Soziale Hilfesysteme erfolgreich neu aufstellen - Tanja Heitling - E-Book

Soziale Hilfesysteme erfolgreich neu aufstellen E-Book

Tanja Heitling

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Beschreibung

Einfach, klar, knapp und bestechend logisch werden 10 Prinzipien für bessere Ergebnisse, weniger Kosten und für ausreichend Fachkräfte in sozialen Hilfesystemen am Beispiel der Eingliederungshilfe beschrieben. Das Buch gibt konkrete und pragmatische Antworten auf Fragen, Aufgaben und organisatorische Problemstellungen für Leistungserbringer und Leistungsträger. Anhand beispielhafter Darstellungen und wirkungsvoller Prinzipien werden machbare Veränderungen für bessere und passgenauere Leistungen beschrieben, für die es nur wenige konsequente Entscheidungen sowie den Mut, diese zu treffen und zu handeln braucht. Steigt die Qualität der Leistungen und werden gleichzeitig die Kosten für Gesundheit und Pflege gesenkt, profitiert jeder in unserer Gesellschaft davon.

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Seitenzahl: 174

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Inhalt

Cover

Titelei

Für wen ist dieses Buch? »Das Unabhängigkeitsprinzip!«

1 Was ist Selbstbestimmung? »Das Selbst-Tun & Selbst-Entscheiden-Prinzip«

2 Wie geht Wünschen und Wählen? »Das Analysten-Prinzip«

3 Was ist eigentlich eine Fachkraft? »Das Eltern-Prinzip«

4 Wie gelingt eine Systementlastung? »Das Spaßmacher-Prinzip«

5 Wer muss was tun? »Das Mitwirkungsprinzip«

6 Wendigkeit und Kurs halten – wie geht das? »Das Wirkungsprinzip«

6.1 Die Navigation

6.2 Die Crew

7 Bei wem liegt der Ball? »Das Entscheidungsprinzip«

8 Wollen oder Können? »Das Logik-Prinzip«

9 Was haben wir davon? »Das Zukunftsprinzip«

9.1 Das Unabhängigkeitsprinzip

9.2 Das Selbst-Tun & Selbst-Entscheiden Prinzip

9.3 Das Analysten-Prinzip

9.4 Das Eltern-Prinzip

9.5 Das Spaßmacher-Prinzip

9.6 Das Mitwirkungsprinzip

9.7 Das Wirkungsprinzip

9.8 Das Entscheidungsprinzip

9.9 Das Logik-Prinzip

9.10 Das Zukunftsprinzip

10 Warum das Ganze? Selbstbestimmung und Freiheit

Was ist was?

Literatur

Die Autorin

Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführung der Lebenshilfe Gifhorn gGmbH (Niedersachsen), Dipl.-Psychologin (Humboldt-Universität, 2011; Arbeits- und Organisationspsychologie), 2022 promoviert an der HU Berlin; Systemischer Coach (ISCO GmbH; DBVC-zertifiziert)

Tanja Heitling

Soziale Hilfesysteme erfolgreich aufstellen

Niedrigere Kosten, höhere Qualität und ausreichend Fachkräfte am Beispiel der Eingliederungshilfe

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-045508-5

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045509-2epub:ISBN 978-3-17-045510-8

Für wen ist dieses Buch?»Das Unabhängigkeitsprinzip!«

Jeder Mensch in Deutschland ist irgendwann im Leben auf ein soziales Hilfesystem angewiesen. Für einen bestimmten Zeitraum im Leben sind wir abhängig von Institutionen wie z. B. Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Krankenkassen, Arzt- und Therapiepraxen, der Agentur für Arbeit oder Einrichtungen der Rehabilitation.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für weniger Kosten und bessere Ergebnisse in sozialen Hilfesystemen in Deutschland. Dies gelingt, wenn soziale Systeme sich strukturell neu aufstellen, um sich dem Menschen anzupassen und nicht umgekehrt, der Mensch zum System passen muss. In diesem Buch wird ein Veränderungsprozess beschrieben, der zu besseren Ergebnissen und weniger Kosten führt. Dafür braucht es nicht den großen Wurf, sondern wenige konsequente Entscheidungen und den Mut, diese zu treffen und zu handeln. In diesem Buch geht es darum, die Chancen für zukunftsfähige Hilfesysteme zu sehen und zu nutzen. Die Handlungsempfehlungen sind machbar und handhabbar. Sie machen Mut und motivieren zum Handeln.

