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Burkhard Müller hat im Frühjahr 2009 mit sechs Morgenandachten im WDR eine bundesweite Diskussion losgetreten. Er vertritt die Ansicht, dass man als Christ nicht glauben muss, dass Jesus für unsere Sünden den Opfertod am Kreuz gestorben ist. Einerseits gab es begeisterte Zustimmung zu seinen klaren Argumenten und Ausführungen. Immer wieder wurden seine Worte als "befreiend" gekennzeichnet. Andererseits wurde er heftig kritisiert: er zerstöre die Mitte des christlichen Glaubens. Es kam zu heftigen Angriffen und zu der Forderung nach disziplinarischen Maßnahmen wie der Entfernung aus dem Sprecherteam des WDR. Burkhard Müller führt den Leser über die Sühnopfertheologie des Anselm von Canterbury zum Neuen Testament und sucht dort nach dem Sühnopfer-Gedanken. Er behandelt die vier Evangelien, sichtet die Abendmahlstexte, beschäftigt sich mit Paulus und seiner Sündenlehre und wendet sich auch dem Hebräerbrief zu. In alledem will er die alten Traditionen der Bibel und der Kirche nicht leichtfertig abschütteln, sondern sie zu einem guten Gebrauch in heutiger Zeit bewahren.
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Seitenzahl: 272
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CMZ . Wir machen die guten Bücher. Seit 1979.
Burkhard Müller, Jahrgang 1938; Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Heidelberg und Tübingen. Gemeindepfarrer in Oberhausen und Bonn. 1990–2000 Superintendent im Evangelischen Kirchenkreis Bonn. 2001–2007 Mitglied des Sprecherteams des »Wortes zum Sonntag«. Kirchliche Rundfunkarbeit im DLF und DeutschlandRadioKultur, bis 2009 auch im WDR. Ehrenamtliche Tätigkeit im kirchlichen Musikmanagement (etwa 30 Konzerte jährlich); Chorund Orchesterarbeit.
Vorwort
1. Jedem seine Botschaft.
Gottvertrauen: nichts für jedermann?
Das eine einzige Wort Gottes gibt es nicht
Für wen etwas geschrieben wurde
Ist Gottes Wahrheit relativ?
2. Das erste Fremdwort in dieser Sache: »Kondeszendenz«
Der absteigende Gott
Gott sucht unten die, die unten sind
Gott steigt herab in unser Denken und Sprechen
Worte an andere weitergeben (übersetzen)
Das Beispiel »Sohn Gottes«
Adoption zum Sohn Gottes durch die Auferstehung
Adoption zum Sohn Gottes bei der Taufe
Sohn Gottes seit Beginn des irdischen Lebens
»Das Wort ward Fleisch«
3. Das zweite Fremdwort in dieser Sache: »Inkulturation«
Vieles verstehen wir heute anders
»Wie war es denn wirklich?«
Trinitätslehre: eine Inkulturation in griechisches Denken
Die »Regensburger Rede« von Papst Benedikt XVI.
Inkulturation bei den Germanen
Der »Heliand«
Die Logik des Berengar
Anselm von Canterbury
Anselm auch bei Protestanten
Kritik kommt auf
»Anselm light«
4. Zurück zu Jesus!
Danke, Evangelisten!
Wozu ist Jesus geboren worden?
Was ist die zentrale Botschaft?
Ist die Sündenvergebung das Heil?
Der verlorene Sohn
Jesus lebt riskant
Hat Jesus den Tod gesucht?
Hat Jesus sich für uns geopfert?
5. Ein Beispiel: Das Gleichnis von den bösen Winzern (Markus 12,1–9).
6. Das Abendmahl
Was ist der Sinn des Abendmahls?
SühnopferMahl zur Vergebung der Sünden?
Für euch
Ein Passahmahl
Ein Gedächtnismahl
Ein endzeitliches (eschatologisches) Mahl
Fest des Neuen Bundes
Leib Christi
7. Lektüre einzelner Bibelstellen ohne »Opfertod-Brille«
»Siehe, das ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegträgt«
»Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen […] Sohn gab«
»Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.«
»Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.«
8. Kreuzigung und Tod
»Gestorben nach der Schrift«
Die Psalmen
Warum Jesus gleichzeitig auf zwei Eseln reitet
Der nackte Mann, der den Mantel verlor
»Fürwahr, er trug unsere Krankheit …«
Markus: Jesus, der verborgene Gottessohn
»Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung«
Ostern nur in der Kurzfassung
Nachfolge nur als Kreuzesnachfolge
Warum Alexander und Rufus in die Bibel kommen
Kein Wunder am Kreuz
Offenbarwerden des »Gottessohnes«
Der Heide und die Frauen
Matthäus: Lehrer des Gesetzes
Der neue Moses?
Er hätte auch anders gekonnt
Lukas: Jesus, der Märtyrer
»Die Mitte der Zeit«
Johannes: Ein König geht seinen Weg
Ein königlicher Souverän
Triumph am Kreuz: Die Liebe siegt
Von oben kommt er, nach oben geht er
Jesus, das Passahlamm
Ergebnis der Betrachtung der Kreuzigungsgeschichten
Hat Gott Jesus geopfert?
