Sozialismus - Kristian Niemietz - E-Book

Sozialismus E-Book

Kristian Niemietz

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Beschreibung

Es gibt wohl kaum ein schillernderes Phänomen als den Sozialismus. In den letzten 100 Jahren gab es mehr als zwei Dutzend Versuche, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, von der ehemaligen Sowjetunion über Kuba und Nordkorea bis hin zu Venezuela – alle waren früher oder später zum Scheitern verurteilt. Wie kann eine Idee, die sich so oft, in so vielen unterschiedlichen Varianten und Kontexten als unrealisierbar herausgestellt hat, nach wie vor so populär sein? Der Autor zeigt an wichtigen historischen Beispielen diese Kluft zwischen dem idealen Konzept einer besseren Gesellschaft und dem real existierenden Sozialismus auf.

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KRISTIAN NIEMIETZ

SOZIALISMUS

DIE GESCHEITERTE IDEE, DIE NIEMALS STIRBT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2021

© 2021 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe Socialism – The Failed Idea That Never Dies © 2019 Institute of Economic Affairs (IEA), London.

All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Kristian Niemietz

Redaktion: Renate Oettinger

Korrektorat: Silvia Kinkel

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: Shutterstock/Alexander Shimanov

Satz: Daniel Förster

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print 978-3-95972-440-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-828-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-829-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

»Die rote Fahne […] weht vom Königsschloss und allen öffentlichen Gebäuden Berlins. […] [U]nsere langjährigen Mühen und Kämpfe für die gerechte Sache des arbeitenden Volkes sind nunmehr durch den Erfolg gekrönt worden. Die morsche Gesellschaftsordnung des Kapitalismus und des Ausbeutertums ist zusammengebrochen. Meine Aufzeichnungen sollen […] die Auferstehung des neuen Reichs der Brüderlichkeit und der allgemeinen Menschenliebe für meine Kinder und Kindeskinder beschreiben.«

Eugen Richter: Sozialdemokratische Zukunftsbilder (Kapitel 1)

»[S]eit heute früh […] [sind] die Brotration auf die Hälfte herabgesetzt und die Fleischration gänzlich in Wegfall gebracht […]

[E]s wird mir unmöglich, diese Aufzeichnungen in ihrem bisherigen Umfang weiter fortzusetzen. Denn ab morgen tritt die Verlängerung der Arbeitskraft auf 12 Stunden in Kraft. […] Man behandelt mich auch jetzt derartig als politisch verdächtig, dass ich nicht mehr sicher bin vor einer Haussuchung und Beschlagnahmung meiner Papiere.«

Eugen Richter: Sozialdemokratische Zukunftsbilder (1891: Kapitel 32)

INHALT

Vorwort von Rainer Zitelmann

KAPITEL 1

Auferstanden aus Ruinen: Der Sozialismus ist wieder da

KAPITEL 2

Die Irrtümer der Sozialisten

KAPITEL 3

Die Sowjetunion unter Stalin: »Die Macht geht tatsächlich vom Volke aus«

KAPITEL 4

China unter Mao Tse-Tung: »Die Inkarnation der neuen Zivilisation der Welt«

KAPITEL 5

Kuba: »Der Beginn eines neuen Menschen«

KAPITEL 6

Nordkorea unter Kim Il Sung: »Ein Messias, kein Diktator«

KAPITEL 7

Albanien unter Enver Hoxha: »Die Arbeiterklasse ist an der Macht«

KAPITEL 8

Kambodscha unter den Roten Khmer: »Das Königreich der Gerechtigkeit«

KAPITEL 9

Die DDR unter der SED: »Die organisierte Macht der Arbeiterklasse«

KAPITEL 10

Venezuela unter Chávez und Maduro: »Ein anderer und ein besserer Weg. Er heißt Sozialismus«

KAPITEL 11

Warum fällt der Groschen nicht?

EPILOG

Eine alternative Geschichte vom »echten« Sozialismus

Über den Autor

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

»Wir können nicht von einem Ende des Kommunismus sprechen. Der Kommunismus als Gesellschaftsform ist noch nie ausprobiert worden.«

Prof. Stephen Resnick, University of Massachusetts

»Es gab nicht einen Hauch von Sozialismus in der Sowjetunion. […] Es hatte mit Sozialismus nichts zu tun.«

Prof. Noam Chomsky (YouTube, Noam Chomsky –The Soviet Union vs. Socialism, 29.10.2014)

»Der Sozialismus ist eine gute Idee, die in der Praxis nur schlecht umgesetzt wurde.«

Aus einer Umfrage in Deutschland im Jahre 2002. 45 Prozent derWestdeutschen und 82 Prozent der Ostdeutschen stimmten zu.

»Eine sozialistische Gesellschaft […] gibt es noch nicht, aber eines Tages muss es sie geben.«

Owen Jones (2016)

»Wir können hieraus keine Schlussfolgerungen über den ›Sozialismus‹ oder den ›Kommunismus‹ ziehen, da Castro, Mao, Stalin und Lenin gar nicht erst versucht haben, diese Ideen umzusetzen.«

Nathan J. Robinson (Current Affairs, 2017)

»Der Sozialismus ist noch nie ausprobiert worden.«

Sozialistische Partei Großbritanniens (1999)

»Der Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus hat nie stattgefunden. Die Sowjets haben keinen Kommunismus eingeführt.«

Prof. Richard Wolff, University of Massachusetts

»China und Kuba haben genauso wenig mit Sozialismus zu tun wie die frühere Sowjetunion oder der Ostblock.«

N.N., The International Socialist Organization

»Sozialismus […] ist nicht gescheitert, weil er noch nicht begonnen wurde.«

Vereinigte Linke [Ostdeutsche Oppositionsgruppe] (1990)

»Es gibt kein Land auf der Welt, das ich als sozialistisch beschreiben wurde.«

Eric Ruder, Socialist Worker (2010)

»Warum beschuldigen wir den Sozialismus? Das ist nicht die Ideologie, die hier [in Venezuela] am Werk ist, so, wie auch in der Sowjetunion kein Sozialismus praktiziert wurde. […] Hätten Maduro und seine Regierung sich tatsächlich an die egalitären, demokratischen Werte des Sozialismus gehalten, dann würden auch keine Menschen verhungern.«

Ryan Beitler (2017)

»Den ›echten‹ Sozialimus gab’s bisher noch nicht.«

Saskia Esken (in einem Tweet 2019)

»Nach siebzig Jahren Erfahrung mit dem Sozialismus können wir festhalten, dass die meisten Intellektuellen […] nicht bereit sind, sich einmal zu fragen, ob es nicht vielleicht Gründe dafür gibt, dass der Sozialismus, so oft er auch ausprobiert wird, nie so funktioniert, wie seine intellektuellen Vorreiter sich das vorstellen. Die vergebliche Suche der Intellektuellen nach einer echten sozialistischen Gemeinschaft […] führt zu einer Idealisierung, und dann zur Desillusionierung, mit einer offenbar endlosen Kette von ›Utopien‹ – die Sowjetunion, dann Kuba, China, Jugoslawien, Vietnam, Tansania, Nicaragua.«

F. A. Hayek (1988)

VORWORTVON RAINER ZITELMANN

Im Mai 2018 jährte sich der 200. Geburtstag von Karl Marx. In allen Medien fand ein großer Trubel um diesen Tag statt. Die FAZ brachte im Feuilleton unter der großlettrigen Überschrift »Der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt« über zwei ganze Seiten Marx-Zitate, die belegen sollten, wie inspirierend und aktuell er als Denker sei. Wichtig sei es, so hieß es in dem Artikel, dass man »Marx mit dem Kopf von heute liest und in seinem Werk weniger Begründung für ein System sucht und mehr für die Anregung für neue Gedanken«. Neue Gedanken? Ja, es ist natürlich schöner und aufbauender, sich mit über 170 Jahre alten Marx-Zitaten zu beschäftigen und sich »neue Gedanken« auszudenken als damit, was seitdem im Namen der marxistischen Ideologie angerichtet wurde, der mehr als 100 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Warum entfalten sozialistische Ideen wieder eine so große Attraktivität, obwohl alle sozialistischen Experimente in den vergangenen 100 Jahren gescheitert sind? Dieses Buch gibt überzeugende Antworten. Kristian Niemietz nennt über zwei Dutzend sozialistische Experimente, die alle ausnahmslos zum Fehlschlag gerieten. Man könnte sogar noch mehr aufzählen, denn auch die Experimente des sogenannten »demokratischen Sozialismus« – etwa in Schweden und Großbritannien in den 1970er-Jahren – sind gescheitert.

