Soultaker 2 - Die zwei Seiten der Liebe - Christiane Grünberg - E-Book

Soultaker 2 - Die zwei Seiten der Liebe E-Book

Christiane Grünberg

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Beschreibung

Band 2 der Soultakerreihe: Die Geschichte von Alexandra geht in die nächste Run-de... Schatten und Zwielicht... ... gehören untrennbar zu Alexandras Leben. Fernab von den White Takern geraten ihre Fähigkeiten immer weiter außer Kontrolle und sie wird zu einer Gefahr für die Menschen in ihrer Umgebung. Eine Rückkehr zu ihren Freunden soll ihre Kräfte wieder ins Gleichgewicht bringen. Aber auch dort warten zahlreiche Konflikte auf sie und sie gerät immer mehr in ein Gefühlschaos zwischen ihrer Zuneigung zu Sam und den Gefühlen für ihren Freund André. Dabei merken sie nicht, dass ihre hei-lenden Fähigkeiten noch ganz andere Mächte auf den Plan rufen. Alle Infos zur Buchreihe unter www.soultaker.hamburg

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CHRISTIANE GRÜNBERG

Soultaker

Die zwei Seiten der Liebe

1. Auflage 2021

ISBN 978-3-947706-44-0 (Taschenbuch) ISBN 978-3-947706-45-7 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Lektorat Feder und Eselsohr – TroisdorfKorrektorat: Jana Oltersdorff – DietzenbachUmschlaggestaltung: Renee Rott – Eitzweiler Konvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

www.soultaker.hamburg

Diesen Roman widme ich meinem Ehemannund meinen beiden Töchtern.Mein Glück liegt in euren Händen.

1 Die Heilung

Ausgelassen spielten die kleinen Kinder im Aufenthaltsraum mit ihren Bauklötzen. Ein Mädchen setzte sich ganz nah neben mich, als ich begann, die Geschichte von der Spinne Widerlich und ihren Freunden vorzulesen. Die Eltern saßen um uns herum, teils angespannt, teils mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht. Die Atmosphäre schien gänzlich anders zu sein als noch vor zwei Wochen im Seniorenheim. Die Fröhlichkeit und Verspieltheit der Kids ließen im ersten Augenblick nicht die Schicksalsschläge erahnen, die sich hier hinter jedem kleinen Gesicht verbargen.

Wo ich war? Ich befand mich zusammen mit André in einem Kinderhospiz von Hamburg. Wir hatten vor wenigen Wochen beide einen Nebenjob bei der Arbeiterwohlfahrt angenommen, um in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen den Patienten vorzulesen, Geschichten zu erzählen und zu singen. André konnte Gitarre spielen, und mein Gesang reichte völlig aus, um die Menschen zu unterhalten und von ihren Krankheiten abzulenken. Mit dieser Aufgabe wollte ich meine neu erworbenen Heilkräfte trainieren.

Unser Einsatz im Altenpflegeheim war ein voller Erfolg gewesen. Zwei älteren Herrschaften konnte ich helfen, ihre Demenz in ein Stadium zurückzudrängen, das es ihnen ermöglichte, wieder am Leben der anderen teilzunehmen. Sie wirkten wie aus einem Dornröschenschlaf erwacht. Freudestrahlend fielen sie ihren Pflegern in die Arme, die zunächst gar nicht wussten, was los war. Erst nachdem ein Angehöriger durch einen Besuch und in der Interaktion mit seinem Verwandten die Wandlung bemerkte, wurden die Pfleger auf das Wunder aufmerksam. Aber niemand führte das auf mich zurück. Ich wollte meine Gabe in Ruhe trainieren. Und das sollte auch so bleiben.

Ein Soultaker durfte die Öffentlichkeit nicht auf sich und seine Gabe aufmerksam machen, denn das konnte fatale Folgen haben. Warum wir uns Soultaker nannten?

Ein Großteil von uns besaß die Fähigkeit, anderen Menschen die Lebensenergie zu entziehen. Doch den Überlieferungen nach gab es früher auch einige Heiler unter uns. Eine Gruppe namens White Taker suchte jahrelang nach diesen Heilern, und so stießen sie letztlich auf mich.

Erst durch einen inszenierten Überfall fand ich heraus, dass ich überhaupt die Lebensenergie anderer Menschen manipulieren konnte. Ich war vollkommen ahnungslos gewesen. Tolle Art, das herauszufinden, nicht wahr? Warum die White Taker mich ins Visier genommen hatten? Ein Mädchen aus ihrer Gruppe hatte angeblich beobachtet, wie ich ein Haustier geheilt hatte, und daher wollten sie unbedingt, dass ich meine Kräfte bewusst einsetzte. Aber niemand hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob ich damit leben konnte.

Sie zwangen mich, mein komplettes Leben hinter mir zu lassen und somit auch meine große Liebe, André. Doch selbst, nachdem ich alle Facetten der White Taker kennengelernt hatte und wusste, wie viel Gutes sie taten, konnte ich André nicht aufgeben. Ein Glück – denn er war der Schlüssel gewesen, um meine Heilkräfte zu aktivieren, nur durch die Liebe zu ihm gelang es mir, Menschen zu helfen. Das Verhältnis zu meinen Freunden, den White Takern, war derzeit etwas unterkühlt.

Als die Dark Taker, eine Gruppe Soultaker, die ihre Kräfte nicht kontrollieren konnten und wollten, versucht hatten, uns anzugreifen, verschwiegen mir meine Freunde, dass André als Geisel fungierte. Dies und vieles mehr führte dazu, dass ich mich von meinen Freunden abgewandt hatte. Ich war wütend auf sie gewesen, verängstigt und fühlte mich von allen Seiten unter Druck gesetzt.

Doch ich vermisste sie mit jedem Tag mehr. Auch Sam fehlte mir, er war mir nicht nur als Freund ans Herz gewachsen, sondern hatte tiefer gehende Gefühle in mir geweckt. Nun war ich wieder bei André, aber meine Welt war immer noch auf den Kopf gestellt, und ich hatte keine Ahnung, wie meine Zukunft aussehen sollte.

Das Mädchen neben mir fragte mich plötzlich nach meinem Namen.

»Ich heiße Alexandra. Und du?«

»Mein Name ist Lila, und ich bin vier Jahre alt«, sagte sie ganz stolz.

Sie hatte strahlend blaue Augen, die mich anfunkelten – so voller Freude und Neugier. Ihr Körper war jedoch sehr dünn, fast abgemagert. Ihre Haare waren ausgefallen, und man konnte erkennen, dass sie mit einer schweren Krankheit, wahrscheinlich Krebs, zu kämpfen hatte. Das war einfach nicht richtig.

»Wirst du auch in den Himmel gehen?«, fragte sie mich frei heraus ohne eine Spur von Traurigkeit.

Ich stockte und blickte kurz zu ihrer Mutter, die etwas abseits von uns auf einem Stuhl saß. Sie lächelte verlegen und gequält. Ihre Augen waren gerötet, und Erschöpfung und Kummer hatten sie deutlich gezeichnet, dunkle Ringe unter den blauen Augen ließen sie Jahre älter aussehen. Ich fühlte die Auren der Kinder und ihrer Eltern – die der Kinder waren körperlich schwach, die der Eltern psychisch. Es war schwer zu begreifen, ich fühlte es einfach, und es machte mich unendlich traurig. Nach einem kurzen Räuspern antwortete ich dem kleinen Mädchen:

»Nicht in nächster Zeit. Aber irgendwann werden wir alle in den Himmel gehen. Jetzt möchte ich euch aber etwas Schönes vorlesen und mit euch spielen.«

Lila lächelte und nickte. Ich führte die Geschichte fort. André saß ganz still bei mir und baute zusammen mit einem sechsjährigen Jungen einen Duploturm. Es war wichtig, dass er sich unmittelbar in meiner Nähe befand, wenn ich meine Kräfte einsetzte, nur dann funktionierte der Heilvorgang. Warum, konnte mir bis jetzt keiner erklären.

Während ich die Geschichte weiter las, berührte Lila mich am Arm, und ich nutzte die Gelegenheit, um ihr meine Energie zu geben. Meine Hand begann zu kribbeln, und meine Seele schrie innerlich auf. Der Heilprozess erforderte eine enorme innere Anstrengung und tat höllisch weh.

Mir dabei nichts anmerken zu lassen, fiel mir schwer, enorm schwer, doch es musste so unauffällig geschehen wie nur möglich, denn wir waren ständig von den wachsamen Augen der Eltern umgeben. Beim Taken brauchte ich die Menschen nicht mehr zu berühren, konnte das sogar über eine bestimmte Entfernung hinweg in die Wege leiten, aber beim Heilen war ein körperlicher Kontakt notwendig.

Lila runzelte die Stirn, zog aber ihre Hand nicht weg. Der Glanz in ihren Augen verstärkte sich, und ich fühlte, wie ihre Aura zum Leben erwachte. Die Adern an meinem Hals und an den Schläfen begannen zu pochen, und ich musste das Vorlesen unterbrechen, um ein schmerzerfülltes Keuchen zu unterdrücken.

