Soziale Angststörung im Kindes- und Jugendalter - Julian Schmitz - E-Book

Soziale Angststörung im Kindes- und Jugendalter E-Book

Julian Schmitz

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Beschreibung

Social anxieties cause distress for many children and young adults, both in the setting of social anxiety disorder and as symptoms of accompanying mental disorders. The individuals affected are afraid of behaving embarrassingly or making fools of themselves in front of strangers. Even situations that are meant to bring fun and recognition are avoided. Social anxiety disorder in children and young people often goes undetected, and those affected receive little or no help. This book provides suggestions about the background against which social anxieties arise, with information about how to diagnose them and about the evidence-based treatment modules and programs that exist.

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Die Autor*innen

Prof. Dr. Julian Schmitz, Diplom-Psychologe und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Er ist Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche an der Universität Leipzig.

Prof. Dr. Julia Asbrand, Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie ist Professorin für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und -psychotherapie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Julian Schmitz Julia Asbrand

Soziale Angststörung im Kindes- und Jugendalter

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035130-1

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-035131-8

epub:     ISBN 978-3-17-035132-5

mobi:     ISBN 978-3-17-035133-2

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Klinische Psychologie und Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Verhaltenstherapeutische Interventionsansätze

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind weit verbreitet und ein Schrittmacher für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen im Erwachsenenalter. Für einige der für das Kindes- und Jugendalter typischen Störungsbereiche liegen empirisch gut abgesicherte Behandlungsmöglichkeiten vor. Eine Besonderheit in der Diagnostik und Therapie von Kindern mit psychischen Störungen stellt das Setting der Therapie dar. Dies bezieht sich sowohl auf den Einbezug der Eltern, als auch auf mögliche Kontaktaufnahmen mit dem Kindergarten, der Schule, der Jugendhilfe usw. Des Weiteren stellt die Entwicklungspsychopathologie für die jeweiligen Bände ein zentrales Kernthema dar.

Ziel dieser neuen Buchreihe ist es, Themen der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie in ihrer Gesamtheit darzustellen. Dies umfasst die Beschreibung von Erscheinungsbildern, epidemiologischen Ergebnissen, rechtliche Aspekte, ätiologischen Faktoren bzw. Störungsmodelle, sowie das konkrete Vorgehen in der Diagnostik unter Berücksichtigung verschiedener Informanten und das konkrete Vorgehen in der Psychotherapie unter Berücksichtigung des aktuellen Wissenstandes zur Wirksamkeit.

Die Buchreihe besteht aus Bänden zu spezifischen psychischen Störungsbildern und zu störungsübergreifenden Themen. Die einzelnen Bände verfolgen einen vergleichbaren Aufbau wobei praxisorientierte Themen wie bspw. Fallbeispiele, konkrete Gesprächsinhalte oder die Antragsstellung durchgehend aufgenommen werden.

Tina In-Albon (Landau)

Hanna Christiansen (Marburg)

Christina Schwenck (Gießen)

Die Herausgeberinnen der Reihe

Prof. Dr. Tina In-Albon, Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Koblenz-Landau. Leitung der Landauer Psychotherapie-Ambulanz für Kinder und Jugendliche und des Studiengangs zur Ausbildung in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Universität Koblenz-Landau.

Prof. Dr. Hanna Christiansen, Professur für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Philipps-Universität Marburg; Leiterin der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie-Ambulanz Marburg (KJ-PAM) sowie des Kinder- und Jugendlichen-Instituts für Psychotherapie-Ausbildung Marburg (KJ-IPAM).

Prof. Dr. Christina Schwenck, Professur für Förderpädagogische und Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Justus-Liebig-Universität Gießen. Leiterin der postgradualen Ausbildung Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie.