Hat Jesus sich geopfert?
»Für uns« geopfert?
Haben Menschen ihn geopfert?
9. Der Auferstandene
Jesu Tod als Ende der Hoffnungen
Die Auferstehung: das Alleinstellungsmerkmal Jesu
Zeugen und Legenden
»Kreuz und Auferstehung«: eine viel zu kurze Formel
Wie soll man Jesus nennen?
»Alt geht, Neu bleibt«
10. Paulus: vom Schriftgelehrten zum christlichen Theologen
Kurz vor Damaskus: die Offenbarung des Evangeliums
Zugestanden: Paulus kennt den Sühnopfergedanken
Die neue Mitte: die Auferweckung Jesu und das neue Leben
Die Christusvision
Vom irdischen Jesus hat Paulus leider nichts gelernt
Das Gespräch mit anderen Christen
Die rabbinische Tradition
Paulus und die Erlösung des Menschen
Adam und die Sünde
Der Tod, der Sünde Sold
Unsere Sünden sterben mit Jesus
Nicht der Tod Jesu, sondern seine Auferstehung bringt die Erlösung
Herrschaftswechsel: von der Sünde zur Gnade
Was verbindet uns mit dem Sterben und Auferstehen Jesu?
Was ich heute Paulus nicht glauben kann
Was hat Paulus nur auf solche Gedanken gebracht?
Auch bei Paulus gilt: »Alt geht, Neu bleibt«
11. Muss ich Paulus die Sünde glauben?
Warum Paulus von der Sünde redet
Die Sünde als dunkle Kehrseite der Gnade
Die Heilige Schrift beweist es
Man kann den Menschen beim Sündigen zusehen
Sind wir Menschen wirklich so schlecht?
»… böse von Jugend auf« – wirklich?
Eine biblische Sage
Nur ein Sündenbekenntnis ist ein gutes Gebet – wirklich?
Offenbart das Kreuz die Sünde?
Warum Luther sich mit Paulus so gut verstand
Sündenlehre und Sühnopferlehre stützen sich gegenseitig
12. Die Kreuzestheologie
Tatsächlich betont Paulus das Kreuz
Das Kreuz als Ärgernis
Die Verhältnisse in Korinth
13. Hebräerbrief
Jerusalemer Kult als Bild für Jesus Christus
14. Und wo bleiben die Sünden?.
Was hat Jesus selbst vom Opfern gehalten?
Opfer im Jerusalemer Tempel
Jesus, ein Menschenopfer?
Macht das Blut Jesu Christi rein von aller Sünde?
Was also wird aus unserer Sünde?
15. Abschied vom Sühnopferglauben
Vier Thesen zum Glauben an das Sühnopfer Jesu
Tief verwurzelt
Dammbruch?
Gehorsam oder Verstehen?
Die starke Liebe Gottes
16. Die Heilsbedeutung des Todes Jesu
Jesu Leben und seine Auferstehung sind das Heil
Ausgewählte Diskussionsbeiträge aus den Medien
Literaturverzeichnis
Bibelstellenverzeichnis
IM FRÜHJAHR 2008 habe ich mit dem »Chor am Freitag« der Trinitatiskirchengemeinde BonnEndenich die Johannespassion von Johann Sebastian Bach einstudiert. Dabei zeigten sich die Chormitglieder wegen der Texte dieser Passion irritiert. Sie fragten immer wieder nach, was es denn damit auf sich habe, dass Jesus für unsere Sünden gestorben sei, um Gott zu versöhnen.
Darum haben wir in den Proben oft dieses Thema behandelt. Auch innerhalb der Gemeinde haben wir einen Seminarabend dazu gemacht. Mir wurde deutlich, dass ein großer Bedarf an theologischer Information und an Diskussion über die Sühnopfervorstellung besteht.
Im Sommer darauf habe ich mehrere Bücher von kämpferischen Atheisten aus dem angelsächsischen Raum gelesen. Mich hat dabei gestört, dass sie sich allen Ernstes spottend darüber ausließen, der Gott der Christen lasse seinen Sohn töten, um sich selbst zu versöhnen. Mir aber erschien es seit Jahren als grundverkehrt, unseren Gott so zu verstehen. Für mich waren das Vorstellungen von früher, die ich heute weitgehend überwunden glaubte. Später stellte sich heraus, dass ich damit irrte, weil tatsächlich für viele Christen die Sühnevorstellung geradezu eine Zentrallehre des christlichen Gaubens ist.
Gegenüber Christen und Atheisten schien es mir notwendig, dieses Thema zu behandeln. Die Gelegenheit dazu hatte ich im Februar 2009, als ich eine Reihe von Morgenandachten im WDR halten durfte. Ich habe dargelegt, dass niemand an den Sühnopfertod Jesu glauben muss und dass ich persönlich auch nicht daran glaube.
