Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die in Fachwelt und Ausbildung breit rezipierte Publikation über das Konzept multiperspektivische Fallarbeit des 2013 verstorbenen Burkhard Müller wurde in der Neuausgabe von Ursula Hochuli Freund durchgesehen und in Hinblick auf den Stand des Fachdiskurses aktualisiert. Das Buch eignet sich als Lehrbuch für die Aus- und Weiterbildung in Studiengängen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, aber auch PraktikerInnen der Sozialen Arbeit werden viele hilfreiche Themen und Reflexionsfragen entdecken.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 325
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Burkhard Müller
Ein Lehrbuch zurmultiperspektivischen Fallarbeit
Überarbeitet und erweitert vonUrsula Hochuli Freund
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
8., überarbeitete und erweiterte Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© 2017, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau
www.lambertus.de
Umschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, Bollschweil
Druck: medienhaus PLUMP, Rheinbreitbach
ISBN 978-3-7841-2757-6
ISBN eBook 978-3-7841-2891-7
Vorwort zur achten Auflage
Vorwort zur ersten Auflage
1Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit lehren: Einleitende Anmerkungen
2Aus Geschichten lernen – oder: Wie wird der Fall zum Fall?
2.1Was und wie gelernt werden kann
2.2Interpretation einer Geschichte, die mit Sozialer Arbeit zu tun hat
2.3„Hinterkopf-Wissen“
2.4Was ist ein sozialpädagogisch-sozialarbeiterischer Fall?
3Dimensionen von Fällen: Fall von, Fall für, Fall mit
3.1Zugänge bei einer komplexen Fallgeschichte
3.2Fall von …
3.3Fall für …
3.4Fall mit …
4Prozess professioneller Fallarbeit
4.1Zugänge bei einer komplexen Fallgeschichte
4.2Begriffserklärungen: Anamnese, Diagnose, Intervention, Evaluation
4.3Gemeinsamkeiten und fachliche Unterschiede von Prozessen professioneller Fallarbeit
5Am Beispiel: „Hilfeplanung“ im Kinder- und Jugendhilfegesetz
5.1Der „Hilfeplan“ nach SGB VIII als gesetzliche Pflicht zurFachlichkeit
5.2Hilfeplanung als doppelter Beratungs- und Entscheidungsprozess
5.3Die Klärung des „erzieherischen Bedarfs“: Soziale Anamnese
5.4Die „zu gewährende Art der Hilfe“: Soziale Diagnose
5.5Die „notwendigen Leistungen“: Soziale Intervention
5.6Das „Regelmäßig-Prüfen“: Soziale Evaluation
5.7Ein Schema zur Hilfeplanung
6Soziale Anamnese: Aufmerksamer Umgang mit Nichtwissen
6.1Grenzen des Verstehens
6.2Anamnese und Fall-Genese
6.3Arbeitsregeln für die soziale Anamnese
7Soziale Diagnose: Wer hat welches Problem?
7.1„Was IST das Problem?“ oder: „Wer HAT welches Problem?“ Grundverständnis von Sozialer Diagnose
7.2Soziale Diagnose als Problem des Zugangs: Der Unterschied zur Anamnese
7.3Soziale Diagnose als Beziehungsproblem Diagnose im Modus Fall mit
7.4Wer erteilt und wer hat welches Mandat? Soziale Diagnose im Modul Fall von
7.5Wer hat welche Ressourcen?
7.6Fall für wen? Was kann ich tun? Was müssen andere tun?
8Soziale Intervention: Was tun?
8.1Interventionstypen: Eingriff, Angebot, gemeinsames Handeln
8.2Bedingungen für Eingriffe
8.3Angebote der Sozialen Arbeit
8.4Aushandeln von Angeboten zu gemeinsamem Handeln
9Soziale Evaluation: Was hat’s gebracht?
9.1Evaluationsinstrumente
9.2Evaluationskriterien
9.3Fremdevaluation
10 Professionalität in der Sozialen Arbeit – abschließende Bemerkungen
10.1 Der Anfang: Interesse für andere Menschen
10.2 Drei berufliche Haltungen: geschlossen − autistisch − offen
10.3 Im Gehen zu lernen
Literatur
Sachwortregister
Der Autor
Die für die Überarbeitung zuständige Autorin
Das Lehrbuch zu multiperspektivischer Fallarbeit von Burkhard Müller ist ein Klassiker der Methodenliteratur in der Sozialen Arbeit. Als diese kasuistische Anleitung und Anregung zum Nachdenken über Fälle zum ersten Mal 1993 erschien, war dies der Auftakt zum Diskurs auf einem neuen Niveau. Die von ihm vorgeschlagene Einordnung und Betrachtung eines Falles aus den unterschiedlichen Perspektiven Fall von, Fall für und Fall mit ermöglichte einen umfassenden Zugang, welcher der Komplexität von Aufgaben, mit denen es die Soziale Arbeit zu tun hat, gerecht wird. Als zweite Reflexionsfolie führte er ein Modell professionellen Handelns ein, mit dem sich ein Prozess in vier Schritte − Anamnese, Diagnose, Intervention, Evaluation − unterteilen lässt. Eine solche Prozessstrukturierung hat sich mittlerweile als Standard in der Methodenliteratur der Sozialen Arbeit etabliert. Und drittens hat er seine Überlegungen, worüber es bei „Fällen“ in der Sozialen Arbeit nachzudenken gilt und wie das geschehen könnte, anhand von Fallgeschichten seiner Studierenden aufgefächert. Er hat ein kasuistisches Lehrbuch geschrieben, und zwar in einer sehr persönlichen Form. Durch die Ich-Form wird auch im schriftlichen Text spürbar, was der Lehrer Burkhard Müller seinen Studierenden vermitteln wollte.
Burkhard Müller hat sein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit regelmäßig überarbeitet. Im Jahre 2012 ist die siebte, aktualisierte und erweiterte Auflage erschienen. Bald darauf, im Frühjahr 2013, ist er 74-jährig überraschend gestorben. Auch wenn sein breites Werk bleibt, die Lücke, die er in der scientific community hinterlässt, ist groß.
Es ist dem Lambertus-Verlag ein großes Anliegen, dass das Lehrbuch zu multiperspektivischer Fallarbeit fortan nicht nur einen historischen Wert hat, sondern weiterhin aktuell bleibt, neue Erkenntnisse aus dem Methodendiskurs in der Sozialen Arbeit aufnimmt und damit auch weiterhin als ein Lehrmittel für die Ausbildung von Studierenden gelten kann, das den State of the Art vermittelt. Die Aufgabe angetragen zu bekommen, das Lehrbuch zu multiperspektivischer Fallarbeit behutsam zu aktualisieren und weiterzuführen, ist eine Ehre, bedeutet aber auch eine Verantwortung. Erst nach reiflichem Nachdenken habe ich zugesagt: aus Respekt vor der großen Leistung von Burkhard Müller und im Bestreben, dieses Standardwerk der Methodenliteratur aktuell und lebendig zu halten.