Inhalt

 

 

Geleitwort zur Reihe

1 Erscheinungsbild, Entwicklungspsychopathologie und Klassifikation

1.1 Erscheinungsbild der Sozialen Angststörung

1.1.1 Schüchternheit und soziale Ängste bei Kindern und Jugendlichen

1.1.2 Frühe Kindheit und Vorschulalter

1.1.3 Grundschulalter

1.1.4 Jugendalter

1.2 Diagnostische Kriterien (ICD-10 und DSM-5)

1.3 Überprüfung der Lernziele

2 Epidemiologie, Verlauf und Folgen

2.1 Epidemiologie

2.1.1 Beginn der Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter

2.1.2 Häufigkeit der Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter

2.2 Verlauf der Sozialen Angststörung

2.3 Folgen einer Sozialen Angststörung

2.4 Veränderungen durch Psychotherapie und Behandlungserwartung

2.5 Überprüfung der Lernziele

3 Komorbidität und Differenzialdiagnostik

3.1 Komorbidität

3.1.1 Andere Angststörungen

3.1.2 Selektiver Mutismus

3.1.3 Depressive Störungen

3.1.4 Suchterkrankungen

3.2 Differenzialdiagnostik

3.2.1 Generalisierte Angststörung

3.2.2 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen: Autismus- Spektrum-Störung

3.2.3 Schulabsentismus

3.2.4 Organische Erkrankungen

3.2.5 Soziale Umstände

3.3 Überprüfung der Lernziele

4 Diagnostik

4.1 Ziele und Struktur des diagnostischen Prozesses

4.2 Erstgespräch und Anamnese

4.2.1 Das Erstgespräch als angstbesetzte Situation

4.2.2 Anamnese, Makroanalyse und wichtige Unterlagen im diagnostischen Prozess

4.2.3 Mikro- und Situationsanalyse

4.3 Diagnostikinstrumente

4.3.1 Fragebogenverfahren

4.3.2 Diagnostische Interviews

4.3.3 Testverfahren

4.3.4 Beobachtungsinstrumente

4.3.5 Diagnosestellung und Integration von diagnostischen Informationen

4.4 Rückmeldung der Diagnostikergebnisse

4.5 Behandlungssettings und Indikation

4.6 Überprüfung der Lernziele

5 Störungstheorien und -modelle

5.1 Bedingende Faktoren für Entstehung und Aufrechterhaltung

5.2 Biologische Faktoren

5.2.1 Temperament

5.2.2 Genetik

5.2.3 Physiologie

5.3 Kognitive Faktoren

5.3.1 Das kognitive Modell von Clark und Wells (1995)

5.3.2 Das Modell von Rapee und Heimberg (1997)

5.3.3 Das kognitive Modell von Hofmann (2007)

5.3.4 Zusammenführende Betrachtung kognitiver Faktoren

5.4 Lernerfahrungen und interpersonelle Faktoren

5.4.1 Eltern

5.4.2 Gleichaltrige

5.5 Soziale Kompetenzen

5.6 Emotionsregulation

5.7 Zusammenfassende Betrachtung

5.8 Anwendung eines Störungsmodells auf das Fallbeispiel

5.8.1 Psychoedukation mit Kind

5.8.2 Psychoedukation mit Eltern

5.9 Überprüfung der Lernziele

6 Psychotherapie

6.1 Beispielantrag für ein Kind mit einer Sozialen Angststörung

6.2 Therapieziele und Behandlungsplanung

6.3 Therapiedurchführung

6.3.1 Therapiebaustein: Behandlungsaufklärung, Psychoedukation und Störungsmodell

6.3.2 Therapiebaustein: Kognitive Interventionen

6.3.3 Therapiebaustein: Aufbau sozialer Fertigkeiten

6.3.4 Therapiebaustein: Exposition und Sicherheits- verhaltensweisen

6.3.5 Therapiebaustein: Elternzentrierte Interventionen

6.3.6 Therapiebaustein: schulzentrierte Interventionen

6.3.7 Therapiebaustein: Jugendhilfemaßnahmen und flankierende Interventionen

6.3.8 Therapiebaustein: Psychopharmakotherapie

6.4 Manuale zur Behandlung sozialer Ängste

6.5 Schwierige Therapiesituationen

6.5.1 Das Arbeiten an kognitiven Inhalten fällt dem Kind schwer, bzw. dysfunktionale Kognitionen werden als nicht übertrieben wahrgenommen

6.5.2 Patient*innen weigern sich aufgrund starker Angst eine Konfrontation durchzuführen

6.5.3 Patient*innen brechen eine Konfrontationsübung nach einem Misserfolg ab

6.5.4 Das Kind oder der*die Jugendliche sagt die Therapie häufig ab, mutmaßlich aufgrund von starken sozialen Ängsten vor der Therapiesituation