André reagierte und versuchte durch das scheinbar versehentliche Umkippen des hohen Duploturmes die Aufmerksamkeit von Kindern und Eltern auf sich zu ziehen. Der Junge ermahnte ihn, nicht richtig aufgepasst zu haben, und ich nutzte die wenigen Sekunden, um dem kleinen Mädchen so viel Energie wie nur möglich zu geben. Als mir schwindelig wurde und bunte Sterne vor meinen Augen tanzten, musste ich abbrechen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Mutter von Lila plötzlich besorgt und wollte schon aufstehen.

»Ja, danke, alles okay. Ich leide unter einer Auto-Immunkrankheit, die gelegentlich dafür sorgt, dass mir ohne Vorwarnung schwindelig wird. Es ist gleich wieder vorbei«, meinte ich und hob beschwichtigend die Hand, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich keine Hilfe brauchte.

André nahm mir schnell das Buch aus der Hand und las den Kindern nun weiter vor, damit ich mich etwas ausruhen konnte. Lila hingegen stand auf und lief zu ihrer Mutter. Sie merkte, dass ihr Körper sich anders anfühlte und plötzlich mehr Kraft hatte. Übermütig sprang sie ihrer Mutter in die Arme, die überrascht und unsicher auf den überschwänglichen Ansturm reagierte und gar nicht mit dieser Wucht gerechnet hatte.

Lila hingegen lachte aus ganzem Herzen und lief im Raum herum. Ihre Mutter ermahnte sie, sich nicht zu verausgaben, und nach wenigen Minuten nahm sie sie an die Hand und wollte auf ihr Krankenzimmer gehen, damit sie sich ausruhen konnte. Nur widerwillig stimmte ihre Tochter zu, aber bevor sie den Raum verließ, kam sie noch mal zu mir.

»Bist du mein Schutzengel?«

Ich war völlig vor dem Kopf gestoßen. Die Augen der Kleinen sahen mir tief in die Seele. Dann lachte sie, sagte Danke und verließ mit ihrer Mutter den Raum. Mein Herz wurde schwer und glücklich zugleich. Ein Engel – das erste Mal wurde mir so richtig bewusst, was meine Kräfte bewerkstelligen konnten.

Vor Monaten hatte ich gedacht, ich würde anderen Menschen die Lebensenergie nur nehmen können. Ich hatte Angst vor mir und dieser, wie ich dachte, dunklen Gabe, aber heute wusste ich es besser. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Und hier waren noch genug Kinder, denen ich helfen konnte. Meine Kräfte reichten allerdings nicht aus, um allen meine Energie zu geben. Ich schaffte nicht mehr als ein bis zwei Heilungen in einer Woche. Es sei denn, ich würde mir von anderen Menschen die Lebensenergie stehlen, aber das versuchte ich schon seit langem zu vermeiden, auch wenn dies leider ebenso zu meiner Natur gehörte. Es ganz zu lassen, war nicht möglich, auch das hatte ich bei meinen Freunden gelernt.

Ich spürte, wie das Verlangen nach dem Taken von Tag zu Tag stärker wurde. Die White Taker warnten mich davor, zu lange darauf zu verzichten. Wenn man auch nur einmal einem anderen Menschen die Energie entzogen hatte, verlangte der Körper in gewissen Abständen immer wieder danach, es war wie eine Sucht. Daher setzten die White Taker kontrolliert ihre Kräfte ein, indem sie nachts auf dem Kiez nach Kriminellen Ausschau hielten und deren Energie nahmen, ohne jemandem ernsthaft zu schaden.

Doch als ich meine Heilkräfte aktiviert hatte, keimte in mir die Hoffnung auf, vielleicht das Taken nicht mehr zu benötigen. Insgeheim wusste ich jedoch, dass ich mich irrte.

Der Junge, der vorhin mit André gespielt hatte, riss mich aus meinen Gedanken, als er mir ein Puzzle in die Hand drückte und fragte, ob ich nicht mit ihm das Bild zusammenbauen würde. Sein Name war Anton. Wir setzten uns an einen kleinen Kindertisch neben André und begannen, die einzelnen Teile herauszunehmen und farblich zu ordnen.

Hin und wieder versuchte ich meine Hand auf seinen Arm zu legen, damit ich ihm meine Energie geben konnte, aber Anton war immer in Bewegung, und so fiel es mir schwer den Heilprozess zu starten.

Allerdings gab ich nicht auf. Irgendwann schaffte ich es und gab Anton, was ich entbehren konnte, doch schon bald spürte ich, dass meine Kräfte langsam an ihre Grenzen kamen. Dann war unsere Besuchszeit auch schon vorbei. Wir verabschiedeten uns von den Kindern mit einem Abschiedslied und wünschten ihnen und ihren Eltern viel Kraft.

Mir wurde das Herz schwer, die anderen kleinen Kinder ohne eine Heilung zurückzulassen. Wenn ich nur stärker wäre oder jeden Tag hierherkommen könnte! Ich wünschte, meine Kräfte wären größer, dann hätten die Kleinen noch ihr ganzes Leben vor sich und könnten mit ihren Familien eine glückliche Zeit verbringen, sie würden die Chance bekommen, groß zu werden. Ich bewunderte die Pflegekräfte für die aufopfernde Arbeit, die sie jeden Tag leisteten, trotz nicht angemessener Bezahlung, unflexibler Arbeitszeiten und hoher emotionaler Belastung.

Als wir den Flur Richtung Ausgang entlang gingen, wären wir fast mit einem Vater zusammengestoßen, der aus einem der Intensivzimmer herauskam. Seine Augen waren geschwollen, seine Wangenknochen stachen hervor. Er sah müde und abgeschlagen aus. Er wirkte selbst mehr tot als lebendig. Vielen Eltern ging es so, wenn es mit ihren Kindern zu Ende ging. Ein Teil von ihnen starb mit den Kleinen.

Eine Schwester folgte ihm und nahm ihn kurz beiseite. Sie sagte ganz sanft, dass er doch mal eine Pause machen sollte, sie würden ihn rufen, wenn sich am Zustand seines Sohnes etwas veränderte. Verzweifelt schaute er zu seinem Kind. Aus einem Impuls heraus ging ich zu ihm und fragte, ob wir seinem Sohn etwas vorlesen dürften, der Vater könnte sich in der Zeit einen Kaffee holen. Dabei zeigte ich ihm unsere AWO-Ausweise.

André wirkte alarmiert, er wusste, was ich vorhatte, und auch, dass meine Kräfte eigentlich bereits ausgeschöpft waren. Der Vater nickte und bedankte sich ganz schwach, nicht ohne einen letzten verzweifelten Blick in das Krankenzimmer seines Kindes zu werfen. Die Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit, die in Wellen von ihm ausging, war beinahe greifbar, und mein Herz wurde ganz schwer.

Vorsichtig ging ich in das Zimmer und zog mir einen Stuhl ans Bett des kleinen Jungen. Er war vielleicht gerade mal acht Jahre alt. So genau konnte man das nicht mehr erkennen. Sein Gesicht wirkte eingefallen und seine Haut so blass wie Elfenbein. Die Lippen waren leicht bläulich, und die Augen bewegten sich nur schwach unter den geschlossenen Lidern. Die dünnen Ärmchen schauten unter der Decke hervor, die Knochen waren deutlich unter der Haut zu sehen. Die viel zu groß wirkenden Zugänge in der Armvene des kleinen Kindes ließen meinen Magen verrücktspielen. Ich schluckte.

Als ich den Job im Kinderhospiz angenommen hatte, war ich mir nicht bewusst gewesen, welche Bilder ich hier sehen würde.

Kleine Elektroden waren an der Brust und an der Hand befestigt, um Herzfrequenz und Puls zu messen.

Sauerstoffsättigung und auch die anderen Werte waren sehr niedrig. Ich wusste, wenn ich ihm nicht half, würde er in den nächsten Tagen, vielleicht sogar noch heute sterben.

»Alexandra, du hast keine Kraft mehr. Du kannst kaum laufen«, warnte André mich.

Ich ignorierte ihn. Ganz langsam und vorsichtig nahm ich die Hand des Jungen und schloss meine Augen. Meine Lebensenergie floss aus meinem Körper in die zarte Seele hinüber. Ein Zucken seines Körpers zeigte mir, dass er auf meine Kraft reagierte. Seine Werte wurden unregelmäßig. Ich gab André zu verstehen, dass er sich ein Buch nehmen sollte, um daraus vorzulesen, falls eine Schwester vorbeikam und wissen wollte, was wir hier machten.

All meine Nervenzellen waren wie unter Strom gesetzt, jedes einzelne Körperteil tat mir weh, und der Vorgang wurde immer schmerzhafter.

Zwischenzeitlich wurde mir schwarz vor Augen, und ich merkte, wie mein Bewusstsein beeinträchtigt wurde. André versuchte, meine Hand zu lösen, und redete leise, aber energisch auf mich ein, den Heilvorgang abzubrechen. Doch ich wollte diesem Kind helfen, es sollte weiterleben, die Konsequenzen für mich waren mir egal.

Plötzlich tropfte Blut von meiner Nase auf meinen Arm, und daraus wurde kurze Zeit später ein stetiges Laufen, so dass sich der Kupfergeruch im ganzen Zimmer verbreitete.

Dann wurde der Heilprozess, ohne dass ich es wollte, abgebrochen, und André holte Handtuchpapier, um mich zu versorgen.