Diese Morgenandachten haben polarisiert. Sie haben begeisterte Zustimmung und heftige Ablehnung bekommen. Es gab Personen, die sehr entschieden gegen meine Meinung kämpften, die kirchliche Obrigkeit zum Eingreifen aufforderten, den Rundfunkbeauftragten bedrängten, Journalisten mobilisierten und Professorenkollegen informierten. Sie haben so eine bundesweite Diskussion ausgelöst. Dafür muss man diesen Widersachern ernsthaft dankbar sein.
Ich bin in der Folgezeit zu Gemeinden eingeladen worden, wo oft vor vollem Haus über diese Frage diskutiert wurde. Mich hat das sehr beglückt. Ich erlebte viele engagierte Christen, die sich zwar kontrovers, aber authentisch und echt im Pro und Kontra um zentrale Fragen des Glauben bemühten. Eine Kirche mit solchen Christen kann keine tote, sondern muss eine sehr lebendige Kirche sein. Aber ich habe auch gemerkt, dass ein Abend nicht reicht, um die Fragen gründlich genug zu beantworten. So entstand bei mir der Entschluss, das zu tun, was ich nie in meinem Leben machen wollte: ein Buch zu schreiben.
Man kann dieses Buch verstehen als ein Ergebnis der vielen Diskussionen und Gespräche in den Gemeinden. Man findet darin kaum etwas, was nicht irgendwo in dieser Zeit von mir oder Gesprächsteilnehmern schon gesagt worden wäre.
Es ist ein Buch für die Gemeinde, nicht für die Wissenschaft. Auf alle Anmerkungen habe ich verzichtet, ich habe auch keine wissenschaftliche Literatur angegeben. Und wenn Sie ziemlich am Anfang die Abschnitte von der »Kondeszendenz« und der »Inkulturation« gelesen haben, ist auch so gut wie Schluss mit Fremdwörtern und theologischen Fachbegriffen. Ich habe mich bemüht, für interessierte Menschen ohne große theologische Vorbildung verständlich zu schreiben.
Nun muss man auch nicht alles lesen. Das Inhaltsverzeichnis kann helfen, zügig zu den Punkten vorzudringen, die besonders interessieren. Man muss dieses Buch auch nicht in einem Stück lesen.
Für den einen oder anderen sind vielleicht ganz ungewohnte und neue Thesen darin enthalten. Manchen erscheint dies oder das als Gefahr für ihren Glauben. Wer spürt, dass ihn irgendetwas zu sehr verunsichert, sollte das Buch einfach eine Zeitlang weglegen und erst später wieder zur Hand nehmen, wenn er sich mit dem Gelesenen ausreichend innerlich auseinandergesetzt hat. Man kann auch einen Bleistift nehmen und durchstreichen, was einem als falsch erscheint, oder markieren, was als richtig akzeptiert wird.
Mag sein, dass man es am Schluss so weglegt, wie ein angesehener und von mir geschätzter Professor meine Andachten zu diesem Thema weggelegt hat: »mit Widerwillen«.
Es mag aber auch sein, dass es diesem gründlichen Leser so geht, wie es mir mit der »Geschichte der Synoptischen Tradition« von Rudolf Bultmann, einem bedeutenden evangelischen Theologen im vorigen Jahrhundert, gegangen ist. Seine Theologie war für die Christen des pietistischen Milieus, aus dem ich stammte, ein großes Ärgernis. Ich war im zweiten Semester und fest entschlossen, dieses Buch zu widerlegen. Bis zur Hälfte des Buchs ist mir das auch gelungen. Dann wurde ich schwankend. Am Schluss aber war ich für die historischkritische Betrachtung der Bibel gewonnen.
Gründliche Leser werden sicher Fehler finden und viele Lücken feststellen. Ich selbst habe in den Diskussionen um meine Andachten in den letzten Monaten einiges dazugelernt. Warum soll ich schon jetzt bei der vollen Wahrheit angekommen sein! Man lernt ja hoffentlich immer noch dazu. Und es gibt ein Versprechen: Der Heilige Geist will uns immer weiter zur Wahrheit führen.
Darum nenne ich dieses Buch einen Diskussionsbeitrag.
Mag sein, dass deshalb viele ein besonders polemisches und aggressives Buch erwarten und sich vielleicht auch darauf freuen. Polemik macht mir eigentlich auch wahnsinnigen Spaß. Aber ich habe in diesem Buch ganz bewusst darauf verzichtet, polemisch zu sein, mich mit Witz und Ironie über die Andersdenkenden herzumachen. Das hängt auch damit zusammen, dass ich von meiner religiösen Herkunft her genau die Position meiner Widersacher geteilt habe und weiß, wie schwer es war, mich auf das einzulassen, was ich dann als andere Wahrheit erkannt habe.
