entziehen, richtig?“

Ich nickte. Wenn man das so bezeichnen konnte, dann musste es wohl stimmen.

„Du hast es gerade bei uns versucht, um freizukommen, ist das auch richtig?“

Auch jetzt nickte ich nur knapp. Irgendwie fiel es mir noch schwer, klare Gedanken zu fassen. Die Furcht schien mich immer noch zu lähmen, und ich wusste nicht, worauf die Frau hinauswollte.

„Hast du schon vorher deine Gabe auf diese Weise benutzt?“

Ich verneinte.

„Wir haben das Gleiche mit dir gemacht, um zu verhindern, dass du uns aus Angst verletzt. Das heißt, wir alle, auch ich, sind in der Lage, den Menschen die Lebensenergie zu entziehen. Das ist unsere besondere Gabe.“

Ich starrte sie aus weit geöffneten Augen an. Jemandem die Lebensenergie zu entziehen, sollte eine Gabe sein?

„Bin ich eine Art Vampir?“, flüsterte ich völlig verwirrt.

Irina lachte und entspannte sich ein wenig.

„Nein, mit Sicherheit entspringen wir keinem Horrorfilm oder sind Nachfahren einer Fabelfigur. Wie gesagt, wir bezeichnen dies eher als eine Art Gabe und wir sind bei Weitem nicht die Einzigen, die das können. Ehrlich gesagt gibt es allein in Deutschland über tausend Menschen, die das Talent besitzen, ob sie nun davon wissen oder nicht.“

„Was genau umfasst denn diese Gabe, und wie …?“

Ich konnte den Satz nicht zu Ende führen. Das war einfach zu lächerlich. Wahrscheinlich hatte man mich entführt und stellte mich mit allen möglichen Medikamenten ruhig, die mir Halluzinationen oder Albträume bescherten. Ich musste an Andrés entsetzten Blick denken, als er sah, was ich mit den Männern gemacht hatte. Er hatte Angst vor mir gehabt. Wenn ich wirklich die Kraft besaß, anderen Menschen die Lebensenergie zu entziehen, dann war dies bestimmt nichts Gutes. Mir wurde übel. Irina musste wohl meine Gedanken erahnt haben. Ihr Blick wurde sanfter, und sie fuhr ruhig fort.

„Du spürst die Energie eines Menschen. Und du kannst sie manipulieren, das heißt, du kannst sie anziehen.“

„Ich kann töten …“, platzte es aus mir heraus.

Irina zögerte.

„Wenn du dich nicht unter Kontrolle hast und den Vorgang nicht abbrichst, dann ja. Aber keine Angst, wir werden dir zeigen, wie du dich fokussieren kannst.“

„Wer seid ihr und was wollt ihr von mir?“

Die Angststarre in meinem Körper verringerte sich allmählich, und mir kamen unzählige Fragen in den Sinn. Ich sollte zuhören, um wenigstens etwas Zeit zu gewinnen. Wichtig war, mir die Umgebung genauer einzuprägen, um einen erneuten Fluchtversuch zu starten, sobald ich eine Gelegenheit dazu bekam. Dabei fiel mein Augenmerk auf das Fenster. Es schien nicht vergittert zu sein und war groß genug, um hinausklettern zu können. Irina schien meinen Blick bemerkt zu haben und lächelte abermals.

„Du kannst nicht aus dem Fenster fliehen, wir sind hier im zweiten Stock. Außerdem befinden wir uns außerhalb von Hamburg in einer abgelegenen Gegend, du würdest nicht zurückfinden. Aber du musst auch nicht weglaufen, wenn du verstehst, warum du hier bist und wer wir sind.“

Verdammt, Plan B. Freundlich sein, das Spiel dieser verrückten Sekte mitspielen und nach einem anderen Ausweg suchen. Grausame Gedanken durchfluteten meinen Kopf, von Missbrauch bis hin zur Gehirnwäsche. Szenarien wie aus Horrorfilmen, die André immer so guckte, kamen mir in den Sinn. Irina seufzte. Anscheinend war ihr meine Reaktion nicht unbekannt, und sie wirkte ein wenig genervt. Nein, nicht genervt, man hatte den Eindruck, als ob sie das schon so oft gemacht hatte, dass sie es leid war.