Was hilft häufig, wenn man auf ein soziales Hilfesystem angewiesen ist? Spaß an Detektivarbeit, sehr viel Zeit, starke Nerven, eine hohe Frustrationstoleranz, Geduld und keine hohen Erwartungen an Service, Erreichbarkeit, verlässliche Auskünfte, an ausführliche Gespräche, um genau festzustellen, was konkret gebraucht wird, an Freundlichkeit, Wertschätzung und aufmunternden Humor. Natürlich gibt es innerhalb dieser Systeme viele Beispiele guter Praxis. Glücklich, wer auf solche Beispiele trifft.

Wer auf ein soziales System angewiesen ist, muss sich dem System anpassen und nehmen, was das System unter bestehenden Bedingungen anbietet und auf das verzichten, was das System nicht anbietet. Unterstützungs- und Hilfesuchende müssen warten, bis sie dran sind und nehmen, was das System zur Verfügung stellt. Das System entscheidet i. d. R. nach festgelegten generellen Standards, welche Leistungen wie erbracht und bewilligt werden, sowie welche, wie viele und wie lange Leistungen vom Kostenträger bezahlt werden und wie lange es dauert, bis eine Leistung erbracht wird. Hilfesuchende warten solange, bis ein Pflege- oder Therapieplatz frei wird oder eine OP stattfindet. Ihnen wird mitgeteilt, ob und wann eine Rehabilitation bewilligt wird usw. Hilfesuchende müssen alle bürokratischen Hürden bewältigen, auch wenn dies häufig überfordert. Sie müssen es hinnehmen und es aushalten, wenn Mitarbeitende des Systems unfreundlich, herablassend und desinteressiert sind.

Was Hilfesuchende am meisten brauchen ist Geduld. Ihnen wird zugemutet, so lange zu warten, bis sie dran sind, egal wie lange es dauert. Hilfesuchende haben keine Wahl, da sie auf die jeweilige Hilfe des Systems angewiesen sind. Das bedeutet, dass ein Mensch, der Hilfe braucht, häufig Fremdbestimmung erfährt und nicht frei ist in seinen Entscheidungen, z. B. einfach zu gehen und woanders Hilfe zu suchen, da die Alternativen fehlen. Ein Professor an einer Uniklinik sagte regelmäßig zu seinen Mitarbeitenden: »Macht Euch keinen Stress. Die Patienten warten. Sie warten so lange, bis Sie dran sind, denn: Sie haben keine Wahl.«

Ein gutes Beispiel für diese Art der Fremdbestimmung ist der Versuch, kurzfristig einen Facharzttermin zu erhalten und wenn ein Termin angeboten wurde, vergeblich darauf zu hoffen, dass die Wartezeit im Wartezimmer unter einer Stunde liegt. Ist die Diagnose nicht eindeutig, beginnt häufig eine z. T. monatelange Untersuchungsodyssee bei unterschiedlichen Ärzten1, die nicht persönlich zu dem Patienten miteinander ins Gespräch kommen. Die Untersuchungen finden an unterschiedlichen Orten statt und jedes Mal mit Wartezeit. Wer das System braucht, muss sich so organisieren, dass er die Bedingungen des Systems bedienen kann. Wer keinen kurzfristigen Facharzttermin oder einen Operationstermin bekommt, muss mit seinen Sorgen und den gesundheitlichen Problemen leben, bis er/sie dran ist.