Bei diesem Buch habe ich mich gefragt, ob ich nicht zu destruktiv bin. Das Hauptziel dieses Buches ist ja die These, dass etwas nicht geglaubt werden muss, dass die Übermacht der Sühnopfervorstellung in Theologie und Kirche beendet werden soll. Ich sage mir dann allerdings, dass, wer Ketten abnimmt, eben nicht destruktiv ist. Fesseln durchschneiden ist positiv. Ich hoffe, dass viele es als Befreiung erleben, was ich in diesem Buch mitteilen möchte. Jemand sagte mir, für ihn sei die Sühnetheologie wie ein schwarzes, schweres Tuch, das über dem ganzen Evangelium liege. Wenn es anderen auch so geht, dann möchte ich dieses schwarze Tuch gerne wegreißen. Wenn jemand durch dieses Buch entdeckt, mit wie viel leuchtenden Farben die Bibel in ihren Bildern und Deutungen das Leben Jesu vor uns malt, ist das erreicht, was ich mit diesem Buch erreichen wollte.
Mein Dank geht an die Vielen, deren Bücher ich vor Jahren gelesen und deren Vorträge ich gehört habe. Ich habe daraus Manches zur privaten Nutzung notiert, so dass mir leider auf meinen Notizen die Quellenangaben fehlen. Dieses Buch enthält daher viele Gedanken und Formulierungen, die ich von anderen übernommen habe, ohne heute noch zu wissen, von wem. Diesen anonymen Helfern gilt mein herzlicher Dank.
Die schnelle Veröffentlichung dieses Buches wäre nicht möglich gewesen ohne die freundliche Betreuung von Seiten des Verlages mit der vorzüglichen Lektoratsarbeit von Kirsten Blanck und dem professionellen Buchsatz von Winrich C.W. Clasen. Auch dafür möchte ich herzlich danken.
Vorwort zur dritten erweiterten Auflage
ALS VOR EINEM Jahr dieses Buch erschien, rechneten wir nicht mit dem großen Interesse, das nun zu einer 3. Auflage führt. Nicht nur im Rheinland, sondern an vielen Orten weit darüber hinaus wurde das Buch z. B. als gemeinsame Lektüre in Hauskreisen und Gemeindegruppen eingesetzt und – durchaus kontrovers – diskutiert. Bei meinen vielen Besuchen in Gemeinden und Einrichtungen der Erwachsenenbildung hat es sehr intensive Gespräche mit den Teilnehmern gegeben. Das Buch scheint seinen Sinn zu erfüllen, einen »Beitrag zur aktuellen Diskussion« über das Sühnopfer Christi zu liefern.
Diesem Anliegen entspricht auch, dass Winrich C.W. Clasen, der Verleger, dieser Auflage Materialien beigefügt hat, die einen kleinen Einblick in die Diskussionslage geben. Ich danke ihm dafür.
Auch für diese 3. Auflage gilt als Grenze und Verheißung das Wort Jesu: »Die Geist wird euch in alle Wahrheit leiten.«
EIN VATER HAT ZWEI SÖHNE. Der eine von ihnen studiert in Hamburg. Er ist ziemlich faul. Das beunruhigt den Vater. Er möchte, dass sein Sohn eine vernünftige Einstellung zur Arbeit gewinnt. Der andere Sohn studiert in München. Er ist ziemlich fleißig. Er arbeitet sich geradezu krank. Auch das beunruhigt den Vater. Er möchte, dass auch dieser Sohn eine vernünftige Arbeitshaltung entwickelt.
Beiden schreibt er eine Mail. Dem einen schreibt er: Sei bitte etwas fleißiger, streng dich mehr an. Dem anderen schreibt er: Sei nicht so fleißig, streng dich nicht so an. Die Botschaften an die beiden Söhne klingen verschieden, wollen aber in beiden Fällen dasselbe erreichen, eine vernünftige Einstellung der Söhne zum Arbeiten im Studium. Eigentlich ist die Botschaft an beide die gleiche. Aber weil die beiden so verschieden sind, wird die Gestalt dieser Botschaft unterschiedlich, ja gegensätzlich. Jedem schreibt er also etwas anderes, scheinbar Gegensätzliches, weil jedem etwas anderes gesagt werden muss.
Da passiert ihm ein Missgeschick. Er verwechselt die Mailadressen. Dadurch bekommt der Faule die Ermahnung, nicht so fleißig zu sein. Und der Fleißige wird zu noch mehr Fleiß gedrängt: Sei fleißiger! Was als gegensätzlicher Text geschrieben war und doch bei beiden das gleiche Arbeitsverhalten hervorrufen wollte, wird durch die falsche Adressierung zu einem Riesenfehler. Es kommt eben immer darauf an, was ich wem sage.
Gottvertrauen: nichts für jedermann? Sie kennen das schöne Lied von Paul Gerhardt: »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.« Das ist ein Lied, das im Gesangbuch unter der Rubrik »Geduld und Vertrauen« stehen könnte. Aber auch dieses Lied passt nicht für jeden Fall.
Da ist einer, der sich wie wild bemüht hat, sein Leben und seine Lebensverhältnisse in Ordnung zu bringen. Aber immer wieder kommt er an seine Grenzen. Es gibt einiges, was er auch gar nicht ändern kann, was er einfach hinnehmen muss. Ihm könnte dieses Lied zur Erkenntnis verhelfen, dass man nicht alles in seinem Leben selbst in der Hand hat und selbst bestimmen kann. »Gottvertrauen« ist angesagt.