Doch wenn man Sozialisten mit Beispielen aus der Geschichte konfrontiert, entgegen sie stets: Diese Beispiele bewiesen gar nichts, da es sich in Wahrheit nicht um sozialistische Modelle gehandelt habe. Intellektuelle sahen jedoch genau dies in der »Blütezeit«, die die meisten sozialistischen Experimente erlebten, ganz anders, wie Niemietz an vielen Beispielen belegt. Der jüngste Fall ist Venezuela. 1970 war es noch das reichste Land Lateinamerikas und eines der 20 reichsten Länder der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf war sogar höher als das von Spanien, Griechenland oder Israel und nur 13 Prozent niedriger als das von Großbritannien. Der Abschwung des südamerikanischen Landes begann in jener Dekade. Einer der Gründe für die Probleme war die starke Abhängigkeit vom Erdöl. Es kamen weitere Ursachen hinzu, insbesondere ein außergewöhnlich überregulierter Arbeitsmarkt, der seit 1974 durch immer neue Vorschriften weiter eingeschränkt wurde. In kaum einem anderen Land Lateinamerikas (und weltweit) wurde der Arbeitsmarkt mit einem so engmaschigen Netz von Regulierungen überzogen.

Viele Menschen in Venezuela hofften, der 1999 an die Regierung gelangte charismatische Sozialist Hugo Chávez würde die Probleme des Landes – Korruption, Armut, wirtschaftlicher Niedergang – lösen. Chávez war indes nicht nur Hoffnungsträger für viele arme Menschen in Venezuela, sondern er entfesselte die Utopie-Sehnsüchte der Linken in Europa und Nordamerika mit der Parole vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«.

Nachdem Ende der 1980er-Jahre der Sozialismus in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten zusammengebrochen war und sich die Chinesen auf den Weg vom Sozialismus zum Kapitalismus begeben hatten, fehlte der Linken das Utopia, von dem sie träumen konnte. Nordkorea und Kuba als einzig verbliebene kommunistische Staaten eigneten sich dafür nicht so recht. Hugo Chávez füllte die Lücke. Der europapolitische Sprecher der Linkspartei im Deutschen Bundestag schwärmte: »Was Chávez macht, ist auch der Weg, in Deutschland die ökonomischen Probleme zu lösen«, und Sahra Wagenknecht pries ihn als »großen Präsidenten«, der mit seinem ganzen Leben für den »Kampf um Gerechtigkeit und Würde« stand. Chávez habe bewiesen, dass »ein anderes Wirtschaftsmodell möglich sei«. Heute, wo die Menschen in Venezuela hungern und die Inflation so hoch ist wie in keinem anderen Land, erklären uns die Sozialisten, Venezuela sei ja niemals ein sozialistisches Land gewesen.

Niemietz zeigt, dass sogar Massenmörder wie Josef Stalin in gleicher Weise von führenden Intellektuellen ihrer Zeit begeistert gefeiert wurden. Es handelte sich nicht um Außenseiter, sondern um renommierte Schriftsteller und Wissenschaftler. Selbst die Konzentrationslager in der Sowjetunion, die Gulags, wurden verharmlost und manchmal sogar bewundert. Ja, es gab auch kritische Stimmen unter sozialistischen Intellektuellen zur Sowjetunion. Aber bei vielen von ihnen war der Grund für ihre Distanz, dass sie als Maßstab der Beurteilung weltfremde Utopien anlegten, vor denen kein System auf der Welt Bestand gehabt hätte.

Viele westliche Intellektuelle begeisterten sich in den 1970er-Jahren für Mao Zedong und die von ihm initiierte Kulturrevolution, obwohl allein während des größten sozialistischen Experimentes – dem »Großen Sprung nach vorn« Ende der 1950er-Jahre – 45 Millionen Menschen starben. Ich war damals Teenager und teilte die Begeisterung.

Nach Maos Tod, als infolge der Reformpolitik von Deng Xiaoping Hunderte Millionen Chinesen aus bitterer Armut befreit wurden, begeisterten sich diese Intellektuellen nicht mehr für China, wie sie das zu Maos Zeiten getan hatten. Dabei zeigt gerade das Beispiel des »Reichs der Mitte«, wie segensreich der Kapitalismus ist. 1980 lebten 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut, heute ist ihr Anteil auf unter 1 Prozent gesunken.

Im Westen herrscht ein großes Missverständnis über die Ursachen von Chinas ökonomischem Erfolg. Viele Menschen glauben, das Land habe wirtschaftlich einen genialen »Dritten Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus entdeckt, und der große Einfluss des Staates sei der Grund für den Erfolg. Ich traf 2018 den renommierten chinesischen Ökonomen Zhang Weiying in Peking, der maßgeblich an den Wirtschaftsreformen beteiligt war. Er widersprach dieser Interpretation: Die Tatsache, dass der Staat heute noch eine wichtige Rolle in China spiele, komme einfach daher, weil man ursprünglich von einem Zustand einer fast 100-prozentigen Staatswirtschaft komme. Der Erfolg Chinas basiere darauf, dass die Rolle des Staates sukzessive zurückgedrängt worden sei, das Privateigentum eingeführt und dem Markt mehr Raum gegeben wurde. »Chinas wirtschaftlicher Aufstieg erfolgte nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates«, betonte Zhang Weiying in dem Gespräch immer wieder. Heute ist die Privatwirtschaft Hauptmotor des chinesischen Wirtschaftswachstums. Sie trägt 60 Prozent zum chinesischen BIP bei, ist für 70 Prozent der Innovation, 80 Prozent der städtischen Beschäftigung und 90 Prozent der neuen Arbeitsplätze verantwortlich. Darüber hinaus ist der private Sektor für 70 Prozent der Investitionen und 90 Prozent der Exporte verantwortlich.

Das Beispiel Chinas belegt einmal mehr, dass Marktwirtschaft und Privateigentum der sozialistischen Wirtschaftsweise überlegen sind. In seiner historischen Analyse zeigt Niemietz, dass bislang jedes sozialistische Experiment drei Phasen durchlief: In einer ersten Phase sind Intellektuelle weltweit begeistert und preisen das System in den höchsten Tönen. Auf die Phase des Enthusiasmus folgt stets eine zweite Phase der Ernüchterung: Das System und seine »Errungenschaften« werden zwar noch verteidigt, aber nicht mehr unkritisch unterstützt. Mängel werden zugegeben, aber gerne als Wirken von kapitalistischen Saboteuren, ausländischen Kräften oder als Ergebnis des Boykotts durch den US-Imperialismus dargestellt. Schließlich folgt die dritte Phase, in der bestritten wird, dass es sich überhaupt um eine Form des Sozialismus gehandelt habe. Nun heißt es, das betreffende Land – beispielsweise die Sowjetunion, China oder Venezuela – sei in Wahrheit niemals sozialistisch gewesen. Diese Argumentation, so Niemietz, wird jedoch selten in der ersten Phase nach Beginn eines neuen sozialistischen Experimentes vorgetragen, sondern wird zur herrschenden Sicht erst nach dem Scheitern des sozialistischen Experimentes.

Dem real existierenden Kapitalismus wird heute von Sozialisten in westlichen Ländern kein irgendwann in der Geschichte real existierender Sozialismus entgegengesetzt, sondern eine vage Utopie einer »gerechten« Gesellschaft.

Die Sozialisten, die sich heute kritisch zum »Stalinismus« und zu anderen Formen des historisch real existierenden Sozialismus äußern, versäumen es jedoch stets, die ökonomischen Gründe für das Scheitern dieser Systeme zu analysieren. In ihren Analysen werden fehlende demokratische Rechte und fehlende Freiheiten in diesen Systemen kritisiert, aber die Alternative, die dazu formuliert wird, ist eine vage Vision von allumfassender »Demokratisierung der Wirtschaft« oder »Arbeiterkontrolle«. Doch dies sind genau jene Postulate, unter denen auch die später gescheiterten sozialistischen Systeme in der Sowjetunion und anderen Ländern ursprünglich einmal angetreten sind.

Dieses Buch sollte eigentlich Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten sein, wo heute oft das Lied der Kapitalismuskritik angestimmt wird. Hegel meinte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.«

Vielleicht ist dieses Urteil zu streng. Aber in der Tat sind die meisten Menschen nicht in der Lage, bestimmte historische Erfahrungen zu verallgemeinern. Aus den mannigfachen Beispielen, wo mehr Kapitalismus zu mehr Wohlstand führte, wollen viele Menschen nicht die naheliegenden Lehren ziehen, ebenso wenig wie aus dem Scheitern aller jemals auf der Welt probierten Varianten des Sozialismus.

Sozialisten können kein einziges Beispiel eines real existierenden, funktionierenden Sozialismus nennen. Im Kopf kann man sich alles ausdenken. Und wenn man Konstrukte einer »perfekten« und »idealen« Gesellschaft mit der Realität vergleicht, muss die Realität immer schlecht abschneiden. Das ist genauso fair, wie wenn jemand Ihre Ehe mit der Schilderung der perfekten Liebesromanze in einem kitschigen Groschenroman vergleichen würde.