„Ich höre dir zu, aber bitte, tut mir nichts.“

Irina lächelte schwach, beinahe gequält.

„Wir sind nicht die Bösen. Wir wollen dich unterstützen, und du kannst uns helfen und vielen anderen Menschen auch.“

Sie machte eine kurze Pause, die mir wie eine Ewigkeit vorkam.

„Die Gabe, also die Fähigkeit, anderen Menschen die Lebensenergie zu entziehen, ist nicht selten. Trotzdem wissen die meisten Menschen, die sie in sich tragen, nichts davon, da sie sich noch nie in einer außergewöhnlich dramatischen Situation befunden haben, die eine gesteigerte Angst und Wut hervorruft. Die Kombination aus diesen Emotionen ist der Schlüssel, um den Vorgang herbeizuführen; wir nennen es `taken´. In der Geschichte gibt es wenige Schriften über unsere Art, und meistens sind es negative Berichte. Sie nannten uns die Soultaker. Das kam daher, dass einige unserer Art, die sogenannten Dark Taker, die Gabe missbrauchten und schlimme Dinge taten. Rache und Mord zum Beispiel. Wir hingegen haben uns zu einer Organisation zusammengeschlossen und versuchen, unsere Fähigkeiten für etwas Gutes zu nutzen. Wir wollen den Menschen helfen.“

Irina schien jetzt in einem richtigen Redefluss zu sein. Sie wirkte so überzeugt von diesem Fantasy-Zeug, das sie erzählte, dass mir noch übler wurde. Sie glaubte wirklich daran. Oh mein Gott, was würden die nur mit mir in diesem Wahn anstellen? Ich sagte mir immer wieder: Spiel das Spiel mit, zeige ihnen, dass du ihnen glaubst, je besser du das machst, desto länger bleibst du am Leben.

„Also, wie soll man mit einer solchen Gabe den Menschen helfen?“

„Wir ziehen in kleinen Gruppen durch die Straßen Hamburgs, vorzugsweise bei Nacht, und halten Ausschau nach Kriminellen. Nach Menschen, die rauben, töten oder sich gegenseitig verletzen. Wir entziehen ihnen Kraft und rufen dann die Polizei. Manchmal schlichten wir auch Prügeleien oder helfen Obdachlosen, die ärztliche Hilfe benötigen.“

„Tötet ihr die Kriminellen?“

„Nein, wir entziehen ihnen nur so viel Energie, dass sie bewusstlos werden, aber sich wieder davon erholen. Wir müssen natürlich aufpassen, dass uns keiner dabei beobachtet. Aber die meisten haben ihre Kräfte weiterentwickelt, wie Michael. Bei ihnen ist es nicht mehr nötig, die Person zu berühren, sie können aus der Ferne die Lebensaura eines Menschen erfassen.“

Ich starrte sie sprachlos an und musste an die Szene von vorhin denken. Wie Michael vor mir am Bett gestanden und mir die Energie aus meinem Körper gezogen hatte. Ich glaubte ihr. Nein, Schwachsinn, ich durfte dieser Verrückten nicht glauben. Hatte sie nicht selbst gesagt, ich hätte eine Gehirnerschütterung? Oder vielleicht befand ich mich ja in einem Wachkoma?

„Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst und was du denkst. Du hältst uns für Verrückte und wartest nur darauf, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Glaub mir, so ging es einigen von uns, die dazu gebracht wurden, ihre Kräfte einzusetzen.“

„Was meinst du damit: gebracht wurden?“

Ich wurde hellhörig. Sie sprach vorhin von einem Test.