Aber da ist der andere. Er liebt die Ruhe und Gemütlichkeit. Oder offen gesprochen: Er ist stinkefaul. Er müht sich erst gar nicht, er rührt keine Hand. Er denkt: Gott wird es schon richten. Aber Gott richtet nicht, was er selbst richten sollte. Das sieht er völlig anders, denn sein Lieblingslied ist: »Befiehl du deine Wege« – ein Lied, das seiner Trägheit und Faulheit noch ein christliches Tugendmäntelchen umhängt. Das Lied passt einfach nicht zu ihm. Es kommt eben immer darauf an, wem was gilt und was nicht.
Das eine einzige Wort Gottes gibt es nicht Wenn ich auch davon überzeugt bin, dass wir uns von der traditionellen Sühnopfertheologie trennen dürfen und wohl auch sollten, so gibt es natürlich Menschen, die gerade diese Theologie als besonders hilfreich erlebt haben. Mir wurde erzählt, dass z.B Menschen im Kongo, die noch heute eine lebendige Opfertradition kennen, gerade mit dieser Opfertheologie das Wesen des Evangeliums besonders gut verstehen könnten. So mag zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten und gegenüber ganz bestimmten Menschen auch diese Opfertheologie ihren Sinn haben. Es kommt eben immer darauf an, wem ich was sage.
Das eine einzige Wort Gottes gibt es nämlich nicht. Es ist immer anders und verschieden, weil wir Menschen als die Empfänger des Wortes Gottes immer andere sind. Wenn man es einmal zugespitzt sagen will: Es gibt so viele verschiedene Wahrheiten, wie es verschiedene Menschen gibt.
Natürlich gilt eine Predigt im Gottesdienst vielen Menschen gleichzeitig. Aber wir wären überrascht, wenn wir bei einer Überprüfung feststellten, wie verschieden die Leute ein und dieselbe Predigt gehört haben.
Die Zuhörer hören insbesondere das heraus, was auf sie besonders gut passt. Wir »konstruieren« in unserem Kopf unsere Sicht der Botschaft Gottes. So wird es überhaupt erst möglich, dass einer für viele Menschen gleichzeitig predigt. Denn es kommt nicht nur darauf an, wem was gesagt wird, sondern auch, wie er es versteht.
Weil die Botschaft des Evangeliums immer mit verschiedenen Menschen zu tun hat, muss sie immer unterschiedliche Gestalt annehmen: Das Kinderbuch mit biblischen Geschichten sieht völlig anders aus als die Broschüre, die für einen Trauernden geschrieben ist. Ein Buch, das den Weg zum glücklichen Leben zeigen will, sieht anders aus als das Buch, das eine Glaubensfrage erklären will.
Sagen wir es vereinfacht so: Das Evangelium bringt uns das »Ja« Gottes zu unserem Leben. Aber wie das »Ja« konkret erklingt, das ist für jeden anders.
In diesem Buch werden wir uns damit beschäftigen, warum heute für viele die traditionelle Opfertheologie nicht mehr taugt, das »Ja« Gottes hörbar zu machen, obwohl sie dazu entwickelt war.
Für wen etwas geschrieben wurde Wer Erfahrung im Bibellesen hat, wird längst gemerkt haben, dass die Bibel keine Sammlung allgemeingültiger Wahrheiten ist, sondern von verschiedenen Menschen für verschiedene Menschen aufgeschriebene Texte enthält. Darum fängt die Bibel in ihrer Lebendigkeit oft erst dann an zu leuchten, wenn wir eine Vorstellung davon bekommen, wer damals die Texte aufgeschrieben hat und für wen; was der Schreiber und seine ersten Leser gedacht und geglaubt haben.
Dann ist der Bibeltext auf einmal die eine Seite eines lebendigen Dialogs mit dem anderen, für den er aufgeschrieben wurde. Was waren das damals für Menschen, was waren ihre Ängste, was waren ihre Ansichten über Gott? Welche Bilder stellte ihnen ihre Sprache zur Verfügung, schwierige und geheimnisvolle Dinge auszudrücken, etwa wenn sie von Gott reden wollten?
Es ist eines der Verdienste der historischkritischen Forschung, die Bibel von dem Sockel »Ewiges Wort Gottes« heruntergestoßen zu haben. Sie hilft uns, nach dem »Lebendigen Wort Gottes« im Dialog mit Menschen zu suchen und es auch zu finden.
In diesem Buch werden wir immer wieder genau so die Bibel zu verstehen suchen, indem wir fragen: Was haben die damals eigentlichgemeint? Warum haben sie so oder so geredet? Wem haben sie was gesagt?
Ist Gottes Wahrheit relativ? »Dadurch wird ja alles relativiert!«, denkt wohl mancher beunruhigt. »Gottes Wort verliert seine ewige und allgemeingültigen Wahrheit!«
Aber genau so ist es. Gott spricht sein Wort durch Menschen zu Menschen. Sein Wort bezieht sich auf bestimmte Menschen und will ihnen konkret etwas sagen. In diesem Sinn ist es »relativ«: bezogen auf diese Menschen. Und es ist gut, wenn ich durch die historischkritische Forschung diesen historischen Rahmen, die geschichtlichen Bedingungen kennen lerne.
