Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals - Christiane Grünberg - E-Book

Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals E-Book

Christiane Grünberg

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Beschreibung

Wahn und Wirklichkeit ... ... lassen Alexandra verzweifeln. Allein, mit Medikamenten ruhig gestellt und ans Bett gefesselt erwacht sie in einer Klinik. Dort erfährt sie, dass sie angeblich an Traumfantasien leiden soll – hat sie sich die Welt der Soultaker und die Ereignisse der letzten Jahre nur eingebildet? Ihre Gabe ist verschwunden, obwohl sie kurz zuvor ihre Fähigkeiten dank ihres anderen Bewusstseins – des Racheengels – erweitern konnte. Nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Abgeschirmt von der Gesellschaft hat Alexandra keine Möglichkeit herauszufinden, was Wahn und was Wirklichkeit ist. Je länger sie dort verweilt, desto größer werden die Zweifel an der Existenz ihrer Familie und ihrer großen Liebe Sam. Soll sie fliehen? Oder sollte sie vielleicht einfach ihr neues Schicksal akzeptieren? Im finalen Band der Soultaker-Reihe begleitet ihr Alexandra auf ihrer Reise durch tiefe Abgründe – Licht und Schatten – Verzweiflung und Hoffnung!

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Seitenzahl: 566

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Reihenfolge der Soultaker Buchreihe:

Band 1: Soultaker - Die zwei Seiten der Gabe (2021)

Band 2: Soultaker - Die zwei Seiten der Liebe (2021)

Band 3: Soultaker - Die zwei Seiten der Macht (2022)

Band 4: Soultaker - Die zwei Seiten des Schicksals (2023)

© 2023 edition plattiniEin Imprint des Amrun Verlags

Erstausgabe

Lektorat: Andrea Benesch - Lektorat Feder und EselsohrUmschlaggestaltung: Renee Rott

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-519-1Printed in the EU

Besuchen Sie unsere Webseiten:

plattini-verlag.dewww.soultaker.hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/23

Content Notes

In diesem Buch sind potenziell triggernde Themen enthalten. Welche dies genau sind, ist in der ausführlichen Triggerwarnung am Ende des Buches aufgeführt.

Achtung: Diese enthält mögliche Spoiler für den Inhalt des Buches!

Christiane Grünberg

Soultaker

Die zwei Seiten des Schicksals

1. Wahn oder Wirklichkeit

Alexandra

Mühsam kämpfe ich mich durch die dichten Nebelschwaden, die mein Bewusstsein von der Wirklichkeit trennten. Die Welt drehte sich und drehte sich, ohne dass ich auch nur einen klaren Gedanken zu fassen bekam. Ich öffnete die Augen, doch die weißen Wände um mich herum kamen immer näher, als wollten sie mich erdrücken. Das Licht war grell, viel zu grell und der Geruch, der meine Nase kitzelte, kam mir so fremd vor. Eine Mischung aus Pfefferminz und Desinfektionsmittel, dezent und auf eine Weise beruhigend, dass ich wieder in einen tiefen Schlaf glitt. Selbst meine Träume waren vor allem eins: verwirrend. Erinnerungen kamen und gingen, vermischten sich miteinander und hinterließen einen schmerzlichen Nachgeschmack. Warum, wusste ich nicht. Ich wusste noch nicht mal genau, wo ich mich eigentlich befand, nur, dass es nicht zu Hause war. Jegliches Zeitgefühl schien mir abhandengekommen zu sein. Da waren Personen, die mir aber nicht vertraut vorkamen. Dann wieder Stimmen, die ich glaubte zu kennen und doch seltsam fremd erschienen. Sobald sich der Nebel etwas lichtete, stellten sich mir die Nackenhaare auf und mein ganzer Körper verkrampfte sich vor Anspannung. Irgendetwas lief hier vollkommen falsch.

Was war nur passiert? Ich wäre gern in Panik ausgebrochen, mein Geist war allerdings so unbeschreiblich träge und nicht in der Lage, extreme Gefühle zu empfinden. Ich fühlte tief in mich hinein. Suchte nach der starken Kraft meiner Gabe. Ich fand sie nicht. Ich war allein, nein, nicht nur allein, ich war unvollständig.

Nach einer gefühlten Ewigkeit zogen sich die Nebelschwaden endlich zurück. Meine Wahrnehmung wurde klarer, die Welt drehte sich nicht mehr und die kleinen funkelnden Sternchen vor meinen Augen nahmen ab. Dennoch war mein Geist schwerfällig und mein Sichtfeld wie in einem Tunnel verengt, als ob mein Bewusstsein mit starken Medikamenten ruhig gestellt worden war.

Mit offenen Augen starrte ich auf eine weiße Wand. Ich wollte meine Hände bewegen, doch sie waren gefesselt. Ans Bett. Jemand hatte mich fixiert! Panik überrollte mich, erstickte mich fast. Ich musste hier weg!

Ich rüttelte an den Fesseln. Erfolglos. War ja auch nicht anders zu erwarten. Die Rückenlehne des Bettes, in dem ich lag, war etwas angehoben und ich konnte meinen Kopf drehen, um das Zimmer in Augenschein zu nehmen.

Meine Füße zeigten Richtung Tür. Eine weiße, rostfreie Metalltür mit einem Milchglasfenster. Die Wände waren komplett kahl, kein Bild, keine Regale – nichts. Links von mir stand ein kleiner Kunststofftisch mit einem Stuhl. Beide wie aus einem Guss, ohne Schrauben oder Nieten. Prompt bekam ich eine Gänsehaut und mein Magen rumorte in meinem Bauch. Ich setze mich leicht auf, soweit es meine Hände eben zuließen und drehte meinen Kopf nach hinten. In der Ecke befand sich eine Toilette. Aus grauem Metall, wie in einer Gefängniszelle und ohne eine Abtrennung. Hinter mir gab es ein Fenster in der Mauer, dass aber mit Gittern versehen war. Ich sah den blauen Himmel, so friedlich, nur mit ein paar Schäfchenwolken versehen.

Eine Erkenntnis machte sich in mir breit: Ich war eine Gefangene. Doch warum? Träumte ich noch? Etwa wieder von der Anstalt? Mir wurde schlecht. Krampfhaft versuchte ich, die letzten Erinnerungen aus meinem Gedächtnis abzurufen. Allerdings war das schwerer als gedacht. Sie waren verwirrend. Szenen, wie in einem Film spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Ich hatte meine Gabe auf eine Gruppe gewalttätiger Taker losgelassen. Dann konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Wo war Sam, wo waren meine Freunde?

»Hallo?«, rief ich laut und so deutlich wie möglich. Meine Stimme klang jedoch rau und belegt.

Im Raum war es gespenstisch still. Das Einzige, was ich wahrnahm, war wieder der Geruch von Desinfektionsmittel und einem leichten Hauch von Pfefferminze.

»Hört mich jemand?«, rief ich etwas lauter.

Meine Zunge fühlte sich immer noch träge an und meine Kehle schmerzte. Wie gern hätte ich jetzt ein Glas Wasser gehabt!

Endlich hörte ich Geräusche an der Tür und kurze Zeit später wurde sie aufgezogen. Eine Frau in einem weißen Kittel kam herein. Ihr Erscheinungsbild glich dem einer Ärztin, das beruhigte mich ein wenig. Sie war kein Söldner oder so. Immerhin.

»Frau Winter. Mein Name ist Dr. Kastner. Sie sind im Institut für psychische Störungen in Hamburg. Können Sie mich gut verstehen und bitte mal meinem Finger folgen, damit ich prüfen kann, ob Ihr Reaktionsvermögen besser geworden ist?«

Verwirrt blinzelte ich die dunkelhaarige Ärztin mit ihren dunkelblauen Augen an. Sie hatte einen leichten ausländischen Akzent, vielleicht osteuropäischer Herkunft? Ihr Haar war streng nach hinten gebunden. Sie wirkte kühl, aber nicht gänzlich mitleidlos. Nichtsdestotrotz waren es ihre Worte, die mich am meisten irritierten. Warum Frau Winter? So hieß ich schon seit zwei Jahren nicht mehr. Und Institut für psychologische Störungen? Was zum Teufel war hier los?

»Akustisch kann ich Sie gut verstehen. Allerdings weiß ich nicht, was das Ganze hier soll«, sagte ich und hob meine Hand, sodass die Fesseln, die am Bett befestigt waren, ein raschelndes Geräusch von sich gaben.

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Sie hatten einen Nervenzusammenbruch und schlimme Wahnvorstellungen, daher mussten wir zu solchen Maßnahmen greifen. Geht es Ihnen jetzt besser?«

Ich schnaubte. Mir ging es gar nicht gut. Immer noch fühlte sich mein Geist an, wie durch den Schredder gezogen. Mein Bewusstsein war vielleicht klarer geworden, doch meine Wahrnehmung stimmte bei Weitem noch nicht. Mein Sichtfeld wirkte auf eine gewisse Weise unscharf. Manchmal hatte ich den Eindruck, ich würde auf eine Wasseroberfläche tippen. Das Gesicht der Ärztin verlor immer wieder an Schärfe. Das beunruhigte mich. Und ihre Worte ergaben schon mal gar keinen Sinn.

»Meine Wahrnehmung stimmt nicht ganz. Was haben Sie mir gegeben?«, fragte ich fordernd.

»Beruhigungsmittel. Wir werden die Medikamente nach und nach absetzen, wenn wir der Meinung sind, dass Sie nicht länger eine Gefahr für sich und andere darstellen.«

»Ich heiße nicht mehr Winter, sondern Evert«, fiel ich ihr barsch ins Wort.