Was ist denn nun neu in dieser von mir überarbeiteten achten Auflage? Nun, das allermeiste ist gleich geblieben. Das Anliegen des Buches, wie es Burkhard Müller selbst im Vorwort zur ersten Auflage so präzise umschrieben hat, bleibt unverändert: Es will das Nachdenken über Fälle unterstützen, Hilfestellungen bieten zum selbst Ausprobieren und Lernen, es will den Mut unterstützen, sich ein eigenes sachliches Urteilsvermögen zuzutrauen und zugleich dieses Vermögen auch verbessern (siehe S. 12). Die Essenz des Lehrbuchs − die beiden Betrachtungszugänge, die Fallgeschichten, die Ich-Form − all das ist unberührt. Einiges aber wurde behutsam weiterentwickelt.
Die wichtigste und augenfälligste Veränderung ist die Einführung des neuen Oberbegriffs „Soziale Arbeit“ statt „Sozialpädagogik“, das Ersetzen des Adjektivs „sozialpädagogisch“ durch „sozial“, oder aber − wo dieser sprachlich nicht möglich oder sinnvoll war − die Erweiterung zu „sozialpädagogisch-sozialarbeiterisch“. Neu ist nun die Rede von sozialer Anamnese und sozialer Diagnose, von sozialpädagogisch-sozialarbeiterischem Fall, von sozialarbeiterisch-sozialpädagogischer Fallarbeit, etc. Diese Doppelnennungen sind sprachlich nicht gerade elegant, inhaltlich aber sinnvoll. Warum dieser Terminologie-Wechsel? Mittlerweile hat sich „Soziale Arbeit“ fest etabliert als Oberbegriff für Disziplin und Profession, welche die beiden traditionellen Fachrichtungen Sozialarbeit und Sozialpädagogik vereint. Von Anbeginn hieß das von Kreft und Mielenz (1980/2013) herausgegebenen Glossar „Wörterbuch Soziale Arbeit, Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik“. Auch Thole (2002/2013) hat sein einführendes Handbuch − in dem Fragestellungen von Sozialpädagogik und Sozialarbeit thematisiert werden − seit der ersten Auflage „Grundriss Soziale Arbeit“ genannt. Das von Otto et al. (1987/2011) herausgegebene Handbuch hingegen erschien zunächst unter dem Titel „Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik“, mit der vierten Auflage 2011, jedoch wurde der Titel geändert in „Handbuch Soziale Arbeit: Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik“. Die meisten anderen aktuellen Konzepte zu methodischem Handeln nutzen den Oberbegriff Soziale Arbeit (u.a. Heiner 2010, 2010a, Hochuli Freund/Stotz 2015, von Spiegel 2013 − nicht so Braun et al. 2011). Auch bei der Bezeichnung der Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten hat sich „Soziale Arbeit“ weitestgehend durchgesetzt und steht für eine generalistische, tätigkeitsfeldübergreifende Ausbildung. Ab und an findet sich noch ein Studiengang „Sozialpädagogik“ − sehr oft als Teilbereich eines Studiengangs „Soziale Arbeit“ −, der besonders für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien qualifizieren soll.
Diesem Wechsel in Wording und Selbstverständnis wird nun auch im vorliegenden Lehrbuch zu multiperspektivischer Fallarbeit Rechnung getragen. Auch wenn die Fallbeispiele aus der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe stammen − der Nutzen des Lehrbuchs bleibt keineswegs auf die Ausbildung für dieses klassisch-sozialpädagogische Fallgebiet beschränkt. Ebenso kann die darin entfaltete Konzeption multiperspektivischer Fallarbeit nicht nur Sozialpädagogen in der berufspraktischen Arbeit, sondern ebenso Sozialarbeiterinnen als Reflexionsfolie dienen. Hier allerdings, in Hinblick auf die Profession Soziale Arbeit, tut sich derzeit noch eine Lücke auf: Eine einheitliche prägnante Berufsbezeichnung fehlt bislang. Der Vorschlag „Professionelle der Sozialen Arbeit“ wirkt arg gestelzt, „Fachkräfte“ unspezifisch, „Fachkräfte der Sozialen Arbeit“ wiederum umständlich, „Sozialarbeitende“ allzu alltagssprachlich, einer Deprofessionalisierung Vorschub leistend („sozial“ tätig sind doch irgendwie alle). Deshalb ist in dieser achten Auflage des Lehrbuchs von Sozialpädagoginnen und Sozialarbeitern die Rede. Um die umständliche gendergerechte Schreibweise − Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter − zu vermeiden, werden die weibliche und männliche Form abwechslungsweise und je in generalisierendem Sinne verwendet
Der Titel aber soll ausgespart bleiben von dieser ansonsten konsequenten Umstellung auf die Doppelbezeichnung „sozialpädagogisch-sozialarbeiterisch“. Müllers Lehrbuch zu multiperspektivischer Fallarbeit ist unter dem Titel „Sozialpädagogisches Können“ bekannt, der eine Zugehörigkeit zur sozialpädagogisch-hermeneutischen Traditionslinie in der Sozialen Arbeit markiert, an der sich auch durch diese Überarbeitung nichts ändert.
Dieser hermeneutische Zugang wurde durch die inhaltliche Erweiterung in Zusammenhang mit dem aktuellen Diskurs um Soziale Diagnostik noch gestärkt. Müller selbst hat im neunten Kapitel der siebten Auflage bereits angedeutet, „(…) dass bei komplexeren Fallgeschichten die Zugänge Fall von und Fall mit in sehr viel schwierigere Aufgaben des Fallverstehens führen (…) und deshalb komplexere Kunstlehren des Verstehens (z.B. ‘tiefenhermeneutische‘ nötig machen» (Müller 2012:192). Im Kapitel zur Sozialen Diagnose sind nun auch Ausführungen zum Fallverstehen enthalten. Denn es geht bei diesem Prozessschritt nicht nur darum herauszufinden, worum genau es in einem Fall geht (wer welches Problem hat, wer welches Mandat erteilt, welche Ressourcen vorhanden sind und was getan werden kann, vgl. ebd.: 139), sondern auch um den Versuch, die gesamte Fallsituation zu verstehen, einerseits auf der Fachebene, vor allem aber im Modul Fall mit gemeinsam mit Klientinnen und Klienten. Die Arbeitsregeln und das Frageschema zur Sozialen Diagnose sind nun um die Aufgabe des Fallverstehens erweitert. Kleinere Modifikationen finden sich auch bei anderen Arbeitsregeln und Schemata. So ist beispielsweise das Frageschema zur sozialen Anamnese etwas stärker ausdifferenziert und integriert die wichtige Unterscheidung zwischen Fakten und Geschichten. Auch wurden noch mehr Verzahnungs-Möglichkeiten zwischen den beiden Reflexionsfolien − Fall-Typologie und Prozessschritte − ausgewiesen. All diese textlichen Veränderungen wurden sprachlich neutral formuliert (um sie von den Ich-Formulierungen von Burkhard Müller abzuheben).
Bei Gliederung und Überschriften habe ich vereinzelt Veränderungen vorgenommen. Hie und da habe ich Wiederholungen im Text oder auch die eine oder andere sehr ausführliche Fußnote entfernt − immer mit dem Ziel, die Systematik und Prägnanz des Textes noch weiter zu erhöhen. Die Arbeitsregeln und Frageschemata wurden im Layout stärker hervorgehoben, um ihre Bedeutung sichtbarer zu machen. Außerdem haben nun alle Schemata einen Titel erhalten.
