Soziale Netzwerke - Jan Arendt Fuhse - E-Book

Soziale Netzwerke E-Book

Jan Arendt Fuhse

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Beschreibung

Was versteht man unter sozialwissenschaftlicher Netzwerkforschung? Jan Arendt Fuhse liefert einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand und führt auf verständliche Weise in das praktische Arbeiten ein. Dabei werden Empfehlungen für die Wahl von Methoden und Hinweise für die theoret. Interpretation gegeben, sowie vor häufigen Fehlern und Problemen gewarnt. Definitionen, Literaturempfehlungen und ein Glossar erleichtern die Orientierung.

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[1]utb 4563

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[2]

PD Dr. Jan Arendt Fuhse ist als Heisenberg-Stipendiat am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin tätig. In seiner Forschung beleuchtet er das Zusammenspiel von sozialen Netzwerken, Sinnformen und Kommunikationsprozessen, sowie die Rolle unterschiedlicher Methoden in der Netzwerkforschung. Seit 2014 ist er Sprecher der Sektion für Soziologische Netzwerkforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

[3]Jan Arendt Fuhse

Soziale Netzwerke

Konzepte und Forschungsmethoden

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/Lucius · München

[4] Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Einbandmotiv: © hobbitfoot – Fotolia.com

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 4563

ISBN 978-3-8252-4563-4 (Print)

ISBN 978-3-8463-4563-4 (EPUB)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]Für Paula und Wilmar

[6][7]Inhalt

Vorwort

1.

Einleitung: Zur Logik der Netzwerkforschung

1.1

Netzwerkforschung

1.2

Anmerkungen zu Literatur

2.

Vorgeschichte: von Beziehungen zum Netzwerk

2.1

Formale Soziologie

2.2

Symbolischer Interaktionismus

2.3

Die Figurationssoziologie von Norbert Elias

2.4

Soziometrie

2.5

Von der Gestaltpsychologie zur Balance-Theorie

2.6

Der Human Relations-Ansatz

2.7

Frühe Gemeindestudien und Surveys

2.8

Britische Sozialanthropologie

2.9

Résumé

3.

Graphen und Matrizen

3.1

Graphen und Matrizen

3.2

Software für formale Netzwerkanalyse

3.3

Zur Messung von Netzwerken

3.4

Dichte und Reziprozität

3.5

Résumé

4.

Zentralität und strukturelle Löcher

4.1

Zentralität

4.2

Schwache Beziehungen und strukturelle Löcher

4.3

Résumé

5.

Triaden und Cliquen

5.1

Triaden

5.2

Cliquen

5.3

Résumé

6.

Blockmodellanalyse

6.1

Grundlegendes Vorgehen

6.2

Strukturelle Äquivalenz

[8]6.3

Das Verfahren der Blockmodellanalyse

6.4

Theoretische Interpretation

6.5

Résumé

7.

Simulationen und Small World-Netzwerke

7.1

In sechs Schritten um die Welt

7.2

Die Small World-Netzwerke bei Duncan Watts

7.3

Power Law und skalenfreie Netzwerke

7.4

Kritik

7.5

Simulationen

7.6

Exponential Random Graph Models

7.7

Résumé

8.

Ego-zentrierte Netzwerke

8.1

Namens-Generatoren

8.2

Namens-Interpreter

8.3

Statistische Auswertungen

8.4

Probleme der Erhebung

8.5

Schneeball-Befragung

8.6

Soziale Isolation in Amerika

8.7

Résumé und empirische Befunde

9.

Qualitative Methoden

9.1

Exploration

9.2

Verstehen

9.3

Teilnehmende Beobachtung

9.4

Qualitative Interviews

9.5

Dokumenten- und Konversationsanalyse

9.6

Résumé

10.

Netzwerkmechanismen

10.1

Drei Typen von Mechanismen

10.2

Netzwerkbildung

10.3

Netzwerkstrukturierung

10.4

Netzwerkeffekte

10.5

Überblick und Methoden

11.

Theorien sozialer Netzwerke

11.1

Handlungstheorie

11.2

Sozialkapital

11.3

Relationale Soziologie: Netzwerke mit Sinn

[9]11.4

Systemtheorie

11.5

Akteur-Netzwerk-Theorie

11.6

Résumé

12.

Schluss

12.1

Allgemeiner Ansatz

12.2

Hinweise zum Forschungsdesign

Literatur

Glossar

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Index

[10][11]Vorwort

Das vorliegende Lehrbuch ist aus einem Studienbrief für die TU Kaiserslautern entstanden. Ich danke Jochen Mayerl für den Vorschlag, sowie ihm, Christian Vogel und Norina Wolf für die dortige Betreuung. Sonja Rothländer von der UVK Verlagsgesellschaft Konstanz hat die Buchpublikation unterstützt und betreut und mit Marina Essig das Buch lektoriert. Lena May und Oscar Stuhler haben das gesamte Manuskript gelesen und kommentiert. Ihre Ausdauer und ihre ehrliche Kritik haben das Buch deutlich verbessert. Bei einzelnen konkreten Fragen haben Sanne Smith und Andreas Herz geholfen. Ganz abgesehen von den vielen Menschen, die bis heute ihr Wissen über Netzwerke mit mir geteilt haben und auf diese Weise für mich etwas Licht ins Dunkel brachten. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank!

Zu den stark anwendungsbezogenen Kapiteln 3 bis 6 des Buchs habe ich einige Übungsaufgaben mit Musterlösungen erstellt. Um Platz zu sparen, finden Sie die Musterlösungen online unter folgendem Link:

http://www.utb-shop.de/9783825245634

Zudem sind zentrale Begriffe in einem Glossar am Ende des Buches erläutert. Diese Begriffe sind im Text mit einem Pfeil ➔ gekennzeichnet.

In der Zeit der Entstehung dieses Buchs zeigte sich mir das Wunder des Lebens von zwei Seiten. Dieses Buch ist Paula gewidmet, die gerade viel lernt, und Wilmar, von dem ich so viel gelernt habe.