Die dunklen blauen Augen fixierten mich. Sie wirkten wie ein tiefer unergründlicher Brunnen und standen im starken Kontrast zu der hellen Haut der Frau.

Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mein Bett.

»Frau Winter. Sie haben eine Krankheit, die in Fachkreisen als maladaptives Tagträumen bezeichnet wird. Wachfantasien, laienhaft ausgedrückt. Sie haben sich in den letzten Jahren immer wieder in eine Traumwelt zurückgezogen. Ihr Freund André Kirchner erzählte uns, dass Ihre Tagträume immer stärker wurden und Sie irgendwann Ihren Alltag nicht mehr bewältigen konnten. Sie haben einen kompletten Realitätsverlust erlitten und als er Sie gestern morgen zur Rede stellte, sind Sie mit einem Messer auf ihn losgegangen. Er hat Sie einweisen lassen, weil wir hier im Institut auf solche Fälle, wie den Ihren, spezialisiert sind. Da Sie bei Ihrer Ankunft immer noch äußerst aggressiv waren, haben wir Sie erst mal ruhiggestellt.«

Ich blinzelte. Was war das denn für eine verrückte Geschichte?

»Tut mir leid, ich verstehe nicht ganz, was Sie mir damit sagen wollen. André ist mein Ex-Freund. Wo ist mein Ehemann und wo ist meine Tochter?«

Bilder von Sam und Cara blitzten in meinen Gedanken auf. Meine Familie.

»Hören Sie, ich weiß ja nicht, was hier gerade gespielt wird. Aber Ihre Worte sind vollkommen abstrus.« Mehr brachte ich nicht heraus.

»Ihr Verstand kann die Realität nicht mehr von der Traumwelt unterscheiden. Ihr Freund erzählte uns, dass Sie vor einem Jahr in einer Depression versanken und sich seitdem immer wieder in eine Wachfantasie gestürzt haben. In dieser haben Sie angeblich Superkräfte, eine neue Familie gegründet und die Welt gerettet. Er vermutet, dass Sie in Ihrer Beziehung mit ihm unglücklich waren, sich jedoch nicht im Stande sahen, sich zu trennen. Auch Ihr Studium scheint für Sie eine Sackgasse zu sein. Außerdem gab er uns Hinweise auf ein Trauma in Ihrer Kindheit, dass Sie von Ihren Eltern allein gelassen wurden. Ihre Schwester bestätigte uns die Geschichte. Trennungs- und Verlustängste können sich manchmal in den unterschiedlichsten Formen zeigen. In Ihrem Fall erschuf sich Ihr Verstand ein neue, heile Welt.«

Mit offenem Mund starrte ich sie an. Superkräfte? Heile neue Welt? Als ob. Das traf nicht im Geringsten auf die letzten Jahre zu. Ja, es gab wunderschöne Momente. Die Hochzeit mit Sam, der Zusammenhalt unserer Familie, das Leben auf dem Hof und die Geburt unserer Tochter Cara. All diese Erinnerungen brachten Wärme und Glück in mein Herz. Gleichzeitig gab es auch immer die dunklen Zeiten, der Kampf gegen die Dark Taker, die Gefangennahme in der Anstalt, der Rachefeldzug von Julian gegen mich. Der Verrat meiner eigenen Mutter, die letztendlich von meiner Schwester getötet worden war, die nun selbst ein Taker war. Das alles soll eine Traumwelt gewesen sein? Nur, um mich von der unglücklichen Beziehung mit André zu befreien? Welcher verdrehte Autor hatte sich denn so eine Geschichte ausgedacht? Mein Verstand mit Sicherheit nicht. So kreativ war ich bestimmt nicht.

»Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, ich würde Ihnen das abnehmen, was Sie mir da gerade erzählt haben. Ich weiß sehr wohl, was Realität und was Traumwelt ist. Was zur Hölle machen Sie hier mit mir?«

Die Ärztin seufzte.

»Ich weiß, dass das für Sie schwer zu akzeptieren sein muss. Trotzdem können wir Ihnen helfen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Sie können auch ohne Ihre Fantasien glücklich werden. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie benötigen.«

»Ich möchte einen Anwalt. Meine Schwester«, verlangte ich. Auf dieser Grundlage brauchte ich mit der Ärztin gar nicht weiter zu diskutieren.

»Es tut mir leid, das ist im Moment nicht möglich, Frau Winter. Herr Kirchner und Ihre Schwester haben der Behandlung hier zugestimmt. Sie wurden zwangseingewiesen und entmündigt.«

Langsam atmete ich ganz tief ein und wieder aus. Wut übermannte mich. Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig. Und wenn ich die Fesseln bedachte, dann war ich auch irgendwie eins. Gleichzeitig ermahnte ich mich, besonnen zu reagieren. Würde ich der Frau an die Gurgel gehen, würde man mich wieder mit starken Drogen vollpumpen. Also musste ich auf meine Erfahrungen der letzten Jahre als Gefangene zurückgreifen. Ich war immerhin so etwas, wie eine Profi-Geisel. Und bislang hatte es sich immer bewährt, sich erst einmal vermeintlich gefügig auf das Spiel der Feinde einzulassen und Informationen zu sammeln.

»Ich möchte mit André oder meiner Schwester sprechen.«

»Das kann ich gut nachvollziehen. Ein Besuch wird jedoch frühestens in zwei Tagen möglich sein. Zunächst sollen sich die Patienten an die neue Umgebung gewöhnen. Wenn Sie kooperieren, werden wir Ihnen das Besuchsrecht einräumen.«

Meine Eingeweide brodelten vor Zorn. Am liebsten hätte ich meine Gabe auf die Frau losgelassen. Gleichzeitig war ich stark verunsichert. Wo war mein inneres Biest geblieben? Warum zerrte mein Racheengel nicht an seinen Fesseln? War sie durch die Drogen blockiert worden? Ich spürte nichts. Und das machte mir Angst. Ich fühlte mich hilfloser als jemals zuvor.

»Und jetzt?«

»Sie haben morgen früh Ihre erste Sitzung und dann sehen wir weiter. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie keinen der Pfleger angreifen, kann ich Ihre Hände losbinden. Sie dürfen sich im Zimmer frei bewegen.«

»Und was soll ich die ganze Zeit hier machen? Gehört Langeweile zur Therapie?«

Meine Stimme klang schnippisch. Wobei die Ärztin die Mundwinkel leicht nach oben verzog.

»Keine Angst. Sie bekommen eine Auswahl an Mandalas mit Wachsmalstiften und Sudoku Hefte, sowie etwas zu trinken. Wenn Sie duschen möchten, geht das nur im Waschraum. Das ist erst Morgen erlaubt, nach Ihrer Sitzung.«

Schließlich nickte ich – pseudo ergeben – und die Ärztin, wenn sie denn wirklich eine war, stand auf und machte sich an meiner Fixierung zu schaffen. Erleichtert atmete ich auf, als sich die Verschlüsse öffneten und meine Hände freigaben. Ich massierte mir abwechselnd die Handgelenke und nickte dankend.

»Dann bis morgen«, verabschiedete sich die Ärztin und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Die Tür fiel ins Schloss und wurde verriegelt. Dann war es still und ich war mit all meinen Fragen und Ängsten allein.

Gleichzeitig überkam mich auch das Bedürfnis, in hysterisches Gelächter auszubrechen – was mit Sicherheit dazu führen würde, wie eine komplette Irre zu wirken. Aber mal ehrlich: Ich war eine Gefangene. Mal wieder. Und dazu in einer höchst grotesken Situation, in der man mir weismachen wollte, die Soultaker gäbe es nicht. Gleichermaßen schockiert und genervt schüttelte ich den Kopf und verfluchte das Schicksal.

Oder war es diesmal meine eigene Schuld, dass ich hier gelandet war? Angestrengt versuchte ich mir die letzten Stunden ins Gedächtnis zu rufen, allerdings fiel es mir schwer, eine geordnete Abfolge der Geschehnisse hinzubekommen. Ich wurde das Gefühl nicht los, einen Fehler gemacht zu haben. Nur welchen? Seufzend setzte ich mich auf das sterile Bett. Ich musste die Wirkung der Medikamente irgendwie mildern. Es lag eine Menge Arbeit vor mir.

2. Alexandra

Den restlichen Tag und die Nacht verbrachte ich durchgehend damit, mir über meine Situation Gedanken zu machen. Am meisten ängstigte mich die Abwesenheit meiner Gabe. Immer wieder schlich sich für einen kurzen Moment die Frage ein, ob die Ärztin nicht vielleicht sogar recht hatte? Selbstzweifel, Melancholie, Angst. Alles wechselte sich ab. Dabei hatte ich in den letzten Jahren besonders im Hinblick auf meine Unsicherheit so viel Stärke dazugewonnen, sollte sie zusammen mit meinen Fähigkeiten verschwunden sein? Hatte ich mir vielleicht wirklich eine Wunschwelt erschaffen? Nein, so ein Schwachsinn! Das konnte nicht sein. Sam und meine Tochter waren weder eine Fantasie noch eine Idee eines potenziell verwirrten Geistes. Ich hatte so viele Erinnerungen an die Zeit als Soultaker, wer könnte sich eine so komplexe zweite Realität ausdenken und sich darin verlieren? Oder war wirklich alles nur eine Illusion gewesen? Nein! Hör auf, diesen Schwachsinn zu glauben!, schimpfte ich mit mir selbst. Dennoch, es war schwer, nicht zu zweifeln.