Selbstverständlich wurde die gesamte Literatur aktualisiert und auch erweitert. Anzufügen bleibt, dass der Lambertus-Verlag alle Ausführungen zu rechtlichen Aspekten hinsichtlich Aktualität überprüft hat, wofür ich mich herzlich bedanke.
Ich hoffe sehr, dass ich mit der vorliegenden „sanften Aktualisierung“ des „Konzepts multiperspektivische Fallarbeit“ dazu beitragen kann, dass das Lehrbuch von Burkhard Müller weiterhin rege für die Ausbildung von Studierenden genutzt wird.
Olten, Januar 2017
Ursula Hochuli Freund
„Probieren geht über Studieren“, sagt das Sprichwort.
Die Klage, das sozialpädagogische beziehungsweise sozialarbeiterische Studium sei praxisfern, ist so alt wie die Ausbildung selbst. Man müsste sie nicht so ernst nehmen – in anderen Fächern gibt es das auch –, würden nicht viele Studierende selbst so empfinden. Die Inhalte des Studiums werden vielfach als etwas wahrgenommen, was gleichsam von einem anderen Stern kommt und nichts mit der eigenen Alltagserfahrung zu tun hat. Ob dies ein Missverständnis ist oder dem entspricht, was als Lehre gewöhnlich angeboten wird, sei dahingestellt. Jedenfalls ist es ein verbreiteter Eindruck, auch außerhalb der Sozialpädagogik; und eben dies sagt das Sprichwort: Probieren geht über Studieren! Die Botschaft, die damit zumeist (vor allem nach dem Studium) vermittelt wird, lautet: Vergiss, was Du studiert hast und halte Dich an das, was Du selbst erfährst (und was die alten Hasen Dir sagen) – alles andere ist nur kluges Gerede!1
Ich teile diese Botschaft nicht und glaube nicht, dass sie Studierende und die Qualität Sozialer Arbeit voranbringt. Ich stimme aber zu, dass es schlimm ist, wenn Studierende entmutigt werden, ihrer eigenen Erfahrung zu trauen, statt angeleitet zu werden, wie sie daraus lernen können.
Um dies auszudrücken, möchte ich das Sprichwort anders verstanden wissen. Die erste Botschaft des Buches soll sein: Probieren geht! Den Beweis dafür bringe weniger ich, sondern die vielen Fallgeschichten, die Studentinnen und Studenten der Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim dazu beigesteuert haben. Aus diesem Grund ist ihnen das Buch gewidmet. Die Geschichten beweisen, dass Hochschullehrer schlecht beraten sind, wenn sie Studierende als ahnungslose und erfahrungslose Wesen behandeln, statt sie als werdende Fachleute mit eigenem Kopf ernst zu nehmen. Damit ist keineswegs bestritten, dass Studierende der Sozialen Arbeit oft wirklich nicht besonders viel Lebenserfahrung haben und auch fachlich noch eine Menge lernen müssen. Nur: Ganz ahnungslose Studierende gibt es nach meiner Beobachtung nicht, allerdings viele, die sich selbst dafür halten.
Die zweite Botschaft des Buchtitels soll deshalb sein: Probieren geht – über’s Studieren! Anders gesagt: Probieren kann man lernen! Man (und frau) kann lernen, sich der eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten zu bedienen und dabei weder im Saft der eigenen gesammelten Einsichten vor sich hinzuschmoren, noch alles Gedruckte für klug und sich selbst für dumm zu halten. Unglaublich aber wahr: Man kann sogar aus Fehlern lernen (wenn man’s geschickt anstellt, am einfachsten aus den Fehlern anderer).
Aber auch das Lernen aus dem eigenen Probieren muss man erst lernen. Und dazu will dieses Buch eine Hilfe sein. Es entwickelt zu den Fallbeispielen „Hinterkopfüberlegungen“, Sortierschemata, Arbeitsregeln, Schritte des Vorgehens beim Nachdenken über „Fälle“, die alle nur den einen Zweck haben: Den Mut, sich eigenes sachliches Urteilsvermögen zuzutrauen, zu unterstützen, zugleich aber dies Vermögen selbst zu verbessern.
Studieren heißt natürlich auch, sich eine Menge von Wissen anzueignen, das man nicht einfach aus eigener Erfahrung bekommen kann. Dazu zwei Bemerkungen: Erstens ist das Erlernen der Fähigkeit, mit konkreten sozialpädagogischen Handlungssituationen besonnen und selbstbewusst umzugehen, kein Ersatz für die systematische Aneignung theoretischen Wissens. Zweitens kommt auch die Kasuistik (die Arbeit am Einzelfall) nicht ohne Rückgriff auf solches Wissen aus. Dabei geht es sowohl um Faktenwissen – zum Beispiel Rechtskenntnisse – als auch um Wissen, das befähigt, allzu einfache und deshalb kurzsichtige Betrachtungsweisen eines Problems zu hinterfragen, erweiterte, ergänzende, kritische Betrachtungsweisen hinzuzufügen, und schließlich um Wissen, das Zusammenhänge ordnet. Ich habe mich bemüht, solches Wissen, wo es notwendig war, so einfach wie möglich zu präsentieren, und dabei in aller Regel darauf verzichtet, die fachlichen Diskussionshintergründe zu erläutern. Die Kolleginnen und Kollegen, die diese Hintergründe kennen oder deren Werken ich meine Kenntnis dieser Hintergründe verdanke, mögen mir dies verzeihen.
Zum Schluss dieses Vorworts noch drei Bemerkungen zum Begriff sozialpädagogischer Fallarbeit. Zum einen meine ich mit „sozialpädagogisch“ nicht ein spezielles Arbeitsfeld, sondern eine fachliche Rahmenorientierung. Sozialarbeiterische Tätigkeiten sind mit eingeschlossen. Es ist sogar eine zentrale These des Buches, dass, gerade im Blick auf den Einzelfall, „Pädagogisches“ und „Sozialarbeiterisches“ nicht voneinander isoliert werden kann.
Zweitens knüpfe ich mit dem Begriff Fallarbeit, der ja nur eine Übersetzung des Fachterminus Kasuistik ist, an die Tradition des sozialpädagogischen Case-Work, der Einzelhilfe, an. Ich benutze den Begriff aber sehr viel offener. Ich meine mit Einzelfall nicht die einzelne Person als Adressatin von sozialpädagogischem Handeln (im Unterschied etwa zu Gruppen oder Gemeinwesen als Adressaten). Ich meine mit Einzelfall vielmehr die einzelne Situation, ja, den einzelnen Augenblick oder auch den einzelnen Rückblick auf eine komplexe Praxiserfahrung, die Studierende mit der großen Frage konfrontiert: Was tun? Oder auch mit der Frage: Was hätte ich besser machen können? In dieser Beschränkung auf die Einzelsituation steckt zugleich der Verzicht darauf, komplexe Modelle eines „helfenden Prozesses“ von Anfang bis zum Ende zu entwickeln, wie das die Lehrbücher des so genannten Case Work oder Case Management machen. Eben dies macht es mir zugleich möglich, mit studentischem Fallmaterial zu arbeiten und auf die Darstellung exemplarischer „Lehrfälle“ zu verzichten.