1.    [13]Einleitung: Zur Logik der Netzwerkforschung

Wer über die soziale Welt nachdenkt oder redet, kommt heute wohl kaum noch um »Netzwerke« herum. Früher ordnete man Menschen in »Klassen« oder in »Schichten« ein. Die Gesellschaft war bei Marx und Engels wie auch bei neueren Konflikttheoretikern (Dahrendorf, Collins) als Widerstreit von Gruppen um Rang und Ressourcen angelegt. Ab den 1950er-Jahren sprach alle Welt von »Systemen«. Parsons und Luhmann sahen die Gesellschaft als weitgehend harmonisches Arrangement von Systemen wie der Wirtschaft, der Politik oder der Wissenschaft. Habermas setzte »System« und »Lebenswelt« gegenüber. Seit den 1980er-Jahren kam es zum Siegeszug des rational handelnden Akteurs (Becker, Coleman, Esser). Individuen sollten ihr »Humankapital« und auch ihr ➔»Sozialkapital« maximieren, und Feuilletons und Buchläden boten hierfür Ratgeber an.

Langsam aber sicher nehmen mittlerweile die »Netzwerke« überhand. Hierfür einige Belege:

(1)

Wir müssen inzwischen »netzwerken« und unser Sozialkapital optimieren. Über Netzwerke finden wir Jobs und erhalten wichtige Informationen; mit Beziehungen zu wichtigen Persönlichkeiten kann man Eindruck schinden.

(2)

Interaktiv auf den Kontakt zwischen Benutzern ausgerichtete »Social Networking Sites« wie Xing, Academia oder Facebook werden zu unverzichtbaren Foren für Selbstdarstellung und Kommunikation.

(3)

Wir leben in einer ➔»Small World«, in der angeblich jede mit jedem über höchstens sechs Zwischenschritte in persönlichen Beziehungen verbunden ist. Diese »Six Degrees of Separation« sind zum Gegenstand von Bestsellern, einem Broadway-Theaterstück und Party-Gesprächen geworden.

(4)

Eine Reihe von prominenten Autoren (wie Castells und Wellman) sprechen von einer »Netzwerkgesellschaft«. Für sie sind inzwischen Netzwerke und nicht mehr Klassen oder Systeme die dominante soziale Struktur der Gegenwart (oder zumindest der Zukunft).

Wir werden in diesem Buch den Begriff des Sozialkapitals und die Small World-Netzwerke diskutieren. Social Networking Sites berühren wir nur am Rande, weil sie nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus der Welt sozialer Netzwerke[14] bilden. Und ob wir inzwischen oder bald in einer Netzwerkgesellschaft leben, ist empirisch schwer zu beantworten.

1.1    Netzwerkforschung

Der Fokus des vorliegenden Buchs liegt auf der empirisch orientierten Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften. Deren Aufstieg in den letzten 60 Jahren hat wohl den Siegeszug der Netzwerkmetapher im öffentlichen Diskurs mitgetragen. Sie will aber eigentlich etwas anderes: Ihr geht es um die empirische Untersuchung von sozialen Strukturen mit Blick auf die Beziehungsgeflechte zwischen den beteiligten Akteuren.1

Eine beeindruckende Reihe von Studien zeigt in ganz unterschiedlichen sozialen Bereichen Effekte von sozialen Netzwerken:

Oft werden Arbeitsstellen über ganz bestimmte soziale Beziehungen (»weak ties«) gefunden (Granovetter 1973: 1371ff).

Auch innerhalb von Unternehmen fördern bestimmte Positionen in persönlichen Netzwerken den beruflichen Aufstieg (Burt 1992: 115ff).

Soziale Beziehungsnetze bestimmen den Wechsel von Regimes – etwa von der Republik zur Herrschaft der Medici im Florenz der Renaissance (Padgett/Ansell 1993).

Für den Erfolg sozialer Bewegungen braucht es soziale Netzwerke zur Rekrutierung von Aktiven (McAdam 1988; Opp/Gern 1993) wie auch zur Bildung von Koalitionen zwischen unterschiedlichen Bewegungsorganisationen (Osa 2003; Baldassari/Diani 2007).

Die Liste ließe sich lang fortsetzen. Netzwerke spielen offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen – zwischen Individuen, aber auch zwischen Organisationen – und in ganz verschiedenen Phänomenen eine wichtige Rolle. Diese empirisch nachgewiesenen Effekte sind ein Beleg für die wichtige Rolle von Netzwerken im Sozialen.

Hinzu kommt, dass es uns sehr leicht fällt, in Netzwerken zu denken. Wir alle können uns intuitiv etwas unter einem Netzwerk von Sozialbeziehungen etwa in einer Schulklasse oder in einem Unternehmen vorstellen.

[15]Empirische Befunde und intuitive Zugänglichkeit sind die großen Pluspunkte des Netzwerkbegriffs. Um beide ist seit den 1950er-Jahren eine reichhaltige und interdisziplinäre Forschungstradition entstanden. Erste systematische Verwendung fand das Netzwerkkonzept in der britischen Sozialanthropologie. Schnell wurden in der Soziologie und in der Mathematik Verfahren für die formale Analyse von Beziehungsmustern entwickelt. Diese wurden u. a. in der Politikwissenschaft, in der Pädagogik, der Ökonomie und der Geschichtswissenschaft aufgenommen. In den letzten Jahren wendet sich sogar die Physik der Modellierung sozialer Netzwerke zu.

(a)           Was ist ein Netzwerk?

Was aber genau ist ein soziales Netzwerk? Rein formal-mathematisch besteht ein ➔Netzwerk aus Knoten und aus Verbindungen (»Kanten«) zwischen ihnen. Im hypothetischen Beispielnetzwerk in Abbildung 1 sind die Knoten a bis p in 24 Verbindungen miteinander verknüpft.

Angewandt auf soziale Netzwerke bedeutet das: Akteure sind die Knoten, und die Verbindungen zwischen ihnen stehen für Sozialbeziehungen. Dabei bleibt zunächst offen, um was für Akteure oder Sozialbeziehungen es geht.

(1)

Soziale➔Beziehungen können ungerichtet oder symmetrisch sein (wie im Beispielnetzwerk). Dies erwarten wir etwa für Freundschaften, Liebesbeziehungen oder auch für Konflikte. Daneben gibt es verschiedene, oft asymmetrisch angelegte Beziehungsarten wie Zuneigung, Loyalität oder [16] Machtbalancen. Allgemein bestehen Sozialbeziehungen aus beobachtbaren Regelmäßigkeiten der Interaktion zwischen Akteuren. Diesen Regelmäßigkeiten liegen meist entsprechende Erwartungen zugrunde (Fuhse 2009a: 52ff).

(2)

➔Akteure sind oft Individuen. Aber auch Organisationen oder Staaten können als Knoten in sozialen Netzwerken auftreten. Wie im allgemeinen Sprachgebrauch geht es um soziale Einheiten, denen wir Handeln zurechnen und bei denen wir erwarten, dass sie sich gegenüber anderen sozialen Einheiten unterschiedlich verhalten. So beobachten wir derzeit zwischen den Staaten Deutschland und Frankreich eine bessere Beziehung als zwischen Deutschland und China.