Grundsätzlich ist es eher so, dass der Mensch zum System passen muss, nicht das System zum Menschen. Da sich soziale Systeme häufig gar nicht oder sehr langsam und lückenhaft an die Bedarfe der Menschen, an die Bedürfnisse und Voraussetzungen von Mitarbeitenden sowie an die Realitäten am Arbeitsmarkt anpassen, werden Ressourcen eingesetzt, die häufig nicht schnell genug oder gar nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Es gelingt dem System häufig nicht, schnell und wirksam wieder Unabhängigkeit von Hilfe herzustellen oder den Umfang der Hilfe, die notwendig ist, zu reduzieren und dadurch zu besseren Ergebnissen zu kommen und Kosten einzusparen.

Was braucht eine Person individuell vom jeweiligen System? Wann, wie lange, von wem, wo, wie und in welcher Qualität müssen u. a. medizinische, finanzielle oder pflegerische Leistungen erbracht werden, um dem bestehenden Bedarf einer Person an Hilfe und Unterstützung im Rahmen des Auftrages des Hilfesystems zu entsprechen? Was ist tatsächlich wirksam und hilft und was nicht? Wenn dies die Leitfragen sind, an dem sich ein Hilfesystem ausrichtet, dann ist es zwangsläufig, dass sich das System an die individuellen Unterstützungsbedarfe der Hilfesuchenden anpassen und an der Qualität der Ergebnisse messen lassen muss. Die Zielsetzung kann dabei nur sein, dass sich Hilfesysteme im Rahmen ihres inhaltlichen Auftrages in einem kontinuierlichen Prozess der Anpassung an die konkreten und berechtigten Bedarfe der Hilfesuchenden befinden.

Jedes Hilfesystem hat einen inhaltlichen Auftrag und dient dem Menschen. Für bessere Ergebnisse und weniger Kosten ist es notwendig, die Rolle, den konkreten Auftrag und die Zieldefinition jedes Hilfesystems zu schärfen. Gleichzeitig ist es notwendig, die Angemessenheit des Anspruchsverhaltens derjenigen zu überprüfen, die Hilfe von diesen Systemen brauchen. Hilfesysteme springen in Anlehnung an das Prinzip der »Subsidiarität« dann ein, wenn ein Mensch aus eigener Kraft und mit den eigenen Mitteln nicht weiterkommt und daher Hilfe benötigt.

Wenn beispielsweise die Selbstheilungskräfte in Kombination mit Ruhe und Wärme nicht ausreichen, um eine Erkältung zu überwinden, kommt der Hausarzt ins Spiel und stellt ggf. fest, es handelt sich um eine Bronchitis, die behandelt werden muss. Wenn eine Person unverschuldet den Arbeitsplatz verliert, springt die Agentur für Arbeit ein, bis die Person einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat und unterstützt dabei, einen neuen Arbeitsplatz anzunehmen, der möglichst langfristig zu der Person passt.

Hilfesysteme dienen dem Menschen. Sie sind jedoch nicht für das Lebensglück und den Lebenserfolg eines Menschen verantwortlich. Hilfesysteme haben nicht den Auftrag, die Verantwortung für u. a. die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit von Menschen zu übernehmen. Die Verantwortung für das eigene Leben trägt zunächst jeder Mensch selbst. Damit hat jeder Mensch eine persönliche und gesellschaftliche Mitwirkungspflicht und kann nur in einem bestimmten Rahmen Ansprüche an ein soziales System stellen. Auch im Hinblick darauf, dass Hilfesysteme begrenzte Ressourcen haben, sind solidarische Ansprüche und ein solidarisches Verhalten von denjenigen, die Hilfe dieser Systeme in Anspruch nehmen, notwendig.