Damit verstehe ich die Relativität (= Bezogenheit auf bestimmte Menschen) eines Textes der Bibel. So kann ich ihn in seiner Lebendigkeit verstehen und deuten. Wie sehr das hilft, die Bibel in ihrer Lebendigkeit zu verstehen, sollten Sie auch diesem Buch anmerken können.
Gottes Wort kommt durch Menschen zu Menschen. Dabei geht Gott in unsere konkrete Wirklichkeit ein. Das Wort Gottes tummelt sich sozusagen mitten unter uns, lässt sich auf uns ein, spielt unsere GlaubensSpiele mit – allerdings nicht immer: Oft will es die Glaubens»Spielregeln« der Menschen verändern, verbessern. Ob zu Gottes Regeln gehört: »Mein Sohn musste für eure Sünden am Kreuz bluten«, bezweifle ich zutiefst und will das in diesem Buch ausführlich begründen. Ich will diese Regel abschaffen helfen. Mit den dann geänderten Regeln können wir unser Glaubensspiel fröhlicher und entkrampfter auf bessere Weise spielen, das alte Spiel mit dem schönen Titel: »Gottes Güte ist groß!«
DIE ALTE THEOLOGIE gebrauchte bisweilen den Begriff der »Kondeszendenz« Gottes. »descendere« ist Latein und heißt »herabsteigen«; »con« (»cum«) heißt »mit«, »zusammen«. Kondeszendenz meint, dass Gott herabkommt, um mit uns zusammen zu sein.
Der absteigende Gott Wer den Begriff gebraucht, denkt zuerst natürlich daran, dass Gott in Jesus zu den Menschen herabgekommen ist. Gott ist nicht oben in seiner göttlichen Welt geblieben, sondern nach unten in die wechselvolle Geschichte der Menschen hineingegangen. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, wie anstößig das damals klang. Gewiss, es gab noch Menschen, die sich an den Göttersagen vergnügten mit einem Himmel voller Götter, die sich stritten, die sich vertrugen, die gegeneinander intrigierten, die sich paarten und bekämpften, die auch schon mal den Himmel verließen und nach unten unter die Menschen kamen, wie z.B. der Gott Zeus, der lüstern seine Finger nicht von schönen Frauen lassen konnte.
Aber die Nachdenklichen, die Gebildeteren, die philosophisch Geschulten gingen selbstverständlich davon aus, dass die wahre Gottheit in unveränderlicher Erhabenheit und Größe das ewige unwandelbare Sein repräsentierte. Sie konnten über die christliche Botschaft von Gottes Herabsteigen nur den Kopf schütteln. Ihnen war unbegreiflich, dass Gott herunterkommt. Wenn er kommt, dann ist er kein Gott. Denn Gottes ewiger Platz ist nach ihrer Sicht einzig im Himmel.
Gott sucht unten die, die unten sind Wohin aber kommt Gott? Was ist das Ziel dieses Abstiegs? Wen sucht der herabkommende Gott unten auf? Sind es die Menschen im Allgemeinen?
Nun, das wird in der Bibel mehrfach genauer eingegrenzt: Gott kommt speziell zu den Menschen, die ganz am Boden sind, um sie aufzuheben. (Psalm 113,6 »der den Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Schmutz«; 1. Samuel 2,8 »Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche«)
Bei Jesus ist das ein geradezu programmatisches Konzept des Handelns: Er sucht die Schwachen und Gefallenen auf. Darum finden wir ihn in »schmutziger Gesellschaft«, bei Zöllnern, Ehebrecherinnen, Kranken und Aussätzigen. Darin ist er wie ein guter Arzt, der die Kranken besucht und nicht die Gesunden. (Matthäus 9,12: »Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.«)
Wahrscheinlich haben Sie gedacht, als ich das erste Mal dieses schwierige Fremdwort »Kondeszendenz« erwähnte: »Ach, wie weltfern die Theologie mit ihren alten Begriffen doch ist!« Aber so trockene theoretische Begriffe wie Kondeszendenz können eine dynamische Wirkung auf uns haben, die Richtung unserer Lebensführung eventuell umdrehen, nämlich nach unten statt nach oben. Hat Paulus das begriffen, wenn er z. B. seine Gemeinde auffordert: »Haltet euch herunter zu den Geringen!« (Römer 12,16)?
Kondeszendenz Gottes ist so etwas wie das göttliche Gegenprogramm gegen unsere Ethik der Karriere und bremst uns deutlich in unserer Neigung, uns ausschließlich nach oben zu orientieren. Kondeszendenz: Das »Herabkommen Gottes« könnte ein grundlegendes Stichwort für Sozialpolitiker werden.
Gott steigt herab in unser Denken und Sprechen Kondeszendenz beschreibt nach der Meinung der alten Theologen vor allem das erstaunliche Faktum, dass wir von Gott, der so anders ist als wir, überhaupt mit unseren menschlichen Worten reden können. Gott geht ein in menschliche Worte und menschliche Rede, um sich uns verständlich zu machen.