Abb. 1: Hypothetisches Beispielnetzwerk

Quelle: Eigene Darstellung

Definition: Ein soziales Netzwerk steht für das Muster an Sozialbeziehungen zwischen einer Menge von Akteuren. Sozialbeziehungen bezeichnen beobachtbare Regelmäßigkeiten der Interaktion zwischen Akteuren und entsprechende Verhaltenserwartungen.

(b)           Forschungslogik und Abgrenzungen

In der praktischen Forschung bedeutet das: Soziale Phänomene werden mit Blick auf das Muster von Sozialbeziehungen untersucht. Andere Aspekte wie die Verteilung von Attributen und Ressourcen, Kultur und Normen sind dabei nicht völlig unwichtig. Aber sie werden gegenüber den Beziehungsnetzen als zweitrangig betrachtet oder auch als Effekte derselben.

Insbesondere das individuelle Verhalten erscheint als Folge der Position im Netzwerk – und nicht als direkt bestimmt durch kategoriale Zugehörigkeiten (Geschlecht, ethnische Herkunft), durch individuelle Attribute (Alter, Bildung, Einkommen) oder durch Gruppenkultur und Normen (Ideologie, erwartete Verhaltensweisen, formale Rollen).

Teilweise werden diese anderen Aspekte sozialer Phänomene mit Blick auf Zusammenhänge zu sozialen Netzwerken untersucht. Gesucht wird dann nach den Ursachen oder nach den Folgen bestimmter Netzwerkpositionen. Immer aber bleiben Netzwerke zentraler Erklärungsfaktor sozialer Phänomene.

Drei Abgrenzungen sind dabei besonders wichtig:

(1)

Erstens misstraut die Netzwerkforschung grundsätzlich den Selbstbeschreibungen von sozialen Strukturen. Oft sehen die Beteiligten ihr soziales Umfeld als aufgeteilt in soziale Schichten oder Klassen (wie etwa in dem Artikel von J. A. Barnes über ein norwegisches Fischerdorf, in dem er das erste Mal das Netzwerkkonzept vorstellt; Barnes 1954; siehe 2.8). Ein[17] Blick auf die sozialen Netzwerke zeigt meist keine Trennung nach Schicht oder Klasse, sondern primär lokal basierte Beziehungen (wie bei Barnes oder auch bei Gould 1995). Mustafa Emirbayer und John Goodwin sprechen von einem »anti-kategorischen Imperativ« der Netzwerkforschung (1994: 1414): Den verfügbaren Kategorien zur Selbstbeschreibung sozialer Strukturen wird misstraut und möglichst unvoreingenommen und empirisch nach Strukturprinzipien in Netzwerken gesucht.

(2)

Zweitens grenzt sich die Netzwerkforschung deutlich von der statistisch orientierten Umfrageforschung ab (Wellman 1983: 165). Diese wird oft einfach als »empirische Sozialforschung« bezeichnet und teilweise verächtlich als »Variablensoziologie« tituliert. In Umfragen werden typischerweise mindestens 1.000 Individuen mit standardisierten Fragebögen nach Attributen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft, Beruf und Bildungsstand oder auch nach Einstellungen und Präferenzen (z. B. zur Wahlentscheidung) befragt. Das Ergebnis ist eine Datenmatrix von Individuen mit verschiedenen Ausprägungen von Attributen, Einstellungen und Präferenzen. Diese Ausprägungen werden dann mit statistischen Verfahren auf systematische Zusammenhänge untersucht. Zum Beispiel: Inwiefern hat das Geschlecht einen Einfluss auf das Einkommen oder auf die Wahlentscheidung?

Die Netzwerkforschung kritisiert an dieser Vorgehensweise zwei Punkte: Zum einen seien soziale Strukturen nicht auf prinzipiell isolierte Individuen (mit unterschiedlichen Merkmalsausprägungen) reduzierbar. Zum anderen liefere die Analyse von Zusammenhängen zwischen Merkmalsausprägungen ein irreführendes Bild des Sozialen: Selbst wenn statistisch ein Zusammenhang zwischen Geschlecht und Einkommen nachgewiesen wird, blieben die dahinter liegenden ➔Mechanismen unklar – weil das Soziale eben nicht aus isolierten Merkmalsträgern besteht, sondern aus dem Austausch zwischen ihnen. Die Netzwerkforschung erhebt den Anspruch, Netzwerke als reale soziale Strukturen zu untersuchen. Dem gegenüber liefern Verteilungen von Merkmalen in einer Population nur indirekte Anhaltspunkte, so der Vorwurf.

Natürlich reduziert auch die Netzwerkforschung das Soziale auf bestimmte Aspekte – nämlich auf die sozialen Beziehungsnetze. Der Anspruch der Netzwerkforschung ist aber, damit näher an der sozialen Realität zu liegen als mit der Reduktion auf isolierte Individuen in der klassischen empirischen Sozialforschung. In gewisser Weise ist dieses Argument eine Variante des anti-kategorischen Imperativs. Denn man geht eben nicht davon aus, dass die in Umfragen abgefragten Kategorien die entscheidenden oder prägenden Strukturen des Sozialen abbilden – sondern setzt auf die Untersuchung tatsächlicher Austauschbeziehungen.

[18](3)

Drittens formuliert die Netzwerkforschung eine deutliche Absage an rein theoretisches Arbeiten. Solches finden wir etwa in den Systemtheorien von Talcott Parsons und Niklas Luhmann, aber auch in der Kritischen Theorie und in anderen Gesellschaftsdiagnosen. Im Gegensatz dazu will die Netzwerkforschung Aussagen prinzipiell empirisch unterfüttern. Auch die eingangs formulierte These einer sich formierenden »Netzwerkgesellschaft« gehört zu solchen nicht überprüfbaren Aussagen und liegt der empirisch orientierten Netzwerkforschung fern. Mit dem Verzicht auf alles nicht empirie-fähige kann sie prinzipiell keine Aussagen über gesellschaftliche Strukturen oder über langfristige Entwicklungen treffen – außer man könnte sie untersuchen wie zum Beispiel die Struktur und Entwicklung von internationalen Beziehungen (Maoz 2010).