Meine Gedanken kamen zum Stillstand, mein Körper drohte zu kollabieren. André fing mich auf, als ich zur Seite kippte. Danach half er mir beim Aufstehen.

»Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Sonst werden die Schwestern noch misstrauisch«, warnte mein Freund nervös.

»Okay«, sagte ich schwach, es war kaum mehr als ein Flüstern. Jeder Schritt tat weh, ich hatte das Gefühl, zu wenig Kraft zum Atmen zu haben. Doch ein Blick auf die Werte des Jungens ließ mich hoffen. Sie waren viel besser, und seine Haut wirkte rosiger. Das war es wert gewesen. Ja, ich fühlte mich mehr als nur durch den Wolf gedreht, aber damit konnte ich leben. Das würde schon wieder werden.

Der Vater kam zurück und sah mich stirnrunzelnd an.

»Meine Freundin hat Nasenbluten bekommen. Das hat sie manchmal. Nichts Schlimmes, aber ich glaube, Ihr Sohn hat das Vorlesen auf jeden Fall genossen«, erklärte André schnell und schob mich Richtung Ausgang.

Nachdenklich blickte der Vater uns hinterher und ging dann ins Zimmer. Von Weitem hörte ich ihn nach einer Schwester rufen. Er rief ganz aufgeregt, sein Sohn habe die Augen geöffnet. Euphorie schwang mit und ließ mich innerlich lächeln.

Schließlich verschwamm jedoch die Außenwelt immer mehr, und ich spürte, dass ich gleich das Bewusstsein verlieren würde.

André schaffte es gerade noch, mich ins Auto zu setzen, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel.

2 Das Ungleichgewicht

Mein Körper brauchte dieses Mal deutlich länger zur Regeneration als nach dem Besuch im Seniorenheim. Ganze zwei Tage schlief ich fast am Stück durch, nur für den Toilettengang und eine kleine Mahlzeit machte ich für ein paar Minuten die Augen auf und versank kurze Zeit später wieder in einen traumlosen Schlaf. Jedes Körperteil tat mir weh, schlimmer als nach dem Kampf damals in der Lagerhalle, obwohl ich dort nicht nur zusammengeschlagen, sondern sogar angeschossen worden war. Selbst meine Organe schienen aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, mein Hals und meine Lunge schmerzten bei jedem Atemzug, meine Augen brannten, wenn ich sie öffnete, und all das wurde von starken Kopfschmerzen begleitet, die nur langsam besser wurden.

Am dritten Tag hatte ich das Gefühl, meine Kraft würde allmählich in meinen Körper zurückkehren. Ich lag im Bett in unserem kleinen Schlafzimmer. Die fliederfarbenen Gardinen am Fenster zu meiner Linken waren zugezogen und ließen nur schwaches Licht herein. Doch zeigte es mir, dass der Morgen bereits Einzug gehalten hatte. Die Bettseite neben mir war leer, ich hörte jedoch Geräusche aus dem Badezimmer, das sich direkt neben dem Schlafzimmer befand.

Die wenigen Sonnenstrahlen ließen den warmen Braunton des Laminatbodens noch gemütlicher erscheinen und sorgten für eine angenehme Atmosphäre. Die Wände hatten wir kaum mit bunter Farbe gestrichen, wir wollten bei einem Auszug nicht alles wieder neu streichen müssen. Daher kaufte ich bei meinem Einzug in Andrés Wohnung etliche Dekoartikel, um alles wohnlicher zu gestalten.

Gräser, Blumen und Lavendel wurden durch Bambusblumentöpfe, Treibholz und Holz-Kerzenständer in Szene gesetzt. Maritimer Vintage-Chic – wie ich immer scherzhaft sagte. So fühlten wir uns sehr wohl.

Ich setzte mich langsam auf und nahm vorsichtig einen Schluck Wasser aus einem Glas, das neben mir auf dem Nachtschrank stand. Dann schwang ich bedächtig meine Beine aus dem Bett und saß erst mal eine Weile auf der Bettkante.

Ein leichtes Schwindelgefühl machte sich breit, aber es war deutlich besser geworden im Vergleich zu den letzten Tagen. Die Kopfschmerzen waren bis auf ein dumpfes Pochen verschwunden, und der Muskelkater glich einem leichten Ziehen. In diesem Moment kam André herein.

»Du bist wach.« Mehr eine Frage als eine Feststellung.

»Ja. Ich denke, meine Kraft ist langsam zurückgekehrt«, antwortete ich, meine Stimme klang noch belegt.

André seufzte und ging zum Kleiderschrank. Er zog sich eine dunkelblaue Jeans, ein weißes Hemd und ein dunkles Sakko an. Seine Arbeitskleidung. Er vermied es, mir direkt in die Augen zu blicken. Daher wusste ich, dass er mit seinen Gefühlen zu kämpfen hatte.

»Kann ich dich allein lassen?«, fragte André schließlich, als er sich fertig angekleidet hatte.

»Ja, kannst du.«

Ich nickte, um meine Antwort zu bekräftigen. Seine hellblauen Augen sahen mich prüfend an. Und nun erkannte ich auch die vielen Emotionen in seinem Gesicht. Mitgefühl, Angst, aber auch Verärgerung.

»Ich weiß, wir müssen reden. Und ich kann mir auch schon denken, was du sagen möchtest, aber ich musste dem kleinen Jungen helfen, er wäre sonst gestorben.«

Mein Freund atmete tief ein, nahm einen Stuhl, den wir eigentlich nur zur Klamottenablage benutzten, und setzte sich mir gegenüber. Er nahm meine Hand in die seinen.

»Du hast deine Kräfte überschätzt. Ich habe stundenlang mit mir gerungen, dich nicht in ein Krankenhaus zu bringen, dein Atem war so flach und dein Puls so schwach, dass ich Angst hatte, du würdest sterben. Ich kann ja nicht wissen, was passiert, wenn du dich so verausgabst, ob du vielleicht sogar innere Blutungen bekommst. Du hast zwischendurch so wirre Sachen gesagt, dass ich Panik bekam – was, wenn dein Gehirn durch die Überlastung Schäden davongetragen hätte?«

Ich schluckte. Natürlich erlebte André alles aus einer anderen Perspektive.

»Aber ich habe drei Kinder geheilt oder zumindest ihnen so weit geholfen, dass eine Besserung eintrat. Dafür hat es sich gelohnt! Denk nur an die Zukunft, die jetzt vor ihnen liegt«, entgegnete ich mit energischer Stimme.

»Aber zu welchem Preis? Beim nächsten Mal ist es dir vielleicht nicht möglich, dich zu regenerieren, und dann kannst du niemanden mehr heilen.«

»Ich muss einfach noch mehr üben, meine andere Kraft hat sich auch verstärkt, vielleicht kann ich …«

»Alexandra«, unterbrach mich André, »ich habe jede Minute um dein Leben gebangt, ich hatte Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen oder sogar dafür verantwortlich zu sein, weil ich dich dabei unterstützt habe, dein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich verstehe deine Motive und Wünsche. Aber kannst du dir vorstellen, wie es ist, jemanden, den man liebt, so leiden zu sehen? Das mache ich nicht noch mal mit.«

Seine Worte trafen mich. Ich konnte es nachvollziehen. Nachdem ich in den letzten Monaten so viel erlebt hatte – Kämpfe, Tragödien und verletzte Menschen, die mir nahestanden –, wusste ich genau, wie er sich fühlte.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich.

In meinen Augen sammelten sich Tränen. Andrés Blick wurde sanfter, und er nahm mich in die Arme. Ich sog seinen Duft ein, genoss seine Wärme und das Gefühl von seiner Haut an meiner. Er schenkte mir Geborgenheit und Sicherheit. Eine Weile später löste er sich von mir.

»Ich muss zur Arbeit. Die letzten Tage habe ich von zu Hause gearbeitet, aber heute Morgen ist ein Meeting, das ich nicht verschieben kann. Kann ich dich wirklich allein lassen?

»Ja, das kannst du. Ich komme jetzt klar.«

»Okay, wir reden heute Abend weiter. Ich liebe dich«, sagte er schließlich und gab mir einen Kuss auf den Kopf.

»Ich liebe dich auch«, antwortete ich und blickte ihm nach, wie er das Schlafzimmer und schließlich die Wohnung verließ.

Seufzend zog ich die Gardinen auf und sah eine Weile aus dem Fenster. Auf der Straße vor dem Haus herrschte ein reges Treiben. Menschen jeglichen Alters konnte man beobachten, Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit, Senioren, die ihre Einkäufe tätigten, und Eltern, die ihre Kinder zur Kita oder in die Schule brachten. Beim Anblick der spielenden Kinder kamen wieder die Erinnerungen an das Hospiz hoch.

Ich bereute meine Taten nicht, aber wusste auch, dass ich nicht mit dem Schicksal spielen sollte. Dafür hatte ich zu wenig Erfahrung mit meinen Kräften, und ohne die White Taker war ich auf mich allein gestellt. Doch ich spürte auch, dass mit jeder Heilung mein Bedürfnis zu helfen weiterwuchs und ich meine Gabe trainieren beziehungsweise ausweiten wollte. Ich hatte das Potenzial dazu, also musste ich es auch nutzen. Aber wie?