Die dritte Bemerkung betrifft den möglichen Einwand, sozialpädagogische Fälle in diesem Sinne seien ein sehr weites Feld und dermaßen verschieden, dass sich mehr als Allgemeinplätze dazu nicht sagen lassen. In der Tat sind die Fälle, die in diesem Buch diskutiert werden, aus denkbar verschiedenen Feldern, aus der Jugendarbeit ebenso wie aus der Altenpflege, aus den Erziehungshilfen von Jugendamt und freien Trägern ebenso wie aus dem Kindergarten, wie aus der ambulanten Betreuung psychisch Kranker. Das Spektrum der studentischen Praktikumsfelder ist nun mal breit gestreut, und ich sah keinen Grund, es einzuengen, auch wenn ich bei der Diskussion fachlichen Hintergrundwissens der Übersicht halber Einschränkungen vornehmen musste. So habe ich mich zum Beispiel bei der Erläuterung rechtlicher Bezüge im Wesentlichen auf das Achte Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII/ KJHG) beschränkt, an dem exemplarisch deutlich werden soll, was die juristische Seite kompetenter sozialpädagogischer Fallarbeit ist. Dennoch habe ich kein Buch geschrieben, das eine Einführung in die Jugendhilfe ersetzt. Vielmehr wollte ich zeigen, dass es wirklich so etwas wie einen gemeinsamen Sockel sozialpädagogischer Handlungskompetenz gibt, der quer zur Vielfalt der sich immer mehr ausdifferenzierenden Arbeitsfelder liegt und der in einem allgemeinen Studium der Sozialpädagogik an Fachhochschulen und Universitäten auch vermittelt werden kann. Ob mir das gelungen ist, mögen die Leserinnen und Leser entscheiden.
Ich danke meiner Frau, Dr. Sabine Hebenstreit-Müller, erste Leserin des Manuskripts, für ihre Unterstützung und ihre hilfreichen Anregungen. Ich danke allen Studierenden, die ihre „Fälle“ für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben. Ihnen und ihren Kommilitoninnen am Studiengang Sozialpädagogik der Universität Hildesheim widme ich dieses Buch.
Im Sommer 1993
1Leider bestätigen Untersuchungen (z. B. Thole/Küster-Schapfl 1997, Schweppe 2002, Müller/Beckler-Lenz 2008) immer wieder, dass dies eine in der Sozialen Arbeit sehr verbreitete Haltung ist.
Dieses erste Kapitel können Studierende, für die das Buch eigentlich gedacht ist, überschlagen – oder aber zum Schluss lesen. Für Lehrende hingegen dürfte es hilfreich sein, wenn zunächst kurz erläutert wird, worin die Besonderheit des gewählten Zugangs im Vergleich zu anderen Konzepten für methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit besteht. Dabei wird vorausgesetzt, dass die historischen ebenso wie die aktuellen Diskussionen zu den Handlungsmodellen sozialpädagogischer Professionalität in etwa bekannt sind (vgl. zur Übersicht Dewe/Otto 2015; auch Olk 1986, Müller 2004, 2004a, 2008, 2015b, Dörr/Müller 2012, Becker-Lenz u.a. 2011, 2013, Galuske 2013, Hochuli Freund/Stotz 2015). In Bezug auf solche Diskussionen soll dieses Buch eingeordnet werden – während für Studienanfängerinnen jedes Fachbuch entweder für sich brauchbar ist, oder eben nicht.
Zunächst ist es vielleicht selbstverständlich, aber doch wichtig, dass „Konzept“ oder „Methode“ im Feld der Sozialen Arbeit nicht technologische Theorieanwendung meint, sondern auf einen selbstreflexiven „kasuistischen“ Diskurs verweist (Hörster 2005, 2015, Müller 2011), durch welchen Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen das fallspezifisch notwendige Wissen generieren und überprüfbar machen. Es geht um eine „Hermeneutik“, eine Kunstlehre des Fallverstehens (Dilthey), nach dem schon von Schleiermacher formulierten Grundsatz: „Die Dignität der Praxis ist unabhängig von der Theorie; die Praxis wird nur mit der Theorie eine bewußtere“ (1826: 11). Professionelles Handeln ersetzt also nicht Alltagsverstand. Auch für professionelles Handeln gilt, jedenfalls im sozialpädagogischen Kontext:
Statt dass der Handelnde eine vorgegebene Theorie anwendet, ist er selbst konstruktiv tätig. Unter den Bedingungen eines spezifischen Feldes entwirft er, indem er handelt, seine Antwort auf die Anforderungen der Situation. Er ist wie der Tennisspieler, so sagt Bourdieu, der ans Netz geht, wenn es die Situation erfordert (Gebauer/Wulf 1993: 7).
Die Frage, wie man das sozialpädagogische „Tennisspielen“ lehren und lernen kann, außer durch Üben mit Versuch und Irrtum, besteht aber gleichwohl. Das zentrale Problem für jeglichen Versuch, in diesem Sinne Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit lehrbar zu machen, ist zweifellos die hohe Komplexität der damit gestellten Aufgabe:
•Es soll eine Grundlage für professionelle Kompetenz gelegt werden, die in einer Vielfalt beruflicher Felder einsetzbar ist – ohne die Besonderheiten der einzelnen Berufsfelder außer Acht zu lassen;
•es sollen innerhalb dieser Felder Fähigkeiten zu den Einzelfällen angemessenen Handlungsweisen entwickelt werden – ohne die überindividuellen Strukturen zu vergessen;
•dies verlangt einen interdisziplinären Zugang im Schnittbereich von sozialwissenschaftlichen, sozialpolitischen, pädagogischen, psychologischen, juristischen, ökonomischen und nicht zuletzt ethischen Perspektiven – ohne sich darin zu verlieren.
Gleichzeitig in diese Komplexität einzuführen und Handlungssicherheit zu vermitteln, erscheint als Quadratur des Kreises. Niemand hat eine wirksame Zauberformel dafür. Unvermeidlich fällt deshalb in den Ausbildungen beides ein Stück weit auseinander: Die Vermittlung von Einsichten in die Komplexität des Feldes wird Aufgabe theoretischer Ausbildung; die von Handlungssicherheit und professionellem Habitus wird Aufgabe praktischer Initiationsprozesse (Hospitationen, Projekte, Praktika, Anerkennungsjahre etc.). Inzwischen gibt es Ansätze, beides wieder zu verknüpfen, ohne – wie in den klassischen Methodenansätzen – Theorie mit Praxisanleitung gleichzusetzen, sondern Theorie der Sozialen Arbeit als kritische Instanz gegenüber Modellen der Praxisanleitung zu nutzen; so zum Beispiel v. Spiegel 2004/2013, Heiner 2007/2010, 2010a, Cassée 2007/2010, Michel-Schwartze 2007/2009, 2016, Pantuček 2006/2012, Braun/Graßhoff/Schweppe 2011, Hochuli Freund/Stolz 2011/2015. Einzelne davon knüpfen ausdrücklich an das Konzept multiperspektivischen Fallverstehens an.