Damit betreibt die Netzwerkforschung die empirische Untersuchung von sozialen Strukturen auf der Meso-Ebene hinsichtlich der Muster sozialer Beziehungen. Diese liegen zwischen der Mikro-Ebene von Interaktionssituationen und der Makro-Ebene gesellschaftlicher Teilbereiche und Institutionen. Die Vorgehensweise ist prinzipiell strukturalistisch, weil die Strukturebene als zentral betrachtet wird. Der gesellschaftliche Kontext bleibt dabei genauso ausgeblendet (oder zumindest: nachgeordnet) wie die Verteilung individueller Attribute oder kulturelle Selbstverständnisse.

(c)           Vier Forschungsstränge und Überblick über das Buch

Innerhalb des so umrissenen Grundansatzes können wir soziale Netzwerke unterschiedlich betrachten. Je nach eingenommener Perspektive werden unterschiedliche Methoden zur Untersuchung benutzt. Dadurch werden verschiedene Aspekte von Netzwerken sichtbar. Grob lassen sich vier Herangehensweisen und Stränge in der Netzwerkforschung unterscheiden (Fuhse/ Mützel 2011):

(1)

Im Mittelpunkt steht die formale Analyse von Vollnetzwerken. Dafür braucht man Informationen über alle Sozialbeziehungen zwischen allen Akteuren in einem relativ abgegrenzten Kontext – etwa zwischen Schülern in einer Klasse oder den Mitarbeitern eines kleinen Unternehmens. Die Akteure können dann mit Blick auf ihre Zentralität oder ihre Rolle im Netzwerk miteinander verglichen werden. Oder man kann Aussagen über die Struktur des Gesamtnetzwerks treffen – etwa über die Dichte der Beziehungen oder über systematische Rollenbeziehungen. Im vorliegenden Buch beschäftigen sich die Kapitel 3 bis 7 mit unterschiedlichen Verfahren und Ansätze dieser ➔formalen Netzwerkanalyse.

[19](2)

Auch die statistische Analyse➔ego-zentrierter Netzwerke ist schon lang etabliert und anerkannt. Dabei werden meist zufällig ausgewählte Personen nach wichtigen sozialen Beziehungen gefragt. Aus den Antworten lässt sich etwa ablesen, ob die Befragten weitgehend Familie, Freunde und Bekannte mit ähnlichen Attributen (soziale Herkunft, Geschlecht, Alter, Bildung usw.) als Bezugspersonen nennen, wie viele Bezugspersonen sie nennen, und ob sich viele der Bezugspersonen untereinander kennen. Die Eigenschaften persönlicher Netzwerke werden dann mit statistischen Verfahren auf Zusammenhänge mit anderen individuellen Variablen untersucht. Damit lassen sich etwa folgende Fragen analysieren: Inwieweit pflegen Mitglieder ethnischer Gruppen vor allem Kontakte untereinander? Haben Frauen dichtere Beziehungsnetze? Werden Menschen im Alter sozial isoliert? Um die Erhebung und die Untersuchung ego-zentrierter Netzwerke geht es in Kapitel 8.

(3)

In den letzten Jahren werden verstärkt auch qualitative Methoden zur Untersuchung sozialer Netzwerken verwendet (Hollstein/Straus 2006; Crossley 2010; Bellotti 2015). Dabei geht es vor allem entweder um die Exploration von Netzwerkkontexten, die für quantitative Studien schwer zugänglich sind, oder um das Verstehen von Sinngehalten in Netzwerken: Welche Bedeutungen haben Beziehungen und Netzwerke für die Beteiligten? Wie werden diese in der Kommunikation ausgehandelt? Und sind unterschiedliche Stile oder Orientierungen an bestimmte Positionen im Netzwerk gebunden? Kapitel 9 behandelt die qualitative Untersuchung von sozialen Netzwerken.

(4)

Auch die theoretische Reflexion blieb lange relativ randständig in der Netzwerkforschung. Seit etwa 1990 behandelt jedoch eine Reihe von Publikationen Fragen wie: Was sind soziale Netzwerke genau, und wie verändern sie sich? Warum zeigen sie die vielfältigen, empirisch beobachtbaren Effekte (White 1992; Crossley 2011; Fuhse 2015a)? Um diese theoretische Reflexion und Unterfütterung der Netzwerkforschung geht es in Kapitel 11. In diesen Bereich gehören auch schon die konzeptionellen Überlegungen zu Sozialbeziehungen aus der formalen Soziologie von Georg Simmel und Leopold von Wiese und der Figurationssoziologie von Norbert Elias (Kapitel 2).

Diese vier Forschungsstränge sind immer wieder miteinander verwoben, etwa im Sozialkapitalkonzept (siehe 11.2) oder in der Identifikation von wieder kehrenden Netzwerkmechanismen (Kapitel 10). Es ist sinnvoll, das Phänomen Netzwerke von mehreren Seiten (mit unterschiedlichen Methoden) zu betrachten. Auch gehören empirische Forschung und theoretische Reflexion zusammen.

[20]Das Buch gliedert sich wie folgt:

Im zweiten Kapitel werden die Vorläufer der Netzwerkforschung beleuchtet. Dabei stehen die konzeptionelle Entwicklung in der formalen Soziologie, der britischen Sozialanthropologie und anderen Ansätzen im Vordergrund. Zusätzlich erläutere ich die Entwicklung von grundlegenden Ideen wie der Balance-Theorie und den Soziogrammen (2).

Anschließend stelle ich Graphen und Matrizen als Basis der Netzwerkanalyse vor, sowie die in den Kapiteln 3 bis 6 verwendete Software UCI- NET. Daneben diskutiere ich kurz die Messung von Netzwerken und erste Maßzahlen mit der Dichte und der Reziprozität von Netzwerken (3).

Das vierte Kapitel wendet sich der Untersuchung von individuellen Positionen im Netzwerk zu. Im Mittelpunkt stehen verschiedene Maße für Zentralität. Daneben werden die Stärke schwacher Beziehungen bzw. Brücken über strukturelle Löcher diskutiert (4).

Es folgt die Untersuchung von lokalen Strukturen in Netzwerken. Können wir dicht vernetzte Subgruppen (Cliquen) identifizieren? Und welche Grundkonstellationen von je drei Akteuren (Triaden) dominieren (5)?

Das sechste Kapitel stellt die Blockmodellanalyse als ein Verfahren für die Untersuchung der Gesamtstruktur von Netzwerken vor. Diese gruppiert Akteure induktiv zu Kategorien mit ähnlichen Rollenbeziehungen (6).