Als der Kapitalismus vor etwa 200 Jahren entstand, lebten mehr als 90 Prozent der Menschen auf der Welt in extremer Armut. Das Durchschnittseinkommen entsprach dem in den ärmsten afrikanischen Staaten von heute. Durch die Entwicklung des Kapitalismus wurde der Anteil der extrem armen Menschen auf der Welt auf unter 10 Prozent reduziert – und dies trotz der Versiebenfachung der Weltbevölkerung in dieser Zeit. Die Hälfte dieser Reduktion vollzog sich in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten, die aus Sicht von Kapitalismuskritikern wie dem französischen Ökonomen Thomas Piketty gerade besonders schlimme Jahre waren, weil die »Schere zwischen Arm und Reich« in einigen entwickelten Ländern immer weiter auseinandergegangen sei.

Es ist eine erstaunliche PR-Leistung der Sozialisten, dass sie das System, das so erfolgreich bei der Bekämpfung von Hunger und Armut war wie kein anderes Wirtschaftssystem in der Geschichte, als »menschenverachtenden Raubtierkapitalismus« denunziert haben, während der Begriff »Sozialismus« heute wieder einen schönen Klang für viele Menschen hat. Wie den Sozialisten diese Meisterleistung gelungen ist, erfahren Sie in diesem Buch. Meine Bitte: Wenn Sie es gelesen haben, kaufen Sie noch mehr Exemplare und verschenken sie. Dies ist eines der wichtigsten Bücher, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind – helfen Sie mit, es zu verbreiten!

Dr. Dr. Rainer Zitelmann, Verfasser von Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung: Eine Zeitreise durch 5 Kontinente, Januar 2021

KAPITEL 1

AUFERSTANDEN AUS RUINEN: DER SOZIALISMUS IST WIEDER DA

1.1 Der Rückkehr des Sozialismus

Der Sozialismus ist wieder in Mode gekommen – nicht nur unter Studenten, sondern auch unter Leuten in ihren Dreißigern, Vierzigern und teils darüber hinaus.

In den USA geben 35 Prozent aller »Millennials« – also derjenigen, die in den 1980ern und 1990ern zur Welt kamen – an, eine positive Meinung zum Begriff »Marxismus« zu haben. 36 Prozent aller Millennials haben eine positive Meinung zum Begriff »Kommunismus« und 49 Prozent zum Begriff »Sozialismus« (Victims of Communism Memorial Foundation & YouGov 2019).

In Großbritannien verhält es sich ähnlich: Zwei von fünf Millennials stimmen der Aussage zu, der Kommunismus hätte funktionieren können, wenn man ihn »besser ausgeführt« hätte (Number Cruncher Politics 2018). Weitere zwei von fünf sind sich nicht sicher oder möchten nicht Position beziehen, was bedeutet, dass nur jeder fünfte diese Aussage ablehnt. Auch geben zwei Fünftel aller britischen Millennials an, eine positive Einstellung zum Sozialismus zu haben, ein Ergebnis, das von Umfrage zu Umfrage in etwa konstant bleibt und das nicht davon abhängt, wie genau die Frage formuliert wird (YouGov 2017a, YouGov 2016a). Viele derer, die den Sozialismus nicht aktiv bejahen, lehnen ihn nicht ab, sondern haben lediglich keine Meinung zu dem Thema. Filtert man die Unentschlossenen heraus, so wird klar, dass die Zahl der Sozialismus-Befürworter die der Sozialismus-Kritiker deutlich übersteigt. Beim Kapitalismus verhält es sich umgekehrt.

Sowohl in den USA als auch in Großbritannien ist der Zuspruch zum Sozialismus unter Millennials besonders groß, beschränkt sich aber nicht ausschließlich auf diese Generation. Auch unter Angehörigen der »Generation X« – also derjenigen, die in den 1970ern und späten 1960ern zur Welt kamen – steht noch etwa jeder Dritte dem Sozialismus positiv gegenüber.

Die Situation in Deutschland ist nur insofern anders, als der Sozialismus hier nie so richtig »weg« war und sich der Zuspruch zum Sozialismus nicht speziell auf jüngere Leute konzentriert. In Deutschland hat fast jeder Zweite eine positive Einstellung zum Sozialismus und nur jeder Vierte eine negative, während es sich beim Kapitalismus fast exakt spiegelverkehrt verhält (YouGov 2016c). Das Meinungsforschungsinstitut YouGov fasst die Situation folgendermaßen zusammen:

»Junge Briten und Amerikaner sehen den Sozialismus meist positiver als ältere – und auch positiver als den Kapitalismus. […] [D]as Image des Sozialismus [ist] in Deutschland insgesamt deutlich besser als in den USA und Großbritannien, das des Kapitalismus dafür umso schlechter. […] Einen Altersunterschied gibt es in Deutschland allerdings nicht. Jene Generationen, die den ›real existierenden Sozialismus‹ der DDR noch mitbekommen haben, sehen Sozialismus und Kapitalismus im Prinzip genauso wie die nach der Wende Geborenen.«

Das ist vermutlich der Grund, warum der Begriff des »Millennial Socialism«, der im angelsächsischen Sprachraum in den letzten Jahren zu einem feststehenden Begriff geworden ist, bislang keine direkte deutsche Entsprechung hat. Auch ist es in Deutschland weniger angemessen, von einem »Revival« des Sozialismus zu sprechen, da dieses Phänomen hier nicht erst in den letzten Jahren aufgekommen ist. Schon in den 2000ern und den 1990ern stimmte eine Mehrheit der Deutschen der Aussage zu, der Sozialismus sei eine gute Idee, die in der Praxis nur schlecht umgesetzt worden sei (Statista 2007, Stöcker 2016, S. 202, Gaber 2007, S. 245–250).

Zuspruch zum Sozialismus ist nicht nur Zuspruch zu einem populären Schlagwort. In einer britischen Umfrage stimmten 37 Prozent der 18-bis 50-Jährigen der Aussage »Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen reduziert die Lebensstandards von Millionen von Menschen, denn er hilft vor allem den Reichen, hat Armutslöhne für viele Arbeiter zur Folge und führt oft zu minderwertigen Produkten und Dienstleistungen« zu. Nur 29 Prozent stimmen der gegenteiligen Aussage zu, nämlich »Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen erhöht die Lebensstandards der meisten Menschen, denn er führt zu neuen und besseren Produkten und Dienstleistungen, schafft neue Arbeitsplätze, und hält die Preise niedrig« (YouGov 2017b). (Die Übrigen antworteten: »Weiß nicht«.)

In einer weiteren Umfrage wurden die Teilnehmer zu ihren Assoziationen mit Kapitalismus, Sozialismus und weiteren -ismen befragt. Es bestätigt sich, dass der Kapitalismus überwiegend mit negativen Eigenschaften wie »gierig«, »korrupt« und »spaltend« in Verbindung gebracht wird, der Sozialismus dagegen mit positiven wie »gemeinwohlorientiert«, »hilft den meisten Menschen« und »fair« (Legatum Institute 2017). Die meistgenannte negative Assoziation mit Sozialismus lautet »naiv«, eine Eigenschaft, die im Grunde gar nicht so negativ ist und die vielen sogar sympathisch sein dürfte.

Wenn es um konkrete Politikvorschläge geht, so sind vor allem Verstaatlichungen extrem populär. Eine deutliche Mehrheit der Briten befürworten zum Beispiel die (Wieder-)Verstaatlichung von Verkehrsbetrieben im Fern- und Nahverkehr, von Versorgungsunternehmen (Strom, Gas und Wasser), des Postwesens und weiterer Sektoren. Die genauen Zahlen unterscheiden sich von Umfrage zu Umfrage, aber die Grundtendenz ist immer die gleiche (Legatum Institute 2017, YouGov 2017c, YouGov 2016b, YouGov 2015a, YouGov 2013). Auch in Bereichen, in denen sich keine absolute Mehrheit für eine Verstaatlichung finden lässt, gibt es zumindest immer eine starke Minderheit, die dafür ist. So will etwa immerhin noch jeder Vierte Autohersteller und Reisebüros verstaatlichen, während jeder Dritte Lebensmittelhändler und Telefon- und Internetanbieter vergesellschaften will (Legatum Institute 2017, YouGov 2017c).

Staatlich festgesetzte Preise sind ebenfalls sehr populär, obwohl dies von Branche zu Branche variiert. Über 70 Prozent aller Briten befürworten etwa gesetzliche Höchstpreise für Energie und Transport (YouGov 2013). Beim Thema Mietpreiskontrollen kommt es darauf an, welcher Umfrage man Glauben schenken möchte, aber zumindest in einigen Umfragen finden sich auch hierfür Zweidrittelmehrheiten (siehe Hilton 2016). Für staatlich festgesetzte Lebensmittelpreise à la Venezuela gibt es keine Mehrheit, es wird aber immer noch von jedem Dritten befürwortet.