6.5.5 Trotz ambulanter Psychotherapie zeigt sich eine Verschlechterung der Symptomatik und es entwickelt sich zudem eine depressive Störung

6.6 Überprüfung der Lernziele

7 Psychotherapieforschung

7.1 Methoden der Psychotherapieforschung

7.2 Gesetzlich anerkannte Verfahren

7.2.1 Kognitive Verhaltenstherapie

7.2.2 Psychodynamische Psychotherapien: Tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie

7.3 Weitere Verfahren

7.3.1 Systemische Therapie

7.3.2 Andere Verfahren

7.4 Wirksamkeit einzelner Elemente

7.4.1 Exposition

7.4.2 Psychoedukation

7.4.3 Kognitive Interventionen

7.4.4 Aufbau sozialer Fertigkeiten

7.4.5 Einbezug der Eltern

7.4.6 Psychopharmakotherapie

7.4.7 Individuelle vs. Gruppentherapie

7.5 Überprüfung der Lernziele

Literatur

Stichwortverzeichnis

1          Erscheinungsbild, Entwicklungspsychopathologie und Klassifikation

 

 

 

Fallbeispiel

Die 14;2-jährige Maria stellt sich in einer ambulanten Praxis wegen ausgeprägter Ängste im Kontakt mit Gleichaltrigen vor. Maria beschreibt, dass sie nur wenige Freundschaften habe, da sie der Überzeugung sei, andere Jugendliche würden sie nicht mögen. Aufgrund dieser Ängste falle es ihr schwer, andere Jugendliche anzusprechen oder sich zu verabreden. Trotz guter schriftlicher Leistungen beteilige sich Maria nicht am Unterricht. Vor Referaten in der Schule fühle sie sich morgens häufig krank, bleibe dann zu Hause oder könne Referate nur mit exzessivem Üben vor dem Spiegel in der Woche zuvor bewältigen. Ihre größte Sorge sei, dass sie jemand auslachen könne. Ihre Freizeit verbringe Maria oft allein in ihrem Zimmer und sie ziehe sich zunehmend zurück. Marias Mutter beschreibt, dass sich ihre Tochter bereits im Kindergartenalter sehr zurückhaltend in neuen Situationen verhalten habe und sich wenig von ihrer Mutter gelöst habe. In der Grundschulzeit habe Maria dann zudem Sorgen vor peinlichem Verhalten geäußert, welche sich bis heute sehr verstärkt hätten.

Lernziele

•  Sie können die Begrifflichkeiten Soziale Angststörung, soziale Angst und Schüchternheit erklären und voneinander abgrenzen.

•  Sie kennen das typische Erscheinungsbild sozialer Ängste von der frühen Kindheit bis zum Jugendalter bzw. jungen Erwachsenenalter.

•  Sie können diagnostische Kriterien für die Soziale Angststörung nach der International Classification of Diseases (10. Edition, ICD-10; World Health Organization [WHO], 1994) und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5. Edition, DSM-5, American Psychiatric Organization [APA], 2013) benennen.