Die Kapitel 3 bis 6 stellen die jeweiligen Verfahren anhand einer Beispielstudie vor – den Freundschafts- und Ratsuchebeziehungen in einem kalifornischen IT-Unternehmen (Krackhardt 1992; 1999). Die Analyseschritte und Ergebnisse werden in UCINET durchgeführt und hierfür knappe Anleitungen gegeben. In diesen Kapiteln formuliere ich auch kurze Übungsaufgaben, um sich mit dem Programm und den Analysen vertraut zu machen.

Die restlichen Kapitel liefern eher Überblicke über die jeweilige Forschung:

Das siebte Kapitel behandelt neuere Entwicklungen: zum einen die Forschung zu sogenannten Small World-Netzwerken, also zur universalen Erreichbarkeit aller Individuen in wenigen Schritten; zum anderen die Verfahren der Netzwerksimulation und die damit verwandten Exponential Random Graph Models (7).

Anschließend geht es um die Untersuchung ego-zentrierter Netzwerke in standardisierten Befragungen. Hier stelle ich die wichtigsten Verfahren zur Erhebung und statistischen Analyse von wichtigen Sozialbeziehungen vor und diskutiere einige Ergebnisse aus der Forschung (8).

Das neunte Kapitel gibt einen Überblick über qualitative Methoden in der Netzwerkforschung – über die mit ihnen verfolgten Erkenntnisinteressen, sowie über die wichtigsten Verfahren: teilnehmende Beobachtung,[21]qualitative Interviews (mit Netzwerkkarten) und Dokumenten- und Konversationsanalyse (9).

Das zehnte Kapitel dreht sich um Netzwerkmechanismen. Dabei geht es um relativ kleinteilige und empirisch gut nachgewiesene Zusammenhänge der Netzwerkbildung, der Netzwerkstrukturierung und der Netzwerkeffekte (10).

Schließlich stelle ich die wichtigsten Theorien sozialer Netzwerke vor. Hier sind zunächst eine handlungstheoretische Modellierung und das Konzept des Sozialkapitals zu nennen. Es folgen die relationale Soziologie um Harrison White, die Systemtheorie und die Akteur-Netzwerk-Theorie (11).

Im Schluss skizziere ich den allgemeinen Ansatz der Netzwerkforschung und biete einige Hinweise zum Forschungsdesign an.

Am Ende des Buchs, nach dem Literaturverzeichnis, liefert ein Glossar eine Übersicht über die wichtigsten Begriffe zum schnellen Nachschlagen.

1.2    Anmerkungen zu Literatur

Es gibt bereits eine Reihe von Einführungsbüchern zu sozialen Netzwerken – auch im deutschen Sprachraum. Diese decken jedoch zumeist nicht die volle Bandbreite der Netzwerkforschung ab. Dorothea Jansen konzentriert sich auf die formale Netzwerkanalyse mit einigen Betrachtungen zu ego-zentrierten Netzwerken und zu Handlungstheorie und Sozialkapital (2003). Auch das Buch von Mark Trappmann, Hans Hummell und Wolfgang Sodeur behandelt vor allem die formale Netzwerkanalyse und liefert insbesondere Anleitungen für eigenständige Auswertungen (2011). Dies ist auch der Fokus der meisten englischsprachigen Lehrbücher (de Nooy et al. 2011; Hennig et al. 2012; Kadushin 2012; Prell 2012; Borgatti et al. 2013). Boris Holzer führt kurz in die formale Netzwerkanalyse ein und wendet sich dann der theoretischen Unterfütterung zu (2006). Um diese geht es auch in einer Einführung in die Theorie sozialer Netzwerke von Harrison White (Schmitt/Fuhse 2015). Ein von Betina Hollstein und Florian Straus herausgegebene Band behandelt die qualitative Untersuchung von Netzwerken (2006). Und ein neuer Band von Markus Gamper und Andreas Herz widmet sich der Untersuchung ego-zentrierter Netzwerke (2016).

Die genannten Publikationen behandeln ihr Schwerpunktthema differenzierter als das vorliegende Buch. Mir geht es eher um einen Überblick über die verschiedenen Ansätze. Was unterscheidet sie, und inwiefern gehören sie trotzdem zusammen als Stränge der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften? Welche Methoden bieten sich konkret an, um welche Forschungsfragen[22] zu beantworten? Am Schluss komme ich auf diese ganz zentrale Frage des Forschungsdesigns in der Untersuchung sozialer Netzwerke zurück.

Leseempfehlungen:

Holzer, Boris 2006: Netzwerke, Bielefeld: transcript.

Jansen, Dorothea 2003: Einführung in die Netzwerkanalyse, Wiesbaden 2003.

Kadushin, Charles 2012: Understanding Social Networks, Oxford: Oxford University Press.

Scott, John 2000: Social Network Analysis; Second Edition, London: Sage.

Stegbauer, Christian/Roger Häußling (Hg.) 2010: Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden: VS.

Trezzini, Bruno 1998: »Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse: Eine aktuelle Übersicht« Zeitschrift für Soziologie 27, 378–394. (online verfügbar unter: http://zfs-online.org/index.php/zfs/article/view/2984/2521)

Wellman, Barry 1983: »Network Analysis: Some Basic Principles« Sociological Theory 1, 155–200.

1      Ich bemühe mich in diesem Buch um eine geschlechtssensible Sprache. Um sperriges »Gendern« zu vermeiden, schreibe ich oft in generischen Feminina – ich hoffe, männliche Leser fühlen sich auch mit »Leserin« und »Forscherin« angesprochen. In Beispielen wechsle ich ohne weitere Erklärung zwischen männlichen und weiblichen Bezeichnungen. Der zentrale Begriff des Akteurs bleibt allerdings in diesem Buch männlich und »er«. Genau wie »die Person«/»sie« und »das Individu- um«/»es« verweist er auf weibliche, männliche oder auch queere Identitäten.

2.    Vorgeschichte: von Beziehungen zum Netzwerk

[23]Seit mindestens 200 Jahren werden Menschen als eingebettet in soziale Strukturen und Relationen gedacht. In diesem Kapitel stelle ich die wichtigsten frühen Ansätze vor, aus denen sich die heutige Netzwerkforschung entwickelt hat: Den Ausgangspunkt bildet die formale Soziologie von Georg Simmel (2.1). Deren Anregungen wurden vom symbolischen Interaktionismus (2.2), von Norbert Elias in seiner Figurationssoziologie (2.3), wohl auch in der Soziometrie von Jacob Moreno (2.4), in der Gestaltpsychologie (2.5), im Human Relations-Ansatz (2.6) und in frühen Gemeindestudien und Surveys (2.7) weiter entwickelt. Relativ unabhängig davon hat die Sozialanthropologie einen eigenen Netzwerkbegriff entwickelt (2.8). Diese Ansätze werden hier knapp mit einigen wichtigen Grundgedanken vorgestellt.2

2.1    Formale Soziologie

Den Startpunkt für die Entwicklung der Netzwerkforschung bilden um 1900 die konzeptionellen Formulierungen in der formalen Soziologie in Deutschland, insbesondere bei Georg Simmel.