Staatliche Regulierung und staatliche Lenkung von Unternehmensentscheidungen finden ebenfalls große Zustimmung, sowohl im Abstrakten als auch, wenn konkrete Beispiele genannt werden. Hierzu gibt es eine Meinungsstudie des Legatum Instituts, die zu verschiedenen Themen je eine etatistische Position und eine marktliberale Position einander gegenüberstellen – etwa »Managergehälter sollten begrenzt werden« vs. »Unternehmen sollten ihre Manager so entlohnen, wie es ihnen angemessen scheint« oder »Der Staat muss das Verhalten von Unternehmen in stärkerem Maße regulieren« vs. »Der Staat reguliert die Privatwirtschaft zu stark«. Die Befragten sollen sich dabei für je eine dieser Positionen entscheiden. In keinem einzigen Fall findet sich eine Mehrheit für die marktliberale Position. Selbst Aussagen wie »Großbritannien wäre ein besseres Land, wenn Unternehmen weniger Gewinne machen würden« setzen sich mit deutlichem Vorsprung durch.

Jeder zweite Brite wünscht sich zudem höhere Staatsausgaben (NatCen Social Research 2017), obwohl die Fragestellung klar macht, dass dies zu höheren Steuern führen muss. Fast alle übrigen Befragten möchten Staatsausgaben und Steuern auf dem gegenwärtigen Niveau halten. Einen kleineren Staat wünscht sich praktisch niemand.

Die Situation in Deutschland ist nicht grundlegend anders. Acht von zehn Bundesbürgern finden, dass die Privatisierungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten zu weit gegangen sei. Ein weiterer von diesen zehn hält den Status quo in etwa für richtig, aber die Ansicht, die Privatisierungspolitik sei nicht weit genug gegangen, ist eine exotische Randmeinung, die in Deutschland fast niemand vertritt.1 Drei von vier Deutschen finden, der Sozialabbau sei in den zurückliegenden Jahrzehnten zu weit gegangen. Neun von zehn glauben, die Einkommens- und Vermögensungleichheit sei ausgeufert, und sehen darin eine Ursache sozialer Probleme. Nur jeder Dritte ist der Meinung, es gebe in Deutschland einen ausreichenden sozialen Ausgleich, und weniger als jeder Dritte hält den Reichtum der Vermögenden für zu rechtfertigen. 87 Prozent der Bundesbürger wünschen sich höhere Staatsausgaben.

In Berlin sind 55 Prozent der Bürger für eine Enteignung von Großvermietern.2 Dafür gibt es bundesweit derzeit keine Mehrheit (wenngleich es auch keine absolute Mehrheit dagegen gibt) – für einen Mietendeckel nach Berliner Vorbild allerdings schon.3 Für die Wiedereinführung der Vermögensteuer gibt es eine Mehrheit von 61 Prozent, eine Senkung der Unternehmensbesteuerung will nur jeder Dritte.

Verstaatlichungen sind in Deutschland schon lange beliebt. Eine deutliche Mehrheit findet, der Telekommunikationssektor, der Eisenbahnverkehr und das Energiewesen gehörten in öffentliche Hände (Niemietz 2009). Auch in anderen Sektoren spricht sich eine Mehrheit, oder doch zumindest eine starke Minderheit, für Verstaatlichungen aus (Destatis 2008). Es gibt praktisch keinen Wirtschaftszweig, den nicht mindestens jeder Vierte verstaatlichen möchte.

Viele dieser Politikvorschläge sind, für sich genommen, nicht sonderlich radikal. Ein gewisses Maß an Staatsinterventionismus ist noch kein Kommunismus: Ein staatlicher Energiesektor macht noch kein Nordkorea, und eine Vermögensteuer macht noch kein Kuba. Selbst in den liberalsten Marktwirtschaften der Welt, zu denen man etwa Hongkong und Singapur, aber auch die Schweiz zählen könnte, gibt es Bereiche, in denen der Staat sehr aktiv ist.

Was solche Umfrageergebnisse allerdings zeigen, ist, dass die oft gehörte Behauptung, es gebe so etwas wie eine »neoliberale Hegemonie«, vollkommen falsch ist. Der Zeitgeist ist etatistisch und interventionistisch, sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien. Marktliberalismus ist eine unpopuläre und politisch erfolglose Randmeinung.

1.2 Der antikapitalistische Mainstream

Umfragen gewähren uns einen Einblick in die politische Stimmung in der Gesamtbevölkerung. Unter politisch besonders engagierten Menschen sind sozialistische – oder zumindest antikapitalistische – Ideen schon lange Konsens, ja, eine Art Dauermode. So hatten zum Beispiel die meisten größeren Protestbewegungen der vergangenen Jahrzehnte einen dezidiert antikapitalistischen Unterton: die Proteste gegen Sparpolitik, Occupy, die globalisierungskritische Bewegung um Attac oder aktuell Black Lives Matter und die Bewegung Fridays For Future beziehungsweise Schulstreik für das Klima.

2011 versuchten ein paar Liberale und Konservative, in der Londoner Innenstadt eine Demonstration gegen die ausufernde Staatsverschuldung zu organisieren. Wie zu erwarten war, floppte dieser Versuch kläglich und wurde in den linken Medien – verständlicherweise – belächelt.4 Linke Proteste gegen Sparmaßnahmen zogen damals regelmäßig Zehntausende und manchmal Hunderttausende von Teilnehmern an. Zum Protest gegen die Staatsverschuldung erschienen gerade mal zweihundert.

Das Quasi-Monopol der Antikapitalisten auf Proteste ist insofern bemerkenswert, als es dabei oft um Anliegen geht, die mit dem Wirtschaftssystem zuerst einmal wenig bis gar nichts zu tun haben. Der Klimawandel zum Beispiel ist ein Problem, mit dem alle Wirtschaftssysteme irgendwie klarkommen müssen, seien sie nun kapitalistisch, sozialistisch oder irgendetwas anderes. Die Emissionen einer Fabrik sinken ja nicht dadurch, dass man sie in Gemeineigentum überführt, und die Umweltbilanz realsozialistischer Systeme war nun wirklich nicht erfreulich (siehe zum Beispiel Fink et al. 2019). Trotzdem hat sich die Vorstellung eingebürgert, der Klimawandel sei ein spezifisch kapitalistisches Problem, das innerhalb des Kapitalismus nicht zu lösen sei.5 Naomi Kleins Buch Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima, in dem diese These vertreten wird, wurde sofort zu einem preisgekrönten Bestseller.

Bei Black Lives Matter ging es anfangs ausschließlich um die Überwindung von rassistisch motivierter Polizeigewalt und von Ungerechtigkeiten im Justizsystem. Das sind, so sollte man doch hoffen, Anliegen, auf die sich im Grunde Vertreter ganz unterschiedlicher Denkrichtungen einigen können. Hier sollte es doch ein Leichtes sein, eine breite, lagerübergreifende Koalition zu bilden.

Dazu kam es allerdings nicht, denn zumindest mancherorts positionierte sich Black Lives Matter schnell mehrheitlich im Lager der antikapitalistischen Linken. Der britische Landesverband, Black Lives Matter UK, beschreibt es als das Ziel der Organisation,

»den Imperialismus, den Kapitalismus, ›white supremacy‹, das Patriarchat und staatliche Strukturen, die in Großbritannien und der Welt vor allem Schwarzen schaden, zu zerstören.«6

Liberalen oder konservativen Schwarzen, wie in Großbritannien etwa Calvin Robinson, wurde schnell klargemacht, dass sie bei Black Lives Matter nicht willkommen sind.

Ein weiteres Barometer für den Zeitgeist ist der Verkaufserfolg antikapitalistischer Bücher. Naomi Klein, Noam Chomsky, Slavoj Žižek, Yanis Varoufakis, Owen Jones, Ha-Joon Chang, Mark Fisher, Aaron Bastani, Paul Mason, Grace Blakeley und viele andere sind, zumindest in ihrer jeweiligen Sparte, allesamt Bestsellerautoren. Gerade in den vergangenen Jahren sind zahlreiche sozialistische Bücher mit Titeln wie beispielsweise Fully Automated Luxury Communism, The Socialist Manifesto oder Why Women have Better Sex Under Socialism erschienen, die zumindest Achtungserfolge auf dem Büchermarkt erzielt haben. Marktliberale Bücher dagegen sind Ladenhüter, sofern sie denn überhaupt aufzutreiben sind. Die Bücher von sozialdemokratischen (aber nicht antikapitalistischen) Autoren, wie etwa Joseph Stiglitz, Paul Krugman oder Thomas Piketty, gehören, relativ betrachtet, oft noch zu den »neoliberalsten«, die sich auf den Auslagetischen von Buchhandlungen finden. Wenn das eine »neoliberale Hegemonie« ist, dann muss man sich wirklich fragen, wie eine linke Hegemonie erst aussehen würde.