Die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Praxis als Spaltung zu beklagen führt kaum weiter. Jene ist (jedenfalls zu einem bestimmten Grad) der unumgängliche Preis des erreichten Professionalisierungs-Niveaus Sozialer Arbeit; vergleichbare Professionen haben ihn ebenfalls zu zahlen (Müller 1999). Wer die unmittelbare Einheit von theoretischer Ausbildung und Praxiseinführung wollte, würde damit faktisch die Rückkehr zu eigentlich überwundenen Stadien sozialpädagogischer Professionalisierung fordern – die allerdings in vielen Feldern immer noch mehr Regel als Ausnahme sind. Gerade aber die Unvermeidlichkeit der (relativen) Trennung von wissenschaftlichen und praktischen Lernprozessen in der Ausbildung erzeugt erst das eigentliche Problem sozialpädagogischer Methodenlehre. Denn die Studierenden, die dann Praktikerinnen werden, haben den Graben zwischen beidem in jedem Falle zu bewältigen. Die Frage ist, ob sie ihn nur durch einen großen Sprung überwinden, mit dem sie das Ufer der Wissenschaft endgültig hinter sich lassen; oder ob sie Fähigkeiten entwickeln, sich in beiden Sphären, in der praxisentlasteten Reflexion wie in Handlungs- und Entscheidungsanforderungen, sicher zu bewegen und zwischen diesen Sphären zu pendeln. Und die Frage ist auch, ob es dafür Hilfsmittel – im Bild gesprochen Brücken und Boote – gibt, die den Übergang über den Graben erleichtern, also zeigen, „wie ein fruchtbares Verhältnis von Wissenschaft und Praxis möglich ist“ (v. Spiegel 2013: 11). Wenn man dies als allgemeine Aufgabe sozialpädagogischer Methodenlehre betrachtet, dann kann man unter den bisherigen Ansätzen drei theoretische Annahmen über die Art des zu lösenden Problems finden. Sie sind auch als Mischformen denkbar, und überlappen sich in der empirischen Realität unvermeidlich.
(1) Die Annahme, es gehe darum, das Sachgebiet, auf dem Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiter Experten sind, möglichst präzise und operational zu beschreiben. Die Annahme unterstellt, dass sie auf ihrem besonderen Arbeitsfeld eine exklusive Expertenschaft beanspruchen können, mit spezifschem und von anderen Feldern klar unterscheidbarem theoretischem Wissen und entsprechendem Können (Müller 2012a). Die klassischen Professionalisierungsstrategien Sozialer Arbeit folgten diesem Modell. Vor allem in der Konkurrenz und Kooperation mit andern helfenden Professionen blieb das Expertenmodell aber eine umstrittene Option. Dies zeigt sich besonders in der noch unentschiedenen Debatte darüber, ob das neue Interesse an standardisierbaren diagnostischen Verfahren und an „evidenzbasierter Praxis“ (Hüttemann 2006) in der Sozialen Arbeit ein Professionalisierungsschub oder eine expertokratische Verirrung sei (Olk 1986, Peters 2002, Widersprüche 2003, Heiner 2004, Müller 2005, Dewe 2013). Die Stärke der Anlehnung an das Expertenmodell ist sicher, dass es Soziale Arbeit nahe an andere professionelle Tätigkeiten heranrückt, damit vergleichbar macht und die Überprüfbarkeit jeweiliger Erfolge verspricht. Die Schwäche kann man darin sehen, dass das Modell nahelegt, die Wirkungsmöglichkeiten des Experten und seiner standardisierbaren Verfahren systematisch zu überschätzen und die Bedeutung nicht standardisierbarer Handlungsmöglichkeiten sowie die Abhängigkeit von der Kooperation der Klientinnen und von Kontextfaktoren zu unterschätzen (Hochuli Freund/Stotz 2015). Auch die neuere Diskussion, für die weniger spezialisiertes Fachwissen als die Fähigkeit zur Herstellung gelingender Arbeitsbündnisse der Angelpunkt professioneller Kompetenz ist (Müller 1991, Becker-Lenz 2005, Oevermann 2011), konnte das Problem nie ganz bewältigen, dass Soziale Arbeit, wegen der vielfältigen Bedarfslagen ihrer Klientel und der eigenen Eingebundenheit in die Kontrollfunktionen sozialstaatlicher Strukturen, nur partiell in der Lage ist, das zu tun, was sie nach ihrem Selbstverständnis gerne tun möchte. Dies vermittelte bei manchen Beobachtenden den Eindruck, Soziale Arbeit sei (ähnlich wie Schulpädagogik) wohl professionalisierungsbedürftig, aber nur eingeschränkt professionalisierungsfähig (Oevermann 2000, 2002).
(2) Die Annahme, Soziale Arbeit müsse – gerade in Abgrenzung gegen spezialisierte Expertenkulturen und ihrer Eigenlogik – die Frage nach der Lebenswelt, den „Bewältigungsaufgaben“ und jeweiligen gesellschaftlichen „Problemkonstellationen“ ihrer Adressaten (Böhnisch u.a. 2005; ähnlich Hamburger 2012) ins Zentrum rücken. Kern des Problems sind aus dieser Sicht die unabgeschlossene Institutionalisierung von Infrastrukturen für die Arbeit in gesellschaftlichen Bruchzonen einerseits; und eine „doppelte Entgrenzung – sowohl der sozialen Problemkonstellationen als auch der institutionellen Zuständigkeiten“ (Böhnisch u. a. 2005: 225). Wissenschaftliche Ausbildung hat in dieser Sicht die Aufgabe, die Lebenswelt der Adressatinnen als Ressourcengefüge (wie als Gefüge strukturell mangelnder Ressourcen) zu erschließen und dabei sozialpädagogische Institutionen als Teil und Wechselwirkung in diesem Gefüge verständlich zu machen.2 Sozialpädagogisch-sozialarbeiterische Praxis wird dabei als unterstützendes und kompensierendes Ressourcenmanagement verstanden, das aber zugleich dem „Druck der Verengung“ (auf abgegrenzte Zuständigkeiten, Wissensbestände, Methoden, ebd. 16 f.) widerstehen muss, um auf größere Zusammenhänge „im Legitimationsrahmen sozialer Gerechtigkeit“ (ebd. 225) zu verweisen. Die Stärke dieser Perspektive liegt sicher darin, dass sie Soziale Arbeit historisch wie systematisch in ihrer Sonderstellung gegenüber anderen professionellen Interventionssystemen zeigt. Die Schwäche ist, dass sie nur schwer zeigen kann, wie Soziale Arbeit mit den Grenzen ihrer Möglichkeiten und mit ihrer Abhängigkeit von jenen anderen Systemen umgehen soll und welches professionelle Wissen und Können sie dafür braucht (Müller 2011b). Eine Vermittlung zwischen diesem Modell und dem des Experten versucht Maja Heiner (2010) mit ihrem Begriff der „Fachkraft“.