Georg Simmel (1858–1918) gehört zur Gründergeneration der Soziologie. Wie viele Autoren seiner Zeit versuchte Simmel die theoretischen Grundlagen für die Soziologie als eigenständige Wissenschaft zu konzipieren. Dabei setzte er nicht wie Emile Durkheim auf die Gesellschaft als integrierter Einheit oder wie Max Weber auf das handelnde Individuum als Grundbaustein. Vielmehr stehen bei Simmel soziale Konstellationen im Mittelpunkt. Sein Konzept der »sozialen Form« und seine Einsichten in die Eigenlogik von Konstellationen bilden Ausgangspunkte für die heutige Netzwerkforschung.

Grundlegend für die Netzwerkforschung wurde Simmels Gegenüberstellung von Form und Inhalt im Sozialen ([1908] 1992: 17ff). Als Inhalt bezeichnet [24] er individuelle Triebe, Interessen und Neigungen. Diese führen dazu, dass Menschen in Kontakt miteinander treten – sie bestimmen aber nicht, was dann passiert. Denn dann kommt es zu »Wechselwirkungen« zwischen den Beteiligten, und diese Wechselwirkungen führen zur Ausbildung sozialer Konstellationen des Füreinander, Miteinander oder Gegeneinander. Diese soziale Konstellationen bilden die Form – oder genauer: die Formen – des Sozialen. Sie stehen für Verfestigungen der Wechselwirkungen und bestimmen viele soziale Phänomene.

Simmel zufolge geht es in der Soziologie genau darum, diese »Formen der Wechselwirkung […] in gedanklicher Ablösung von den Inhalten« zu betrachten ([1908] 1992: 20. Eine formale Soziologie untersucht also soziale Konstellationen und blendet dabei individuelle Neigungen und Interessen tendenziell aus. Genau das will auch die Netzwerkforschung: Soziale Konstellationen werden formal (erst einmal ungeachtet individueller Eigenschaften und Motive) analysiert mit Blick etwa auf strukturelle Vorteile oder Nachteile für Inhaber bestimmter Positionen in Netzwerken.

Bei Simmel finden sich auf dieser Grundlage eine Reihe von relevanten Überlegungen für die Netzwerkforschung (Hollstein 2001: 60ff; Fischer 2010):

Das genuin Soziale fängt eigentlich erst ab einer Konstellation mit drei Personen – einer ➔Triade – an (Simmel [1908] 1992: 114ff). Ab der Triade gewinnen soziale Konstellationen ein Eigenleben, die die Wechselwirkungen bestimmen.

Individuen stehen nach Simmel am Schnittpunkt zwischen sozialen Kreisen ([1908] 1992: 456ff). Diese strukturelle Position prägt und definiert sie. Umgekehrt beeinflussen sie auch die Gruppen, in denen sie Mitglied sind (Breiger 1974).

Simmels Gesetz der großen Zahl zufolge werden Gruppen umso unpersönlicher, je größer sie sind ([1908] 1992: 89f). Je größer die Gruppe, desto weniger wird sie durch die einzelnen Individuen, deren Eigenschaften und deren Ziele bestimmt.

Der Konflikt oder »Streit« zwischen zwei Gruppen wirkt bei beiden hochgradig integrativ ([1908] 1992: 284ff). In der Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind schließen sich die Reihen.

Ein Beispiel für eine triadische Konstellation ist die Figur des »lachenden Dritten« ([1908] 1992: 134ff). Zwei Parteien konkurrieren miteinander. Eine dritte Partei kann dann als neutraler Vermittler (etwa als Richter) auftreten. Oder sie kann die Situation als mögliches Zünglein an der Waage ausnutzen, indem sie ihre Unterstützung den beiden Konfliktparteien für entsprechende Gegenleistung anbietet. Allein die strukturelle Position sorgt hier für Vorteile.

[25]Mit seinem Fokus auf soziale Konstellationen (»Formen«) liefert Simmel einen wichtigen Grundbaustein für die Netzwerkforschung. Ihm fehlt aber ein Netzwerkbegriff für soziale Konstellationen als Muster von Sozialbeziehungen. Simmel benutzt hier noch das Gruppenkonzept. Dieses suggeriert aber eine Abgeschlossenheit und Homogenität sozialer Kontexte, die wir empirisch selten finden (Fuhse 2006: 252ff).

2.2    Symbolischer Interaktionismus

Glücklicherweise gingen die Anregungen der formalen Soziologie mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht vollkommen verloren. Ein wichtiger Strang führt über den symbolischen Interaktionismus in die amerikanische Soziologie. Der Chicagoer Professor Albion Small publizierte eine Reihe von frühen Arbeiten seines Bekannten Simmel in englischer Übersetzung in den ersten Ausgaben des American Journal of Sociology (Abbott 1999: 88).

Smalls Nachfolger William Thomas, George Herbert Mead und Herbert Blumer verbanden die formale Soziologie mit dem amerikanischen Pragmatismus von Dewey, James und Peirce zum symbolischen Interaktionismus. Von Simmel kam der starke Fokus auf Wechselwirkungen und soziale Konstellationen; aus dem Pragmatismus stammen eher philosophische und psychologische Einsichten in die subjektive Verarbeitung und Konstruktion von Sinn. Die Verbindung beider Theorien führte zu der Idee, dass Menschen Symbole austauschen und verarbeiten (Blumer [1969] 1986: 2ff). Wie Simmel sahen Blumer und Mead diese symbolvermittelte Interaktion vor allem innerhalb von Gruppen.

2.3    Die Figurationssoziologie von Norbert Elias

Ein zweiter Wirkungsstrang der formalen Soziologie läuft über Norbert Elias. Im Mittelpunkt seiner Soziologie steht der Begriff der Figuration. Diese steht für ein Geflecht von Interdependenzen zwischen Menschen (oder anderen Einheiten, etwa auch Staaten; Elias 1970: 11f, 140ff). Viele soziale Phänomene wie die Ausscheidungskämpfe zwischen Staaten, der Kalte Krieg, die Königsherrschaft oder Konflikte zwischen ethnischen Gruppen lassen sich Elias zufolge aus diesen Interdependenzen erklären.