Hilfesysteme unterstützen möglichst nur für einen begrenzten Zeitraum. Das Ziel ist es, dass Hilfesuchende so schnell und nachhaltig wie möglich wieder unabhängig von der Unterstützung des Systems werden oder sich der Umfang der benötigten Hilfeleistungen reduziert. Für Patienten ist das Ziel, so schnell wie möglich gesund zu werden und ihre Gesundheit nachhaltig zu erhalten oder Medikamente zu bekommen, durch die es möglich wird, trotz chronischer Erkrankung wie gewohnt das eigene Leben gestalten zu können. Für Personen, die eine Arbeit suchen, ist das Ziel, so schnell wie möglich einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Das Ziel der Unabhängigkeit wird erreicht, wenn das System präzise herausfindet, welche Leistungen eine Person temporär konkret braucht, um schnellstmöglich wieder so unabhängig wie möglich vom System und von Hilfe zu werden.

Für eine Analyse dessen, was tatsächlich gebraucht wird und was nicht, braucht es in Hilfesystemen eine Anpassung der zeitlichen und personelle Strukturen. Erst dann, wenn eine ergebnisorientierte Analyse der konkreten Bedarfe einer Person vorliegt, können zeitnah genau die Dienstleistungen erbracht und bewilligt werden, die zur Unabhängigkeit vom System führen und damit wirksam sind im Sinne der Ergebnisqualität. Damit wird nur das getan, was benötigt wird und etwas bringt. Das, was nicht notwendig ist und nichts bringt, wird weggelassen. Durch eine angepasste Analyse und die Reduktion auf das, was wirklich notwendig und wirksam ist, werden die Kosten nachhaltig gesenkt und die Ergebnisse verbessert. Dies bedeutet, dass kontinuierlich auf Basis von Kennzahlen überprüft werden muss, was wirksam ist und was nicht.

Warum gelingt dies nicht oder nur unzureichend? Die Akteure in sozialen Systemen und die Politik begründen dies primär damit, dass nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden können sowie mit dem Fachkräftemangel.

Wie die Kosten langfristig gesenkt und die Ergebnisse verbessert werden können, wird in diesem Buch am Beispiel der Eingliederungshilfe2 beschrieben, die Leistungen für Menschen mit Beeinträchtigung erbringt.

Dieses Buch ist das Ergebnis einer bisher 14-jährigen Forschung und praktischer Erfahrungen zum Thema Realisierung von Selbstbestimmung und Überprüfung von Wirkung in verschiedenen Organisationen der Eingliederungshilfe in Deutschland (Caritas, Diakonie, Lebenshilfe u. a.). Die 2022 veröffentlichte Forschungsarbeit »Selbstbestimmung, Wunsch- und Wahlrecht, Wirkungsnachweis: Wie gelingt dies Menschen mit intellektueller und sprachlicher Beeinträchtigung?« wird in diesem Buch auf die Praxis übertragen. Auf Basis der Forschungsergebnisse und der praktischen Erfahrungen in der Organisationsentwicklung und Geschäftsführung wurde das Verfahren »Selbstbestimmung und Wirkung« (SB&W) entwickelt und in der Praxis überprüft. Dieses Verfahren wird für die Eingliederungshilfe in Deutschland ein bedeutender Meilenstein für einen Neustart sein.

Durch dieses Verfahren SB&W wird ein Veränderungsprozess eingeleitet und umgesetzt, der in sozialen Systemen zur Verbesserung der Qualität der Leistungserbringung und zu besseren Ergebnissen führt sowie nachhaltig Kosteneinsparungen für das Gesamtsystem ermöglicht. Wird dieser Veränderungsprozess umgesetzt, hat die Eingliederungshilfe kein Fachkräfteproblem.

Das Verfahren SB&W wurde ursprünglich entwickelt und überprüft für Menschen mit intellektueller3 und sprachlicher Beeinträchtigung und einem sehr hohen Unterstützungsbedarf. Im Fokus standen Personenkreise, die dauerhaft auf Hilfeleistungen angewiesen sind – häufig über die gesamte Lebensspanne. Diese Personen sind und waren bisher umfassend vom Hilfesystem Eingliederungshilfe abhängig.