Auch haben sozialistische Kandidaten und Parteien in den zurückliegenden Jahren in vielen westlichen Ländern zumindest vorübergehend Erfolge erzielen können. Als Auftakt muss hier wohl der Überraschungserfolg der sozialistischen Partei Syriza gelten, die in der griechischen Parlamentswahl von 2015 ein Wahlergebnis von 36 Prozent erzielte und dann vier Jahre lang eine Regierungskoalition bilden konnte. Im Jahr darauf kam in Spanien eine sozialistische Neugründung, Podemos, aus dem Stegreif auf 21 Prozent. Im gleichen Jahr kam in den USA Senator Bernie Sanders, der sich selbst als demokratischen Sozialisten bezeichnet, in die Schlussrunde des Nominierungswahlkampfes der Demokratischen Partei für die Kandidatur zur US-Präsidentschaft. Zwei Jahre später wurden zwei Mitglieder der Demokratischen Sozialisten von Amerika (DSA), Alexandria Ocasio-Cortez und Rashida Tlaib, ins Repräsentantenhaus gewählt.

In der französischen Präsidentschaftswahl von 2017 konnte der marxistische Kandidat Jean-Luc Mélenchon ein Fünftel aller Stimmen auf sich vereinen. In der britischen Unterhauswahl des gleichen Jahres erzielte die Labour-Partei mit ihrem sozialistischen Spitzenkandidaten Jeremy Corbyn 40 Prozent aller Stimmen, was einen Zugewinn von 10 Prozentpunkten gegenüber der vorangegangenen Wahl darstellte.

Vor allem Letzteres war ein sensationelles Ergebnis. Corbyns Kandidatur für das Amt des Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten wurde 2015 anfangs kaum ernst genommen. Corbyn galt als altlinkes Fossil, als Überbleibsel eines Parteiflügels, der in den frühen 1980er-Jahren einmal die Partei dominiert hatte, aber schon längst keine Rolle mehr spielte. Tony Blair war 1996 einmal in einem Interview gefragt worden, ob er sich denn sicher sei, dass er die sozialistischen Betonköpfe in seiner Partei unter Kontrolle habe. Blair hatte darauf scherzhaft geantwortet: »Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen, dass Jeremy Corbyn auf einmal das Ruder übernimmt.«

Es gab Konservative, die sich 2015 aus Spaß für ein paar Minuten der Labour-Partei anschlossen, nur um in dieser internen Wahl für Corbyn stimmen zu können. Sie waren sich sicher, dass das die Partei völlig unwählbar machen würde.7 Ernsthaftere Konservative machten sich Sorgen, dass ihre Partei ohne eine glaubhafte Opposition zu träge und behäbig werden würde.

Dann aber geschah im Sommer 2015 etwas völlig Unvorhergesehenes: Innerhalb von nur wenigen Wochen wurde die »Corbynmania«, scheinbar aus dem Nichts heraus, zu einer landesweiten Massenbewegung, die vor allem eine Jugendbewegung war. Wo Corbyn auch auftrat, waren die Marktplätze und Veranstaltungsräume prall gefüllt mit begeisterten jungen Menschen. Der Journalist Dan Hodges (eigentlich ein Corbyn-Kritiker, der dem Blair-Flügel der Labour-Partei nahesteht) beschreibt die Atmosphäre auf einer der frühen Corbyn-Kundgebungen folgendermaßen:

»600 Leute zwängten sich in die Haupthalle. Ein paar hundert mehr quetschen sich in einen Auffangraum. Weitere 500 stehen draußen auf der Straße, und um die Ecke herum, Schlange. Sie waren gekommen. […] Die Armee der Neuen Linken. Sie ist real.

›So was habe ich noch nie gesehen‹, sagt eine meiner Kolleginnen […] Da war eine elektrische Spannung im Raum. Fast schon ein Fieber. Irgendwas passierte da. Keiner wusste genau, was. Aber etwas.«8

Für Kritiker war es wie ein religiöser Kult oder Massenwahn. Auf dem Glastonbury-Musikfestival sangen Tausende aus voller Kehle den Namen Corbyns.9 Die Mitgliederzahl der Partei explodierte von 200 000 auf fast 600 000, was Labour zur größten Partei Europas machte.

Corbyns Umfragewerte blieben allerdings lange Zeit schlecht, was die konservative Premierministerin Theresa May zu einer verfrühten Neuwahl verleitete. Fast alle Prognosen sagten einen haushohen Sieg der Konservativen voraus. In der Wahlnacht kam es dann zu einer Sensation. Corbyn fuhr für Labour das beste Wahlergebnis seit den frühen Blair-Jahren ein. Hätten nur Wähler unter 50 Jahren ihre Stimme abgegeben, so hätte Corbyn diese Wahl haushoch gewonnen, wären es nur Wähler unter 30 gewesen, so hätte er sogar eine Zweidrittelmehrheit erzielt. Die Konservativen dagegen verloren ihre Parlamentsmehrheit und mussten eine tolerierte Minderheitsregierung bilden. Theresa May blieb Premierministerin, aber der eigentliche Wahlsieger hieß Corbyn.

In Deutschland war es der JuSo-Vorsitzende Kevin Kühnert, der 2019 eine Sozialismusdebatte anstieß. Kühnert hatte die Kollektivierung größerer Unternehmen gefordert:

»Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar.«

Auch der private Wohnungsmarkt sollte abgeschafft werden:

»Ich finde nicht, dass es ein legitimes Geschäftsmodell ist, mit dem Wohnraum anderer Menschen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. […] [J]eder [sollte] maximal den Wohnraum besitzen, in dem er selbst wohnt.«10

Kühnerts Äußerungen stießen auf Kritik, aber auch auf viel Lob. Kühnert hatte im Prinzip nur ausgesprochen, was, wie die oben genannten Umfragen zeigen, viele Millionen Menschen in Deutschland denken. Anders als die meisten Verfechter solcher Positionen hatte Kühnert seine Ideen allerdings explizit mit dem Begriff »Sozialismus« in Verbindung gebracht, der für manche nach wie vor ein Reizwort darstellt.

Ende des gleichen Jahres wurde Saskia Esken, die sich, ähnlich wie Kühnert, zu einem »demokratischen Sozialismus« bekennt, zur SPD-Vorsitzenden gewählt.

Der Sozialismus-Hype hat also vielerorts auch Einzug in die Tagespolitik gehalten. Trotzdem soll es in diesem Buch nicht um politische Parteien oder Kandidaten gehen. Politiker kommen und gehen. Sie können als Katalysatoren oder als Projektionsfläche dienen, sind aber für den Fortbestand einer Bewegung keinesfalls unabdingbar.

Die englische Originalausgabe dieses Buches wurde Anfang 2019 veröffentlicht, also auf dem Höhepunkt der Corbyn-Begeisterung in Großbritannien und der Sanders-Begeisterung in den USA, als ein Premierminister Corbyn und ein Präsident Sanders in greifbarer Nähe schienen. Die politische Situation hat sich seitdem geändert. Corbyn und Sanders sind inzwischen von ihren Hauptämtern zurückgetreten, und ihre Parteien bemühen sich mittlerweile, sich wieder ein moderateres Profil zu geben. Es hat sich allerdings seitdem gezeigt, dass Corbyn und Sanders nur Katalysatorfiguren waren. Die sozialistischen Massenbewegungen, die um diese Kandidaten herum entstanden sind, sind nach wie vor da und machen auch keinerlei Anstalten, wieder zu verschwinden. Sie sind von Fanclubs einzelner Politiker zu außerparlamentarischen Bewegungen geworden. Viele britische Kommentatoren behaupteten bis 2020, es könne keinen »Corbynismus ohne Corbyn« geben. Das war, wie wir inzwischen wissen, falsch. Es gibt diesen heute sehr wohl.