„Die Szene gestern Abend. Der Angriff. Wir mussten den Kampf inszenieren, damit wir absolut sicher gehen konnten, dass du wirklich diese Kräfte besitzt. Und wir mussten dir zeigen, was in dir steckt. Aber keine Angst. André geht es gut. Wir haben ihn nach Hause gebracht und einen Krankenwagen gerufen. Er weiß allerdings nicht, wo du bist. Er denkt, du wurdest in eine Einrichtung gebracht, die dir helfen kann. Das war nötig, weil du jetzt nicht mehr offiziell bei den Menschen leben kannst.“

„Warum? Was soll der Quatsch, seid ihr verrückt? Denkt ihr wirklich, dass ich diese Story glaube? Bringt mich sofort zurück, sonst …“

„Sonst was …?“, fragte eine männliche Stimme von der Tür her.

Michael stand wieder dort und sah mich an.

„Michael, geh! Sie wird mir nichts tun. Du machst ihr nur Angst und verschlimmerst alles. Und über gestern Abend muss ich sowieso mit dir, Sam und Leonie noch mal sprechen.“

Ich starrte von Irina zu Michael und befürchtete, den Bogen überspannt zu haben. So viel zu meinem Plan, das Spiel erst einmal mitzumachen. Mist.

„Normalerweise lassen wir Neuankömmlingen ein wenig mehr Zeit, alles zu verstehen und zu verdauen. Aber ich denke, ohne weitere Erklärungen wirst du keine Ruhe geben, habe ich recht?“, meinte Irina.

Ich nickte automatisch.

„Wenn wir bei unseren Freunden und Familien bleiben würden, dann wären wir angreifbar. Wie ich schon sagte, gibt es leider viele Menschen mit unserer Gabe, die der Macht verfallen und zu regelrechten Monstern geworden sind. Die Lebensenergie zu absorbieren, kann süchtig machen und führt dazu, dass Menschen beginnen, für den Kick zu töten. Bis vor hundert Jahren gab es zwar von Zeit zu Zeit Probleme mit kleineren Gruppen der Dark Taker, aber seit Anfang des 20. Jahrhunderts schließen sie sich mehr und mehr zusammen, um uns zu bekämpfen. Wir haben zunehmend Probleme, sie aufzuhalten. Und dann begannen sie irgendwann, unsere Familien anzugreifen. Sie wussten, dass sie uns damit emotional so weit stören konnten, dass wir unkonzentriert und geschwächt in den Kampf zogen und einige Male deshalb Schlachten und viele unserer Leute verloren. Du musst wissen, wir sind genauso sterblich wie jeder andere Mensch auch. Nun kannst du dir vielleicht vorstellen, warum wir jeden Kontakt zu unseren Familien und Freunden abbrechen müssen. Wir wollen sie schützen. Du könntest dir sicherlich nicht verzeihen, wenn dein Freund wegen deiner Gabe getötet werden würde.“

Ich war fassungslos. Die Geschichte ergab Sinn, aber es war doch wohl nur ein Märchen? Wie konnte all das wahr sein?

„Wenn du möchtest, lassen wir dich allein, und du kannst dich erst mal erholen und sammeln. Wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, können wir gerne eine kurze Führung durch unser Haus machen, damit du auch die anderen kennenlernen kannst. Vielleicht hilft dir das, uns nicht als Bedrohung anzusehen.“

Michael, der bislang komplett, ohne ein Wort zu sagen oder eine Miene zu verziehen, an der Tür gestanden hatte, nickte nur und verließ das Zimmer. Der nur kurz anhaltende Hall seiner Schritte zeigte mir allerdings, dass er sich weiterhin nahe der Tür aufhielt. Ich war hin- und hergerissen zwischen Irinas Vorschlag, im Zimmer zu bleiben, um erst mal Klarheit zu gewinnen, und der Möglichkeit herauszufinden, wo ich war und wie ich fliehen konnte. Weitere Sekunden verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte. Egal, ich musste mir ein Bild von diesem Ort verschaffen, ausruhen konnte ich später auch noch.

„Ich würde eine Führung bevorzugen“, sagte ich kurz und ziemlich steif. Irina nickte und schob den Stuhl beiseite.