Der Auswahl dieses Personenkreises lag zu Beginn der Forschungsarbeit folgende Annahme zugrunde: Wenn das entwickelte Verfahren SB&W geeignet ist, für diesen Personenkreis eine Anpassung des Systems an die individuellen Bedarfe, Wünsche, Ziele und Präferenzen möglich zu machen und Unabhängigkeit vom System zu fördern, dann wird dieses Verfahren auch für andere Personenkreise geeignet sein. Ziel ist es, das Verfahren anzupassen und weiterzuentwickeln, u. a. für Menschen mit Demenzerkrankung, Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, Patientinnen und Patienten, die temporär – z. B. aufgrund einer schweren Erkrankung oder eines Unfalls – in ihrer Selbstbestimmung Einschränkungen erfahren, Eltern und Kinder, die Leistungen der Jugendhilfe in Anspruch nehmen und/oder auf finanzielle Hilfeleistungen des Staates angewiesen sind.

Das Verfahren SB&W und der damit verbundene Veränderungsprozess wird in diesem ersten Band für das Gesamtsystem Eingliederungshilfe beschrieben. Im Schwerpunkt werden die Personenkreise in den Fokus genommen, die in den »Besonderen Wohnformen«4 (ehemals: »stationäre« Einrichtungen) der Eingliederungshilfe leben und/oder in Werkstätten der Eingliederungshilfe arbeiten. In den folgenden Bänden dieser Publikationsreihe werden das Verfahren und die damit verbundenen Veränderungsprozesse auf andere Personenkreise und Hilfesysteme in Deutschland übertragen.

Dieses Buch ist entstanden5, damit alle Beteiligten auf Landes- und Bundesebene sowie im Sozialraum gemeinsam und schnell ins Handeln kommen. Ziel ist es, die Qualität der Ergebnisse in der Eingliederungshilfe zu verbessern und gleichzeitig die Kosten zu senken sowie eine dafür notwendige Personalausstattung jetzt und zukünftig zu sichern.

Dies wird nur gelingen, wenn Eltern und Angehörige, Bürgerinnen und Bürger, die Politik, die Leistungsanbieter und Kostenträger sowie Unternehmen im Sozialraum aktiv mitwirken und alle Beteiligten auch etwas davon haben. Wie kann ein Neustart für alle Beteiligten und für uns als Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ein realer Gewinn sein? Dies wird in diesem Plädoyer dargestellt.

Endnoten

1Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

2Die Eingliederungshilfe ist eine Sozialleistung, die seit 2020 in Deutschland im SGB IX-neu auf Basis des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) geregelt ist. Sie soll Menschen mit einer Behinderung oder von Behinderung bedrohten Menschen helfen, die Folgen ihrer Behinderung zu mildern und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzunehmen (§ 90 SGB IX).

3Bisher wird für den Begriff »intellektueller Beeinträchtigung« in Deutschland immer noch i. d. R. »Geistige Behinderung« verwendet.

4Die besondere Wohnform ist ein Leistungsangebot der Eingliederungshilfe gem. § 90 SGB IX-neu in Verb. mit § 113 Abs. 1 und 2 Nr. 2 SGB IX in Verb. mit § 78 Abs. 1 und 2 SGB IX für den Personenkreis erwachsener Menschen mit »geistiger und/oder mehrfacher Behinderung« nach § 99 SGB IX-neu.

5In diesem Leitfaden werden die Forschungsergebnisse aus der wissenschaftlichen Veröffentlichung der Autorin aus dem Jahr 2022 herangezogen.

1 Was ist Selbstbestimmung?»Das Selbst-Tun & Selbst-Entscheiden-Prinzip«

Jedes soziale System in Deutschland hat einen inhaltlichen Auftrag und dient dem Menschen. Die Unterstützungs- und Hilfesuchenden sind somit die Auftraggeber und entscheiden daher, was sie vom System brauchen im Sinne der Auftragserfüllung, zu dem das System verpflichtet ist.

Der inhaltliche Auftrag der Eingliederungshilfe wird im »Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen« (Bundesteilhabegesetz – BTHG) festgelegt. Laut BTHG als bundesdeutsche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention6 ist der Auftrag die Förderung von Selbstbestimmung und die Förderung der »vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Menschen«7.