Bei den Hebräern ist Hebräisch die Sprache Gottes. Für die Griechen spricht Gott griechisch. Latein ist nicht heiliger als die Sprache der Germanen, das Deutsch, als Kölsch oder Schwäbisch. Kein Wort in keiner Sprache ist umfassend geeignet, um zu sagen, wer Gott ist. Trotzdem bewegt sich Gott hinab in die menschliche Sprache mit ihren Worten und Vorstellungen, um überhaupt mit dem Menschen sprechen zu können. Wir reden von dem Gesicht Gottes, seinen Augen, seiner Nase, seinen Ohren, seinem Mund. Und wissen dabei ziemlich genau, dass unser Gott nicht wirklich ein Gesicht, Augen, Nase, Ohren und Mund hat. Aber wir dürfen die Bilder aus unserer Sprache benutzen, um mit ihnen anzudeuten, dass Gott Nähe zu uns Menschen sucht. Gott ist immer anders und mehr, als wir ausdrücken. Aber wir dürfen in vielen verschiedenen Bildern von ihm reden. Er kommt in unsere menschliche Bilderwelt hinein.
Dieses Phänomen wird uns wieder begegnen, wenn wir die ersten Christen bei ihrem schwierigen Bemühen begleiten, mit menschlichen Worten auszudrücken, wer der auferstandene Christus denn wirklich ist und was er wirklich für uns getan hat. Da probieren sie die Bilder, Vergleiche und Metaphern aus und hoffen damit wenigstens die Richtung anzuzeigen, in der man den auferstandenen Christus im Glauben verstehen kann. Manche Bilder von der Welt Gottes sind gut, manche sind schlecht. Ob das traditionelle Bild vom Sühnopfer Christi gut und geeignet ist, werden wir im Folgenden genau überlegen.
Der hochgelehrte Wissenschaftler versteht es eventuell, sehr komprimiert und abstrakt von den Dingen Gottes zu reden. Aber diese Gelehrtensprache ist der Wahrheit Gottes nicht näher als so schlichte Worte über Gott, die jeder verstehen kann: »Du bist bei mir!« (Psalm 23,4)
Es gibt Metaphern für Christus, denen man das nicht sofort ansieht (z. B. »Sohn Gottes«). Sie enthalten aber deswegen nicht größere Wahrheit als andere Bilder, die man sofort als Bilder erkennt (Johannes 15,5: »Ich bin der Weinstock.«). All unser Reden über Gott ist menschliches Reden.
Worte an andere weitergeben (übersetzen) Das heißt auch, ihren Inhalt zu verändern. Übersetzer können ein Lied davon singen, dass Übersetzen in eine andere Sprache manchmal so etwas wie die Übertragung in eine andere Welt bedeutet.
Lasen im Mittelalter die Christen ihre Bibel auf Latein, so wird den Gelehrten im 15. Jahrhundert bewusst, dass man doch die Bibel in ihrer Ursprache lesen sollte, wenn man sie denn wirklich verstehen will. Und Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt, aber nicht aus dem gebräuchlichen Latein, das schon selber eine Übersetzung und Übertragung aus einer anderen Sprache war. Luther griff statt zur lateinischen Bibel zum Original, zum hebräischen Text des Alten Testaments und zum griechischen Text für das Neue Testament. Und dann hat er übersetzt, nein: übertragen, nicht kleinlich Wort für Wort, sondern genial Sinn für Sinn. Inzwischen hat man untersucht, wie der Glaube der ersten Christen auf palästinensischem Boden aus der orientalischhebräischaramäischen Welt in die griechische Welt übersetzt wurde. Das war nicht einfach.
Viele sehen im Psalm 2 eine Liturgie der Ernennung des Königs und seiner Adoption zum Sohn Gottes. Mit dem Satz »Du bist mein Sohn« wurde dem neu gesalbten König durch die Priester die Gottessohnschaft zugesprochen.
(»Ich habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berg Zion. Kundtun will ich den Ratschluss des Herrn. Er hat zu mir gesagt: ›Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.‹« Psalm 2,7f.)
Adoption zum Sohn Gottes durch die Auferstehung Es gibt einen sehr frühen Text der ersten Christen, den Paulus in Römer 1,3–4 zitiert:
»Jesus Christus, unser Herr,
geboren aus dem Geschlecht Davids
nach dem Fleisch
und nach dem Geist, der heiligt,
eingesetzt als Sohn Gottes in Kraft
durch die Auferstehung von den Toten.«
Jesus als Mensch (»nach dem Fleisch«) ist Nachkomme des Königs Davids. (Die Jungfrauengeburt ist hier unbekannt.) Dieser Mensch wird durch die Auferstehung zum Sohn Gottes eingesetzt, »adoptiert«. Jesus, der Mensch, ist also seit Ostern Sohn Gottes.
