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Das Buch stellt Soziokratie 3.0 als ein praktisches Modell für agile, widerstandsfähige und sinnstiftende Organisationen vor. Auf der Grundlage von Gleichstellung, kollektiver Intelligenz und einer anpassungsfähigen Organisationsstruktur bietet Soziokratie 3.0 eine Reihe bewährter Muster, um Komplexität zu beherrschen und effektiver zusammenzuarbeiten.
Dieser Businessroman erzählt die Geschichte der Transformation eines typischen Technologieunternehmens, das aufgrund seines starken Wachstums in Schwierigkeiten gekommen ist. Entscheidungen werden zu langsam getroffen, es mangelt an Kommunikation und der Teamgeist geht verloren: es ist zu einer schwerfälligen Organisation geworden. Als neuer Geschäftsführer muss Chris das Unternehmen retten und wieder zu Erfolg führen.
Der Leser erfährt auf eindrucksvolle und unterhaltsame Art, wie eine Organisation so aufgebaut wird, dass sie nicht nur überlebt, sondern als humanes, innovatives und widerstandsfähiges Unternehmen auch gedeiht und für die Zukunft gerüstet ist.
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Seitenzahl: 318
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www.dpunkt.plus
Jef Cumps · [email protected]
Lektorat: Christa Preisendanz
Übersetzung: Stefan Roock, [email protected]
Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg
Satz & Layout: Birgit Bäuerlein
Herstellung: Stefanie Weidner
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
978-3-86490-782-1
978-3-96910-282-4
ePub
978-3-96910-283-1
mobi
978-3-96910-284-8
1. Auflage 2021
Translation Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2021
dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17 · 69123 Heidelberg
© 2019, Lannoo Publishers. For the original edition.
Original title: »Sociocracy 3.0 – The Novel. Unleash the Full Potential of People and Organizations«
by Jef Cumps
Translated from the English language
www.lannoo.com
Hinweis:
Die Tatsache, dass wir im gesamten Text vorwiegend das männliche Pronomen (er/sein) verwenden, dient der leichteren Lesbarkeit und spiegelt in keiner Weise eine geschlechtsspezifische Einstellung wider.
Die Co-Autoren und Co-Entwickler von S3 – James Priest, Bernhard Bockelbrink und Liliana David – haben Jef Cumps eine weltweite nicht exklusive und nicht übertragbare Lizenz erteilt, Text und Illustrationen aus »Sociocracy 3.0 – A Practical Guide« (www.sociocracy30.org) in diesem Buch zu verwenden.
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Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag noch Übersetzer können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.
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GELEITWORT
ANMERKUNGEN DES ÜBERSETZERS
1 PAULS FRAGE
2 KATE
3 BERNIE
4 THE FACTS
5 ERSTE ZWEIFEL
6 DER TREIBER
7 DER NEUE GESCHÄFTSFÜHRER
8 BERNIE MÖCHTE HELFEN
9 EINLADUNGSBASIERTE VERÄNDERUNG
10 DAS MANAGEMENTTEAM
11 PAULS NACHRICHT
12 TREIBER UND DOMÄNEN
13 ROLLEN, KREISE UND STEVE
14 WAHL
15 DIE EHRLICHE GESCHICHTE
16 DAS ALL-HANDS-MEETING
17 STEUERUNG UND OPERATIVES GESCHÄFT
18 KONSENTENTSCHEIDUNG
19 BERNIES MEINUNG
20 PROPOSAL FORMING
21 STEVE
22 EINE AGILERE UND EFFEKTIVERE HRS
23 VERSION 4.0
24 PETERS FEHLER
25 ABENDESSEN MIT KATE
26 TECHNISCHE PROBLEME
27 CHRIS’ HEIMLICHES PROJEKT
28 PETER
29 SARAHS ENTHUSIASMUS
30 BERNIES PEER-REVIEW
31 KOCHEN MIT KATE
32 UNTERDESSEN
33 PETERS RÜCKTRITT
34 CHAMPAGNER
35 S3-SOFTWARE
ANHANG
DANKSAGUNG
WAS IST SOZIOKRATIE 3.0?