Die Millennial-Socialism-Bewegung braucht ihre einstigen Katalysatoren nicht mehr. Sie hat längst ihre eigene Medienlandschaft hervorgebracht, mit Print- und Online-Medien, Podcasts, YouTube-Kanälen und natürlich Twitter-Plattformen mit Hunderttausenden von Followern. In den USA wären da die Publikationen Current Affairs und Jacobin zu nennen, in Großbritannien Novara Media, the Canary, Skwawkbox, Evolve Politics und der Trashfuture Podcast. Selbst die Online-Zeitschrift Teen Vogue kann man hier inzwischen dazuzählen. Teen Vogue ist die Jugendausgabe des Mode- und Lifestyle-Magazins Vogue, die sich ursprünglich nur mit Popstars, Mode, Schminktipps und »Promi-Klatsch« befasste. Als der Sozialismus-Hype ausbrach, erkannten die Herausgeber der Zeitschrift allerdings schnell die Zeichen der Zeit; vor allem erkannten sie, dass politische Meinungen genauso ein Mode-Statement sein können wie Kleidung, Frisuren und Make-up. Heute schreibt Teen Vogue unter anderem über Karl Marx11, Rosa Luxemburg12, die Demokratischen Sozialisten von Amerika (DSA)13, Anarcho-Kommunismus14 und sozialistischen Feminismus15, und das stets aus einer sehr wohlwollenden Perspektive. Geschadet hat diese Neupositionierung dem Magazin nicht. Die Leserschaft hat sich innerhalb kurzer Zeit verdoppelt.16

In diesem Buch geht es nicht um diesen oder jenen Politiker oder um diese oder jene Partei. Es geht hier um die Rückkehr des Sozialismus als Idee. Es geht hier um die Frage, wie eine Idee, die so oft, in so vielen verschiedenen Varianten, unter so unterschiedlichen Bedingungen und in so vielerlei Hinsicht gescheitert ist, heute noch – beziehungsweise wieder – so beliebt sein kann.

Es gab in den vergangenen hundert Jahren mehr als zwei Dutzend Versuche, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Versucht wurde dies unter anderem in der Sowjetunion, in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, in der Sozialistischen Republik Vietnam, in der Volksrepublik Polen, in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien, in der Volksrepublik Bulgarien, in der Sozialistischen Republik Rumänien, in Nordkorea, in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, in der Deutschen Demokratischen Republik, in der Volksrepublik Ungarn, im maoistischen China, in Kuba, in der Volksdemokratischen Republik Jemen, in der Somalischen Demokratischen Republik, in der Volksrepublik Kongo, in der Demokratischen Volksrepublik Äthiopien, in der Volksrepublik Mosambik, im Demokratischen Kampuchea (Kambodscha), in der Volksrepublik Angola, in der Demokratischen Republik Afghanistan, in Nicaragua und in Venezuela. Um Bilanz zu ziehen, genügt es eigentlich, diese Experimente jeweils mit einem ansonsten möglichst ähnlichen, mehr oder minder marktwirtschaftlichen Pendant zu vergleichen. Vergleichen wir die DDR mit der alten Bundesrepublik, Nordkorea mit Südkorea, das maoistische China mit Taiwan und Hongkong, die Volksrepublik Ungarn und die ČSSR mit Österreich, die Sowjetunion mit Finnland, Kuba mit Puerto Rico, die Volksrepubliken Angola und Mosambik mit Botswana oder Venezuela mit Chile, so fällt das Ergebnis immer sehr eindeutig aus.

Dass diese früheren Sozialismusmodelle allesamt kläglich gescheitert sind, würden die allermeisten modernen Sozialisten ja auch jederzeit ohne Weiteres zugestehen. Weder Kevin Kühnert noch Saskia Esken, weder Jeremy Corbyn noch Bernie Sanders, weder Jean-Luc Mélenchon noch Pablo Iglesias möchten die DDR oder die Sowjetunion wieder aufleben lassen. Sie alle würden ganz einfach behaupten, dass keines dieser Beispiele je sonderlich viel mit Sozialismus zu tun gehabt habe und dass das Scheitern dieser Modelle daher über den Sozialismus nichts aussage. Saskia Esken ist es gelungen, diese Denkweise in einem einzigen Tweet zusammenzufassen: »Den ›echten‹ Sozialimus gab’s bisher noch nicht.«

Zeitgenössische Sozialisten argumentieren, die oben genannten Beispiele seien lediglich dem Namen nach sozialistisch gewesen. Es habe sich dabei bestenfalls um pervertierte Versionen des Sozialismus gehalten, die mit der ursprünglichen Vision von Marx und Engels wenig gemein hatten. Wo, so fragen moderne Sozialisten, hat Marx denn bitteschön Zwangsarbeitslager oder Massenhinrichtungen gefordert? Wo ist denn bitteschön in den Schriften von Engels davon die Rede, eine Mauer durch Berlin bauen zu lassen oder demokratische Grundfreiheiten abzuschaffen? Wo hat Rosa Luxemburg denn jemals etwas von Säuberungswellen oder einer allgegenwärtigen Geheimpolizei gesagt? Wann hat Karl Liebknecht denn davon gesprochen, mit Panzern gegen friedliche Demonstranten vorzurücken?

Wie kann man also die Handlungen totalitärer Regime den Vordenkern des Sozialismus, oder gar der sozialistischen Idee selbst, zur Last legen? Ist Jesus Christus etwa schuld an der Inquisition oder an den Kreuzzügen?

Das alles klingt zunächst einmal sehr plausibel. Trotzdem wird in diesem Buch die These vertreten, dass sowohl der politische Autoritarismus als auch das ökonomische Scheitern in der Natur des Sozialismus selbst angelegt sind und dass die ursprünglichen Intentionen seiner Vordenker völlig irrelevant sind. Selbstverständlich war der real existierende Sozialismus stets Lichtjahre von dem entfernt, was Marx und Engels sich ursprünglich unter Sozialismus vorgestellt hatten. Aber das heißt noch lange nicht, dass es sich bei den oben genannten Beispielen realsozialistischer Projekte nicht um ernst gemeinte Versuche gehandelt hat, die sozialistische Lehre in die Tat umzusetzen. Das waren sie nämlich durchaus, und wie in diesem Buch gezeigt werden wird, haben frühere Generationen von Sozialisten das auch voll und ganz so anerkannt. Die Behauptung, es habe sich bei all diesen Versuchen nie um »richtigen« Sozialismus gehandelt, wurde immer erst im Nachhinein aufgestellt und dann sozusagen retroaktiv wirksam gemacht.

Sozialismus ist immer für eine Zeit lang »echter« Sozialismus. Bis er es auf einmal nicht mehr ist. Und dann ist er es, in der Retrospektive, nie gewesen. Davon handelt dieses Buch.

1.3 Begriffsklärung: Sozialismus, Kommunismus und Sozialdemokratie

Vor dem Einstieg in die eigentliche Diskussion empfiehlt es sich, dem Ganzen eine kurze Begriffsklärung voranzustellen. Was ist »Sozialismus«? Der Begriff hat eine 200-jährige Geschichte und ist, wie das bei politischen Denkrichtungen üblich ist, ein Sammelbegriff für teils sehr unterschiedliche Strömungen. So, wie es beim Liberalismus, beim Konservatismus und bei anderen politischen Philosophien ganz unterschiedliche Ausprägungen geben kann, ist das natürlich auch beim Sozialismus der Fall. Diese Heterogenität soll in diesem Buch keinesfalls geleugnet werden, auch wenn die These vertreten wird, dass letzten Endes alle Spielarten des Sozialismus mehr oder minder zum Scheitern verurteilt sind. Was aber ist der gemeinsame Nenner unterschiedlicher Sozialismus varianten?

Der Duden definiert Sozialismus als

»(nach Karl Marx die dem Kommunismus vorausgehende) Entwicklungsstufe, die auf gesellschaftlichen oder staatlichen Besitz der Produktionsmittel und eine gerechte Verteilung der Güter an alle Mitglieder der Gemeinschaft hinzielt«

und als eine

»politische Richtung, Bewegung, die den gesellschaftlichen Besitz der Produktionsmittel und die Kontrolle der Warenproduktion und -verteilung verficht.«

Merriam-Webster, der »englische Duden«, definiert Sozialismus als

»kollektives oder staatliches Eigentum an und Verwaltung von den Mitteln der Produktion und der Güterverteilung«

oder alternativ dazu als

»ein Gesellschaftssystem oder Gruppenleben ohne Privateigentum«

oder

»ein System in dem […] der Staat die Produktionsmittel besitzt und kontrolliert«

oder

»in der marxistischen Theorie eine Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus, charakterisiert durch ungleiche Güterverteilung und Bezahlung nach entrichteter Arbeit.«

Das ist zunächst einmal recht eindeutig. Legt man diese Definitionen zugrunde, so waren zum Beispiel die früheren Ostblockstaaten oder das maoistische China ganz klar sozialistisch, während Kuba und Nordkorea es heute noch sind. Natürlich gibt es auch Grenz- und Spezialfälle, bei denen man mit der Wörterbuchdefinition nicht mehr weiterkommt, aber insgesamt kann man mit dieser einfachen Definition schon einiges klären.

Das Problem ist eher, dass wir in der Praxis Wörter nicht immer so verwenden, wie das Wörterbuch sie definiert. Hierzu einige Beispiele.