Mehrmals hatte ich versucht, aus dem Fenster zu schauen, doch bis auf den oberen Schlitz von circa zehn Zentimetern war das gesamte Glas mit einer milchigen Folie beklebt. Licht kam durch und ich konnte im oberen Teil einen Ausschnitt des Himmels erkennen. Sprach das jetzt für die eine oder die andere Möglichkeit? Wenigstens schon mal Tageslicht – ein Privileg, wenn ich an die Gefangenschaft in der Anstalt dachte, wo wir in einem Bunker unter der Erde untergebracht worden waren. Auch kam hier niemand herein und drohte mir oder missbrauchte meine Kräfte. Noch nicht. Wer weiß, ob das nicht irgendwann noch käme. Irgendeinen Grund musste es ja dafür geben, mich gefangen zu halten. Und bisher war es immer um meine Fähigkeiten gegangen.

Die Pfleger waren zwar wachsam und vorsichtig, aber menschlich. Es schien keine direkte Gefahr von ihnen auszugehen. Ganz anders als in der Vergangenheit. Das irritierte mich.

Ich erhielt die versprochenen Malutensilien und Bücher, darüber hinaus eine Trinkflasche. Gegen Abend durfte ich mir die Zähne putzen und mich notdürftig Waschen. Die Schale mit Wasser und die Kosmetikartikel wurden jedoch sofort wieder mitgenommen, nachdem ich fertig war. Der Gang auf die Toilette war extrem befremdlich, ich besaß hier absolut keine Privatsphäre. Das erinnerte mich wieder stark an die Anstalt. Gott, wie ich diese Psychospielchen hasste!

Wenn ich herausbekam, wer für das alles hier verantwortlich war, konnten die sich auf etwas gefasst machen!

Gleichzeitig schlich sich ein verzweifelter Gedanke in meinen Kopf: Was, wenn ich wirklich selbst meinen Zustand verursacht hatte? Wachfantasien. Ich musste zwangsläufig an den Film »A beautiful Mind« mit Russel Crowe denken. Seine schizophrenen Gedanken wirkten für ihn absolut echt und real. Was, wenn es mir genauso erging?

So ein Quatsch! Man versuchte eindeutig, mich einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Warum auch immer. Ich würde den Grund schon noch erfahren. Ich ließ mich weder von irgendwelchen Ärzten noch von deren Medikamenten unterkriegen. Das hatten schon ganz andere versucht!

In der Nacht träumte ich von Sam und Cara. Meine kleine süße Tochter, die vor achtzehn Monaten auf die Welt gekommen war. Mit rotblonden Haaren und strahlend blauen Augen – das Ebenbild ihres Vaters. Nach einer Blitz-Geburt mit nur drei Stunden Wehen, legte Tanja sie mir in die Arme. Meine ganze Welt stand plötzlich auf dem Kopf. Vergessen waren die Schmerzen der Geburt, ein enormes Glücksgefühl übermannte mich und eine Liebe, die ich nie für möglich gehalten hatte. Meine Welt drehte sich nur noch um dieses kleine wunderhübsche Wesen.

Die Wochen danach waren zwar anstrengend und ungewohnt gewesen, allerdings waren wir nicht allein. Meine Schwester, meine Freunde auf dem Hof, es war immer jemand da, der uns unterstützte. Der Schlafmangel war zwar heftig, zum Glück gab es allerdings immer jemanden, der bereit war, Cara für eine Weile zu hüten, damit wir wenigstens ein bisschen Schlaf nachholen konnten. Trotzdem ähnelten Sam und ich in der ersten Zeit eher Zombies als Menschen.

Außerdem gab es noch weitere frischgebackene Eltern. Drei Monate zuvor hatten André und Tanja den kleinen Gabriel bekommen und ein paar Monate später folgten Theo und Ella. Die Zwillinge waren ein kleines Wunder für sich, denn Leonie und Jan hatten es nicht leicht gehabt, bei dem Versuch schwanger zu werden. Leonie konnte wegen einer hormonellen Dysfunktion nicht auf natürlichem Wege ein Kind bekommen. Doch die moderne Medizin machte es letztlich möglich und das sogar in doppelter Ausführung. Ich konnte mich noch gut an den Gesichtsausdruck von Jan erinnern, als Tanja die erste Ultraschalluntersuchung durchführte und man zwei Fruchtblasen sah, statt einer. Er musste sich erst mal setzen. Aber nachdem die Jungs ein paar Drinks in ihn hineingeschüttet hatten, ging es wieder und er freute sich voller stolz auf seine Zwillinge. Ich schmunzelte bei den Erinnerungen. Gleichzeitig spürte ich in meinem Herzen einen Stich. War das alles wirklich passiert? Oder war ich einfach nur verrückt?

Am nächsten Morgen wachte ich ziemlich gerädert auf und war ehrlich gesagt zutiefst enttäuscht, dass ich mich immer noch in diesem Gefängnis aus Weiß befand. Selbst meine Klamotten bestanden aus einem perlmuttweißen, langärmeligen Shirt und einer gleichfarbigen Baumwollhose. Es tat einem schon fast in den Augen weh. Weiß war noch nie meine Lieblingsfarbe gewesen, es erinnerte mich zu stark an Krankenhäuser und sterile Umgebungen, aber anderthalb Tage in diesem Raum und schon lernte ich, sie inbrünstig zu hassen.

Nach dem Frühstück kam dann endlich der angekündigte Psychologe zu mir ins Zimmer. Ein kleiner rundlicher Mann setzte sich auf den Kunststoffstuhl an meinem Tisch, während ich auf dem Bett saß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

Sofort verglich ich ihn, nicht optisch, sondern eher sein Auftreten, und das, was er mich fühlen ließ, mit Dr. Seyfahrt.

Die Haut in seinem Gesicht war leicht gerötet, als ob er einen längeren Fußmarsch hinter sich gebracht hätte. Das musste ich mir merken, vielleicht war die Information wichtig.

Kleine graue Augen lugten hinter einer eckigen Lesebrille hervor. Er trug einen weißen Kittel über einer grauen Anzugshose. Das Grau stach besonders hervor, weil es die einzige andere Farbe in dieser weißen Umgebung war.

Unglaublich, wie sich meine Seele über ein langweiliges Grau freuen konnte.

»Frau Winter, schön, dass es Ihnen besser geht, oder zumindest gut genug, dass wir reden können.«

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf, um meine Fassungslosigkeit zu demonstrieren, gleichwohl ich mir jeglichen Kommentar verkniff. Allerdings fiel mir die Anwesenheit eines Pflegers auf, der sich neben der offenen Tür positioniert hatte.

Als der Arzt meinen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Reine Vorsichtsmaßnahme. Damit Sie mich nicht angreifen.«

Meine Antwort bestand aus einem leisen Schnauben. Früher hätte mein Racheengel nur müde darüber gelacht, denn ich konnte über einige Entfernung hinweg anderen Menschen in Sekundenschnelle die Energie entziehen. Ich hätte sogar anhand der Auren allein erkennen können, ob der Wächter oder der Arzt vielleicht Soultaker waren oder Verstärker, was erklären würde, warum meine Kräfte blockiert waren. Jedenfalls war das vor meiner Gefangennahme so gewesen. Nun fühlte ich nichts in mir. Nur eine beklemmende Leere in meinem Kopf. Ob die Medikamente meine Kräfte unterdrückten? Wäre möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich.

Unbehaglich rutschte ich auf meinem Bett hin und her.

»Ich bin Dr. Germond und betreue Sie während Ihres Aufenthaltes hier. Frau Dr. Kastner hatte Ihnen bereits ein paar Einzelheiten erläutert. Haben Sie, bevor wir anfangen, noch Fragen?«

Eine ganze Menge, dachte ich. Trotzdem durfte ich nur mit äußerster Vorsicht antworten. Wenn ich mal meine bisherigen Erfahrungen mit Psychologen Revue passieren ließ, dann wusste ich auch, wie schnell einem hier das Wort im Mund verdreht werden konnte.

»Kennen Sie einen Dr. Seyfahrt?«, fragte ich ihn nach meinem Psychologen vom Verfassungsschutz. Er sollte damals nach einem Zwischenfall bei meiner Arbeit in der Taskforce des Verfassungsschutzes meine Arbeitstauglichkeit prüfen. Er war der einzige Psychologe, den ich kannte, der seinem Berufsstand wirklich alle Ehre gemacht hatte und dem ich ein objektives und nüchternes Urteil zutraute. Seit wenigen Wochen war er sogar unser Hauspsychiater geworden und besuchte uns wöchentlich. Einige unserer Leute hatten durch die ganzen Erlebnisse der letzten Jahre viel aufzuarbeiten. All die Kämpfe, die Verluste, der Stress und das ein oder andere Trauma. Sagen wir mal so, langweilig würde es Dr. Seyfahrt so schnell bestimmt nicht werden.

»Das ist der Arzt aus Ihrer Wahnvorstellung«, erwiderte mein Gegenüber.

Verdammt. Was wussten Sie denn noch alles aus meiner Vergangenheit? Definitiv zu viel, das stand schon jetzt fest.

»Ihr Freund hat mir alles über Ihre Wahnfantasien berichtet und auch erzählt, dass dieser Dr. Seyfahrt Sie angeblich therapiert. Damit haben Sie Ihrem Partner weismachen wollen, dass alles okay mit Ihnen sei. Doch es gab nie einen Dr. Seyfahrt im Ärzteregister von Hamburg.«

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Unterhaltung würde noch schwieriger werden als angenommen. Ich musste die gesamten letzten Jahre als Fantasie abtun, um hier als gesund eingestuft zu werden. Ich musste alles verleugnen, was ich erlebt, ja sogar geliebt hatte. Eine andere Wahl blieb mir nicht. Das würde echt schwer werden. Verdammt, warum immer ich?