ÜBER DEN AUTOR – JEF CUMPS
ÜBER DEN CO-AUTOR – JAMES PRIEST
ÜBER DEN ÜBERSETZER – STEFAN ROOCK
ANMERKUNGEN DES ÜBERSETZERS ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
DIE WICHTIGSTEN S3-MUSTER
Ich bin Jef das erste Mal im Frühling 2015 begegnet, als er an einem S3-Workshop teilnahm, den Lili David und ich durchführten. S3 war damals fünf Monate alt. Ich erinnere mich gut an Jef – er stellte neugierige Fragen, auch noch nach dem Workshop. Er sah voraus, dass S3-Muster hilfreich sein würden, um das agile Mindset im ganzen Unternehmen zu verbreiten.
Das war in den frühen S3-Zeiten, als wir noch dabei waren, herauszufinden, wie wir überhaupt über S3 reden können. Seitdem sind wir deutlich vorangekommen. Und das trifft auch auf Jef zu: Er ist nicht nur einer der besten Trainer und Coaches, die ich getroffen habe, sondern hat auch ein tiefgreifendes Verständnis von S3 entwickelt.
Dank Jef haben wir im Frühjahr 2016 die erste S3-Einführungsschulung in Belgien durchgeführt. Wir trafen uns kurz danach in Lissabon und Jef erzählte mir von seiner Buchidee. Er hatte bereits eine sehr klare Idee der Geschichte, als er mich mit Chris, Bernie und einigen der anderen Charaktere der Geschichte bekannt machte, die Sie in diesem Buch kennenlernen werden. Ich war fasziniert, weil viele von ihnen mir so vertraut vorkamen – Ihnen wahrscheinlich auch.
Jef wollte eine Geschichte erzählen, die den Leserinnen und Lesern praktische und realistische Einsichten in S3 vermittelt. So können sie die passenden S3-Muster für den eigenen Kontext in der eigenen Geschwindigkeit auswählen. Er wollte Schritt für Schritt zeigen, wie ein ganzes Unternehmen seine Fähigkeit zum Umgang mit Komplexität radikal verbessern kann. Er wollte veranschaulichen, wie das Unternehmen dadurch seine Wertschöpfung verbessern und die Kreativität, die Leidenschaft und das Engagement aller nutzen kann.
Ich glaube, Jef hat es geschafft!
Dieses Buch ist voller nützlicher Einsichten und Perspektiven, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller Unternehmen helfen werden, mehr Befriedigung und Effektivität bei der Arbeit zu finden. Jef kann hilfreiche Weisheiten in leicht verständlicher Form transportieren. Die in diesem Buch beschriebene Transformation zeigt, wie ein typisches Technologieunternehmen gegen die Wand fährt und dann doch überlebt und erfolgreich wird. Diese Geschichte sollten alle lesen, die humanere, innovativere und resilientere Unternehmen schaffen wollen; Unternehmen, die wir stolz an unsere Kinder weitergeben können – als Inspiration dafür, wie auch sie erfolgreich zusammenarbeiten können.
James Priest
Mitentwickler von Soziokratie 3.0
Bei der Übersetzung der Fachbegriffe habe ich mich an die offiziellen Übersetzungen der S3-Webseite gehalten (siehe https://patterns-de.sociocracy30.org). Die dort nicht aufgeführten Begriffe habe ich versucht, möglichst passend ins Deutsche zu übertragen. Eine Auflistung der Übersetzungen, die ich verwendet habe, findet sich im Anhang des Buches.
Mein Telefon klingelt. Der Name unseres Geschäftsführers, Paul, erscheint im Display. Er kommt schnell zum Punkt: »Chris, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen. Können wir uns um 18:30 Uhr in der Lobby treffen?«
»Okay, Paul. Worum geht’s?«
»Das erzähle ich dir heute Abend, aber die Zukunft der Human Resources Solution könnte davon abhängen. Also erzähle vorerst niemandem von unserem Treffen.« Dann legt er auf.
Ich starre auf mein Telefon und frage mich, was das alles soll. Warum will Paul mit mir sprechen? Es muss ernst sein; normalerweise benutzt er nicht den vollen Unternehmensnamen, sondern nur die Abkürzung HRS.
Wahrscheinlich hat es etwas mit der neuen Version unseres Produktes, eines Softwarepakets für HR-Abteilungen, zu tun. Version 4.0 der Software sollte bereits vor Monaten fertiggestellt sein. Es gab aber eine ganze Reihe von Problemen, insbesondere mit dem Test und der Integration der Komponenten. Wir haben es nicht mal geschafft, Version 4.0 ausreichend zu stabilisieren. Dadurch konnten wir die neue Version auch nicht bei einer wichtigen Messe letzte Woche vorstellen.