Immer öfter spielte ich mit dem Gedanken, die White Taker zu kontaktieren. Damit wäre allerdings André nicht einverstanden und er hatte berechtigte Gründe.

Als die White Taker vor Monaten einen Überfall auf mich inszeniert hatten, um meine Kräfte zu aktivieren, nahmen sie mich bei sich auf. Na ja, am Anfang war es eher wie eine Gefangennahme gewesen. Ich sollte jegliche Verbindungen zu meiner Familie und meinen Freunden kappen und somit auch zu André. Denn mit meinen Kräften war ich stets eine Zielscheibe für die Dark Taker, und die scheuten auch nicht davor zurück, Menschen zu verletzen oder zu töten, die uns etwas bedeuteten. André war ja schließlich auch von ihnen entführt worden.

Ich hielt mich an die Regeln und sah André für eine sehr lange Zeit nicht mehr. Als es jedoch zum großen Kampf gegen die Dark Taker gekommen war, hatten mir meine neuen Freunde verschwiegen, dass André als Geisel gefangen gehalten wurde. Um mich zu schützen, sagten sie. Mein Freund wurde so schwer verletzt, dass er beinahe gestorben wäre. Der einzige Grund, warum er heute noch lebte, war, weil ich es geschafft hatte, meine Heilkräfte gerade noch rechtzeitig zu aktivieren, um sein Leben zu retten. Meinen André. Der Schüssel war die Liebe, die ich für ihn empfand. Nur in seiner Gegenwart und mit dem Gedanken an seine Liebe gelang es mir später, auch andere Menschen zu heilen. Hätten die White Taker mich weiterhin von André ferngehalten, hätte ich den Schlüssel nie gefunden. Daher hatte ich sie verlassen, auch wenn es mir schwerfiel. Gut, um ehrlich zu sein nicht nur deswegen. Ich war enttäuscht und wütend gewesen. Verletzt. Und dann war da natürlich auch meine Neigung dazu wegzulaufen, wenn es schwierig wurde. Aber das war vielleicht ein bisschen zu viel Ehrlichkeit für meinen noch immer geschwächten Zustand.

Ich vermisste sie. Sie waren mehr als nur Freunde, sie waren meine Familie geworden. Und da kam auch die Erinnerungen an Sam hoch. Er hatte mir geholfen, die White Taker besser kennenzulernen, und mich bei jedem Problem unterstützt. Selbst sein Leben hatte er für mich riskiert. Wir waren uns nahegekommen, sehr nahe. André wusste das. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, einfach alles von meinen Kräften, meinen Erlebnissen und meiner Romanze – wenn man es denn so nennen konnte – mit Sam. Es sollten keine Geheimnisse zwischen uns stehen, damit er selbst entscheiden konnte, inwieweit eine Beziehung für ihn noch in Frage kam.

Er blieb, und wir hielten Abstand zu den White Takern. Noch mehr, ich musste ihm versprechen, nicht wieder zurückzugehen. Eigentlich unmöglich, wie ich jetzt wusste.

Vom Herumsitzen und Grübeln bekam ich erneut Kopfschmerzen, also schleppte ich mich in die Dusche und zog mich anschließend an. Ich wählte eine schicke Jeggings und eine rosafarbene Bluse. Zu Hause konnte ich natürlich auch eine Jogginghose und einen Kapuzenpullover tragen, aber damit verband ich relaxen und faul auf dem Sofa liegen. Die letzten Tage hatte ich allerdings genug ausgeruht, ich musste aktiv werden, und das ausgewählte Outfit half mir dabei, mich auch so zu fühlen.

Danach steuerte ich die Küche an, machte mir ein Müsli mit Obst und einen Latte Macchiato mit Karamell. Dabei verbrauchte ich unsere letzte Milch.

Überhaupt sah der Inhalt unseres Kühlschrankes recht mager aus. André hatte mich wahrscheinlich in den letzten beiden Tagen ungern allein lassen wollen. Daher war es an der Zeit, dass ich mich nützlich machte und einkaufen ging.

Vielleicht konnte ich auch endlich mal wieder etwas Schönes für André kochen, als kleines Dankeschön für seine Unterstützung. Ich wusste aber auch, dass es heute Abend ein weiteres unangenehmes Gespräch darüber geben würde, wie wir weitermachen wollten. Hoffentlich wollte er unseren Job bei der AWO nicht kündigen. Ich musste in Zukunft einfach vorsichtiger sein.

Nach dem Frühstück nahm ich die Einkaufstaschen aus dem Schrank und machte mich auf den Weg zum Edeka, ein paar Häuserblocks von unserer Wohnung entfernt. Zeit für etwas Normalität in meinem Leben.

3

Die Luft war frisch, weder stickig, noch stank sie nach Abgasen. Ich sog sie für einen kurzen Moment tief ein. Der Wind, der ständige Begleiter in Hamburg, wehte mir die Haare ins Gesicht. Ich bereute schon, mir keinen Zopf gemacht zu haben, aber was soll‘s. Der Weg führte mich an schönen Altbauten vorbei, ich liebte es, sie zu betrachten. Einige waren zu Mehrfamilienhäusern umgebaut worden, andere gehörten nur einzelnen und sehr wohlhabenden Familien. Die Häuser mussten ein Vermögen kosten, vor allem, wenn noch ein Garten dazu gehörte.

Mein Leben war in den letzten Monaten so auf den Kopf gestellt worden, dass ich völlig den Bezug zu einem normalen Alltag verloren hatte. Erst allmählich tauchte ich wieder in die reale Welt ein. Aber sie wirkte dennoch auf eine gewisse Weise fremd auf mich, als ob ich nicht mehr richtig dazu gehörte.

Dazu kamen noch die Alpträume, die mir nachts den Schlaf raubten. Wenigstens suchten mich tagsüber die Erinnerungen an Gerrit und die Dark Taker nicht mehr heim. Ich hoffte, dass es mir bald gelingen würde, auch den Rest der schrecklichen Erlebnisse zu verdrängen. Das war immer meine größte Stärke, sowohl in der Kindheit, als auch später. Ich war die inoffizielle Weltmeisterin im Verdrängen. Diese Schutzmauer wollte ich unbedingt wieder haben. Ich brauchte sie.

In zwei Monaten hatte ich vor, mit dem Beginn des neuen Semesters im Herbst, mein Studium wieder aufzunehmen. Doch verspürte ich aktuell wenig Lust darauf. Jetzt, wo ich heilen konnte, sah ich meine Fähigkeiten in einem Studium der Geisteswissenschaften verschwendet. Vielleicht sollte ich ernsthaft in Erwägung ziehen, Krankenschwester zu werden oder Arzthelferin, so konnte ich den Menschen direkt helfen. Es bestand ja auch die Möglichkeit, in ferner Zukunft einen Weg zu finden, meine Kräfte ohne André einsetzen zu können.

Der Gedanke an einen Pflegejob gefiel mir. Es wurde Zeit, meine Zukunft auf den richtigen Pfad zu bringen.

Plötzlich ertönte hinter mir energisch eine Fahrradklingel.

»Pass auf! Bist du zu blöd, um auf dem Fußweg zu gehen?«, rief eine Männerstimme in meinem Rücken.

Schnell drehte ich mich um und sah ein Fahrrad mit hoher Geschwindigkeit auf mich zu rasen. Darauf ein Mann in dunklem Anzug und – natürlich – Handy am Ohr, was ihn nicht davon abhielt, mir Flüche zuzurufen. In meinen Gedanken versunken war ich wohl auf den Fahrradweg geraten. Wenn man den kleinen roten Strich auf dem Fußweg überhaupt als solchen betrachten konnte. Hamburg war nicht unbedingt als fahrradfreundliche Stadt bekannt. Trotzdem; der Typ war ein Idiot! Mit dem Handy am Ohr Fahrradfahren war verboten! Abgesehen davon hätte er mich auch nicht so anzubrüllen brauchen.

Ich wich schnell dem heranbrausenden Zweirad aus und schüttelte den Kopf. Manche Menschen waren ständig aggressiv und gestresst, egal ob sie als Fahrrad- oder Autofahrer unterwegs waren. Ich mochte diese Aggressivität nicht, sie schlug mir aufs Gemüt.

Schließlich hatte ich den Supermarkt erreicht und schnappte mir einen Einkaufswagen.

In meinem Elan, schnell meine Besorgungen zu tätigen, hatte ich gar nicht detailliert nachgesehen, was uns alles fehlte, so kaufte ich lieber etwas mehr ein.

Frisches Obst und Gemüse, Brot und Aufschnitt sowie einige Milchprodukte. Außerdem landeten eine Packung Bio-Hühnergeschnetzeltes im Einkaufswagen und Zutaten für eine selbstgemachte Mousse au Chocolat für den Nachtisch. Eine gute Flasche Rotwein rundete mein Abend-Menü ab.