»Ist gut. Dann brauche ich darüber ja nichts mehr erzählen, wenn Sie schon so detailliert Bescheid wissen«, entgegnete ich säuerlich. Es fiel mir schwer, die Fassung zu bewahren. Alles in mir sehnte sich nach einem gepflegten Wutanfall.

»Im Gegenteil, Ihre Sichtweise hilft uns, Ihre Bedürfnisse herauszufinden. Anschließend werden wir einen Weg finden, Ihnen Möglichkeiten aufzeigen, um in Ihren Alltag zurückzukehren.«

Hartnäckig. Oder es war eine Falle und jemand versuchte, über mich an die White Taker oder gar den ganzen Verfassungsschutz heranzukommen? Wollten sie mir Informationen entlocken? Gott, das musste es sein! Diese Erkenntnis ließ mich eine Gänsehaut bekommen. In diesem Fall würde ich wahrscheinlich nie freigelassen werden; oder vielleicht sogar getötet, sobald sie die Informationen bekommen hatten, hinter denen sie her waren? Verdammter Mist!

Auch Herr Germond hatte einen ausländischen Akzent. Vielleicht war ich gar nicht mehr in Deutschland? Bei meinem letzten Einsatz hatten wir uns an der Grenze befunden, vielleicht hatte ich sie übertreten oder war verschleppt worden und befand mich nun in Tschechien? In diesem Fall musste ich einfach nur warten, bis mich der Verfassungsschutz raushandeln würde. Oder?

Die White Taker, meine Familie, würden alle Hebel in Bewegung setzen, um mich zu befreien. Wenn es sie gab ... so ein Quatsch – natürlich gab es sie! Ich hasste es, wie ich mich immer wieder verunsichern ließ.

»Wenn Sie sagen, dass die letzten Jahre nur eine Art Wunschfantasie waren, dann kann ich ja wohl mit André sprechen und mich bei ihm für den Angriff entschuldigen«, sagte ich nüchtern.

Der Doktor grinste nur.

»Ich weiß, was Sie versuchen. Sie denken, wenn Sie uns nach dem Mund reden, kommen Sie hier schnell wieder raus. So funktioniert das jedoch nicht. Wollen Sie sich bei Ihrem Freund vergewissern, ob wir die Wahrheit sagen?« Seine grauen Augen taxierten mich.

Was sollte ich darauf antworten?

»Ehrlich gesagt: ja. Ich versuche meine Erinnerungen, Gedanken und Gefühle zu ordnen und André könnte mir dabei helfen. Schließlich ist er mein Vertrauter. Wieso sollte ich mich wildfremden Menschen öffnen, ohne zu wissen, wie ich hier überhaupt hergekommen bin? Immerhin bin ich in einem Gefängnis aufgewacht, mit gefesselten Händen.«

Ehrlichkeit hatte noch nie geschadet. Hauptsache, ich kam schnellstens an André heran.

»Da ist was dran. Und zeigt, dass Sie gerade in der Lage sind, klare Gedanken zu fassen. Das ist schon mal etwas, wo wir ansetzen können.«

Eine kurze Pause entstand. Erwartungsvoll sah ich ihn an, während er sich Notizen auf dem Block machte. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie die Wache sich am Kopf kratzte und gelangweilt mit den Fingernägeln spielte.

Gott, warum landete ausgerechnet ich immer wieder in solchen Situationen? Ich zog Schwierigkeiten magisch an, wie das Licht die Motten.

»Wenn Sie sich ruhig verhalten, dürfen Sie Ihren Freund morgen empfangen. Aber nur für eine halbe Stunde. Vorausgesetzt Sie bleiben bei dem Gespräch in einer stabilen Verfassung. Oft erleiden Patienten bei Besuchen einen weiteren Nervenzusammenbruch.«

Mit Sicherheit nicht, sagte ich mir, unterdrückte jedoch den Impuls, das laut auszusprechen.

»Wie sieht denn meine Therapie aus?«, wollte ich nun wissen und schaffte es, das Wort ganz wertneutral auszusprechen. Es war wichtig, abzuschätzen, was die nächsten Tage auf mich zukam.

»Für Sie wurde eine Einzeltherapie angesetzt, jeden Tag zweistündige Sitzungen mit mir. Je nachdem, wie die verläuft, werden wir in vier Wochen hoffentlich schon Fortschritte erzielen und ein Konzept erarbeiten, wie sie sich in der richtigen Welt ein neues Leben aufbauen können. Dann ist auch eine Verlegung in eine offene Wohnsiedlung denkbar.«

Vier Wochen? Wohnsiedlung? Neues Leben? Mir wurde schwindelig. Immer noch wehrte ich mich gegen die Vorstellung, wirklich einer psychischen Krankheit erlegen zu sein. Selbst wenn es so war, warum dann ein neues Leben, warum nicht mein altes Leben? Irgendetwas war hier faul.

»Wollen Sie mich den Rest des Tages in das kleine Zimmer sperren? Meinen Sie, das würde gegen das Abtauchen in eine Wunschwelt helfen?«

Mein Ton war immer noch angriffslustig. Er grinste.

»Sicher nicht. Daher bekommen Sie die Möglichkeit, im Gruppenraum an Angeboten teilzunehmen. Malen, Töpfern, Stricken. Was auch immer Ihnen hilft, eine sinnvolle Beschäftigung zu finden, die verhindert, dass Sie abdriften.«

Stricken und Malen? Ich beherrschte weder das eine noch das andere. Ich verspürte außerdem wenig Lust dazu. Aber es war besser, als hier die weißen Wände anzustarren.

»In Ordnung.«

Dr. Germond musterte mich, schließlich schlug er die Beine übereinander und räusperte sich.

»Nun gut, dann fangen wir zunächst mal an, Ihre Traumwelt näher zu beleuchten. Erzählen Sie mir von Ihrer Gabe«, forderte er mich auf.

Mein Herz klopfte vor Aufregung, ich befand mich in einer Zwickmühle. Wenn ich nicht kooperierte, würden sie mich André nicht sehen lassen. Wenn ich es aber tat, war das Risiko groß, etwas auszuplaudern, was andere möglicherweise in Gefahr bringen könnte. Wie weit würde die Befragung gehen? Würden sie mir vielleicht sogar weitere Medikamente verabreichen? Vielleicht hatten sie mich ja schon mal befragt und ich war zu stark unter Drogen gesetzt worden, um mich daran zu erinnern? Doch warum? Warum ich? Es gab so viele andere bekannte und starke Soultaker.

»Ich kann anderen Menschen die Energie entziehen. Und ich kann sie heilen.« Das war kein Geheimnis, dazu war ich zu oft schon mit meinen Kräften im Fernsehen gewesen.

»Was glauben Sie, warum Sie das können?«

»Vererbt. Meine Eltern konnten das ebenfalls. Und falls Sie nicht gerade die letzten Jahre fernab der Gesellschaft gelebt haben, wissen Sie auch, dass es die Soultaker wirklich gibt.«

»Dem muss ich widersprechen. Aber es ist okay. Erzählen Sie mir, wie Sie Ihre Gabe auslösen und was sie alles damit machen können.«

Sicher, murmelte ich tief in mich hinein. Mein Racheengel hätte bestimmt schon längst die Geduld mit ihm verloren, ich hatte allerdings keinen Zugang zu ihr. Ein Teil von mir fühlte sich immer noch wie in Watte gepackt. Ein dicker, dichter Nebel in meinem Geist, der mich fest im Griff hielt. Vielleicht war es dieser Nebel, der mich von meinem anderen Ich trennte?

»Alles bleibt vertraulich zwischen Ihnen und mir. Ihr Freund wird nichts erfahren. Je detaillierter Sie mir von Ihren Fantasien berichten, desto eher bin ich in der Lage, Ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse herauszufiltern. Dann können wir Sie wieder in die reale Welt eingliedern.«

In die reale Welt. In meinem Bauch baute sich ein enormer Widerwillen auf. Eine Wut, die auf einen einzigen Wunsch abzielte, das Verlangen einfach nur zu fliehen.

Der Doktor bemerkte mein Zögern.

»Hören Sie, an Ihrer Stelle würde ich einfach mitmachen, Sie möchten sicherlich schnell wieder hier raus.«

»Wollen Sie mir drohen?«, fragte ich frei heraus und ein Zucken ging durch das Gesicht von Dr. Germond. Auch der Pfleger spannte sich an. Keine Frage, sie hatten Angst vor mir.

»Dann benutzen Sie doch mal Ihre Gabe«, konterte der Doktor. Arschloch.

»Ich ... ich kann nicht. Die Medikamente unterdrücken sie irgendwie«, murmelte ich nun etwas kleinlauter. Ein Zucken im Mundwinkel des Doktors und ein triumphierendes Funkeln war in seinen Augen abzulesen. Dafür hätte ich ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

»Wenn Sie solch starke Kräfte hätten, wie sollten diese dann unterdrückt werden, ohne dabei ihren Verstand zu behindern?«

»Wer sagt, dass sie das nicht tun? Immerhin fühle ich mich vollkommen fremd in meinem Körper.«

»Vielleicht, weil sie seit Monaten das erste Mal wieder in die Realität eingetaucht sind?«

Mir reichte es. Der Zweifel nagte an mir und machte mich ganz verrückt. Ich wollte das nicht. Ich wollte hier raus.