Elias wendet sich einerseits gegen Erklärungsmodelle, die von autonom handelnden Individuen ausgehen, und andererseits gegen holistische Modelle von Gesellschaft als integrierter Einheit (wie in der Systemtheorie). Hier finden sich wichtige Grundgedanken von Georg Simmel, ohne dass Elias dies explizit macht.

[26]Norbert Elias (1897–1990) ging wie viele deutsche Sozialwissenschaftler während der NS-Herrschaft ins Exil (nach Großbritannien). Erst Ende der 1970er-Jahre wurde Elias durch die Neuauflage seines zweibändigen Werks Über den Zivilisationsprozess bekannt. Andere wichtige Werke behandeln die absolutistische Herrschaft Ludwigs XIV., die deutsche Gesellschaft und Kultur vor dem Nationalsozialismus und die Frage: Was ist Soziologie?

Elias entwickelt den Begriff der Figuration bereits in den 1930er-Jahren – lange vor dem Netzwerkbegriff. Er geht über den Gruppenbegriff hinaus, weil er die Beziehungskonstellation zwischen mehreren Akteuren betrachtet und zum Beispiel auch Interaktionsstrukturen innerhalb und zwischen Gruppen in den Blick nimmt (etwa in Elias/Scotson [1990] 1965). Später spricht Elias von »Netzwerk« und »Figuration« gleichermaßen (1970: 12 et passim).

Allerdings ist der Figurationsbegriff bei Elias nicht rein formal angelegt: Als Schüler des Wissenssoziologen Karl Mannheim untersucht Elias soziale Konstellationen verknüpft mit Sinnformen wie Ideologien, Feindbildern und Stereotypisierungen.

In seinen historischen Studien greift Elias vor allem auf Dokumente und auf Romane als Quellen zurück. Die für die Migrations- und die Stadtsoziologie wichtige Untersuchung Etablierte und Außenseiter (Elias/Scotson; [1965] 1990) benutzt qualitative Verfahren wie Interviews und ethnographische Beobachtungen. Viele der Überlegungen von Elias lassen sich aber auch mit quantitativen Verfahren überprüfen.

2.4    Soziometrie

Früher als Elias wurde eine andere Gruppe von Emigranten wichtig für die Entwicklung der Netzwerkforschung. Ganz wesentliche Anstöße erhielt die Netzwerkforschung durch die frühen soziometrischen Arbeiten von Jacob Moreno.

Jacob Levy Moreno (1889–1974) studierte in Wien Medizin und Psychotherapie, ging aber schon 1925 in die USA (nach New York). Dort entwickelte er in Studien mit Kindern und mit Strafgefangenen eine eigene Methode zur Messung von Gruppenkonstellationen – die Soziometrie.

Dieses quantitativ angelegte Instrumentarium kommt der ➔formalen Netzwerkanalyse sehr nahe, war aber prinzipiell auf die Therapie von[27]Gruppenprozessen ausgerichtet. Unter anderem entwarf Moreno eine Behandlung mittels Stegreiftheater (Psycho- oder Soziodrama).

In seinem Hauptwerk Who Shall Survive? von 1936 (deutsch: Die Grundlagen der Soziometrie) umreißt Moreno die Soziometrie als »die allen Sozialwissenschaften zugrunde liegende mikroskopische und mikrodynamische Wissenschaft« ([1936] 1996: 19). Es geht um die Untersuchung von mikrosozialen Konstellationen (und Prozessen), die in einer ganzen Reihe von Wissenschaften (Soziologie, Pädagogik, Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaft) wichtig werden.

Die theoretische Fundierung von Morenos Überlegungen bleibt dürftig. Dagegen finden sich bei ihm bereits viele ➔Netzwerkgraphen als Kern seiner Analyse ([1936] 1996: 67ff). Mit diesen »Soziogrammen« bildet er die Struktur von Beziehungen in einem Kindergarten, in Schulklassen und in einem Mädchenwohnheim ab. Dabei bietet er schon einige Grundformen von Netzwerkgraphen wie »isolierte Individuen« (A), »Paar« (B), »Dreiergruppe« (C), die »Kette« (D) und den »Stern« (E) an (siehe Abbildung 2). Zum Teil untersucht Moreno diese Beziehungsstrukturen auch schon statistisch, etwa mit Blick auf die Beziehungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Ethnien.

Abb. 2: Grundformen von Netzwerkgraphen (Soziogrammen)

Quelle: Eigene Darstellung nach Moreno ([1936] 1996: 69)

[28]Zurecht gelten die Arbeiten von Moreno heute als Geburtsstunde der formalen Netzwerkanalyse. Auch die von ihm gegründete Zeitschrift Sociometry wurde in der Folge sehr wichtig.3

2.5    Von der Gestaltpsychologie zur Balance-Theorie

Neben Moreno lieferten unter anderem Fritz Heider und Kurt Lewin wichtige Impulse. Diese kamen aus der Gestaltpsychologie – einer Forschungsrichtung, die sich auf das psychische Erkennen von Strukturmustern (»Gestalt«) konzentriert. Beide wendeten sich nach ihrer Emigration in die USA der Sozialpsychologie zu und untersuchten das Wechselspiel zwischen psychischen Vorgängen und sozialen Kontexten.

Bereits kurz nach seiner Emigration in die USA schlug Kurt Lewin eine Formel vor, der zufolge das individuelle Verhalten von Eigenschaften der Person und von ihrem jeweiligen Umfeld abhängt (1936). Zu diesem Umfeld gehört insbesondere die Einbettung in Relationen mit anderen – das »soziale Feld«. Heute gilt Lewin als einer der Väter der Feldtheorie in den Sozialwissenschaften (Martin 2003). Die Idee ist, dass sich Akteure an Personen in ihrer Umgebung orientieren und ihr Verhalten daran ausrichten. Die Strukturen des Felds lassen sich als Netzwerkbeziehungen analysieren (DiMaggio 1986; Powell et al. 2005). Des Weiteren entwickelte Lewin das Konzept der »Gruppendynamik« (1947): Mitglieder einer Gruppe können sich so gegenseitig beeinflussen, dass sich ihr Verhalten nicht mehr aus den isolierten Eigenheiten und Dispositionen der Beteiligten, sondern aus ihrem Zusammenwirken erklärt.