1.1       Erscheinungsbild der Sozialen Angststörung

1.1.1     Schüchternheit und soziale Ängste bei Kindern und Jugendlichen

Schüchternheit und die Angst vor negativer Bewertung bzw. Ablehnung durch andere Personen sind einem großen Anteil von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen der Allgemeinbevölkerung vertraut. So berichteten in einer Studie von Seim und Spates (2010) 31 % aller befragten Studierenden davon, in ihrem Alltag regelmäßig moderate bis starke soziale Ängste zu erleben. In einer älteren Studie von Lazarus (1982) beschrieben sich 38 % der befragten Grundschulkinder als schüchtern. Auch während sozialer Leistungssituationen zeigen Kinder ohne klinisch bedeutsame Ängste eine moderate Angst und physiologische Stressreaktionen (Krämer et al., 2012). Der Begriff soziale Ängste kann dabei als Überkategorie für viele verschiedene Ausprägungen von Aspekten sozialer Ängste verstanden werden. Soziale Angst beschreibt eine Angst in sozialen Situationen – also Situationen mit anderen Personen –, die von sehr gering bis sehr stark ausgeprägt sein kann. Das Kontinuum sozialer Ängste erstreckt sich von nicht beeinträchtigenden sozialen Ängsten auf der einen Seite bis hin zu starken und meist chronifizierten sozialen Ängsten auf der anderen Seite. Im Zusammenhang mit sozialen Ängsten wird der Begriff der Schüchternheit häufig verwendet. Schüchternheit bezeichnet in der Regel ein gehemmtes Verhalten im Rahmen von sozialen Ängsten und wird häufig im Kontext frühkindlicher sozialer Ängste und sozialer Ängste im Grundschulalter gebraucht. Eine weitere Begrifflichkeit, die auch im Kindes- und Jugendalter im Zusammenhang mit sozialen Ängsten häufig gebraucht wird, ist die der Testängstlichkeit oder Prüfungsangst (Steinmayr, Crede, McElvany & Wirthwein, 2016). Damit werden häufig Kinder und Jugendliche beschrieben, die vornehmlich Angst vor Testsituationen in der Schule haben. Prüfungsangst ist jedoch keine eigene Diagnose in der ICD-101 oder im DSM-5. Da sich diese Ängste jedoch in sozialen Leistungssituationen manifestieren, können sie als umgrenzte Soziale Angststörung verstanden werden. Wichtig ist dabei, dass Kinder und Jugendliche negative Testergebnisse aufgrund einer möglichen negativen Bewertung durch andere Kinder, Jugendliche oder Erwachsene fürchten. Für rein prüfungsbezogene Ängste ist eine differenzialdiagnostische Abklärung zur Spezifischen Phobie zu prüfen. Des Weiteren muss ebenfalls eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zur Generalisierten Angststörung des Kindesalters vorgenommen werden, falls Prüfungsängste von Ängsten und Sorgen in mehreren anderen Bereichen begleitet werden (Kap. 3).

Die Soziale Angststörung beinhaltet schließlich eine manifestierte, unangemessene Furcht vor Leistungs- oder Interaktionssituationen, die sich in verschiedenen Situationen, z. B. außerhalb der Schule wie auch im privaten Bereich, zeigt (APA, 2015). Zugleich sind die Kinder und Jugendlichen nicht in der Lage, altersgemäße soziale Beziehungen mit vertrauten Personen einzugehen. Die Angst tritt zudem nicht nur in Interaktion mit Erwachsenen, sondern auch mit Gleichaltrigen auf und führt zu einer Beeinträchtigung des Alltagslebens und/oder Leidensdruck (APA, 2015).

Definition: Soziale Ängste

Soziale Ängste bezeichnen das Gefühl von Angst und Furcht in sozialen Situationen wie Interaktionen (z. B. eine Spielsituation mit anderen Kindern) und Leistungssituationen (z. B. ein Referat in der Klasse halten oder sich zu melden). Im Zentrum steht die Sorge, sich vor anderen zu blamieren oder nicht gemocht zu werden. Häufig treten soziale Ängste in Situationen mit Kindern und Jugendlichen auf, welche eher unbekannt sind. Soziale Ängste sind fast allen Kindern und Jugendlichen bekannt. Sie haben somit nicht notwendigerweise Krankheitswert und müssen nicht zwingend behandelt werden.

Definition: Schüchternheit

Schüchternheit bezeichnet eine kindliche Verhaltenshemmung in sozialen Kontexten, z. B. bei jüngeren Kindern das Verstecken hinter den Eltern beim Treffen auf Bekannte der Eltern. Im Vergleich zu sozialen Ängsten ist Schüchternheit mehr auf das Verhalten als auf andere Bereiche von Ängsten bezogen wie ängstliche Gedanken oder physiologische Reaktionen. Auch Schüchternheit ist ein breites Phänomen, welches viele Kinder und Jugendliche von sich selbst kennen und beschreiben.

Definition: Soziale Angststörung

Die Soziale Angststörung bezeichnet soziale Ängste mit Krankheitswert. Der Begriff ist äquivalent zum Begriff der sozialen Phobie aus dem ICD-10 zu verwenden. Die Soziale Angststörung bezeichnet eine anhaltende Angst vor negativer Bewertung durch andere Kinder, Jugendliche oder Erwachsene in sozialen Interaktionen und sozialen Leistungssituationen. Neben starkem persönlichem Leiden der Kinder ist die Störung auch durch Leidensdruck und/oder starke Einschränkungen in der Gestaltung des Alltags der Kinder und Jugendlichen gekennzeichnet, wie wenige soziale Kontakte oder die Vermeidung von schulischen Anforderungssituationen.