»Ohne dass ich mit meinem Freund geredet habe, sage ich hier gar nichts mehr«, konterte ich selbstbewusst. In Wahrheit versuchte ich meine Angst und meine Unsicherheit zu verbergen, so wie ich es mir in den letzten Jahren antrainiert hatte.

Dr. Germonds Blick wirkte unergründlich und er sah mich nachdenklich an. Ob er überlegte, einen anderen Weg als Reden einzuschlagen?

Als ich schon befürchtete, er würde nun die Spritze rausholen, zuckte er nur mit den Schultern und stand auf.

»Sie haben vorläufig die Erlaubnis, den Waschraum zu nutzen. Denken Sie daran, dass sich immer ein Pfleger in Ihrer Nähe aufhalten wird.«

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Die Dusche würde ich dankend annehmen, doch mit einem Voyeur an meiner Seite? Mein Blick blieb an meiner männlichen Wache hängen.

»Keine Sorge, wir haben auch weibliche Pflegerinnen. Unser Mitarbeiter sind alle bestens ausgebildet und zertifiziert. Ihnen droht hier keine Gefahr«, fügte er noch hinzu. Ha! Als ob!

Ich nickte brav. Daraufhin verließen der Doktor und der Pfleger das Zimmer und ließen mich allein. Ohne zu wissen, ob ich nun André sehen könnte oder nicht.

Einsamkeit und Heimweh übermannten mich. Ich wollte Sam und meine Tochter in meine Arme schließen. Wollte sie fühlen, ihre Nähe spüren und wissen, dass es ihnen gut ging. Mir fehlte einfach alles an ihnen. Ihr Duft, Sams Zärtlichkeiten, Caras Babygebrabbel … Mein armer Sam. Er war bestimmt schon längst am Durchdrehen wegen meines Verschwindens. Wusste er, was mit mir passiert war?

Und dann immer wieder diese nervigen Schwindelattacken. Mein Körper kämpfte noch mit den Medikamenten. Der einzige positive Nebeneffekt war, dass ich keinerlei Schmerzen hatte. Keine Kopfschmerzen oder Verspannungen. Was auch immer sie mir gaben, es musste hoch dosiert sein.

Nach dem Mittagsessen durfte ich endlich duschen gehen und wie versprochen begleitete mich eine weibliche Pflegerin. Sie war wortkarg, dennoch hatte ich das Gefühl, dass jeder in meiner Gegenwart sehr angespannt war und sekündlich auf einen Angriff wartete. Verwunderlich war außerdem, dass ich sonst noch keinem anderen Patienten begegnet war. Das änderte sich aber, als ich nach dem Duschen in den Aufenthaltsraum geführt wurde.

Dieser war, wie nicht anders zu erwarten, weiß, steril und kahl. Der Raum hatte ungefähr die Größe unseres Lofts auf dem Hof. Überall waren Tische und Sitzgelegenheiten. An den Wänden standen Pfleger und eine Glasfront separierte diesen Raum vom Mitarbeiterzimmer. Die Fenster an der Wand zu meiner Rechten besaßen keine Milchglasfolie und erlaubten einen Blick nach draußen. Direkt auf einen großen Wald. Mehr gab es nicht zu sehen, das war allerdings schon mal ein Anblick, der mich insgeheim beruhigte. Endlich mal wieder ein wenig Farbe und eine natürliche Umgebung. Ein Teil von mir überlegte sofort, ob es einen Wald wie diesen in der Umgebung von Hamburg gab. Welche Hinweise lieferte mir die Aussicht?

Es gab hier nur zwei weitere Patienten, die sich jedoch kaum bewegten. Der eine saß auf einer Sofaecke und starrte in ein Bilderbuch, die andere Frau am Fenster und sah nach draußen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Nach so einer Gesellschaft hatte ich mich alles andere als gesehnt. Vermutlich würde mir der Aufenthalt hier noch nicht mal eine Unterhaltung oder weitere Informationen einbringen.

»Drüben im Regal sind Farben, Strickutensilien und weiteres Bastelmaterial. Töpfern bieten wir nur ein Mal in der Woche an. Da das letzte Mal gestern war, müssen Sie darauf noch eine Woche warten.«

»Wie sieht es mit Fernsehen aus?«, fragte ich gelangweilt.

»Kein Zugang. Nicht förderlich«, meinte die Schwester nur knapp und gesellte sich zu einem anderen Pfleger an der Wand. Sie nickten sich zu, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

Nicht förderlich. Ja, klar. Wäre ja auch schön blöd, wenn da zufällig eine Nachrichtensendung liefe oder sogar eine Sondersendung zu meinem Verschwinden.

Gruselig, einfach nur gruselig dieser Laden. Dieser Ort, diese Situation. Ich schüttelte das beklemmende Gefühl ab und schlenderte zu der Kommode mit den Malutensilien. Ich fand einen Mandalablock und Wachsmalstifte. Anscheinend hielten sie Buntstifte und Filzstifte für zu gefährlich. Meine Errungenschaften breitete ich auf einem Tisch, nahe des Fensters, aus und begann die Bilder auszumalen. Nebenbei beobachtete ich das Geschehen um mich herum. Es passierte nichts. Der Raum war gespenstisch still. Nach einer Stunde malen, suchte ich mir ein paar Bücher aus dem Regal und begann einen Groschenroman zu lesen. Gegen Abend brachte man mich zurück und ich bekam das Abendessen. Für einen Moment überlegte ich, es zu verweigern. Vielleicht hatten sie da ja die Medikamente reingemischt, die mir so zusetzten? Aber andererseits, verhungern wollte ich auch nicht und brave Gefangene – pardon, Patienten – aßen, was man ihnen vorsetzte.

Dann war da wieder diese Stille. Das Sonnenlicht wurde immer weniger. Wenigstens konnte ich allein den Lichtschalter betätigen und bestimmen, wann ich schlafen wollte. Was für ein tolles Grundrecht. Keinerlei Privatsphäre, jede Menge Drogen, Psychogewäsch und eine erneute Gefangenschaft. Ich lag im Bett und starrte die Decke an. Plötzlich war da wieder ein leichter Geruch nach Pfefferminze. Was war das? Kurze Zeit später fielen mir bereits die Augen zu, ohne dass ich noch groß über meine missliche Lage oder die Herkunft des Geruchs hätte nachdenken können.

3. Alexandra

Nervös zupfte ich an meinem Shirt herum. Das Frühstück war schon lange beendet und ich wartete jetzt auf den Besuch von André. Würde er wirklich kommen? Oder würde dieser Dr.-keine-Ahnung-mehr-wie-der-hieß auftauchen und mir wieder erzählen, dass ich mir alles nur einbildete? Mein Kopf fühlte sich immer noch wie in Watte gepackt an. Ich musste bereits einige Tabletten nehmen, angeblich, um meinen Verstand zu stärken, allerdings bewirkten sie eher das Gegenteil.

Wie lange musste ich wohl diesen Zustand hier noch ertragen? Die Aufregung ließ mich auf und abgehen, in meinem kleinen weißen Käfig. Schnell verdrängte ich wieder den Gedanken an meine Gefangenschaft. Ich durfte nicht durchdrehen. Außerdem würde das meine depressive Stimmung nur noch weiter verstärken. Wo war meine innere Stärke hin? War sie verbunden mit meiner Gabe, mit meinem Racheengel? War ich nur durch sie so stark?

Endlich ging die Tür auf und ein Pfleger kam herein.

»Ihr Freund erwartet Sie im Besucherraum. Bitte beachten Sie, dass dort hohe Sicherheitsvorkehrungen gelten. Zwischen Ihnen befindet sich eine Plexiglasscheibe, die Sie nicht berühren dürfen.«

Ich nickte und folgte meiner Eskorte die Gänge entlang. Dass alles weiß gestrichen war, ging mir langsam so richtig auf die Nerven. Am liebsten hätte ich einfach mal einen Farbtopf genommen und ihn an die Wand geworfen. Wenn man an einer psychischen Krankheit litt, brauchte man Freude und Farbe in der Umgebung und nicht diese Tristesse. Wer trug wohl die Verantwortung für dieses Institut hier? Der sollte sich mal Gedanken über ein neues Konzept machen. Oder eine Umschulung.

Wir passierten einige kahle Flure und Flügeltüren, ohne dass uns jemand begegnete. Vor einer geschlossenen Glastür blieb der Pfleger schließlich stehen. Er schaute in die Kamera, die oben an der Leiste befestigt war und wartete ab, bis sich die Tür automatisch öffnete.

Dann ein Mal nach rechts abgebogen und schon betraten wir einen Raum, der mich an ein Besuchszimmer in Gefängnisfilmen erinnerte. Ich sah vier Kammern mit jeweils einem Stuhl vor einer großen Scheibe. Ein bisschen erinnerte mich das Konzept an Wahlkammern.

Bis jetzt waren alle leer. Mir wurde mit einer Handbewegung die hinterste Kammer zugewiesen und ich leistete der Anordnung folge.

Mein Magen spielte verrückt, was würde mich wohl gleich erwarten?

Hinter mir wurde die Tür erneut geöffnet und eine weitere Patientin, die ich noch nicht gesehen hatte, wurde in den Raum geführt. Ihre blassgrünen Augen wirkten klar und sie warf mir einen neugierigen, wenn auch irgendwie vorsichtigen Blick zu. Sie versteckte sich eindeutig hinter ihren langen blonden Haaren, die ihr zum Teil ins Gesicht hingen. Dann setzte sie sich in die erste Nische, nahe der Tür.