„In der Kommode findest du neue Kleidung. Ich werde draußen auf dich warten. Falls du Hilfe benötigst, ruf mich.“

Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Stille legte sich über das Zimmer und umhüllte meine Sinne. Das Blut rauschte mir immer noch in den Ohren. Ich starrte auf die Tür. Für einen Moment schloss ich die Augen und holte tief Luft. Mein Körper verlangte nach Ruhe, und es war verlockend, einfach liegen zu bleiben und zu schlafen. Vielleicht würde ich dann aus diesem Albtraum aufwachen. Doch es siegte schließlich die Neugierde, und so schob ich die Decke gänzlich zur Seite und schwang meine Beine vorsichtig aus dem Bett. Ein leichtes Schwindelgefühl machte sich breit, und ich versuchte, mich so langsam wie möglich zu bewegen.

Unbehagen breitete sich aus, als mir erneut bewusstwurde, dass ich nur ein dünnes Hemd trug. Der Gang zur Kommode war, auf wackeligen Beinen und mit dröhnendem Kopf, eine enorme Herausforderung für meinen Körper. Ich zog eine der Schubladen auf und fand schlichte weiße Unterwäsche, eine schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und eine Strickjacke. Ich fragte mich, was wohl mit meinen Klamotten passiert war. Selbst mein Schmuck war weg, zum Beispiel die Armbanduhr, die ich erst letztes Jahr von meiner Schwester geschenkt bekommen hatte, und mein Fußkettchen. Für einen kleinen Moment trauerte ich um diese Erinnerungsstücke, diese Verbindung zu meinem früheren Leben. Aber dann zog ich mich schnell an, begleitet von der Befürchtung, dass jemand plötzlich ins Zimmer kommen könnte. Dieser schreckliche Michael zum Beispiel.

Mein Blick fiel auf einen Spiegel, der über der Kommode hing. Die Person, die ich dort sah, kam mir völlig fremd vor. Ich hatte gerötete Augen mit dunklen Ringen darunter. Mein Haar war zerzaust. Ein Gefühl von Heimweh überkam mich so heftig, dass mein Magen schmerzte und meine Augen sich mit Tränen füllten. Ich wollte einfach nur nach Hause in meine gewohnten vier Wände und zu André. Ich musste hier unbedingt raus.

Entschlossen gab ich mir einen Ruck und ging zur Zimmertür. Einmal tief durchgeatmet, dann öffnete ich sie.

3.

Ich trat auf einen weiß gestrichenen Flur hinaus, von dem mindestens fünf weitere Türen abgingen. Ich nahm mir vor, sie spätestens auf dem Rückweg zu zählen. Zur Linken endete der Flur vor einer großen Fensterfront, und zur Rechten befand sich, nach etwa fünf Metern, ein hüfthohes Geländer, welches den Blick in eine Art Lobbyhalle freigab, deren Höhe sich über mehrere Etagen erstreckte. Charakteristisch für eine Lagerhalle. Rechts vom Geländer führte eine Metalltreppe nach unten. Etwas weiter vorne wartete Irina bereits auf mich und zu meinem Leidwesen auch Michael. Er versuchte erst gar nicht, sein Misstrauen mir gegenüber zu überspielen, was ich überhaupt nicht verstand. Schließlich wollten sie ja etwas von mir. Und die hatten mich zuerst angegriffen! Konnte man es mir da verübeln, dass ich Angst vor ihnen hatte?

Ich trat neben Irina und ignorierte unseren Leibwächter, der uns mit geringem Abstand folgte. Irina übernahm das Wort, sichtlich erleichtert, dass ich scheinbar bereit war, mir ihre Geschichten anzuhören.

„Wir befinden uns hier in einer alten Lagerhalle mit vier Stockwerken und einem Keller. Die zweite bis vierte Etage wird zum Wohnen genutzt. Jede Etage hat mindestens sechs Räume und vier Bäder.“

Wir traten nun ans Geländer und sahen nach unten.