Wenigstens hatte ich an meinen Rucksack gedacht, damit ich nicht alles in der Hand schleppen musste. Als ich gerade die Kasse ansteuern wollte, wurde ich unsanft angerempelt. Ich drehte mich um und erkannte den Anzugträger vom Hinweg wieder. Er ignorierte mich und drängelte sich sogar ganz frech an einer älteren Dame an der Kasse vorbei mit dem kurzen Hinweis, er müsse schnell zur Arbeit, und sie habe ja noch alle Zeit der Welt. Die ältere Frau schien völlig perplex zu sein, normalerweise waren Senioren nicht auf den Mund gefallen und würden sich so ein Verhalten nicht bieten lassen, aber irgendwas schien der Mann an sich zu haben, dass selbst die Dame nichts erwiderte.

Sein Verhalten machte mich plötzlich richtig wütend. Was bildete sich dieser Mensch ein, wer er war? Mit der Wut kam auf einmal eine Schwindelattacke daher, und mein Sichtfeld schien zu verschwimmen. Ich sah nur noch die Auren der Menschen vor mir. Hell leuchtete ihre Lebenskraft vor meinen Augen. Meine Gabe hatte es ziemlich schnell auf den Anzugträger abgesehen. Ich schüttelte den Kopf, um diese Auren-Sicht wieder loszuwerden, doch mein Körper verlangte nach dem Taken. Meine Wut auf den Mann vermischte sich mit der Sucht nach seiner Lebensenergie, ich sah nur noch seine rote Aura vor mir, und meine Seele gierte nach seiner Kraft. Der Mann wankte. Ließ seine Einkäufe fallen und ging auf die Knie.

Ich keuchte ebenfalls, nicht imstande, das Taken zu stoppen. Die Stärke des Mannes floss in meinen Körper. Erfüllte mich mit einem Hochgefühl von Macht und Kraft – unbeschreiblich schön und euphorisierend und zugleich abgrundtief böse. Mit einem Ruck drehte ich mich um und stolperte durch die Gänge, um die Verbindung zu dem Mann zu lösen. Es gelang mir nur mit großer Mühe, denn mittlerweile konnte ich meine Gabe über einige Meter Entfernung einsetzen. Verschwommen nahm ich wahr, wie dem Anzugträger an der Kasse geholfen wurde. Ich hingegen ließ den Einkaufswagen mit den Lebensmitteln stehen und rannte aus dem Supermarkt. Mein Sichtfeld war immer noch nicht wieder normal, überall sah ich die Auren der Menschen. Wie ein verhungerndes Tier gierte meine Gabe nach der Lebenskraft, die um mich herum waberte. Sie schien nur auf mich zu warten. Aber nein, nein, nein! Ich wollte kein Monster sein!

Nur mit enormer Anstrengung konnte ich das Machtgefühl zurückhalten. Und doch war das Taken so verführerisch, es rief nach mir, es zerrte an meiner Seele. Mein Herz raste, meine Hände schwitzten, mein Mund wurde trocken, und ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen Die Moleküle um mich herum waren nicht mehr frisch, sie waren vergiftet und trocken – meine Sinne überflutet von Geräuschen und schlechten Gerüchen. Eine Panikattacke nach der anderen begleitete mich bis zu unserer Wohnung. Schnell verschloss ich die Tür mit allen Sicherheitsschlössern, die wir hatten, und ließ mich mit dem Rücken am Türrahmen zu Boden sinken. Ich vergrub mein Gesicht in den Armen und versuchte zu Atem zu kommen. Der rote Schleier vor meinen Augen war verschwunden, ebenso der Schwindel. Mein Mund blieb allerdings trocken, und ein bitterer Nachgeschmack lag auf meiner Zunge. Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust. Wie konnte mir das passieren? War ich kurzerhand zu einem Dark Taker mutiert? Trotz meiner Heilkraft? Regungslos blieb ich Minuten, vielleicht sogar eine Stunde, hier sitzen und schloss die Augen.

Scham, Wut und Selbstzweifel kreisten in meinem Kopf, und ich war nicht imstande, etwas anderes zu machen, als auf dem Boden sitzen zu bleiben und zu grübeln. Meine Hände zitterten, und mein ganzer Körper war in Aufruhr, teils durch das Taken, teils von meinen starken Schuldgefühlen.

Plötzlich wurde ein Schlüssel in der Tür herumgedreht, und jemand versuchte, sie zu öffnen.

Erschrocken wich ich zurück und schrie, wer denn da an der Tür sei. Als Antwort hörte ich Andrés verwunderte Stimme. Schnell entriegelte ich alle Sicherheitsschlösser und blickte in Andrés alarmiert wirkendes Gesicht.

»Was ist passiert?«, fragte er mich.

»Ich war eben einkaufen, und dann war da dieser unverschämte Mann, ich habe seine Kraft genommen, ich konnte mich nicht dagegen wehren«, sprudelte es aus mir heraus.

»Warte eine Sekunde. Lass uns erst mal ins Wohnzimmer gehen, und dann erzählst du mir alles in Ruhe.« Seine Stimme beruhigte mich.

Er schloss die Tür, stellte seinen Arbeitsrucksack in die Garderobe und begleitete mich zum Sofa. Ich atmete tief durch und erzählte ihm alles von vorne.

»Ich konnte es einfach nicht steuern. Nur mit Mühe gelang es mir, das Taken abzubrechen. Das ist mir zuvor noch nie passiert, jedenfalls nicht in den letzten Monaten.«

Ich war verzweifelt. Nahezu panisch. Was ist, wenn ich mich nicht mehr frei unter Menschen bewegen konnte?

André schwieg nachdenklich. Erst nach einer Weile räusperte er sich.

»Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen, aber als du vorgestern noch im Halbschlaf warst, hast du versucht, mir meine Kraft zu entziehen, nur ganz kurz.«

»Was? Warum hast du das nicht gesagt?«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen und nahm an, dass es nur wegen des hohen Energieverlusts passiert war. Mir geht es gut. Du hast es rechtzeitig abgebrochen. Aber das war auch einer der Gründe, warum ich dich nicht ins Krankenhaus gebracht habe. Das Risiko, dass du es unbewusst bei anderen Menschen probiert hättest, wäre zu groß gewesen«, erzählte er.

Doch ich hörte seine letzten Worte kaum. Meine Gabe hatte seinem Körper die Energie entzogen. Ihm! André, meiner großen Liebe! Wenn nicht einmal er vor mir sicher war …

Die White Taker hatten mich immer vor solchen Situationen gewarnt, dass jeder Taker eine Gefahr für die Öffentlichkeit, selbst für seine Familie, darstellte, wenn er seine Kraft nicht unter Kontrolle hatte. Aber ich war mir immer sicher gewesen, dass mir das nicht passieren würde. Tja, falsch gedacht. Das war eine Katastrophe!

Mein Blick ging ins Leere, André wusste nicht so recht, was er noch sagen sollte. Auch er rieb sich die Augen, unter denen dunkle Schatten seine Erschöpfung untermalten, er wirkte müde und abgeschlagen. In diesem Moment bereute ich es, wieder in sein Leben getreten zu sein, ohne mich wäre er besser dran gewesen. Wie egoistisch ich gewesen war!

»Du musst heute mal in die Stadt und kontrolliert taken. Ich denke, dann wird sich alles wieder normalisieren. Wenn du heilen willst, musst du das anscheinend ausgleichen«, schlug er nach einer Weile vor.

»Ja, da hast du vermutlich recht«, stimmte ich zu und ließ mich in seine Arme sinken. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen.

»Warum bist du eigentlich schon zu Hause?«

»Mein Meeting ging schneller zu Ende als gedacht, und den Rest des Tages wollte ich lieber von hier arbeiten, um in deiner Nähe zu sein.«

»Ich habe dich nicht verdient«, murmelte ich gegen seine Schulter. Ich hörte ein kurzes Lachen.

»Natürlich hast du das.«

Schließlich nahm er mein Gesicht in beide Hände und küsste mich langsam. Der Kuss wurde immer intensiver. Ich spürte seine Sehnsucht, seine Hingabe, aber auch seine Ängste in Bezug auf die Ereignisse der letzten Tage, der ganzen Monate. Von mir getrennt zu sein, war für ihn noch schlimmer gewesen als für mich. Wir konnten nur hoffen, dass es nicht wieder dazu kam.

Gegen 21 Uhr fuhren wir mit der U-Bahn zur Station St. Pauli. Auf dem Weg dahin sagte keiner von uns ein Wort, jeder hing seinen Gedanken nach. Die Häuser und großen Gebäude zogen an uns vorbei, die Landungsbrücken, die Schiffe, alles, was mich an Hamburg schon immer fasziniert hatte. Und doch hatte die Welt an Glanz für mich verloren. Meine Gabe dominierte nun mein Leben.

Es fühlte sich an, als wohne da ein wildes Tier in meinem Inneren. Ich versuchte, es unter Kontrolle zu halten, es – wenn man so wollte – an die Kette zu legen, aber es wehrte sich und ich hatte Angst, dass es letztlich stärker war als ich.

Nervös spielten meine Hände mit meinem T-Shirt. Nur selten fuhren André und ich zum Kiez, damit ich meine Kräfte einsetzen konnte. Aber mit den White Takern war das an der Tagesordnung gewesen. Dort hatten wir Streitereien und Prügeleien durch den Einsatz unserer Gabe verhindert. Wir hatten nur Kriminelle getaket, unentdeckt und immer unter dem Radar der Polizei, aber so, dass wir die Notwendigkeit in einen Beitrag für die Sicherheit der Gesellschaft verwandeln konnten. Durch unser Einschreiten hatten wir vielen Menschen geholfen.