Nun nahm ich eine Bewegung vor mir wahr und mein Herz machte einen Sprung, als André auf der gegenüberliegenden Seite Platz nahm. Ich verteufelte die Medikamente, denn mein Sichtfeld war immer noch eingeschränkt. Es wirkte, als ob sich André auf einer Wasseroberfläche befände.

Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Ernst.

»André«, keuchte ich.

Seine Antwort bestand nur aus einem Nicken.

»Ich … also, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

Und das entsprach absolut der Wahrheit. Sollte ich ihn anflehen, mich hier rauszuholen? Würden mich dann die Pfleger wieder ins Zimmer bringen?

Musste André eine Rolle spielen, weil der Verfassungsschutz vielleicht noch darüber verhandelte, mich freizubekommen? Wenn ja, wie sollte ich mich dann verhalten? Brav die verwirrte Patientin spielen oder ihn direkt auf die ganze Situation ansprechen?

»Was hat das alles hier zu bedeuten?«, versuchte ich nun so ruhig wie möglich zu fragen.

Dunkelblaue Augen sahen mich an. Doch auch irgendwie nicht. Lag es an den Medikamenten? Er schien durch mich hindurchzusehen. Mein Sichtfeld flackerte. Ich war vollkommen durcheinander.

»Du hast mich angegriffen. Mit einem Messer. Ich musste dich hier her bringen«, sagte er auf einmal ganz ruhig mit seltsam monotoner Stimme. Sie kam mir ebenfalls irgendwie fremd vor.

»Ich also, das tut mir leid.«

Wie automatisiert kamen die Worte über meine Lippen, dabei konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass ich ihn verletzt haben könnte. Und wenn ich das getan hatte, wo waren dann seine Wunden? Ich hatte keinerlei Erinnerungen daran. Mein Verstand raste, was sollte ich tun?

»Wenn du wieder in dein normales Leben zurück möchtest, musst du den Soultakern den Rücken kehren.«

»Bist du auch der Meinung, dass alles nur Fantasie war?«, sprudelte es plötzlich aus mir heraus und gleichzeitig warf ich einen Blick zu dem Pfleger. Der stand jedoch unbeirrt an der Wand und blickte stur nach vorne.

»Du bist krank.« Monoton, leer, unwirklich.

Wurde er vielleicht erpresst? Ich konnte mir aus Andrés Verhalten absolut keinen Reim machen. Ich war noch verunsicherter als zuvor.

»Sie werden dir helfen. Ich denke, wir sollten uns trennen. Die Beziehung ist nicht gut für dich. Ich gebe dich frei. Trotzdem werde ich dir helfen, damit du nach der Therapie ein neues zu Hause findest.«

Er erhob sich und machte Anstalten zu gehen. Ich stand so schnell auf, dass mein Stuhl nach hinten rutschte und gegen die Wand knallte.

»André, du kannst mich nicht einfach so allein lassen«, sagte ich mit zitternder Stimme. Der Pfleger wirkte alarmiert und baute sich neben mir auf. Eine Hand griff nach meinem Arm. André warf mir einen traurigen Blick zu. Für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, als würde sein Bild vor mir flimmern. Diese verdammten Drogen. Meine Augen brannten vor Wut und Traurigkeit.

Der Griff an meinem Arm wurde stärker und zog mich Richtung Tür. Die andere Patientin stand ebenfalls gerade auf. Während man mich aus dem Raum zerrte, schaute ich in die andere Nische und stemmte mich auf einmal mit voller Kraft gegen den Pfleger. Auf der anderen Seite stand ein rothaariger Mann. Mein Sam. Verschwommen, aber er musste es sein.

»Sam! Gott, was machst du hier?«, stammelte ich erschrocken und gleichzeitig spürte ich eine Sehnsucht in meinem Herzen.

Doch der Rotschopf schaute mich nur verwirrt an und runzelte die Stirn. Dann wandte er sich zum Gehen.

Ohne groß nachzudenken, schob ich die andere Patientin zur Seite und schrie: »Sam, du musst mich hier rausholen. Was auch immer die vorhaben, das kann nicht gut sein. Sam!«

Kopfschüttelnd drehte sich der rothaarige Besucher von mir weg, André erschien in der Tür und murmelte eine Entschuldigung, dann verließen beide den Raum.

»Geht’s noch?«, fragte mich die andere Patientin neben mir und schaute mich finster an. »Leb deinen Wahn woanders aus.«

Der Pfleger zog mich jetzt endgültig aus dem Besuchertrakt und brachte mich zurück in mein Zimmer. Tränen liefen mir die Wangen herunter. Ich konnte das alles gar nicht fassen. Meine Eingeweide verkrampften sich. Mein Herz tat weh und mein Kopf drohte zu platzen.

War ich wirklich verrückt? Entsprang Sam einem Hirngespinst, einer Fantasiewelt? Hatte ich mir alles nur ausgedacht? Und was war mit André?

»Wenn Sie verrücktspielen, muss ich Ihnen ein stärkeres Medikament verabreichen«, holte mich die Stimme meiner Eskorte in die Realität zurück.

»Nein, bitte nicht«, schluchzte ich und nahm auf dem Bett Platz.

»Ich muss mich nur kurz sammeln.«

Er musterte mich nachdenklich, nickte und verließ den Raum. Dann war ich wieder allein. Hilflos, verzweifelt und deprimiert.

Der Besuch von André hatte mich nicht beruhigen können, im Gegenteil. Ein Teil von mir zweifelte bereits an den Erinnerungen an meine Familie, an Sam und Cara. Doch ein anderer Teil – mein Herz? – konnte nicht akzeptieren, dass dieses Familienglück nur meiner Fantasie entsprungen sein sollte.

Ich wischte mir mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und ballte die Hände zu Fäusten. Nein, ich würde mich nicht unterkriegen lassen! Es gab für alles eine Erklärung und ich würde schon herausfinden, was hier gespielt wurde. Vielleicht träumte ich ja nur. Oder es lag wirklich an den Medikamenten.

Plötzlich ging die Tür wieder auf und Dr. Germond trat herein.

»Frau Winter, ich hörte Sie hatten gerade Besuch von Ihrem Freund. Vielleicht wäre es jetzt gar nicht so schlecht, wenn wir darüber sprechen würden.«

Wie ein Aasgeier, dachte ich mir. Wollte er sich an meinem Leid laben oder glaubten sie, ich würde jetzt leichter etwas ausplaudern?

Trotzig sah ihn an.

»Haben Sie ihn erpresst?«, fragte ich ihn wütend.

»Wie bitte?« Er runzelte die Stirn. Seine Wange waren wieder gerötet und seine kleinen Augen sahen mich verwirrt an.

»Haben Sie André und Sam erpresst, bei dieser Geschichte von einer Wahnfantasie mitzuspielen? Was bezwecken Sie damit?«

Dr. Germonds Gesicht verwandelte sich in eine Maske.

»Nein. Ihren Sam, wie Sie ihn nennen, gibt es nicht. Und Ihr Freund André macht sich einfach nur Sorgen um Sie und weiß, dass Sie hier gut aufgehoben sind. Und bei der fortgeschrittenen Ausprägung Ihrer Krankheit ist das auch richtig so. Wenn Sie sie erst einmal akzeptiert haben und die Traumwelt loslassen, wird es einfacher für Sie werden. Glauben Sie mir.«

»Gehen Sie. Ich werde mit niemandem sprechen, bevor ich nicht einen Anwalt gesprochen habe und die Medien checken kann.«

»Hören Sie, Frau Winter, wir möchten Ihnen nur helfen.«

Ich stand auf und funkelte ihn an.

»Was auch immer Sie vorhaben. Es wird nicht funktionieren. Ich lasse mich nicht manipulieren.«

»Es ist nur zu Ihrem Besten«, sagte er und stellte sich ebenfalls hin. »Wenn Sie Ihre Krankheit nicht akzeptieren, werden Sie hier nicht rauskommen.« Seine Worte hallten in meinen Ohren nach und verursachten einen flammenden Zorn. Ich suchte nach meiner Gabe, wollte ihm zeigen, wozu ich im Stande war. Allerdings vergeblich – die Kraft in mir war nicht da.

»Ich weiß, Sie versuchen gerade Ihre angebliche Gabe zu rufen. Doch die gibt es nicht. Das haben Sie sich alles nur eingebildet.«

»Nein! Hören Sie auf, Sie Lügner!«, brüllte ich und packte ihn am Kragen. Sofort kam eine Ärztin herein. Schockiert ließ ich den Mann los. Sie sah aus, wie Tanja. Lockige braune Haare, groß, eindrucksvoll. Ihr Blick war allerdings eiskalt.

»Tanja. Was machst du hier?«

Anstatt einer Antwort trat sie an mich heran, gefolgt von einem weiteren Mitarbeiter. Beide drückten mich aufs Bett und fixierten meine Hände. Eiskalte Augen blickten auf mich herunter.

Ich winselte und wehrte mich gegen den Griff, leider vergeblich.

»Muss das wirklich sein?«, fragte Dr. Germond.

»Sie hat Sie angegriffen. Wir werden kein Risiko eingehen.« Eine harte Stimme, eine unbekannte Stimme. Die Frau sah Tanja vielleicht ähnlich, aber das war auch schon alles. Weder Stimme noch Charakter passten. Was war hier los?