„Hier ist unser Aufenthaltsraum mit Essbereich. Die Küche befindet sich im Erdgeschoss unter uns.“

Vor mir erstreckte sich ein riesiger Raum. Auf der einen Seite stand ein aus antikem Holz gebauter Esstisch für mindestens zwölf Personen. Weiße Tulpen ließen das wuchtige und dunkle Möbelstück freundlich und schick aussehen. In der Mitte des Raumes gab es mehrere Holzwände, die den Ess- vom Freizeitbereich trennten. Dort erspähte ich einen XXL-Kicker und mehrere Sofas und Bücherregale. Es wirkte wie eine Hotellobby. Die Möbel waren zwar recht dunkel, aber durch die große Fensterfront, mit einer Höhe bis zur dritten Etage, war der Raum hell erleuchtet, und die vielen Pflanzen und Blumengestecke sorgten für eine angenehme Atmosphäre. Irina ließ mir Zeit, alles in Ruhe anzusehen. Am Esstisch saßen zwei Personen mit je einer Müslischüssel vor sich, die eine angeregte Unterhaltung führten. Eine weitere Frau sortierte Bücher ein, und ein junger Mann lag ausgestreckt auf dem Sofa und surfte mit seinem Tablet.

„Es ist 12 Uhr mittags. Viele von uns schlafen sehr lange, weil sie nachts oft unterwegs sind. Gegen Nachmittag herrscht hier mehr Trubel. Ich zeige dir nun die weiteren Wohnräume.“

Irina begleitete mich die Treppe hinunter, gefolgt von unserem grimmigen Leibwächter. Es behagte mir ganz und gar nicht, Michaels Anwesenheit in meinem Rücken zu spüren. Gänsehaut überzog meine Arme. Der Typ war einfach gruselig und bedrohlich. Die wenigen Leute im Raum sahen neugierig in meine Richtung und nickten mir freundlich zu. In keinem der Gesichter konnte ich eine Spur von Feindseligkeit oder gar böser Gesinnung finden. Ich war höchst irritiert. Neben dem Essbereich führte eine große Flügeltür, die an eine Saloon-Tür erinnerte, in die anliegende Küche. Dort kam ein junger Mann heraus, der mir schon bekannt war.

„Welch Überraschung! Schon bereit für die Irrenhausführung?“, meinte er mit einem verschmitzten Grinsen.

„Oh Gott, Sam. Du bist wie immer eine große Hilfe, neue Leute willkommen zu heißen.“

Irina verdrehte die Augen. Bei diesen Worten zwinkerte Sam mir zu. Ich wusste nicht, wieso, aber ich mochte seine lockere und schelmische Art. Es wirkte nicht gespielt. Es machte ihn sympathisch. Er hatte weder Angst vor mir, noch strahlte er mir gegenüber etwas Negatives aus. Ich fürchtete mich nicht vor ihm. Obwohl er es gewesen war, der mir letzte Nacht gedroht hatte.

„Sorry, Irina! Leider fehlt mir das sonnige und empathische Wesen von Michael“, erwiderte Sam.

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, und Michael schüttelte den Kopf.

„Gerade du solltest wissen, warum wir bei jungen Takern so stark auf unsere Sicherheit achten müssen.“

Sam ging zu Michael und stützte seinen Ellbogen auf dessen Schulter ab. Sein Blick ruhte allerdings weiterhin auf mir.

„Weißt du, Alex, ich darf doch Alex sagen, oder?“

Ich nickte nur kurz.

„Nimm es ihm nicht übel, aber Michael hat so einige schlechte Erfahrungen gemacht. Da war der Nasenbruch, den dein Freund ihm zugefügt hat, nichts dagegen.“

„Ja, und mindestens eine schlechte Erfahrung stammt von dir“, brummte Michael in Sams Richtung und schüttelte dessen Arm ab.