1.1.2     Frühe Kindheit und Vorschulalter

Epidemiologische Studien legen einen Beginn der Sozialen Angststörung im Grundschulalter nahe. Dass Kinder bereits im Kindergartenalter über eine stabile und klinisch relevante Furcht vor negativer Bewertung durch andere Kinder und Erwachsene berichten, ist eher selten (Esbjørn, Hoeyer, Dyrborg, Leth & Kendall, 2010). Dennoch berichten einzelne Studien bereits über das Auftreten einer Sozialen Angststörung bei Kindern im Alter von drei Jahren, insbesondere charakterisiert durch Vermeidungsverhalten in sozialen Situationen (Bufferd, Dougherty, Carlso, Rose & Klein, 2012). Auch Ängste vor negativer Bewertung scheinen im Vorschulalter schon zu bestehen, wenn auch deutlich weniger häufig als im Grundschulalter (Stuijfzand & Dodd, 2017). Diagnostisch grenzt die ICD-10 aus diesem Grund die Soziale Angststörung oder Soziale Phobie (F40.1) von der Emotionalen Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F93.2) ab, welche weniger den Fokus auf kognitive Prozesse sowie körperliche Begleitsymptome legt, sondern das Verhalten fokussiert.

Eine größere Bedeutsamkeit im Zeitfenster der frühen Kindheit und im Vorschulalter haben Reaktionen und Verhaltensweisen in sozialen Situationen, die als Risikofaktoren für die spätere Entwicklung einer Sozialen Angststörung gelten. Studien legen als zentralen Risikofaktor ein gehemmtes Temperament oder ein hohes Maß an Behavioral Inhibition (BI; Verhaltenshemmung) nahe (Essex, Klein, Slattery, Goldsmith & Kalin, 2010). Kinder mit einer hohen Ausprägung auf dieser Verhaltensdimension reagieren auf unvertraute Situationen oft mit einer starken emotionalen Reaktion (z. B. Anklammern, Schreien und Weinen bei Annäherung einer fremden Person) und zeigen auch in sozialen Situationen wenig Explorationsverhalten (z. B. weniger aktive Kontaktsuche zu unbekannten Gleichaltrigen oder Annäherung an unbekannte Spielsachen). Während BI auf der einen Seite auch ein Risikofaktor für andere Angststörungen sein kann (Ollendick & Hirshfeld-Becker, 2002), scheint BI dennoch besonders stark mit der Entwicklung der Sozialen Angststörung assoziiert zu sein (Hirshfeld-Becker et al., 2007).

1.1.3     Grundschulalter

Mit der Einschulung beginnt sowohl eine Konfrontation mit Leistungssituationen sowie ein erster Abgleich mit gleichaltrigen Kindern. Zudem stehen die Kinder vor der Aufgabe, sich in eine Gruppe einzufinden. Für viele Kinder entsteht damit die Sorge, von anderen negativ bewertet zu werden. Diese Sorge kumuliert bei einigen Kindern in einer Sozialen Angststörung (Beidel & Turner, 2007). Insbesondere jüngere Kinder zeigen eher somatische Reaktionen als klare Äußerungen von Angst wie vermehrte Bauch- oder Kopfschmerzen (Melfsen & Warnke, 2009), die jedoch meist im Zusammenhang mit sozialen Ereignissen wie z. B. einem Schulfest stehen.

Die Soziale Angststörung gilt als kognitive Störung (Clark & Wells, 1995), die z. B. einer ausgereiften Theory of Mind bedarf (im Sinne der Annahme »eine andere Person denkt etwas anderes über mich, als ich selbst über mich denke«).

Definition: Theory of Mind

Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, Annahmen über Gedanken und Gefühle in anderen Personen vorzunehmen und diese zu erkennen. Somit können Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Emotionen, Erwartungen und Meinungen anderer wahrgenommen und als von den eigenen divergent bewertet werden. Erste, einfache Aufgaben zur Theory of Mind können bereits jüngere Kinder zwischen 3 und 5 Jahren bewältigen, während komplexere Aufgaben erst im Alter von ca. 8 Jahren verstanden werden.