Zur Erfüllung dieses Auftrages braucht es im ersten Schritt Antworten auf die Frage: Was ist Selbstbestimmung und wie kann Selbstbestimmung sichtbar und messbar gemacht werden?

Die sichtbaren Aspekte von Selbstbestimmung sind das Selbst-Entscheiden und das Selbst-Tun8. Je mehr eine Person selbst entscheiden kann, umso selbstbestimmter ist die Person. Wer selbst entscheiden kann, wie die vielen kleinen Dinge des Alltages gestaltet werden sollen und auch die großen Lebensentscheidungen selbst trifft, ist selbstbestimmt und erlebt Lebenszufriedenheit. Wenn wir selbst über uns und unser Leben entscheiden können, gestalten wir unsere Lebenswelt nach unseren Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Präferenzen. Damit ist eine bedeutsame Voraussetzung dafür geschafften, frei und glücklich zu sein. Der erste Schritt ist, eine Entscheidung treffen zu können. Der zweite Schritt ist dann zu handeln. Wir müssen etwas tun, damit eine Entscheidung Realität wird. Selbst-Tun als zweiter sichtbarer Aspekt der Selbstbestimmung bedeutet, je mehr eine Person selbst tun kann, umso selbstbestimmter ist die Person. Das bedeutet im Umkehrschluss, je weniger eine Person selbst tun kann, weil sie auf Hilfe angewiesen ist, umso abhängiger und unfreier ist die Person. Jeder, der schon einmal einen Arm oder ein Bein gebrochen hatte, kann das gut nachvollziehen. Weniger selbst tun zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein, schränkt unsere Freiheit und Lebensfreude ein.

Selbstbestimmung im Sinne von Selbst-Entscheiden und Selbst-Tun sind bedeutsame Voraussetzungen für Freiheit als Menschenrecht. Selbstbestimmung ist damit der Ausgangspunkt für jede Art individueller Entwicklung, für die gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und für Normalisierung9. Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung bedeutet, dass jeder Mensch so leben kann, wie er es zur Förderung des eigenen Wohlbefindens als Dimension von Lebensqualität will und braucht. Wenn das Selbst-Entscheiden und das Selbst-Tun eingeschränkt werden, entsteht das Gefühl von Fremdbestimmung und Unfreiheit.

Corona hat dies erlebbar gemacht. In der Zeit des Lockdowns konnten wir weniger Entscheidungen treffen und weniger tun als in der Zeit davor. Die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit war eingeschränkt und dies hat bei vielen Menschen das Gefühl der Unfreiheit erzeugt und die Lebensqualität bedeutsam eingeschränkt.

Selbstbestimmung bedeutet zudem, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft aus den gleichen gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Entscheidungsmöglichkeiten für die Gestaltung der eigenen Lebensrealität auswählen kann. Dabei wären in dieser Sichtweise die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Bedingungen sowie die Grenzen für die Auswahl von Entscheidungsmöglichkeiten für alle Teilnehmenden an dieser Gesellschaft gleich.

Selbstbestimmung bedeutet auch Grenzen der Machbarkeit von Entscheidungen. Wünschen, wählen und entscheiden zu können, bedeutet, als Gleichberechtigungsaspekt betrachtet, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigung mit einer Entscheidung für eine Möglichkeit gleichzeitig eine Entscheidung gegen eine alternative Möglichkeit treffen. Je nach Entscheidung verändert sich die eigene Lebensrealität. Damit werden mögliche alternative Möglichkeiten temporär, mittelfristig oder langfristig ausgeschlossen. Grenzen der Machbarkeit bedeutet auch, dass aufgrund individueller Voraussetzungen, wie u. a. sozialisations- und ressourcenbedingter Gegebenheiten (Biografie, Entwicklungsverläufe, Bildungshistorie, familiäre Unterstützungssysteme, monetäre Ressourcen usw.) und Merkmale, die in der Person liegen, für keine Person in der Gesellschaft »alles« möglich ist.