Sam lachte. Irina lehnte sich zu mir rüber und meinte in einem fast flüsternden Ton: „Von Sam haben wir damals nur durch Zufall erfahren. Er hatte in einer kleinen Gasse, nahe des Kiez, mit zwei Schlägern gekämpft. Wir wollten ihm helfen, aber es kristallisierte sich heraus, dass er ebenfalls die Gabe besaß. Als wir mit ihm sprechen wollten, griff er uns an und hätte um ein Haar Michaels gesamte Energie genommen.“

Sam grinste verschmitzt, während sich auf Michaels Gesicht ein Schatten legte.

„Du siehst also, Alexandra, dass das Rekrutieren von Takern für uns selbst ziemlich gefährlich werden kann“, fuhr meine schwarzhaarige Begleitung fort.

Ich schwieg. Die Anspannung fiel etwas von mir ab. Dennoch fiel es mir schwer, diese ganze Geschichte zu glauben. Die Leute wirkten nicht verrückt, aber vielleicht verstellten sie sich im Moment noch? Wollten sie mich bloß in Sicherheit wiegen?

„Wisst ihr was? Ich werde jetzt Alex etwas herumführen“, meinte Sam. „Dann kann sich unsere ‚Gefangene‘ etwas entspannen, wenn sie nicht von einer ganzen Eskorte, inklusive Mister Düster-und-Bedrückt, begleitet wird.“

Die Leute am Esstisch lachten leise bei dem Wort „Gefangene“, und Irina warf Sam einen tadelnden Blick zu. Sie schien von seinem Vorschlag nicht besonders begeistert zu sein, entgegnete jedoch nichts. Michael wollte erst protestieren, das sah ich ihm an, aber letztlich fragte er nur: „Wir können uns auf dich verlassen, Alexandra, dass du niemanden verletzen wirst?“

Alle sahen mich erwartungsvoll an, Michael mit kaum verhohlenem Misstrauen, Irina mit skeptischer, aber dennoch freundlicher Miene und Sam, der völlig entspannt und anscheinend sowieso überzeugt davon war, dass ich keine Gefahr mehr darstellte.

„Ich verspreche es“, sagte ich schließlich, und es war auch nicht gelogen. Es gab bestimmt einen anderen Weg hier raus, ohne jemanden verletzen zu müssen. Je kooperativer ich mich zeigte, desto mehr würde ich über das Anwesen und potenzielle Fluchtmöglichkeiten erfahren.

„Wir sind im Tekki-Raum“, sagte Irina, zwinkerte mir zu und verließ mit Michael die Halle.

Dieser warf mir noch einen letzten prüfenden Blick zu. Er machte mir Angst, selbst wenn er anscheinend nur seine Leute schützen wollte. Er gab mir das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. Dabei hatten sie doch mich entführt! Außerdem hatte er in dem Zimmer beinahe nicht aufgehört, mir meine Energie zu nehmen. Irina hatte ihn mehrmals bitten müssen. Hatte er mich töten wollen? Oder sah er in mir wirklich so eine große Gefahr? Warum nur? Sam musste meine Gedanken erraten haben. Für einen Moment wirkte er nachdenklich.

„Keine Angst, du kannst mir nichts tun. Ich bin sowieso stärker“, scherzte er.

„Ach wirklich? Das hat vorhin aber nicht so ausgesehen“, konterte ich angriffslustig.

„Spielerei. Wir wollten dich nicht gleich erschrecken.“

Ich schnaubte, aber als ich abermals etwas entgegnen wollte, hob er kurz die Hand und fuhr fort.

„Ich weiß, wie du dich fühlst. Du bist hin- und hergerissen. Du weißt nicht, ob du uns glauben oder uns für verrückt erklären sollst. Alles in dir schreit dich an, von hier zu flüchten.“

Ein dunkler Schatten lag mit einem Mal auf seinem Gesicht, und sein Blick ging ins Leere. Doch dann gab er sich einen Ruck, setzte wieder sein schelmisches Grinsen auf und fügte hinzu: „Aber du wirst dich schon an uns gewöhnen und deine neue Familie lieben lernen. Hier kannst du so sein, wie du bist, und lernen, mit deiner Gabe Gutes zu tun. Eine Möglichkeit, die nicht jeder hat.“

Ich fühlte, dass hier mehr dahintersteckte. Das Gesagte wirkte wie ein auswendig gelernter Satz. Aber da wollte ich lieber später noch mal nachforschen. Wenn ich mehr über die Taker erfahren wollte, wäre es bestimmt nützlich, sich mit ihm auszutauschen.