Als Bernie Sanders während seines ersten Nominierungswahlkampfes wiederholt Dänemark als positives Beispiel für »Sozialismus« herausstellte, provozierte dies eine irritierte Reaktion des damaligen dänischen Premierministers, Lars Løkke Rasmussen:

»Ich würde eines gerne klarstellen. Dänemark ist sehr weit entfernt von einer sozialistischen Planwirtschaft. Dänemark ist eine Marktwirtschaft.«17

Als Kevin Kühnert sich für eine Überwindung des Kapitalismus zugunsten eines demokratischen Sozialismus aussprach und dafür von politischen Gegnern kritisiert wurde, reagierten manche seiner Befürworter mit demonstrativer Überraschung. Es sei doch selbstverständlich, dass der Mann für Sozialismus eintrete. Er sei schließlich der Vorsitzende der Jung sozialisten.18

In einigen europäischen Ländern, darunter Frankreich und Spanien, tragen gemäßigte Mitte-Links-Parteien das Wort »Sozialismus« im Namen, obwohl diese weder Massenverstaatlichungen noch die Errichtung einer Planwirtshaft im Sinn haben.

Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), der Dachverband der europäischen Mitte-Links-Parteien, dem auch die SPD angehört, heißt im englischen »Party of European Socialists«.

In Chile war die Sozialistische Partei – die frühere Partei Salvador Allendes – in den zurückliegenden 30 Jahren mehrfach an Regierungen beteiligt. Sie hat keine Anstalten gemacht, die marktwirtschaftlichen Reformen, die während der Pinochet-Diktatur eingeführt wurden, rückgängig zu machen und wieder am Allende-Projekt anzuknüpfen. Allende selbst wäre heute ein Außenseiter in seiner Partei. Den Namen hat sie allerdings beibehalten.

Der frühere britische Premierminister Tony Blair, der unter britischen Sozialisten als neoliberaler Verräter gilt, schrieb Mitte der 1990er-Jahre ein kurzes Buch, das ausgerechnet den Titel Socialism trug.

Kurzum, den Begriff »Sozialismus« haben von Lenin und Stalin über Kevin Kühnert und Saskia Esken bis hin zu Tony Blair und Michelle Bachelet im Laufe der Jahre alle möglichen Leute für sich in Anspruch genommen. Diese können damit zwangsläufig nicht alle gleichzeitig recht haben.

Hinzu kommt noch, dass der Begriff, wie das in politischen Auseinandersetzungen nun mal so üblich ist, von seinen Gegnern oft inflationär und polemisch verwendet wird. So brandmarken etwa US-Konservative gerne staatliche Programme wie die Gesundheitsreform »Obamacare« als »sozialistisch« – obwohl sie dann, wenn Bernie Sanders Skandinavien als »sozialistische« Erfolgsgeschichte präsentieren will, plötzlich ganz genau wissen, was der Begriff tatsächlich bedeutet.

Trotz mancher Konfusion ist eine Begriffsklärung allerdings durchaus möglich. Geoffrey Hodgsons Buch Is Socialism Feasible? (2019), das den historischen Ursprung der Begriffe »Sozialismus«, »Kommunismus« und »Sozialdemokratie« sowie ihren praktischen Gebrauch im Laufe der Zeit dokumentiert, kann hier einiges Licht ins Dunkel bringen. Hodgson zeigt, dass die Begriffe »Sozialismus« und »Kommunismus« im 19. und frühen 20. Jahrhundert weitgehend deckungsgleich waren. Der Begriff »Sozialdemokratie« war damals weniger geläufig, aber ebenfalls inhaltlich noch nicht von den beiden erstgenannten abgrenzbar. Kern dieser Idee, wie auch immer man sie nennen möchte, war die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Zurückdrängung von Märkten zugunsten staatlicher Planung und Zuteilung.

Es kristallisierte sich zwar bereits eine Unterscheidung zwischen Revolutionären und Reformern heraus, aber das war anfangs nur eine Frage der Strategie, nicht des Endziels. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dann das Verhältnis zur Russischen Revolution und später zur Sowjetunion zu einem Spaltpilz, der insbesondere in Deutschland die SPD von der KPD trennte.

Die Sozialdemokratie begann dann allmählich, stillschweigend ihren Frieden mit der Marktwirtschaft und dem privaten Unternehmertum zu machen. Dieser Prozess beschleunigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wohl auch, weil es jetzt das abschreckende Beispiel real existierender Planwirtschaften auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gab. Sozialdemokraten setzten nun auf sozialen Ausgleich innerhalb der Markwirtschaft, insbesondere durch Ausbau des Sozialstaates, öffentliche Daseinsvorsorge und eine Stärkung von Arbeitnehmerrechten. Um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel sollte es dagegen nicht mehr gehen.

Es fiel Sozialdemokraten aber oft schwer, das, was sie in der Praxis bereits taten, auch zu begründen und sich dazu zu bekennen. Sie hielten am Sozialismus als Ideal und Fernziel fest, auch wenn darauf nicht konkret hingearbeitet wurde.

In Westdeutschland machte die SPD 1959 endlich Nägel mit Köpfen. In ihrem Godesberger Programm hieß es:

»Freie Konsumwahl und freie Arbeitsplatzwahl sind entscheidende Grundlagen, freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. […] Totalitäre Zwangswirtschaft zerstört die Freiheit. Deshalb bejaht die Sozialdemokratische Partei den freien Markt, wo immer wirklich Wettbewerb herrscht.« (SPD 1959)

Das lässt zwar dem Interventionismus noch große Schlupflöcher, denn ein interventionsfreudiger Politiker kann immer behaupten, der Wettbewerb sei irgendwie aus dem Gleichgewicht. Dem Grundsatz nach aber ist das Godesberger Programm ein positives Bekenntnis zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Marktwirtschaft wird hier nicht mehr nur zähneknirschend akzeptiert, sondern sie ist ein gewollter Bestandteil der angestrebten Gesellschaftsordnung.

In manchen westlichen Ländern dagegen blieb es lange bei einer Kluft zwischen sozialdemokratischer Politik und sozialistischer Rhetorik, was Sozialdemokraten dann vonseiten tatsächlicher Sozialisten den Vorwurf einbrachte, ihre Ideale verraten zu haben. Manchenorts kam es auch zu gekünstelten, unbeholfenen Versuchen, den Begriff „Sozialismus“ irgendwie umzudefinieren und ihn dadurch vom Marxismus loszulösen. Tony Blairs oben genanntes Buch Socialism fällt in diese Kategorie. Blair versuchte, den Sozialismus über seine Ziele, nicht über seine Mittel zu definieren. Insbesondere Vergesellschaftung dürfe lediglich ein mögliches Mittel zum Zweck, aber nie Selbstzweck sein. Das Ziel des Sozialismus müsse sein, eine menschliche, solidarische Gesellschaft zu schaffen. Vergesellschaftung sei nur dann wünschenswert, wenn sie diesem Ziele dient. Wenn dem aber Privatsierungen zweckdienlicher seien, dann könne ein Sozialist auch Privatisierungen unterstützen.

Das Problem bei Blairs Definitionsversuch ist natürlich, dass Vertreter aller politischen Denkrichtungen glauben, ihre Politikrezepte seien geeignet, eine menschliche und solidarische Gesellschaft zu schaffen. Niemand schließt sich einer politischen Bewegung mit dem Ziel an, eine unmenschliche und unsolidarische Gesellschaft zu schaffen. Nach Blairs Definition wäre also entweder fast jeder ein Sozialist, oder es läuft auf eine Ad-hoc-Definition hinaus (»Sozialismus ist das, was ich gerade mache«).

Die Sozialisten alter Schule, denen Blair den Begriff entreißen wollte, sahen Vergesellschaftung keineswegs als Selbstzweck. Ihre Fixiertheit auf Kollektiveigentum ergibt innerhalb ihres marxistischen Weltbildes durchaus Sinn. Das Privateigentum an Produktionsmitteln bildet in der Marx’schen Lesart die Machtbasis der »Kapitalistenklasse«. Ziel von Kollektivierung ist es, der Kapitalistenklasse diese Machtbasis zu entreißen. Wer die Wirtschaft also als Klassenkampf sieht, der kann, wenn es um die Eigentumsfrage geht, nicht einfach »pragmatisch« sein und Entscheidungen vom Einzelfall abhängig machen.

Deswegen besteht ein qualitativer Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Sozialismus. Sozialismus ist nicht einfach nur der radikalere Bruder der Sozialdemokratie; er ist nicht einfach »Sozialdemokratie plus X«.