(3) Die Annahme, Soziale Arbeit sei primär eine hermeneutische Aufgabe der Entschlüsselung individueller Problemkonstellationen im Medium personaler Arbeitsbeziehungen, also „Beziehungsarbeit“ im weiten Sinne. Wissenschaftliche Ausbildung hat unter dieser Perspektive vor allem die Aufgabe, einerseits Interpretationshilfen für die lebensweltlichen Deutungsmuster und subjektiven (Über-)Lebensstrategien der Adressaten Sozialer Arbeit zu liefern, andererseits Selbstreflexion in angemessener „Nähe und Distanz“ (Dörr/Müller 2012) zu diesen Adressatinnen zu ermöglichen. Praxis Sozialer Arbeit wird hier als Rahmen und Aktionsfeld für Aushandlungsprozesse mit offenem Ende verstanden. Sie unterscheidet sich aber vom „wirklichen“ Alltag und Lebenskampf ihrer Klientel darin, dass sie versucht „Chancen der Virtualisierung“ (Körner/Müller 2004) zu erschließen und verstellte Freiräume des Neuanfangs (Hörster/Müller 2011) zu eröffnen. Der Aushandlungsprozess zwischen Sozialpädagoginnen und ihren Adressaten ist dabei als ein doppelt gerichteter gedacht: Er betrifft einerseits „Sinnfragen“ der Arbeitsbeziehung unter Einschluss von deren emotionalen, ja unbewussten Dimensionen; das Aushandeln hat insofern den Charakter von „Gefühlsarbeit“ (vgl. Müller 2015b), als es Bewältigung dessen einschließt, was mit Klienten nicht direkt verhandelbar ist, sondern „abstinent“ verarbeitet werden muss (Müller 1991, Oevermann 2011). Eben dies begründet vor allem anderen die Notwendigkeit eines besonderen „kasuistischen Raumes“ (Hörster 1999), auch jenseits direkter Kommunikation mit Klienten. Andererseits aber sind die Sach- und Beziehungsfragen („Worum geht es hier?“, „Was erwartet wer von wem?“) Gegenstand der Aushandlung selbst und können nicht im Voraus oder einseitig definiert werden, sondern müssen gemeinsam gefunden werden (Heiner 2013, Pantuček 2012, Hochuli Freund/Stotz 2015). Die Stärke dieser Perspektive ist sicher, dass sie Soziale Arbeit als ein interpersonales Geschehen – und nicht nur als sachbezogene Dienstleistung oder Behandlung in den Blick nimmt. Die Schwäche könnte sein, Soziale Arbeit zu nahe an therapeutisches Handeln zu rücken und die objektiv-materielle Seite der Dienstleistung, wie deren institutionelle und politische Bedingungen und Grenzen zu unterschlagen.
Diese drei hier grob vereinfacht dargestellten Grundannahmen werden, unbeschadet ihrer Vermischung im Alltagshandeln von Praktikern und den bereits erwähnten Vermittlungsversuchen in der neueren Methodenliteratur, teilweise noch als Alternativen diskutiert. Insbesondere das Expertenmodell dient eher als bloße Kontrastfolie (z. B. Dewe u.a. 2011, Dewe/Otto 2015), da es den Handlungsbedingungen und Aufgaben der Sozialen Arbeit nicht gerecht werde und zudem als technokratisches Modell ethisch fragwürdig sei. Ein aktuelles Konzept für professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit jedoch kommt nicht umhin, von allen drei Annahmen zumindest implizit und partiell auszugehen. So ist denn auch die zentrale Arbeitshypothese dieses Buches, dass ein adäquates sozialpädagogisch-sozialarbeiterisches Handlungsmodell alle drei Annahmen in je spezifischer Weise voraussetzt. Sie sind als Hintergrund der im Folgenden entwickelten Falltypologie („Fall von“, „Fall für“, „Fall mit“, siehe Kap. 3) zu erkennen: Soziale Arbeit muss ihr Können als Fachkompetenz ausweisen, auch wenn die Art der zu bearbeitenden „Sachen“ und der Zugang zu ihnen nur wenig standardisierbar ist; sie muss sich aufs Netzwerken verstehen und sich mit den Zuständigkeiten und Ressourcen anderer verbinden können; und sie muss zu selbstreflexiver „Beziehungsarbeit“ mit Klienten fähig sein.
Allerdings ist damit ein Problem verbunden, vor dem alle integrativen Methodenansätze Sozialer Arbeit stehen, egal ob sie, wie etwa das klassische Case-Work, „den ganzen Menschen in seiner Situation“ zum methodischen Ausgangspunkt und Aufgabenfeld erklären, oder ob sie, wie die neuere Sozialpädagogik seit dem 8. Jugendbericht (1990), die „Lebensweltorientierung“ und „Alltagsnähe“ zu fachlichen Standards macht, ob sie einen Ansatz „kooperativer Prozessgestaltung“ gemeinsam mit Klientinnen (Hochuli Freund/Stolz 2015) oder einen transdisziplinären Zugang (Heiner/Schrapper 2004, Heiner 2013, Michel-Schwartze 2009, 2016, Gahleitner/Pauls 2013) wählt. Solche „ganzheitlichen“ Orientierungen stehen vor der Herausforderung, einer an zufällig aktuellen Kriterien für das jeweils Opportune orientierten Handlungsweise zu begegnen. Andererseits besteht die Gefahr, dass Ganzheitlichkeit in Grenzenlosigkeit der Einmischung umkippen kann (vgl. Müller 1991: 50ff.). Wenn die Integration jener Perspektiven (Fall von, Fall für, Fall mit) durch das Stichwort „multiperspektivisch“ gekennzeichnet wird, so soll solchen Gefahren Rechnung getragen werden, ohne dadurch die notwendige Offenheit des Zugangs zu verlieren. Es ist ja nicht mehr als ein verbreiteter fachlicher Mythos, wenn Sozialpädagogen seufzen, dass sie „Mädchen für alles“ sein müssten. Dieser Mythos entspricht weder den Außenerwartungen, noch den realen Handlungsmöglichkeiten. Soziale Arbeit kann deshalb gar nicht anders, als mehrere – in sich begrenzte – Handlungsperspektiven miteinander zu verknüpfen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, diese Perspektiven jeweils auszuschöpfen. Sie ist dabei zugleich immer selbst Teil des Feldes, in dem sie handelt und sich orientieren muss (Köngeter 2009). Unter multiperspektivischem Vorgehen wird im vorliegenden Konzept ein bewusster Perspektivenwechsel zwischen unterschiedlichen Bezugsrahmen verstanden. Multiperspektivisches Vorgehen heißt zum Beispiel, die leistungs- und verfahrensrechtlichen, die pädagogischen, die therapeutischen oder gegebenenfalls auch medizinischen sowie die fiskalischen Bezugsrahmen eines Jugendhilfe-Falles nicht miteinander zu vermengen, aber sie dennoch als wechselseitig füreinander relevante Größen zu behandeln und in gekonnter Kooperation mit anderen Fachleuten zu bearbeiten. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Einschätzungen der verschiedenen Beteiligten sind als Teilaspekte eines solchen multiperspektivischen Zugangs zu verstehen (Hochuli Freund 2015).