Im Zuge dessen kommt den Kognitionen auch im Kindesalter ein hoher Stellenwert zu, wenngleich dieser noch nicht abschließend geklärt ist (Schäfer, Schmitz & Tuschen-Caffier, 2012). Jedoch interpretieren Kinder mit Sozialer Angststörung z. B. mehrdeutige soziale Szenarien häufiger als bedrohlich (Muris, Merckelbach & Damsma, 2000). Andere Befunde deuten zudem bei ängstlichen Kindern auf eine erhöhte Aufmerksamkeit für bedrohliche Reize wie z. B. verärgerte Gesichter hin (Dudeney, Sharpe & Hunt, 2015). Auch im Anschluss an soziale Situationen überwiegt in den Kognitionen der negative Inhalt: Nach einer sozialen Stressaufgabe berichten Kinder mit Sozialer Angststörung bereits im Alter von acht bis zwölf Jahren stark auf negative Gedanken zu fokussieren (Rumination; Schmitz, Krämer, Blechert & Tuschen-Caffier, 2010). Auch die Sorge um die Sichtbarkeit körperlicher Angstsymptome wie z. B. Schwitzen nimmt die Aufmerksamkeit in Anspruch, obgleich körperliche Symptome eher in der Wahrnehmung, nicht aber objektiv stark erhöht vorliegen (Schmitz, Blechert, Krämer, Asbrand & Tuschen-Caffier, 2012).

1.1.4     Jugendalter

Entwicklungspsychologisch ist für Jugendliche die Öffnung des sozialen Umfelds weg von der Familie hin zu Beziehungen mit Gleichaltrigen das zentrale Thema (Oerter & Montada, 2002). Soziale Ängste erreichen somit im Jugendalter ihren Höhepunkt. Typischerweise wird das frühe Jugendalter von den meisten Patient*innen am häufigsten als Beginn der Sozialen Angststörung angegeben (Wittchen, Stein & Kessler, 1999). Die Symptome der Sozialen Angststörung im Jugendalter ähneln denen im Erwachsenenalter (Tab. 1.1). So wird bei Jugendlichen das Sicherheitsverhalten zentraler, indem z. B. das Gesicht hinter den Haaren versteckt wird, Vorträge auswendig gelernt werden oder im Unterricht ein möglichst unscheinbares Verhalten gezeigt wird. Auch kognitive Verzerrungen wie Befürchtungen vor einer sozialen Situation, dass diese peinlich verlaufen könnte, werden stärker (Beidel & Turner, 2007), obgleich sie noch nicht das Ausmaß negativer Kognitionen von erwachsenen Patient*innen mit Sozialer Angststörung erreichen. Weiterhin nehmen auch körperliche Symptome wie Bauchschmerzen, Unruhe und Anspannung in sozialen Situationen bei betroffenen Jugendlichen mit Sozialer Angststörung zu (Ginsburg, Riddle & Davies, 2006). Aufgrund der Zunahme der Störungsschwere und den starken Einschränkungen im schulischen Alltag und der Freizeit, wird die Soziale Angststörung häufig auch durch weitere komorbide Störungen begleitet, wie Depressionen oder andere Angststörungen (Stein et al., 2001). Eine starke Symptomatik kann zu einem fast vollständigen Rückzug aus sozialen Situationen im Jugendalter führen (Erath, Flanagan & Bierman, 2007).