André und ich besuchten zwar auch den Kiez, aber wählten Bereiche aus, in den wir hoffentlich meinen alten Freunden nicht begegnen würden. Ich musste auch nur wenig Energie von anderen Menschen absorbieren. Und so beschränkte ich meine Auswahl nicht auf Schwerkriminelle, sondern auf Pöbler oder betrunkene Prolls. Es verging keine Stunde, da hatte ich genug Lebenskraft aufgenommen und spürte eine zufriedene Ruhe in meiner Seele. Ich gab André zu verstehen, dass ich bereit war, den Heimweg anzutreten.

Als wir allerdings an einer Gasse nahe des Kiezbäckers vorbeigingen, hörte ich Kampfgeräusche. André wollte mich zurückhalten, doch mein Drang zu helfen oder zumindest nachzuschauen, war zu groß. Mein Instinkt sagte mir, dass jemand Hilfe brauchte.

Ich erblickte in einer Hauseinkerbung zwei Schläger, die einen jungen Erwachsenen an die Hauswand gedrängt hatten. Der eine boxte ihm in den Bauch, während der andere seine Taschen durchsuchte. Feige Mistkerle! Zwei gegen einen, sehr mutig!

Meine Wut von heute Morgen kehrte mit einem Schlag zurück. Rote Schleier erschienen vor meinen Augen, und ich sah die Auren der beiden Täter. Meine Gabe entfesselte sich wie ein tollwütiges Biest und sog brutal die Energie der beiden Angreifer auf. In nur wenigen Sekunden fielen sie keuchend zu Boden. Die Adern an ihren Schläfen und am Hals fingen an zu pochen. Der eine Mann bekam Nasenbluten. Verdutzt sah das Opfer zu den beiden Männern hinüber und wurde kurz danach auf mich aufmerksam. Seinem Blick nach zu urteilen, musste ich ein erschreckendes Bild abgeben. Der Wind wehte meine Haare wild umher, meine Augen, schwarz vor Wut, waren auf die beiden Männer gerichtet, mein Körper starr wie eine Salzsäule. Das Opfer suchte kurzerhand seine Sachen zusammen und floh in die Nacht.

André packte meinen Arm.

»Alexandra, hör auf! Du übertreibst es. Man wird dich entdecken.«

Aber seine Worte waren für mich nur ein Murmeln, ganz weit weg in meinen Gedanken. Ich war zu konzentriert auf die Stärke, die mich durchflutete. Eine Macht über das Leben aller Menschen, wenn ich es wollte. Gottgleich.

Nun stellte sich André in mein Blickfeld und schüttelte mich an den Schultern. Meine Gabe schrie – sie wollte nicht wieder eingesperrt werden, niemand durfte sich zwischen sie und ihre Beute stellen. Mein Blick erfasste André, und für einen kurzen Moment wurden seine Augen groß, und er begann zu keuchen. Seine Hand streifte mein Gesicht, sein Mund formte meinen Namen. Das holte mich in die Realität zurück, besser als ein Kübel Eiswasser. Meine Kraft wurde von einem auf den nächsten Moment gestoppt. Aber war ich es gewesen? Da war ich mir gar nicht so sicher. Doch andererseits, wer sollte es sonst gewesen sein?

Verwirrt sah ich meinen Freund an. Er runzelte die Stirn und versuchte zu ergründen, welche Alexandra er jetzt vor sich hatte.

Ich wandte mich ab, nicht imstande, ihm in die Augen zu blicken. Ich hatte tatsächlich versucht, seine Energie zu nehmen. Schon wieder, wie im Wahn. Meine Selbstkontrolle hatte gänzlich versagt. Scham, Furcht und Wut auf mich, Emotionen, die mein Herz schwer werden ließen, durchfluteten meinen Körper.

»Es tut mir leid«, stammelte ich und stützte mich an einer Hauswand ab. Die aufgenommene Kraft tobte in mir, fühlte sich noch so mächtig an, gab mir ein berauschendes Gefühl, ein Trip wie durch eine Droge. Aber die Nachwirkungen waren auch bereits zu spüren. Das schlechte Gewissen, die Wut auf mich selbst, das Gefühl des Versagens. Ich war ein Monster.

»Wir müssen hier weg«, sagte André knapp und zog mich zur U-Bahn. Er wirkte hochkonzentriert, wollte uns schnell aus der Situation herausbringen. Dafür war ich ihm dankbar. Denn ich war kaum imstande, einen klaren Gedanken zu fassen, überwältigt von dem Machtgefühl und meinen Emotionen. Als wir endlich die U-Bahn erreichten und in einem der Waggons Platz genommen hatten, schüttelte André den Kopf.

»Wie kann ich dir nur helfen?«

Verdutzt sah ich ihn an.

»Mehr kannst du nicht tun. Du solltest das alles nicht sehen und mitmachen müssen. Ohne dich hätte ich vielleicht Menschen getötet. Du hast mehr als genug getan. Ich habe schlichtweg versagt.«

Meine Augen brannten, als ich diese Worte sagte. André schien einfach nur verzweifelt zu sein und sah mich mitleidig an. Aber er sollte kein Mitleid mit mir haben. Ich hätte ihn beinahe angegriffen! Ich hätte ihn töten können! Meine Gedanken spielten verrückt, aber eines war mir mittlerweile klar.

»Ich brauche Loki. Nur er kann mir helfen, mein Gleichgewicht wieder zu finden.«

Aus dem Mitleid von André wurde ein düsterer Blick. Eifersucht. Er knirschte mit den Zähnen und sah für einen Moment weg.

Loki war mein Trainer bei den White Takern gewesen. Er zeigte uns nicht nur Kampfsportarten, sondern half uns auch dabei, die mentalen Fähigkeiten zu kanalisieren und sie gezielt einzusetzen. Es gab kaum einen anderen Menschen, der mehr Ruhe und Beherrschtheit ausstrahlte als Loki. Er hatte mir damals geholfen, meine Gabe zu kontrollieren. Aber jetzt brauchte ich ihn mehr denn je. Ich konnte natürlich noch bis zum nächsten Taken abwarten und schauen, wie sich meine Selbstbeherrschung dann entwickelte, tief im Inneren spürte ich allerdings, dass seit der Heilung im Kinderhospiz mein Gleichgewicht völlig durcheinandergewirbelt worden war. Vielleicht war es auch das Vernachlässigen des Takens selbst gewesen. Wenn ich dieses Problem nicht allein bewältigen konnte, würde ich gefahrlaufen, weitere Menschen oder vielleicht auch André zu verletzen, und das wollte ich auf gar keinen Fall riskieren. Dazu nahm ich die Erlebnisse des heutigen Tages viel zu ernst.

Es vergingen Minuten, bis André mich wieder ansah und nickte. Ich wusste, welche Überwindung ihn diese Zustimmung gekostet hatte. Er hasste die White Taker, weil sie mich ihm weggenommen, meine Gabe aktiviert und damit unser beider Leben für immer verändert hatten. Ohne sie wäre meine Gabe wahrscheinlich nie entdeckt worden, aber sie hatten nun mal den Überfall auf mich inszeniert und damit alles ins Rollen gebracht.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, fuhren wir in unsere Wohnung. Dort angekommen packten wir eine Sporttasche mit den wichtigsten Kosmetikartikeln und einigen Wechselklamotten – wer wusste schon, wie lange wir bei den White Takern bleiben mussten, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte? Waren wir überhaupt willkommen? Kurzerhand stiegen wir ins Auto und fuhren zum White Taker Wohnsitz.

4

Unterwegs schrieb ich Irina, dass wir uns auf dem Weg zu ihnen befanden, und fragte, ob sie mit uns sprechen würden. Ich wollte nicht gänzlich ohne Vorwarnung dort auftauchen. Vielleicht wollten sie mich gar nicht wieder aufnehmen oder erlaubten André nicht den Zutritt in den White-Taker-Komplex.

Bis heute wurden nur Soultaker aufgenommen. Der Kontakt zu den normalen Menschen sollte stark beschränkt werden, auch zu den Familien. Freunde und Familienangehörige ohne die Gabe wären nicht nur ein Angriffsziel für die Dark Taker, sondern könnten auch der Gruppe selbst zum Verhängnis werden, wenn unser Geheimnis in die falschen Hände geriet.

Da André allerdings mein Schlüssel zum Heilen und bereits in die ganze Thematik involviert war, hoffte ich, dass er mich begleiten durfte.

Nach zehn Minuten kam eine Nachricht von Irina. Mein Herz klopfte, als ich sie öffnete, sie bestand nur aus einem Satz.