Für die Klärung dieser Bezugsrahmen wird – neben und quer zur genannten Falltypologie – auf ein ordnendes Schema für den Prozess der Fallarbeit zurückgegriffen, wie es gängigerweise in personenbezogenen professionellen Dienstleistungen (etwa auch medizinischen oder juristischen) genutzt wird, ob nun methodisch reflektiert oder auch beiläufig. Viele andere Konzept für methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit arbeiten ebenfalls mit solchen Modellen, um den Prozess des Fallverstehens zu gliedern (z. B. Martin 2005, Cassée 2010, Hochuli Freund/Stotz 2015). Im Konzept multiperspektivischer Fallarbeit wird eine Unterteilung in die vier Prozessschritte Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation genutzt. Es wird hoffentlich deutlich werden, dass damit keineswegs eine defizitorientierte oder expertokratische (Kunstreich u.a. 2004) Vordefinition Sozialer Arbeit verknüpft sein muss. Diese beiden Schemata zu Struktur und Prozess von Fallarbeit lassen sich zu einer Matrix zusammenfügen, die gewissermaßen das Gerüst dieses Buches darstellt (vgl. Schema 2 und 3 in Kap. 4 und 5).
Kasuistisch zu arbeiten heißt hier schließlich, heuristisch (entdeckend) vorzugehen. Im Unterschied zu andern Methodenlehrbüchern Sozialer Arbeit, den klassischen (z. B. Germain/Gitterman 1992) ebenso wie neueren (z. B. Heiner 2010, Stimmer 2012, v. Spiegel 2013, Hochuli Freund/Stolz 2015) werden Fälle nicht als Illustrationen für fachliche Arbeitsprinzipien und daraus abgeleitete Arbeitsmethoden und -verfahren eingeführt. Ausgangspunkt sind vielmehr Fallgeschichten von Studierenden (insgesamt 21), die durch Herantragen von Verallgemeinerungen auf ihre methodischen Implikationen hin befragt werden. Die Fallgeschichten sind demnach keine „Lehrfälle“, die zeigen, „wie man’s macht“, sondern sie sind eher als Testfälle zu verstehen, an denen sich beispielhaft überprüfen lässt, ob die benutzten Interpretationsschemata heuristisch fruchtbar sind. Genauer gesagt: Die Fallgeschichten sind zunächst wirklich nicht mehr als „Geschichten, die man sich erzählt“ (vgl. Fall 1). Sie werden erst durch das Herantragen von Interpretationsperspektiven zum sozialpädagogischen oder sozialarbeiterischen Fall – und je nach Art der Perspektive zu einem jeweils unterschiedlichen Fall. Zugleich werden sie dadurch zum Fall, dass sie jemand aus fachlichem Interesse als Fallgeschichte erzählt. Von „Perspektiven“ zu reden, setzt immer einen Standpunkt voraus, von dem aus jemand blickt. Fallarbeit aber setzt einen praktisch und institutionell lokalisierbaren Standpunkt voraus, den Standpunkt derjenigen, die – real oder im Seminar gedankenexperimentell – an Fällen „arbeiten“ beziehungsweise daraus lernen wollen.3
Sowohl im Blick auf die mögliche Vielzahl der Fallperspektiven, als auch im Blick auf den praktischen Betrachtungsstandpunkt gilt es das Missverständnis zu vermeiden, es stecke das, was objektiv „der Fall ist“, in der Geschichte drin, wie ein Kern in der Schale, und die „Lösung“ des Falles bestehe darin, diesen Kern freizulegen. Vielmehr ist Fallarbeit immer ein Konstruktionsvorgang (und nicht nur ein Rekonstruktionsvorgang): Konstruiert wird „ein kasuistischer Raum, in dem sich SozialpädagogInnen gemeinsam beraten“ (Hörster 2005: 335); und konstruiert werden Lösungsschritte, die „man erfinden muss und wechseln kann“ (Wilhelm Flitner).
Weil ich dies verdeutlichen möchte, habe ich ausschließlich studentische Fallbeispiele verwendet. Oft handelt es sich dabei nur um Bruchstücke und Einzelsituationen aus größeren Zusammenhängen, zum Teil auch um hochkomplexe und wenig erschlossene Problemanzeigen, in keinem Fall um aufbereitete Lehrstücke. Gerade so aber eignen sie sich besonders gut, um den praktischen Ausgangspunkt und Einstieg jeglicher Fallarbeit zu beleuchten. Dieser gleicht dem, den der Philosoph Ernst Bloch „Dunkel des gelebten Augenblicks“ genannt hat. Kasuistik in der Sozialen Arbeit hat nach meinem Verständnis als allgemeinen Zweck, zu zeigen,
•dass man sich vor diesem Dunkel nicht zu fürchten braucht,
•dass man lernen kann, sich selbst ein paar Lichter aufzustecken und
•dass es für dieses Lernen Orientierungsmöglichkeiten und Hilfsmittel gibt. Wenn es gelingt, dies ein Stück weit zu vermitteln, bin ich zufrieden.
2Methoden des Empowerment und der Netzwerkarbeit liegen hier nahe, wenn die Lösung nicht in paradoxen Formulierungen wie der einer „postmodernen“ „Sozialarbeit ohne Eigenschaften“ (Kleve 2000) gesucht wird.
3Das jüngst erschienene Lehrbuch zur Fallarbeit von Braun/Graßhoff/Schweppe (2011) arbeitet ähnlich wie dieses mit eigenen Fällen der Studierenden, allerdings nicht mit dem Ziel, sich den praktischen Standpunkt des verantwortlich Handelnden reflektierend zu erschließen, sondern ihn von einem wissenschaftlich und handlungsentlastet rekonstruierenden Standpunkt aus analysieren zu lernen. Beides sind wichtige, aber unterschiedliche Ziele.
1Alexander und sein Freund Carlos langweilen sich am Sonnabend. Sie gehen angeln. An dem See, wo sie mit Vergnügen Fische fangen, ist dies verboten. Obwohl sie es wissen, unterhalten sie sich und scherzen laut. Der Eigentümer entdeckt sie bald. Die Polizei wird eingeschaltet. Eine zufällige Kontrolle durch die Polizei auf der Straße wird ihnen noch nicht zum Verhängnis. Aber als sie zu Hause ankommen, wartet erneut die Polizei auf sie. Jetzt werden die gefangenen Fische als Beweis gegen sie eingezogen. Es kommt zur Gerichtsverhandlung. Dabei stellt sich heraus, dass Carlos, 20 Jahre alt, verheiratet und Vater von einem Kind, schon mehrmals wegen solcher Delikte vor Gericht stand und zwar immer, wenn er arbeitslos geworden war. Die Staatsanwältin plädiert deshalb für einen mehrmonatigen Freiheitsentzug, um Carlos’ Verhalten zu ändern. Alexander soll eine Geldstrafe bekommen. Das Urteil wird gefällt. Alexander bekommt seine Geldstrafe. Bei Carlos ist die Geldstrafe so angelegt, dass ihm durch Vermittlung des Arbeitsamtes eine Zahlung des Betrages möglich werden sollte. Bis heute hat er jedoch noch nichts bezahlen können.