Sam führte mich in eine große Küche. Sie gehörte einst, so seine Erklärung, zum Casino einer Metallfirma, die sich vor Jahrzehnten in den Hallen befunden hatte.

Dann sahen wir uns die unteren Büroräume an. Ich erfuhr, dass die Taker verschiedene kleinere Firmen führten, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Viele der Mitglieder arbeiteten für die IT-Einheit als sogenannte Agenturhelfer, die übers Internet Agenturen bei Programmierprojekten unterstützten; die restlichen boten Übersetzungs- und Lektoratstätigkeiten an. Alles online, damit niemand direkten Kontakt zur Außenwelt hatte. Dabei waren sie sehr erfolgreich und konnten gutes Geld verdienen.

Alle Menschen, denen ich begegnete, grüßten mich freundlich, mal mit geringerem, mal mit größerem Interesse. Ich fragte mich, ob jeder neue Taker so behandelt wurde. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich noch nicht die ganze Wahrheit erfahren hatte. Ich betrachtete Sam etwas näher. Sein schlaksiges Auftreten stand im Gegensatz zu seinem scharfen Verstand. Er gehörte zur IT-Einheit, und einige seiner Kollegen nahmen ihn für kurze Zeit in Beschlag und bombardierten ihn mit diversen technischen Fragen. Er wusste auf fast alles eine Antwort. Er schien bei seinen Freunden nicht nur beliebt zu sein, sondern sein Knowhow wurde auch äußerst geschätzt. Zuletzt zeigte mir Sam die Räumlichkeiten im Keller. Besonders beeindruckten mich der Fitnessraum und der kleine Pool inklusive Sauna. Daneben gab es einen Trainingsraum für Kampfsportarten. Sam erklärte mir, dass die Taker für die Nachtausflüge hundertprozentig fit sein mussten.

„Was genau meint ihr mit Nachtausflügen?“

„Wir ziehen in kleineren Gruppen durch die Hamburger Nacht und die anliegenden Ortschaften, immer da, wo sich ein sozialer Brennpunkt befindet. Tja, und dort unterstützen wir die Armen und Hilflosen und versohlen den Bösen ordentlich den Hintern.“

„Und wozu müsst ihr kämpfen, wenn ihr den Menschen von Weitem die Lebensenergie entziehen könnt?“, fragte ich interessiert.

„Die Außenwelt darf von unserer Gabe nichts bemerken. Manche von uns müssen so nah wie möglich an die Zielperson heran, damit wir sie berühren können. Am besten, man schlägt einmal zu, und mit diesem einen Schlag nimmt man dem Kriminellen so viel Lebensenergie, dass er kampfunfähig wird oder bewusstlos. Dann fällt auch nicht auf, dass ihm die Energie entzogen wurde, alle denken, der Schlag hat ihn umgehauen. Manchmal haben die schweren Jungs allerdings Waffen dabei. Da ist schnelles Handeln und eventuell der Gedanke an eine Flucht angebracht. Gerade im Zeitalter von Handys und YouTube ist es gefährlich, seine Gabe öffentlich zur Schau zu stellen.“

Ich beobachtete gerade zwei Taker beim Trainieren. Der Kampf sah sehr hart aus, eine Mischung aus Karate und Kickboxen.

„Wir haben unsere eigene Mischung aus vielen verschiedenen Kampfsportarten gefunden. Wichtig ist, dass wir auch Ruhe und Zeit für Meditation bekommen.“

„Meditation? Ihr seid also spirituell“, bemerkte ich spöttisch.

Doch eine Sekte.