»Ihr seid jederzeit willkommen.«

Erleichtert ließ ich mich tiefer in den Sitz sinken und schaute für eine Weile aus dem Fenster, während André das Auto Richtung Elbbrücken steuerte. Ich erinnerte mich an die etlichen Fahrten in die Stadt mit den White Takern, um Kriminelle zu jagen. Die Gruppe hielt stets zusammen und wirkte wie eine große Familie. Ich war Teil dieser Familie geworden und nun kehrte ich zurück. Doch meine Rückkehr war kompliziert. Wie würden die anderen auf André reagieren? Wie würde Sam uns behandeln? Ich hatte ihm das Herz gebrochen, als ich ihn und die White Taker verlassen hatte, um mit André in ein normales Leben zurückzukehren. Bei diesem Gedanken spielte mein Magen verrückt. Ich wollte Sam wiedersehen, ein Teil meiner Seele sehnte sich nach ihm, vermisste ihn. Aber ich kam nicht allein, und das war der Haken. So vermischten sich Vorfreude, Angst und Unbehagen, während André ebenfalls sichtlich angespannt neben mir saß und kein Wort sagte.

Wie musste es wohl für ihn sein? Er war ein Fremder, der höchstwahrscheinlich nicht sehr willkommen war. Er machte das alles nur aus Liebe zu mir. Dabei ging mein Herz auf. Wie konnte ich das alles wiedergutmachen?

Allerdings hatte ich erst mal andere Probleme. Wenn ich das Taken nicht unter Kontrolle bringen konnte, musste man mich vielleicht aus dem Verkehr ziehen und einsperren. Dann brauchte ich mir über die Liebe keine Gedanken mehr zu machen.

Eine halbe Stunde später, es war bereits gegen 23 Uhr, kamen wir beim Fabrikgelände an, das vor etlichen Jahren zum Hauptquartier der Soultaker umgebaut worden war. Die Einfahrt wie auch die Eingangstür waren hell erleuchtet. Es hatte sich nichts geändert, dennoch nahm ich nun alles aus einer anderen Perspektive wahr. André stoppte das Auto und drehte den Schlüssel um.

»Bereit?«, fragte er.

Nervös rutschte ich in meinem Sitz herum.

»Jain.« Mehr brachte ich nicht heraus. Mein Magen schlug förmlich Purzelbäume, meine Hände waren schwitzig, und mein Herz raste.

»Na, dann los«, erwiderte er und öffnete seine Tür.

Einmal tief eingeatmet, und ich folgte ihm zur Eingangstür. Zu klingeln brauchte ich nicht. Sowohl das Gelände als auch das Gebäude selbst verfügten über ein komplexes Netz aus Überwachungskameras, das jederzeit von einem Taker im Blick behalten wurde. Sie hatten uns bereits gesehen, als wir in die Einfahrt fuhren. Vielleicht auch schon vorher.

Durch die Glasscheibe der Haustür sah ich eine zierliche Frau mit blonden langen Haaren auf uns zu kommen.

Irina, die Gründerin der White Taker. Eine sehr sanfte, empathische Frau, die aber über genauso viel Willensstärke und Durchsetzungsvermögen verfügte. Das musste sie auch, um eine Gruppe von etwa zwanzig Erwachsenen leiten und zusammenhalten zu können.

Michael, ihr Partner, unterstützte sie dabei. Er übernahm den erzieherischen Part und sorgte dafür, dass die Jüngeren es nicht übertrieben und zu sorglos mit ihrer Gabe umgingen. Michael war stets um die Sicherheit seiner Familie bemüht, und das zeichnete ihn aus, auch wenn er manchmal etwas mürrisch daherkam und mich ganz am Anfang auch ziemlich eingeschüchtert hatte.

»Alexandra. Wie schön, dich zu sehen«, sagte Irina mit einer einladenden, freundlichen Stimme und nahm mich herzlich in den Arm. Das familiäre Gefühl stellte sich sofort ein, und meine Nervosität nahm etwas ab. Dann wandte sie sich André zu.

»Ich bin Irina. Es tut mir leid, dass wir uns damals nicht richtig kennenlernen konnten. Aber vielleicht ändert sich das jetzt.«

Sie gaben sich die Hand, und André bedankte sich mit einem Nicken. Sein Gesicht wirkte etwas entspannter, aber dennoch sehr wachsam.

Irina begleitete uns durch den Flur zur Lobby. Wie schon erwähnt, handelte es sich bei dem Gebäude um eine alte Fabrik, die sich über vier Stockwerke erstreckte. Die Etagen zwei bis vier beherbergten die Schlafzimmer und sanitären Einrichtungen. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche und die Arbeitsräume. Im Keller gab es den Trainingsraum, einen kleinen Pool und die Sauna. Langeweile kam hier nie auf, für die Unterhaltung sorgten ein eigenes kleines Heimkino und das Spielzimmer samt Billardtisch.

Woher das ganze Geld stammte? Die Taker arbeiteten als freie Lektoren und als IT-Agenturhelfer. Die IT-Mitarbeiter übernahmen Programmierarbeiten für andere Firmen, ohne aber Kundenkontakt halten zu müssen. Alles lief online oder per Telefon ab. Das Zeitalter des Internets spielte den Takern somit eindeutig in die Hände, um sich aus der Öffentlichkeit, so gut es ging, raushalten zu können. Denn die Dark Taker sollten nicht erfahren, wo sie lebten. Die White Taker hatten es sich zur Aufgabe gemacht, diese Taker zu jagen und ihnen das Handwerk zu legen, um die unschuldigen Menschen zu schützen, die sonst zu Opfern werden würden. Doch irgendwann erwuchs aus den wenigen Einzelkämpfern eine Organisation, die sich ihre Art zu leben nicht vorschreiben lassen wollte. Manche sahen sich auch als eine höher entwickelte Spezies und rechtfertigten so ihr Handeln. Ich hatte das Gedankengut der Dark Taker live miterlebt, als ich eine Freundin retten wollte und mich in eine ihrer Organisation einschleusen ließ. Ich entkam ihnen zwar wieder, aber meine Erlebnisse dort hatten Spuren bei mir hinterlassen.

Damals hatten alle Hamburger Taker die Hoffnung, dass wir uns, wenn ich meine Heilkräfte entwickeln würde, besser schützen könnten und somit eine Stärke signalisieren würden, die dafür sorgte, dass unsere Feinde sich entweder an die Regeln hielten oder zurückzogen. Dann würden auch die White Taker wieder sorgloser leben und vielleicht eigene Familien gründen können.

Tja, ich hatte meine Heilkräfte entdeckt, aber hatte sie dann verlassen. Ob sie mir das verziehen? Mal wieder drückte mich das Schuldgefühl nieder, und ich fragte mich, ob ich egoistisch gehandelt hatte.

»Die meisten sind schon zu Bett gegangen. Ihr könnt sie morgen begrüßen. Ich dachte mir, es wäre für euch angenehmer, nicht gleich alle auf einmal anzutreffen. Ich denke, wir müssen vorher einiges besprechen«, erklärte Irina und führte uns zum Essbereich.

Die Lobby erstreckte sich über alle vier Etagen. An der Seite gab es eine Metalltreppe, die auf alle Ebenen führte. Gegenüber befand sich eine Fensterfront, die bis in die dritte Etage reichte und am Tag für viel Licht sorgte. Rechts von uns stand der große Esstisch, mit Platz für mindestens zwölf Personen. Links war eine Sitznische mit Bücherregalen abgetrennt, und dort in der Nähe stand auch der XXL-Kicker. Ich erinnerte mich daran, wie ich das eine oder andere Spiel gespielt und meistens gewonnen hatte. Ein leichtes Lächeln legte sich auf meine Lippen.

Am Tag herrschte hier reges Treiben, die Leute redeten miteinander, spielten oder lasen auf den Sofas. Wenn man wollte, war man immer unter Menschen – das Gefühl war sehr schön gewesen, zumindest manchmal.

Momentan war der Raum jedoch nur mit einer Leuchte über dem Esstisch erhellt. Am Tisch saßen Loki, Tanja und Michael. Sam war nicht dabei. Sie standen alle auf, als sie uns erblickten, und einer nach dem anderen umarmte mich. Am herzlichsten fiel die Begrüßung von Loki aus, die von Michael am zurückhaltendsten – große Überraschung. Michael war einfach … Michael eben. Irgendwie beruhigend, dass sich das nicht verändert hatte. Zuletzt gab er André die Hand. Beide sahen sich mit einem misstrauischen Blick an, die Atmosphäre wirkte unterkühlt. Milde ausgedrückt. Ich konnte nur erahnen, wie André sich in diesem Moment fühlen musste. Herzlich willkommen geheißen mit Sicherheit nicht.

»Setzt euch bitte«, bat Irina, und wir kamen der Bitte nach.

Die Stühle scharrten über den Boden, sonst war es gespenstisch still in der Lobby. Erinnerungen an die letzten Monate wurden wach, Partys, Zusammenkünfte, gemeinsame Frühstücke. Der Raum war oft von Stimmen, Musik und Gelächter erfüllt gewesen. Es hatte aber ebenso auch tragische Momente gegeben, zum Beispiel nach Angriffen durch die Dark Taker. Eines hatten die meisten Erinnerungen gemeinsam: Sam war stets bei mir gewesen, aber jetzt war er nicht mehr da. Ob er mir bewusst aus dem Weg gehen wollte?

»Erstmal sind wir froh, dass du uns besuchen kommst. Du, beziehungsweise ihr, seid jederzeit willkommen«, fuhr Irina fort.

»Danke dir. Ich weiß, ich habe euch enttäuscht, als ich wegging. Aber für mich gab es damals keine andere Möglichkeit. Ich musste zu mir selbst finden«, erklärte ich.