»Frau Winter. Die Personen, die Sie glauben, hier überall zu erkennen, gehören zu Ihrer Psychose. Da Sie sich im Moment nicht in Ihre Fantasiewelt flüchten können, spielt Ihr Gehirn Ihnen einen Streich. Sie wollen Ihre selbsterfundenen Erinnerungen nicht loslassen und projizieren sie auf alle Menschen, denen Sie hier begegnen. Das ist alles symptomatisch für Wachfantasien.«

Dr. Germond versuchte, beruhigend auf mich einzureden.

»Verschwinden Sie! Sie sind ein Lügner! Ich bin eine Gefangene und irgendwann werde ich auch noch dahinter kommen wieso.«

Sein Blick wirkte enttäuscht, während die andere Ärztin bereits eine Spritze aufzog.

»Ich werde Ihnen gleich ein Beruhigungsmittel spritzen, dann fühlen Sie sich besser. «

Nackte Panik überkam mich. Niemals! Ich musste hier raus. Ich drückte meine Handflächen zusammen und presste die Finger an die Innenfläche. Mit einem Ruck riss ich an der rechten Fessel. Ein starker Schmerz zog durch meine Fingerknöchel und meinen Daumen, doch die Aktion war von Erfolg gekrönt. Die Hand war frei. Mit einer schnellen Bewegung öffnete ich die Fixierung an meiner linken Hand und sprang aus dem Bett. Dabei trat ich die weibliche Ärztin mit den Beinen zur Seite und mit der Schulter rammte ich Dr. Germond. Dann schnappte ich mir den Stuhl und rannte in den Flur.

Ich wusste, dass ich die Flügeltüren niemals passieren konnte. Darum warf ich kurzerhand den Stuhl gegen die große Fensterfront. Ein ohrenbetäubendes Scheppern war zu hören und der Stuhl verursachte große Risse in der Scheibe. Schon mal kein Panzerglas. Im gleichen Moment kamen die Pfleger angerast. Sie hatten nur nicht mit meinen Fähigkeiten gerechnet. Wenn ich etwas konnte, dann kämpfen. Die Jahre mit Loki machten sich jetzt bezahlt. Mein Muskelgedächtnis funktionierte auch ohne meine Gabe. Gekonnt wich ich einem der Männer aus, während ich den anderen zu Boden schlug. Im nächsten Moment warf ich den Stuhl erneut gegen das Fenster und das Glas zerbrach. Scherben flogen in alle Richtungen. Meine Seele schrie vor Freude auf.

Mit einer gekonnten Wendung befreite ich mich aus dem Griff eines weiteren Angreifers und manövrierte ihn gegen die Wand. Er schlug hart auf und hielt sich benommen den Kopf, als er zu Boden sank. So viel dazu, dass alles aus den letzten Jahren nur meiner Fantasie entsprang. Wenn dem so wäre, woher kam dann meine Kampferfahrung? Verdammte Lügner!

Jetzt erschienen die beiden Ärzte in der Tür. Doktor Germonds Augen waren weit aufgerissen, seine Wangen mit kleinen roten Äderchen durchzogen. Die andere dagegen wirkte wie ein wandelnder Roboter.

Schnell schlug ich die Glasscherben mit meinem Ellbogen aus dem Rahmen, um mich daran festzuhalten. Die Scherben stachen mir in die Haut und hinterließen kleine blutige Kratzer. Das war mir allerdings völlig egal.

Ein Hochgefühl überkam mich, als ich den blauen Himmel erblickte und die Bäume. Was mich stocken ließ, war die Tatsache, dass sich die Etage im zweiten Stock und mindestens fünf Meter über dem Boden befand, ich also nicht so einfach aus dem Fenster springen konnte. Mist!

Zitternd hing ich am Fensterrahmen. Aus dem Augenwinkel sah ich bereits mehrere Klinikmitarbeiter auf mich zu rennen. Die frostige Ärztin zückte die Spritze und wartete.

Scheiße. Sollte ich einfach so springen? Mich in Lebensgefahr bringen? Unter mir befand sich nur Rasen. Die Bäume standen zu weit entfernt, um ihnen entgegenzuspringen. Würde ich mit einem gebrochenen Bein fliehen können? Sicher nicht. Mist! Was jetzt? Ich würde mir jedenfalls nicht noch mehr von diesen verdammten Drogen spritzen lassen!

Mir wurde schwindelig und ich hätte fast losgelassen. Mein Herz rutschte eine Etage tiefer und ich hielt vor Schreck die Luft an. Dann sah ich rechts von mir eine Art äußeren Lüftungsschacht, der überall kleine Vorsprünge hatte, wo die einzelnen Elemente miteinander verbunden waren. Ich wollte mich abdrücken und rüber springen, damit ich an dem Schacht herunterklettern konnte.

Allerdings packten mich in diesem Moment unzählige Hände. Zwei erfassten mein Bein, eine andere meinen Unterarm. Mit einem Ruck wurde ich wieder in den Flur gezogen. Brüllend wehrte ich mich. Doch es waren zu viele. Und ohne meine Gabe war ich einfach zu schwach. Nie hätte ich gedacht, sie jemals so sehr zu vermissen.

Schließlich stach mich die Spritze in den Oberarm und ein Flimmern breitete sich vor meinen Augen aus. Meine Glieder wurden schwerer, mein Atem ruhiger. Die Sicht zunehmend unscharf und ich hörte die Stimmen um mich herum nur noch gedämpft. Meine Wut verschwand. Resignation nahm ihren Platz ein.

Ein Pfleger hob mich hoch, trug mich zurück in mein Zimmer und legte mich ins Bett. Mit einem Klicken schnappten die Gurte zu, diesmal wurden sie auch deutlich fester gezogen, sodass ich die Arme kein bisschen bewegen konnte.

Mein Geist wollte aufschreien, aber selbst dazu fehlte mir die Kraft.

»Kämpfen Sie nicht gegen uns an. Wir wollen Ihnen helfen«, behauptete Dr. Germond. »Akzeptieren Sie Ihre Krankheit, dann wird es Ihnen schon sehr bald besser gehen. Vertrauen Sie mir.«

Mit diesen Worten gingen alle aus dem Raum, nur ein Pfleger blieb noch zurück und sammelte Glasscherben auf, die bis in das Zimmer geflogen waren. Ich hörte die Ärzte noch leise auf dem Flur reden, während die anderen Pfleger verarztet wurden.

»Wie verfahren wir weiter?«, hörte ich Dr. Germond fragen.

»Wie abgesprochen.«

Meine Nackenhaare stellten sich auf und Wut und Panik flammten auf, wurden jedoch sofort von den Medikamenten gedämpft. Meine Augen wollten zufallen und ich kämpfte mit all meiner mentalen Kraft dagegen an. Das hier war wichtig. Ich musste wach bleiben. Ich musste zuhören!

»Wir haben keine Zeit ... Pistole auf der Brust ... wir gefährden das Abkommen ...«

Die Stimmen wurden immer leiser und abgehackter. Ich bekam nur noch Wortfetzen mit.

»Bereiten Sie alles vor ...«

Langsam begannen die Medikamente ihre ganze Kraft zu entfalten. Pfefferminzduft lag in der Luft und ich seufzte. Ich hatte den Kampf verloren. Im nächsten Moment wurde alles schwarz.

4. Vor Wenigen Wochen

Sam

Nachdenklich starrte ich die Decke an und warf dann noch mal einen Blick auf die leere Bettseite neben mir. Das Kopfkissen hatte noch eine kleine Mulde und die Decke lag unordentlich auf dem Bett ausgebreitet. Der Stoff war allerdings kalt. Sie musste sich schon vor einiger Zeit aus dem Zimmer geschlichen haben. Aber warum? Wollte sie allein sein? Wieso hatte sie nicht Bescheid gesagt?

Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Seufzend stand ich auf und warf einen Blick ins Bad. Nein, hier war sie nicht. Doch das hatte ich bereits gefühlt, so wie ich immer ihre Gegenwart spürte, wenn sie in meiner Nähe war. Oder auch nicht war, so wie jetzt.

Vor drei Wochen war es genauso. In der Nacht war mir aufgefallen, dass Alex nicht mehr neben mir lag. Irgendwann war ich einfach wieder eingeschlafen, hatte mir eingeredet, dass sie wohl auf der Toilette war. Später kletterte sie zu mir ins Bett. Sie war eiskalt und ihre Haare verströmten den Geruch nach Kiez. Als ich sie darauf ansprechen wollte, küsste sie mich. Leidenschaftlich und wild. Wie jemand, der keinen Widerstand duldete, und dann stellten ihre Lippen Sachen mit mir an, die mir heute noch die Röte ins Gesicht schießen ließen. Danach rollte sie sich ein und schlief. Am nächsten Morgen tat sie so, als ob nichts geschehen wäre. Warum hatte ich sie damals nicht schon zur Rede gestellt?

Ob es heute wieder so laufen würde? Wir befanden uns in einem Motel nahe der Reeperbahn. Die Taskforce setzte uns seit einigen Monaten wieder ein, um Dark Taker zu lokalisieren. Es gab immer wieder Serientäter, die nicht mehr die Taker-Zentren aufsuchten, sondern nachts andere Menschen angriffen. Im Moment jagten wir ein besonders skrupelloses Exemplar, vielleicht sogar eine Gruppe. Der Soultaker nahm den Opfern nicht nur die Energie, sondern quälte sie auch. Die Brutalität der Taten war abstoßend und eigentlich war ich dagegen gewesen, bei der Taskforce auszuhelfen. Wir hatten in den letzten Jahren genug geleistet. Jetzt, wo ich vor zwei Jahren das Heilen erlernt hatte, arbeiteten wir wöchentlich in der Stiftung für Körper-und-Seele, um Norms zu helfen. Die Situation hatte sich in diesen letzten zwei Jahre etwas entspannt und wir mussten kein Fließband-Taken mehr erleiden, seit die strengen Ethik-Kriterien erlassen worden waren. Nach ihren Vorgaben konnten nur noch akute Fälle dort behandelt werden. Menschen, die in unmittelbarer Lebensgefahr schwebten und bei denen es eine mindestens siebzigprozentige Chance auf Heilung gab. Außerdem mussten andere Heilungsmethoden schon ausgeschöpft sein. Unfallopfer mit einem sozialen Bonus hatten Vorrang.