Adoption zum Sohn Gottes bei der Taufe Der Evangelist Markus erzählt keine Weihnachtsgeschichte wie Lukas oder Matthäus. Er weiß nichts von einer wunderbaren Geburt Jesu. Aber er weiß, seit wann Jesus Gottes Sohn ist. Rechtzeitig zum Beginn seines Wirkens geschieht die Adoption zum Sohn Gottes. Diese Adoption vollzieht sich bei Markus am Jordan, bei der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer: Da sieht Jesus (er, nicht die anderen Leute!), dass sich der Himmel auftut. Er hört, wie eine Stimme, Gottes Stimme, vom Himmel spricht. Aber nur Jesus wird angeredet: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.« (Markus 1,10f.)
Markus spricht hier zwar schon griechisch, aber seine Vorstellung vom Gottessohn ist noch orientalischaramäisch. Der Gottessohn ist der zum Gottessohn Adoptierte. In der von Paulus zitierten Strophe geschieht das bei der Auferstehung. Im Markusevangelium ereignet sich das bei der Taufe Jesu.
Sohn Gottes seit Beginn des irdischen Lebens Irgendwann, ziemlich rasch, kam das Evangelium in eine andere, die griechische Welt. Dort kannte man auch den Begriff »Sohn Gottes«, aber man verstand etwas ganz anderes darunter. Ein Sohn Gottes ist ein göttlicher Mensch (theios aner), eine Art Halbgott, z. B. einer, den Zeus im Beischlaf mit einer schönen Frau gezeugt hat. Der Mensch, der dann geboren wurde, war ein Gottessohn, ein Mensch mit wunderbaren Kräften.
Wenn die Menschen der griechischen Welt hörten: »Jesus ist der Sohn Gottes«, dann hätten sie das leicht in dem Schema der griechischen Mythologie missverstehen können: An der Zeugung waren eine Frau und ein Gott beteiligt, der ihr beiwohnte. Aber Jesus ist nicht entstanden wie die vielen Söhne des Zeus aus dem Beischlaf eines Gottes mit einer menschlichen Frau.
Diese Vorstellung war lästerlich bei den Anhängern Jesu Christi. Sie mussten neue Bilder und Geschichten finden, die dieses Missverständnis ausschlossen. Hier half entscheidend die Vorstellung von der Jungfrauengeburt.
Dieser Jesus ist Sohn Gottes nicht durch den Beischlaf Gottes mit Maria, sondern er ist auf andere, auf wunderbare und geheimnisvolle Weise entstanden. Die Geburtslegenden Lukas 1f. und Matthäus 1f. erzählen davon.
»Das Wort ward Fleisch« Das späteste der vier Evangelien, das Johannesevangelium, geht noch weiter zurück mit dem Anfang Jesu. Bei ihm ist Jesus das Wort (logos), dessen Leben nicht durch eine wunderbare Geburt beginnt, sondern das von Ewigkeit her bei Gott ist und von Gott heruntersteigt (Johannes 1) und »Fleisch« wird. Auch diese neue Sicht des Johannes ist als das Ergebnis einer Übersetzung in die Vorstellungswelt eines ganz bestimmten Menschenkreises zu erklären.
Es hat im Verlauf der Geschichte der Kirche viele solche Übersetzungen und Veränderungen gegeben. Ich habe großen Respekt vor der intellektuellen und theologischen Leistung, mit der das Evangelium aus der orientalischen Welt in die griechische, dann in die lateinische und germanische Welt übersetzt wurde, so dass es bei uns in unserer Sprache gehört werden kann.
ES WIRD HEUTE häufiger ein anderer Ausdruck gebraucht, der etwas ganz Ähnliches bezeichnet: Inkulturation. Man kann sich das leicht selbst übersetzen: Inkulturation ist das Hineinwachsen des Evangeliums in die Kultur der jeweiligen Zeit oder Gesellschaft, um dort richtig anzukommen und zuhause zu sein. Bei der Inkulturation in unsere Zeit ergeben sich ganz spezifische Probleme. Rudolf Bultmann hat das in den inzwischen klassisch gewordenen Satz gekleidet: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geisterund Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.« Natürlich gibt es Christen, die das versuchen. Aber viele können das nicht, weil sie nicht mit gespaltenem Bewusstsein leben wollen. Sie brauchen die Inkulturation in unsere Zeit.
Vieles verstehen wir heute anders Misstrauische Menschen sehen in der Inkulturation den Versuch, sich an den Zeitgeist anzupassen. Sie spotten: Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, ist bald Witwer! Manche sehen darin eine unglaubliche Arroganz des heutigen Menschen, klüger sein zu wollen als die Früheren. Aber dass Inkulturation notwendig ist, müsste jedem einleuchten – schon allein deshalb, weil im Verlauf der Jahrhunderte bestimmte Erkenntnisse gewonnen wurden, die sich auf den Glauben auswirken.
Wir wissen heute: Die Erde ist keine Scheibe. Die Erde ist nicht die Mitte der Welt. Adam und Eva waren nicht das erste Menschenpaar.
Wo ist der Himmel Gottes? Früher, als man die Welt für eine Art mehrstöckiges Haus hielt mit dem Totenreich unter der Erdscheibe und dem Himmel über ihr, konnte man klar sagen: Die Hölle (= Totenreich) ist unten, der Himmel ist oben. Viele haben sich die Himmelfahrt Christi als eine Bewegung nach oben vorgestellt.