Diese Geschichte vom Fischfang mit bösen Folgen ist eine von vielen, die Studenten und Studentinnen der Sozialpädagogik, vor allem Studienanfänger, in meinen Seminaren zur Verfügung stellten. Es handelte sich dabei um Lehrveranstaltungen, die als „Kasuistik der Kinder- und Jugendhilfe“, als „Sozialpädagogische und sozialarbeiterische Fälle“ oder auch als Begleitveranstaltung zum Praktikum angekündigt waren. Je eine solche niedergeschriebene Geschichte stellten die Teilnehmerinnen solcher Veranstaltungen gleichsam als „Eintrittskarte“ zur Verfügung.
Die Frage, die für mich in diesen Lehrveranstaltungen im Mittelpunkt stand und die ich auch in diesem Buch beantworten möchte, ist einfach: Wie ist es möglich, aus solchen Geschichten zu lernen, genauer gesagt, etwas über Soziale Arbeit zu lernen? „Solche Geschichten“ heißt: Geschichten, die Studierende der Sozialpädagogik erzählen, wenn man sie auffordert, aus dem eigenen Erfahrungsbereich „Fälle“ oder „Momentaufnahmen“, die „etwas mit Sozialpädagogik zu tun haben“ zu berichten. Die vage Formulierung „etwas“ ist bewusst gewählt. Es geht mir mit dieser Frage um Methoden und Hilfsmittel, die es Studierenden ermöglichen, sich eigene, aus ihrer Sicht für die Soziale Arbeit irgendwie relevante Erfahrungen als Lernerfahrungen anzueignen. Ich gehe dabei von dreierlei aus:
•dass alle Studierenden solche Erfahrungen mitbringen, auch wenn sie noch nicht (z. B. als ehemalige Ehrenamtliche oder Praktikantinnen) mit sozialpädagogisch-sozialarbeiterischen Berufsrollen näher bekannt sind;
•dass fast alle über solche Erfahrungen auch berichten können, das heißt sie erzählen und in der Erzählung Bezüge herstellen können, die erkennen lassen, dass die Geschichte „etwas“ mit Sozialpädagogik zu tun hat;
•dass aber nur sehr wenige in der Lage sind, dieses „Etwas“ näher zu bestimmen und in ihr Wissen über Soziale Arbeit einzuordnen.
Dabei zu helfen ist Ziel dieses Buches.
Dafür werden einige Instrumente entwickelt:
•Es werden Geschichten wie die oben Erzählte unter der Fragestellung betrachtet, welches sozialpädagogische „Etwas“ darin entdeckt werden kann; und es wird verdeutlicht, dass solche Geschichten selbst zwar noch keine „Fälle“ sind, aber aus unterschiedlichen Handlungszusammenhängen auf sehr unterschiedliche Weise „als Fall“ gelesen werden können (Kap. 2.4).
•Es werden drei Typen solcher Lesarten – und damit drei Perspektiven – unterschieden, die für sozialpädagogisches Handeln auf unterschiedliche Weise von Bedeutung sind:
1.als Handeln, das vorgegebene Tatbestände (z. B. Rechtsansprüche von Klienten – oder gegen sie) verwaltet und umsetzt;
2.als auf andere Instanzen verweisendes und an sie vermittelndes Handeln;
3.als Handeln in unaustauschbar persönlichen, aber doch professionell zu gestaltenden Beziehungen.
Diese drei Perspektiven bieten eine Struktur für die Einordnung von und den Umgang mit Fällen in der Sozialen Arbeit (Kap. 3).
•Ein Schema professioneller Fallbearbeitung wird dargelegt, mit der methodischen Abfolge der Prozessschritte Anamnese, Diagnose, Intervention (oder Behandlung) und Evaluation, und es wird erläutert, wie es genutzt werden kann (Kap. 4).
•Es wird am Beispiel der sogenannten „Hilfeplanung“ nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG/SGB VIII) gezeigt, dass dieser Prozess der Fallarbeit mit dem Bezug auf jene drei Perspektiven kein beliebig zu verwendendes Schema darstellt, sondern notwendige Schritte und Betrachtungsebenen benennt, die fachgerecht abgearbeitet werden müssen (Kap. 5).
•Zu jedem der vier Prozessschritte von Fallarbeit werden Beispiele, Fragen, Arbeitsregeln und Bearbeitungsschemata vorgestellt. Dabei werden stets Bezüge hergestellt zu den drei Perspektiven auf Fallarbeit, und es wird versucht eine spezifisch sozialpädagogisch-sozialarbeiterische Sichtweise zu entwickeln (Kap. 6 bis 9).
•Schließlich wird in einer Zusammenfassung jene professionelle Haltung beschrieben, welche Fallarbeit in der Sozialen Arbeit kennzeichnen soll (Kap. 10).
Mein Anliegen ist das, was man früher „Propädeutik“ nannte: einführende Vorübungen zu komplexer sozialpädagogischer Fallbearbeitung zu liefern – jedoch nicht, diese selbst Schritt für Schritt zu lehren. Damit unterscheidet sich dieser Zugang von anderen methodischen Konzepten für die Soziale Arbeit, in denen auch konkrete Methoden und methodisches Vorgehen vermittelt werden (z. B. Cassée 2010, Pantucek 2012, v. Spiegel 2013, Hochuli Freund/Stotz 2015). Viel eher geht es mir darum zu zeigen, wie man sich in der Fallarbeit orientieren kann und wie hilfreich es ist, sich selbst gute Fragen zu stellen. Die Fallbeispiele stammen nicht aus der Praxis kompetenter Fachkräfte, sondern aus der Erfahrung von Studierenden. Komplexe Fallgeschichten von langer Bearbeitungsdauer können sie nicht bearbeiten. Sie berichten eher „Momentaufnahmen“ aus solchen Fällen, die in irgendeiner Form die Frage: „Was tun?“ aufwerfen. Diese Beschränkung auf das Verstehen und Handeln im einzelnen Moment führt dazu, dass das Thema Fallarbeit zunächst weit gefasst wird. Was den spezifisch „sozialpädagogischen Blick“ ausmacht, lernt man vielleicht am besten, wenn man ihn mit anderen „Blicken“ – zum Beispiel dem juristischen oder dem therapeutischen – vergleicht. Allerdings zeigen viele der studentischen Geschichten auch, dass sozialarbeiterische Fallarbeit oft implizit von Sichtweisen anderer Professionen überlagert ist, ohne dass dies erkannt und reflektiert werden kann (woraus dann eher blockierende Vorurteile als Handlungsmöglichkeiten entstehen).
Allgemeines Ziel dieser Art der Arbeit an Fällen ist wohl das, was der Philosoph Immanuel Kant als „Aufklärung“ definiert hat: Es geht um den Mut, sich des eigenen Verstandes ohne fremde Hilfe bedienen zu lernen. Es geht um erste Schritte, das Studium in Sozialer Arbeit als Mittel zu selbstständigem, professionellem Denken und Handeln zu begreifen – statt als unerfreuliche Mischung aus totem Wissen und pseudokonkreten Rezepten. Obwohl Kasuistik in diesem Sinne nur ein kleiner Beitrag zur Ausbildung sozialpädagogisch-sozialarbeiterischer Fachlichkeit sein kann, geht es doch immer zugleich ums Ganze.