Man könnte annehmen, dass die Gesellschaft glücklich über die Heiler war, die ihnen eine so viel bessere Lebensqualität ermöglichten, aber seit einem Jahr war genau das Gegenteil der Fall. Nun gab es zwei Lager. Ein Teil wollte wieder zur ursprünglichen Medizin zurück. Zur natürlichen Auslese, hervorgerufen von der Angst, dass die Heilungen der Soultaker zu einer rapiden Überbevölkerung führen würden. Auch kam es in einigen Länder zu gesteigerten Ungerechtigkeiten. Wer kein Geld hatte, einen Heiler zu bezahlen, ihn direkt oder den Staat, der bekam keine Behandlung. Der Flüchtlingsstrom in Länder mit einer Ethikregelung stieg an und führte zu Aufständen und einer Spaltung der Europäischen Gemeinschaft. Anstatt, dass sich die Welt zusammentat und eine einheitliche Lösung fand, kämpfte jeder für sich. Das war so typisch für die Menschen. Wann würden wir endlich mal einen moralischen Evolutionsschritt machen?

Der andere Teil der Gesellschaft versuchte einen Weg zu finden, eine neue Lebensweise zu verankern. Ein längeres, gesünderes Leben, gleichwohl mit der Erwägung, eine Geburtenkontrolle einzuführen sowie die Heilungen zu reglementieren.

Politik, Ethik-Rat und die Verbände der unterschiedlichen Gruppierungen stritten, diskutierten und erließen ständig neue Verordnungen, die sie ebenso schnell wieder zurücknahmen. Wir nannten es ›die Übergangszeit‹. Und wir Hamburger Taker befanden uns mittendrin. Einige standen in der Öffentlichkeit, wie Loki und Annalena, oder Marie und Tristan, andere wie Alex und ich versuchten einfach nur zu helfen, wo es ging, allerdings fernab von medialer Aufmerksamkeit.

Für mich stand seit der Hochzeit mit Alex und der Geburt unserer Tochter Cara meine Familie im Vordergrund. Mein Gedächtnisverlust vor zwei Jahren beim Kampf gegen Julian hatte vieles in mir verändert. Damals hatte ich mich so leer gefühlt und allein. Unvollständig. Ich war froh, dass wir durch die Schwangerschaft und die Stillzeit ein wenig Abstand von unseren Taker-Pflichten bekamen. Wir versuchten Frieden und Ruhe zu finden. Wir wollten unser kleines Familienglück einfach nur genießen. Daher bat ich Alex, sich nicht mehr so oft in Gefahr zu begeben und dem Drängen des Verfassungsschutzes, als Cara das erste Lebensjahr vollendet hatte, nicht nachzugeben. Aber sie konnte nicht anders. Sobald der Verfassungsschutz an ihre Hilfsbereitschaft und Moral appellierte, gab sie klein bei. Denn ihre Kräfte waren enorm wertvoll im Kampf gegen die Dark Taker. Das wusste ich auch. Dennoch, wir hatten unser Leben oft genug in Gefahr gebracht und mit unserer Tätigkeit in der Körper-und-Seele-Stiftung trugen wir schon einiges zum Gemeinwohl bei. Immerhin hatten wir selbst so hart für unser gemeinsames Leben gekämpft und Cara hatte den Wunsch in mir verstärkt, die Vergangenheit hinter uns zu lassen.

Doch nun, als ich hier so das Bett anstarrte, überkam mich ein ganz mieses Gefühl. Alex hatte sich wieder aus dem Zimmer geschlichen und mir nicht gesagt, warum. Was sollte ich jetzt tun? Kurzerhand nahm ich mein Handy vom Nachtisch und startete die GPS-Suche, um sie zu tracken. Das war für uns in Ordnung, es konnte immer mal passieren, dass jemand in Gefahr geriet und die Ortung konnte Leben retten. Durchs Zoomen konnte ich ihren ungefähren Aufenthaltsort ausmachen. Die Rezeption.

Elend lange Sekunden haderte ich mit mir, dann gewannen Neugier und Sorge die Oberhand. Wahrscheinlich würde sie mir dafür eine ziemliche Szene machen. Im Moment war mir das jedoch total egal. Ich wusste, wie ich sie besänftigen konnte. Und Alex war nicht der nachtragende Typ. Ein Schmunzeln zupfte an meinen Lippen. Es gab bestimmt eine Erklärung für das alles, und falls sie mir gleich die Hölle heißmachte, wäre morgen wieder alles in Ordnung.

Ich zog mir eine Jogginghose über und verließ das Zimmer. Der Flur war hell erleuchtet und ich musste die Augen etwas zusammenkneifen. Meine Uhr zeigte mir 1.22 Uhr an. Das Motel verfügte tatsächlich noch über einen Nachtwächter, der die Rezeption besetzte. Vor allem um Touristen oder Geschäftsleuten einen Night-Check-in zu ermöglichen.

Daher war der Empfang voll erleuchtet und eine seichte Chill-Musik drang an meine Ohren. Die Sessel und anderen Sitzgelegenheiten der Lobby waren allerdings verwaist. Ich blinzelte nach draußen auf den kleinen Vorhof, konnte jedoch niemanden ausmachen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sich nun eine junge männliche Stimme. Dem Gesicht und der Körperhaltung nach zu urteilen, musste der Rezeptionist gerade mal um die Zwanzig sein. Vielleicht ein Auszubildender.

»Ja, ich ... also ... ich suche meine Frau. Sie wollte noch kurz frische Luft schnappen gehen. Jetzt mache ich mir Sorgen.«

»Die letzte Stunde ist keiner hier vorbeigekommen. Ich hab aber auch erst seit Mitternacht Schicht.«

»Ach okay«, erwiderte ich und drehte mich ein Mal im Kreis, um alle Ecken in Augenschein zu nehmen. Schließlich hielt ich die Spannung nicht weiter aus und zückte mein Handy. Kurzerhand drückte ich die Schnellkontakttaste und ließ es klingeln.

Etwas später erfüllte eine vertraute Melodie den Raum. Sie erklang direkt hinter dem Rezeptionisten aus einem Regal. Der junge Mann sah mich verwundert an, als ich nähertrat. Das Handy lag in einem der Fächer. Langsam nahm ich mein eigenes wieder runter und starrte auf das Mobiltelefon.

»Dann muss Ihre Frau das wohl hier abgegeben haben.«

Er schien etwas nervös zu sein. Vielleicht lag es an meinem Gesichtsausdruck, in dem meine Wut nun deutlich ablesbar war.

»Kein Problem«, raunte ich schnell und verließ die Lobby. Warum hatte sie das getan? Auf dem Weg zu unserem Zimmer zerbrach ich mir den Kopf über ihre Beweggründe. Was sollte das? Alex wusste doch, wie gefährlich es war, kein Telefon bei sich zu haben. Was hatte sie vor?

Missmutig ließ ich mich aufs Bett fallen und starrte erneut die Wand an. Sollte ich Milan Bescheid geben oder Loki? Nein, noch wollte ich niemanden beunruhigen. Es gab vielleicht eine einfache Erklärung dafür. Hoffentlich.

Langsam streckte ich meine Arme, bis meine Gelenke knackten. Vielleicht hätte ich draußen lieber nach ihr suchen sollen. Ich nahm schon das Handy zur Hand, um Loki zu kontaktieren, damit er ihr Ortungsserum tracken konnte, da hörte ich plötzlich Geräusche aus dem Flur. Dann ging jemand ins Badezimmer. Nicht gerade leise, wohlgemerkt.

Mein Herz klopfte. Schnell schwang ich meine Beine aus dem Bett und ging zum kleinen Flur mit der Badezimmertür. Sie war angelehnt, dahinter brannte Licht und ich sah einen Schatten, der sich bewegte.

Ich lehnte mich an den Türrahmen und ließ mit einer Hand die Tür aufschwingen. Eigentlich wollte ich kühl und abschätzend wirken, aber als ich Alex erblickte, kroch ein ganz komisches Gefühl in mir hoch. Ihre Haare waren ganz wirr, die dunklen Klamotten leicht verschmutzt und die Hände mit blutigen Kratzern und Malen übersäht. Unbeirrt wusch sie sich die Hände und begann sich aus den Klamotten zu schälen. Sie würdigte mich keines Blickes.

»Wo warst du?«, fragte ich kühl, auch wenn ich sie am liebsten in die Arme genommen hätte.

Keine Antwort. Kein Blick. Nichts. Das war komisch.

Unbeirrt zog sie ihr T-Shirt aus und ließ es neben sich auf den Boden fallen. Mein Blick fiel auf ihren schlanken und trainierten Oberkörper. Schließlich bemerkte ich einen Blut­erguss an der linken Seite.

»Was zur Hölle hast du gemacht?«, fuhr ich sie nun an und umfasste ihren Arm, damit sie mich ansah.

Zwei funkelnde azurblaue Augen blickten mich an.