Tab. 1.1: Typische Symptome der Sozialen Angststörung

AltersgruppeVerhaltenKognitionenKörperliche Symptome

1.2       Diagnostische Kriterien (ICD-10 und DSM-5)

In Deutschland erfolgt derzeit die diagnostische Klassifikation der Sozialen Angststörung nach der 10. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10; WHO, 1994). Starke soziale Ängste im Kindesalter können, wenn sie vor dem 6. Lebensjahr auftreten, als Emotionale Störung mit sozialer Ängstlichkeit (ICD-10, F93.2) klassifiziert werden. Soziale Ängste werden in dieser Kategorie aufgrund des jungen Alters meist stark behavioral klassifiziert. Weiterhin muss für diese Störungsdiagnose keine Einsicht in die Übertriebenheit der Ängste bei den Kindern vorhanden sein. Sind die Diagnosekriterien für eine Soziale Phobie nach ICD-10 erfüllt, sollte aktuell jedoch diese Diagnose vorgezogen werden. In der ICD-11 fällt diese Diagnose ab dem 01.01.2022 unter die Diagnose der Sozialen Angststörung. Im anglo-amerikanischen Raum wird zur kategorialen Diagnostik das DSM-5 (APA, 2013) verwendet. Das DSM verfolgt einen anderen Ansatz für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Es werden, so wie auch bei der Sozialen Angststörung, die Diagnosekriterien für das Erwachsenenalter um Besonderheiten im Kindesalter ergänzt. Auch in der internationalen Forschung werden in Studien bis auf wenige Ausnahmen die Diagnosekriterien des DSM-5 herangezogen. Während in der ICD-10 noch von Sozialer Phobie gesprochen wird, benutzt das DSM die aktuellere Bezeichnung Soziale Angststörung, welche die Sozialen Ängste besser von spezifischen und umgrenzten phobischen Ängsten abgrenzt. Unterschiede zwischen DSM-5 und ICD-10 beziehen sich auf die Notwendigkeit physiologischer Symptome für eine Diagnose nach ICD-10. Da auf der einen Seite Kinder weniger als Erwachsene physiologische Angstsymptome berichten (Siess, Blechert & Schmitz, 2014) und auch Erwachsene mit sozialen Ängsten keine übermäßig starke körperliche Reaktion in sozialen Situationen zeigen (Klumbies, Braeuer, Hoyer & Kirschbaum, 2014), sollte dieses diagnostische Kriterium ggf. nachrangig zur Klassifikation herangezogen werden. Als weiterer wichtiger Unterschied zwischen den Klassifikationssystemen ist im DSM-5 die Einsicht in die Übertriebenheit der sozialen Ängste nicht mehr notwendig für die Diagnosestellung.

Diagnostische Kriterien für eine Soziale Phobie nach ICD-10 (F40.1)

A.  Entweder 1. oder 2.:

1.  Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten;

2.  deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten. Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, Begegnungen von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z. B. bei Partys, Konferenzen oder in Klassenräumen.

B.  Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, mindestens einmal seit Auftreten der Störung wie in F40.0, Kriterium B., definiert, sowie zusätzlich mindestens eins der folgenden Symptome:

1.  Erröten oder Zittern,

2.  Angst zu erbrechen,

3.  Miktions- oder Defäkationsdrang bzw. Angst davor.

C.  Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten. Einsicht, dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben oder unvernünftig sind.

D.  Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die befürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese.

E.  Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Symptome des Kriteriums A. sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen (F20-F29), affektive Störungen (F30-F39) oder eine Zwangsstörung (F42.-) oder sind nicht Folge einer kulturell akzeptierten Anschauung.

Diagnostische Kriterien für die Soziale Angststörung nach DSM-53

A.  Ausgeprägte Furcht oder Angst vor einer oder mehreren sozialen Situationen, in denen die Person von anderen Personen beurteilt werden könnte. Beispiele hierfür sind soziale Interaktionen (z. B. Gespräche mit anderen, Treffen mit unbekannten Personen), beobachtet zu werden (z. B. beim Essen oder Trinken) und vor anderen Leistungen zu erbringen (z. B. eine Rede halten). Beachte: Bei Kindern muss die Angst gegenüber Gleichaltrigen und nicht nur in der Interaktion mit Erwachsenen auftreten.

B.  Betroffene befürchten, dass sie sich in einer Weise verhalten könnten oder Symptome der Angst offenbaren, die von anderen negativ bewertet werden (d. h. die beschämend oder peinlich sind, zu Zurückweisung führen oder andere Personen kränken).

C.  Die sozialen Situationen rufen fast immer eine Furcht- oder Angstreaktion hervor.Beachte: Bei Kindern kann sich die Furcht oder Angst durch Weinen, Wutanfälle, Erstarren, Anklammern, Zurückweichen oder die Unfähigkeit, in sozialen Situationen zu sprechen, ausdrücken.

D.  Die sozialen Situationen werden vermieden oder unter intensiver Furcht oder Angst ertragen.