Bei der Betrachtung realisierter Selbstbestimmung geht es daher um die Vergleichbarkeit von Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen, die auf Leistungen der Eingliederungshilfe und/oder anderer sozialer Systeme (u. a. Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser, Förderschulen, heilpädagogische Kindergärten, Hilfesysteme für Menschen mit Migrationshintergrund) angewiesen sind und von Menschen, die ohne Leistungen dieser Systeme das individuelle Leben gestalten können. Im Fokus dieses Buches steht die Vergleichbarkeit von Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen, die in Wohngemeinschaften der Eingliederungshilfe leben und/oder in Werkstätten der Eingliederungshilfe arbeiten und von Menschen ohne Beeinträchtigung, die nicht in sozialen Einrichtungen leben oder arbeiten.

Soziale Hilfesysteme unterstützen Menschen dabei, bestehende Ungleichheiten in den individuellen Voraussetzungen für das gleichberechtigte Teilnehmen an der Gesellschaft auszugleichen. Dies erfolgt u. a. durch die Wiederherstellung von Gesundheit, durch möglichst gleiche Bildungschancen für jeden Menschen unabhängig von der Herkunftsfamilie, durch ausreichend viele Krippen- und Kitaplätze für alle Eltern, die einen Platz wünschen sowie durch Assistenz, Hilfsmittel und Barrierefreiheit für Menschen mit Beeinträchtigung.

Hilfesysteme springen dann ein, wenn ein Mensch aus eigener Kraft, mit den eigenen Mitteln und den zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht weiterkommt und daher Hilfe benötigt. Wann und welche Hilfe eine Person braucht, weiß die Person somit selbst am besten.

Im Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist als Mittel für die Realisierung von Selbstbestimmung das »Wunsch- und Wahlrecht« festgeschrieben. Das »Wunsch- und Wahlrecht« bedeutet, dass Menschen mit Beeinträchtigung das Recht haben zu entscheiden, was Sie vom Hilfesystem brauchen, wann, wo, wie, wie lange und von wem10. Dabei kann der Begriff »Wünschen« irreführend sein. Im BTHG wird somit von »berechtigten« Wünschen gesprochen, die berücksichtigt werden, damit die Ziele Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe erreicht werden können. Es wird festgelegt, dass der individuelle »Bedarf« einer Person ermittelt werden muss. Der Bedarf ist das, was eine Person individuell und konkret vom System braucht. Eine Person braucht das, was »eine Lücke zwischen dem, was aktuell ist und dem, was sein muss« schließt. Das Brauchen ist »das konkrete Verlangen nach Gütern und Dienstleistungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse«11. Laut der Bundesregierung richtet sich der individuelle Bedarf nach der Passung zum »gewohnten oder gewünschten Lebensfeld«12.

Der erste und wichtigste Schritt für ein Hilfesystem ist es daher, herauszubekommen, was eine Person tatsächlich braucht im Sinne von »Bedarf« und was nicht. Es geht nicht darum, aus dem, was ein System an Dienstleitungen anbietet, auszuwählen, was zu einer Person passen könnte. Es geht umgekehrt darum, herauszufinden, was eine Person konkret individuell braucht, um dann Angebote zu entwickeln, die zu der Person passen so wie ein maßgeschneidertes Kleidungsstück. Das bedeutet auch das wegzulassen, was nicht gebraucht wird. Die Konsequenz daraus wäre für die Eingliederungshilfe: Wenn ein Mensch nicht in einer Werkstatt der Eingliederungshilfe arbeiten will, muss dieser Person eine Alternative angeboten werden, die zu dem Brauchen und den Wünschen der Person passt. Wenn zunehmend mehr Menschen nicht in einer Werkstatt der Eingliederungshilfe arbeiten wollen, ist es zwangsläufig, dass Werkstätten kleiner werden oder schließen. Im Ergebnis verändert sich das System auf Basis dessen, was gebraucht und gewollt wird.