Vielleicht der wichtigste Schüler Lewins war Leon Festinger. Für die Netzwerkforschung sind vor allem Festingers Studien von Interesse, die zeigten: Soziale Beziehungen bilden sich meistens dort, wo Menschen aufeinander treffen – also etwa im privaten Wohnumfeld (Festinger et al. 1950: 34ff). Dieses Prinzip wurde später von Scott Feld als Fokus-Theorie verallgemeinert (1981): Soziale Beziehungen entstehen an Orten mit gemeinsamen Aktivitäten – sogenannten ➔»Aktivitäts-Foki« (siehe 10.2).

Auch Fritz Heider untersucht die soziale Einbettung von Einstellungen. Heider zufolge versuchen wir in unseren Einstellungen gegenüber Objekten [29] in eine Balance mit unserem sozialen Umfeld zu gelangen (1946): Wir bewerten tendenziell solche Objekte positiv, die auch von Mitmenschen positiv bewertet werden, die wir selbst mögen. Zum Beispiel orientieren wir uns an den politischen Einstellungen unserer Freunde und Familienmitgliedern. Umgekehrt sehen wir tendenziell solche Objekte negativ, die auch unsere Freunde nicht mögen. Auch dies ist eine Form möglicher Balance. Eine dritte Form besteht zwischen Menschen, die sich nicht mögen. Von diesen müssten Objekte diametral entgegengesetzt bewertet werden, um ihre Einstellungen in Balance zu bringen. Ein Beispiel hierfür wäre eine Abneigung gegen Personen, die eine uns unsympathische Partei wählen.

Diese Überlegungen bleiben bei Heider sehr abstrakt und noch in der Form von Hypothesen. Für die Netzwerkforschung wurde eine Weiterentwicklung seiner Balance-Theorie wichtig. Den Lewin-Schülern Dorwin Cartwright und Frank Harary zufolge lassen sich Heiders Überlegungen auf reine Beziehungskonstellationen übertragen (1956): Drei Akteure haben entweder nur positive Beziehungen untereinander (z. B. Freundschaft). Oder sie haben zwei negative Beziehungen und eine positive – ich werde mich also mit dem Feind meines Feindes verbünden, oder mich mit dem Feind meines Freundes oder Verbündeten ebenfalls verfeinden. Der erste Fall heißt »positive➔Transitivität«, der zweite »negative Transitivität« ( Tabelle 1).

Tab. 1: Positiv und negativ transitive Triaden, Beispiele für Balance-Mechanismen

Positive Beziehungen sind mit [+], negative mit [-] markiert.

Quelle: Eigene Darstellung

[30]Definition: Netzwerkstrukturen sind in Balance in dem Maße, in dem die Beziehungen zwischen Akteuren konsistent positiv oder negativ sind. Positiv transitiv sind Netzwerke, wenn Akteure positive Beziehungen miteinander haben, die auch indirekt positiv verbunden sind. In negativ transitiven Netzwerken ist eine Sozialbeziehung negativ, wenn die Beteiligten indirekt über je eine positive und eine negative Beziehung verbunden sind, und sie ist positiv, wenn die Beteiligten indirekt über zwei negative Beziehungen verbunden sind.

Unterschiedliche Beziehungskonstellationen lassen sich nun daraufhin untersuchen, wie ausbalanciert sie sind. Netzwerke sind in Balance, wenn die beteiligten Akteure ➔Triaden mit positiver und negativer Transitivität bilden. Aus der Balance-Theorie ergeben sich zwei Hypothesen:

(1)

Netzwerke neigen dazu, sich durch die Formierung von neuen Beziehungen oder die Auflösung von alten Beziehungen auszubalancieren.

(2)

Bestehende Netzwerkstrukturen sind überwiegend ausbalanciert.

Beide Hypothesen sind in empirischen Studien etwa in Schulklassen recht gut belegt. Allerdings gelten sie hauptsächlich innerhalb abgeschlossener Kontexte, in denen man etwa dem Feind eines Freundes nicht einfach aus dem Weg gehen kann (Martin 2009: 42ff).

Lewin, Festinger und Cartwright forschten ab 1945 am neu gegründeten Center for Group Dynamics am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das ein wichtiges Zentrum für die Untersuchung von Gruppenprozessen wurde.

2.6    Der Human Relations-Ansatz

Seit circa 1930 initiierten Elton Mayo und W. Lloyd Warner an der Harvard University – in direkter Nachbarschaft des MIT – die Untersuchung von Netzwerken in Organisationen und in Gemeinden (siehe nächster Abschnitt).

Mayo und Warner kamen beide aus Australien und waren dort während ihres Studiums in Kontakt mit dem strukturalen Denken des Anthropologen A. R. Radcliffe-Brown gekommen (Scott 2000: 16ff; siehe 2.8). Der Fokus der Forschung von Elton Mayo lag auf der Entwicklung von Organisationen (Unternehmen, Verwaltung etc.). Dabei ging es um die Optimierung von Arbeitsprozessen. Dafür wurden informale Strukturen von Freundschaften zwischen Mitarbeitern als wichtig erachtet. Entsprechend untersuchte Mayo mit seinem Team informale Beziehungen, die sie als »human relations«[31] bezeichneten. Aus diesem Ansatz wurden einige empirische Studien wichtig für die Netzwerkforschung:

Die Hawthorne-Studie – behandelt die Arbeitsorganisation und informalen Beziehungen in einem Elektrizitätswerk. Die Autoren rekonstruieren hier unter anderem informale Beziehungen (Freundschaften, Antagonismen) und die Beteiligungen an sozialen Ereignissen (Spielen, Konversationen, praktischen Hilfen) zwischen den 14 Arbeitern im sogenannten »Bank Wiring Room« (Roethlisberger/Dickson [1939] 1964: 501, 503f, 506f).

Mayos Kollege William Foote Whyte untersuchte informale Beziehungen in einer Straßengang in Boston – ebenfalls mit frühen Soziogrammen, aber ohne statistische Analysen ([1943] 1993: 13, 49, 156, 184, 188).

In der von Lloyd Warner angeleiteten Gemeindestudie Deep South wurden die Cliquenstrukturen zwischen afro-amerikanischen Frauen in »Old City« untersucht (Davis et al. 1941: 147ff). Deren Zugehörigkeit zu ➔Cliquen zeigte sich in der gemeinsamen Teilnahme an Veranstaltungen.

Hier finden wir das erste Beispiel für ein sogenanntes ➔Two-Mode-Netzwerk