Der konservative Philosoph Michael Oakeshott hat einmal gesagt, der Konservatismus sei keine Ideologie, sondern eine Grundhaltung. Man kann ihn daher schlecht präzise definieren, aber man erkennt ihn, wenn man ihn sieht. Ähnliches ließe sich auch über die Sozialdemokratie sagen. Sozialdemokratie ist die Grundhaltung, der Kapitalismus könne Wohlstand erzeugen, ihn aber nicht gerecht verteilen. Hierfür brauche es einen starken Staat und gegebenenfalls andere Organisationen, wie etwa Gewerkschaften.

Welche konkreten Handlungsanweisungen sich aus dieser Grundhaltung ergeben, das kann von Land zu Land und von Zeit zu Zeit variieren. Sozialdemokratie kann etatistisch und staatsgläubig, sie kann aber auch recht marktfreundlich sein. Die Trennlinie zwischen einem liberalen Sozialdemokraten und einem Sozialliberalen kann nicht immer ganz klar verortet werden.

Vom Sozialismus ist die Sozialdemokratie aber ziemlich leicht zu trennen. Es gibt sozialdemokratische Organisationen, die sich de facto vom Sozialismus abgewandt haben, sich aber, wohl oft einfach aus nostalgischen Gründen, von dem Wort nicht trennen können. Um diese soll es in diesem Buch ausdrücklich nicht gehen. Deren »Sozialismus«-Definition mag zwar von der des Wörterbuchs abweichen, aber das soll uns nicht weiter stören, denn in der Regel ist trotzdem klar, was gemeint ist, und es handelt sich bei dem vorliegenden Buch nicht um das Skriptum eines Linguistikseminars.

Wir erkennen den Unterschied, wenn wir ihn sehen. Als die Unionsparteien 1976 mit dem Slogan »Freiheit statt Sozialismus“ gegen Helmut Schmidt in den Wahlkampf zogen, wurde das zu Recht belächelt. SPD-Politiker mögen damals zuweilen noch das Wort »Sozialismus« verwendet haben, aber es war allen Beteiligten klar, dass die Bundesrepublik unter der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt nicht zu einer Sozialistischen Volksrepublik werden würde.

Das heißt im Umkehrschluss dann aber auch, dass die gespielte Überraschung an der Kritik an Kevin Kühnert scheinheilig ist. Wenn Kühnert Massenverstaatlichungen und die Abschaffung des Wohnungsmarktes fordert, dann ist das nicht mehr Sozialdemokratie, sondern Sozialismus im ursprünglichen Sinne. Natürlich steht es Kühnert frei, so viel Sozialismus zu fordern, wie er will und so oft er will. Seine Anhänger sollten dann aber nicht so tun, als sei das nur eine leicht zugespitzte Formulierung sozialdemokratischer Politik.

Wie steht es um das Wort »Kommunismus«?

Karl Marx, Friedrich Engels und ihre frühen Anhänger unterschieden nicht zwischen Sozialismus und Kommunismus. Das kommunistische Manifest hätte genauso gut Das sozialistische Manifest heißen können. Engels selbst sagte später, dass Marx und er es nur aus PR-Gründen so nicht genannt hatten. (Hodgson 2019, S. 12–15)

Sozialismus und Kommunismus blieben dann auch lange Zeit Synonyme. Später, bei Lenin, kam es zu einer subtilen Begriffsverschiebung. Marx und Engels unterschieden zwar nicht zwischen Sozialismus und Kommunismus, aber sie differenzierten bei der neuen Gesellschaftsordnung, die ihnen vorschwebte, zwischen einer Übergangsphase und einem utopischen Endstadium. Letzteres sollte eine Gesellschaft ohne Staat, ohne Geld und ohne soziale Klassen sein. Lenin ging später dazu über, den Begriff »Sozialismus« mit der Übergangsphase und den Begriff »Kommunismus« mit dem Endstadium zu verbinden.

Sozialismus und Kommunismus wurden jetzt also zu unterschiedlichen Entwicklungsstufen der neuen Gesellschaftsordnung. Um verschiedene Ideologien handelte es sich allerdings nach wie vor nicht. Auch bei Lenin ist jeder Sozialist auch automatisch ein Kommunist und jeder Kommunist auch automatisch ein Sozialist.

Letzteres gilt auch heute noch. Mitglieder von Organisationen, die das Wort »Kommunismus« im Namen tragen, haben bis heute keinerlei Probleme damit, sich auch als »Sozialisten« zu bezeichnen.

Umgekehrt gilt das dagegen nicht immer. In der Praxis waren kommunistische Parteien oft diejenigen, die sich auch während des Kalten Krieges noch zur Sowjetunion bekannten, während andere sozialistische Parteien sich von dieser abgrenzten, um sich beispielsweise dem Trotzkismus zuzuwenden. Obwohl pro- und antisowjetische (und später pro- und anti-maoistische) Sozialisten einander oft spinnefeind waren, besteht aber auch hier, zumindest auf abstrakter Ebene, ein hohes Maß an Einverständnis über die angestrebte Gesellschaftsform. Die große Streitfrage ist, ob diese angestrebte Gesellschaftsform in der Sowjetunion (und später in China) bereits verwirklicht ist. Vom Kommunismus kann der Sozialismus also nicht klar abgegrenzt werden.

Worum aber handelt es sich nun beim »Millennial Socialism«, also bei den Jugendbewegungen, die um Jeremy Corbyn und Bernie Sanders herum entstanden sind? Ist das wirklich »Sozialismus«? Oder handelt es sich doch eher um aufgewühlte Sozialdemokraten, die lediglich ein Faible für radikale Rhetorik haben? Bei Bernie Sanders sieht das auf den ersten Blick so aus. Er bezeichnet sich zwar als Sozialisten, beruft sich dann aber auf das sozialdemokratische Dänemark.

Das wäre allerdings ein Trugschluss. Bernie Sanders hat staatliche Interventionen vorgeschlagen, die weit über das, was in Dänemark üblich ist, hinausgehen.19 Das »Dänemark«, wie es in der Vorstellung von Bernie Sanders existiert, hat nur wenig mit dem nordeuropäischen Land, das bei Flensburg an Deutschland angrenzt, zu tun. Dänemark dient ihm mehr als Projektionsfläche denn als Vorbild, eine Angewohnheit, die auch auf der britischen Linken sehr verbreitet ist.20

Dänemark beziehungsweise die nordischen Länder im Allgemeinen sind heutzutage viel marktwirtschaftlicher, als skandophile Linke es sich eingestehen möchten. Diese Länder haben zweifellos noch immer sehr hohe Steuern und sehr hohe Staatsausgaben, sind also für einen Marktliberalen sicherlich kein Paradies. Sie sind aber in vielerlei anderer Hinsicht oft erstaunlich liberal.

Es gibt verschiedene Indikatoren, die versuchen, den Grad der wirtschaftlichen Freiheit beziehungsweise Gewerbefreiheit in verschiedenen Ländern empirisch (zum Beispiel auf einer Skala von 0 bis 10) messbar zu machen. In solchen Rankings schneiden die nordischen Länder stets recht gut ab – außer in den Unterkategorien, die die Steuerbelastung messen. Ein Beispiel ist der »Economic Freedom of the World«-Index des kanadischen Fraser Instituts. In den meisten Kategorien dieses Index liegen die nordischen Länder nicht allzu weit hinter liberalen Marktwirtschaften wie Hongkong, Singapur oder der Schweiz. Bei der Gesamtbewertung gibt es zwar dann am Ende doch einen merklichen Abstand, aber der ist allein der Kategorie »Größe des Staatsapparates«, die Steuerbelastung und Staatsausgaben misst, geschuldet. Von Venezuela dagegen sind nicht nur die liberalen Marktwirtschaften, sondern auch die sozialdemokratischen Marktwirtschaften meilenweit entfernt.

Ob »Sozialist« das richtige Wort ist, um Bernie Sanders zu beschreiben, darüber kann man sich streiten.21 Aber ein Sozialdemokrat ist er nicht.22 Gerade in den angelsächsischen Ländern berufen sich viele Sozialisten gerne auf Skandinavien, haben dabei aber nicht das tatsächliche Skandinavien im Sinne, sondern ein Fantasie-Skandinavien, in das sie ihre sozialistischen Vorstellungen hineinprojizieren.

Der Index der wirtschaftlichen Freiheit. Quelle: Fraser Institute 2020

Bei Jeremy Corbyn verhält es sich etwas anders, denn Corbyn hat nie großes Interesse an Skandinavien gezeigt. Corbyn ist, was man einen »asymptotischen Sozialisten« nennen könnte. Ein asymptotischer Sozialist ist jemand, der sich nicht offen für eine sozialistische Planwirtschaft ausspricht, aber immer und überall jeden Schritt in diese Richtung unterstützt. Der asymptotische Sozialist ist das politische Äquivalent zu dem Kneipenbesucher, der zwar nicht mit dem Vorsatz, sich zu betrinken, in die Kneipe geht, dann aber, wenn er einmal dort ist, nie eine Runde ausschlägt.