»Ist es dir gelungen?«, wollte Michael wissen, ganz neutral, ohne einen vorwurfsvollen Unterton.

Ich stockte.

»Nein. Im Gegenteil.«

Meine Stimme war abgehackt und wurde immer leiser. Ich atmete tief durch und erzählte ihnen meine Geschichte. Sie hörten ohne Unterbrechungen zu, in ihren Gesichtern spiegelten sich dabei die unterschiedlichsten Emotionen wider. Loki und Tanja wirkten interessiert an dem Ausmaß meiner Gabe, ob nun des Takens oder Heilens. Tanja war unsere Ärztin, Psychologin und engste Vertraute. Mit einer eigenen kleinen Krankenstation samt Labor konnte sie uns bei Verletzungen behandeln und Forschungen zu unserer Gabe durchführen. Der Wunsch zu heilen, war bei ihr als Ärztin wohl mit Abstand am größten. Loki betrachtete alles aus der Sichtweise eines Lehrmeisters. Während Michael und Irina wie Eltern wirkten, die ihr zurückgekehrtes Kind anhörten.

»Ich brauche euch. Ohne Loki schaffe ich es nicht, meine Kräfte zu fokussieren. Es ist zu viel und zu schwer. Ich will die Menschen heilen und nicht töten. Ich habe das Gefühl, dass mir alles entgleitet, mein Gleichgewicht ist völlig im Eimer. Ich will nicht zum Dark Taker mutieren«, offenbarte ich emotional.

Alle sahen mich mitfühlend an.

»Ich weiß, ihr seid sicher sauer auf uns, und die Situation ist alles andere als einfach für alle Beteiligten. Ich bin einfach weggerannt und hab euch im Stich gelassen. Es tut mir leid.«

Irina, die mir gegenübersaß, ergriff meine Hand.

»Du hast kein Vertrauen mehr zu uns gehabt. Wir hätten dir nichts verschweigen sollen. Das war unser Fehler. Auf die Ereignisse waren auch wir nicht vorbereitet. Wir werden gemeinsam einen Weg finden, dein Gleichgewicht wiederherzustellen. Und wenn ihr dazu hierbleiben möchtet, könnt ihr das gerne tun. Auch André, immerhin ist er dein Schlüssel.«

Ihre Worte taten so unendlich gut, und Hoffnung machte sich in mir breit. Aber ein Blick in Michaels Gesicht verriet mir, dass anscheinend nicht alle Irinas Meinung waren.

»Trifft das auf alle zu?«, fragte ich direkt an Michael gerichtet. Er räusperte sich.

»Wir haben dich vermisst. Du gehörst zur Familie. Aber ich bin auch ehrlich. Dein Weggang hat Spuren hinterlassen. Jedoch denke ich, sollten wir nicht jetzt darüber reden. Wenn es für euch okay ist, könnt ihr hier erst mal übernachten, und morgen setzen wir uns zusammen und überlegen gemeinsam und in Ruhe, wie wir dir helfen können. Und auch wie wir die Zukunft gestalten können. Wäre das in eurem Sinne?«

Ich nickte, André kurze Zeit später auch.

»Schön. Dann geht mal alle schlafen. Alexandra, dein Zimmer steht für dich bereit. Es ist noch alles so, wie du es verlassen hast«, sagte Irina und stand wie auch die anderen auf.

Ich bedankte mich und führte André in den ersten Stock zu meinem Zimmer. Als ich die Tür öffnete, bekam ich gleich ein heimisches Gefühl. Zwar hatte ich mich hier nie so richtig Zuhause gefühlt, dazu war die Sehnsucht nach André und die Wut auf mein Schicksal zu groß, aber es war dennoch mein Zufluchtsort gewesen.

Die Farben, die Möbel, alles war so, wie ich es liebte. Sie ähnelten zwar der Einrichtung von Andrés und meiner gemeinsamen Wohnung, doch alles in allem spiegelte das Zimmer letztendlich nur meine Vorlieben wider. Das Mobiliar bestand aus einem großen Doppelbett, einem wuchtigen Kleiderschrank aus hellem Birkenholz, einer Sofaecke und einem Fernseher. Das Farbenspiel zwischen Birke, weiß und Flieder wirkte freundlich, frisch und gemütlich. Beim Anblick des Bettes spürte ich, wie die Anspannung von mir abfiel und die Müdigkeit einsetzte.

Den ersten Schritt hatte ich gemacht. Natürlich war ich aufgeregt auf den morgigen Tag und fragte mich, wie die anderen reagieren würden. Und ein Teil von mir hatte Angst, auf Ablehnung zu stoßen, aber jetzt war es erstmal Zeit zu schlafen.

Allerdings wurden auch hier Erinnerungen wach. Das letzte Mal hatte ich mit Sam in meinem Bett geschlafen, unsere erste gemeinsame Nacht. Danach hatte ich vorgehabt, die White Taker zu verlassen, aus dem Gefühl heraus, André zu betrügen, und der Angst, Sam tiefer in eine Beziehung hineinzuziehen, die ihn gefährden würde. Denn als ich vor ihnen geflohen war, hatten die Dark Taker Rache geschworen und Angriffe auf Sam und meine Freunde verübt. Ich wollte niemanden mehr in Gefahr bringen und untertauchen. Doch bevor ich diesen Plan durchziehen konnte, überstürzten sich die Ereignisse, der große Kampf gegen die Dark Taker stand plötzlich an, und André geriet als Geisel zwischen die Fronten.

Die Nacht mit Sam ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Zum Glück konnte André meine Gedanken nicht lesen. Wäre es umgekehrt, und er würde an eine andere Frau denken, würde ich durchdrehen.

Scham und ein schlechtes Gewissen machten sich breit. Gott, wie würde es morgen früh sein, wenn ich Sam das erste Mal, seit ich ihn nach dem Kampf verlassen hatte, gegenüberstand? Schmetterlinge flatterten in meinem Bauch. Das durften sie nicht! Ich konnte nicht zwei Männer gleichzeitig lieben. Richtig? War es ein Fehler, hierher zu kommen? Aber ich konnte nicht ständig vor meinen Gefühlen und Problemen davonlaufen. Ich musste mich ihnen stellen.

»Die Tür hier führt in unser Badezimmer. Das haben wir ganz für uns allein«, erklärte ich André.

Er nahm die Sporttasche und räumte die Kosmetikartikel ins Bad. Danach zogen wir uns aus, putzten die Zähne und legten uns ins Bett. Zunächst lagen wir beide auf dem Rücken und starrten die Decke an.

»Ich weiß, welches Opfer du bringst, um mit mir hier zu sein. Ich hoffe, du bereust es nicht. Wenn du mich aber verlassen möchtest, kann ich es verstehen.«

Meine Stimmte war ganz leise. André drehte erst seinen Kopf, dann seinen Körper zu mir.

»Ich werde dich nicht verlassen. Es sei denn, du möchtest das. Ich hoffe, wir kämpfen immer gemeinsam, egal, was kommt.«

Ich nickte und küsste ihn mit Tränen in den Augen. Seine starken Arme umfassten meinen Körper. Ich spürte, wie groß sein Verlangen nach mir war, aber in meiner ersten Nacht hier wäre es für mich befremdlich, mit ihm intim zu werden. Ich beendete den Kuss, drehte mich auf die andere Seite und kuschelte meinen Rücken an seinen Bauch. Er verstand und forderte sein Verlangen auch nicht ein. So war mein rücksichtsvoller André.

Er legte seinen linken Arm auf meine Seite, und ich spürte seinen Atem an meinem Hals. Normalerweise würde mich das beim Einschlafen stören, heute brauchte ich allerdings diese Nähe. Sie gab mir Halt und Geborgenheit. Bis auf die eine Nacht mit Sam hatte ich hier immer allein geschlafen und stets die Sehnsucht nach André gespürt. Nun lag er hier. Bei mir.

5

Verwirrt sah ich mich in den leeren, weißen Gängen um, in denen ich mich plötzlich befand. Ich erkannte das Kinderhospiz, aber es wirkte alles so leer und trist. Keine bunten Bilder an den Wänden, nur graue oder weiße Tapeten. Verschwunden waren das Spielzeug, die Bücher und Spieluhren, die den Kindern an jeder Ecke Spielgelegenheiten und Ablenkung boten. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Gelächter zu hören, noch nicht mal das gelegentliche Tuten der Überwachungsmonitore auf den Intensivzimmern. Wie konnte das sein? Was war hier los?

Vorsichtig spähte ich in eines der Zimmer hinein, aber dort stand nur ein leeres Bett. Ich lief nun schneller von einem Raum zum nächsten, doch in jedem erwartete mich nur das kahle und triste Mobiliar. Dann kam mir endlich eine Schwester entgegen. Mit düsterem Blick ging sie wortlos an mir vorbei.

Ich hielt sie am Arm zurück: »Wo sind denn all die Kinder hin?«

»Du kommst zu spät. Sie sind alle gestorben, du hast sie im Stich gelassen.«

Ich schrie, aber aus meinem Mund kam kein Ton – ich konnte mich nicht bewegen.

Während ich emotional noch im ersten Traum verhaftet war, wurde ich schon in die nächste Szene katapultiert.