Trotzdem verstehe ich nicht, warum Paul mit mir sprechen möchte. Die mobile App funktioniert perfekt und war rechtzeitig fertig. Könnte etwas anderes in meiner Abteilung schiefgelaufen sein?
Ich muss den ganzen Nachmittag an das Telefonat denken und bin froh, als es endlich 18:30 Uhr ist. Als ich in die Lobby komme, wartet Paul bereits auf mich. Er bittet mich, ihn auf einen Spaziergang nach draußen zu begleiten und verschwendet keine Zeit: »Chris, du hast die Entwicklung von HRS und unserem Produkt von Beginn an mitverfolgt und daher möchte ich mit dir im Vertrauen sprechen. Okay?«
»Klar, Paul«, antworte ich.
Paul zögert, als er nach den richtigen Worten sucht.
»Ich sag’ es einfach, wie es ist«, beginnt er. »Ich überlege, als Geschäftsführer zurückzutreten. Ich fürchte, ich bin nicht länger der Richtige für diese Position.«
»Mensch, Paul«, antworte ich überrascht, »das habe ich nicht kommen sehen.«
»Das verstehe ich«, fährt Paul fort. »Ich hätte vielleicht früher mit dir sprechen sollen, aber ich wollte keine Ängste schüren. Ich dachte, ich müsste das Problem selbst lösen.«
Ich sehe Paul skeptisch an.
»Wir sind in den letzten Jahren stark gewachsen, wie du weißt. Früher kannte ich jeden hier persönlich und ich wusste genau, was im Unternehmen vorgeht. Aber das ist bereits seit einiger Zeit nicht mehr der Fall. Wir haben Abteilungen aufgebaut, Managerpositionen eingeführt und Prozesse definiert, die das Wachstum unterstützen sollten. Aber trotz der ganzen wöchentlichen Statusberichte und monatlicher Key Performance Indicators habe ich die Kontrolle verloren.« Paul seufzt. Er wirkt ernst, aber auch traurig. Ich habe ihn noch nie so hilflos erlebt.
»Erzähl’ weiter, Paul«, ermutige ich ihn.
»Ich beobachte bereits seit einiger Zeit, dass wir Entscheidungen langsamer fällen als früher und dass wir weniger miteinander reden – zumindest über die wirklich wichtigen Dinge. Als wir in den Anfängen das Produkt mit wenigen Dutzend Leuten entwickelten, kannten sich noch alle untereinander. Wir wussten, wer woran arbeitete, welche Probleme existierten und wie wir uns gegenseitig helfen konnten. Jetzt scheinen wir unseren Teamgeist nach und nach zu verlieren. Abteilungen schotten sich voneinander ab, Mitarbeiter halten Informationen zurück, aus Angst, für Fehler verantwortlich gemacht zu werden, und das Management spielt politische Spielchen. Alle versuchen, die eigene Position und das eigene Team zu beschützen.«
»Ja, das ist mir nicht entgangen«, sage ich vorsichtig.
»Chris, das macht uns langsam und schwerfällig. Wir reagieren langsamer und weniger flexibel auf Kundenwünsche als früher. Und wir haben eine wichtige Deadline verpasst, um unser neues Produkt einem internationalen Publikum zu präsentieren. Und jetzt erwartet der Vorstand eine Erklärung von mir.«
Er fährt fort: »Und das ist sein gutes Recht; schließlich hängt die Zukunft des Unternehmens an den Verkäufen des neues Produktes. Wenn wir die Erwartungen unserer Investoren und des Marktes nicht erfüllen, endet unsere Geschichte hier und jetzt.«
Ich verstehe, was Paul sagt. Aber ich weiß immer noch nicht, warum er ausgerechnet mir das alles erzählt.
»Ich glaube, ich schaffe es nicht, Chris. Obwohl ich in den vergangenen Jahren alles gegeben habe, war es nicht genug. Ich habe in den letzten Wochen sehr viel darüber nachgedacht und denke, dass es Zeit wird für einen neuen Kapitän. Wir brauchen jemanden, der das Schiff wieder auf Kurs bringt.«
Paul hält an und wendet sich mir zu.
»Am Mittwoch findet eine Vorstandssitzung statt, bei der ich als Geschäftsführer zurücktreten werde. Ich werde die Verantwortung für die verfehlte Deadline übernehmen. Das wird den Vorstand und die Investoren eine Weile besänftigen und dem neuen Geschäftsführer etwas Zeit verschaffen, ins Handeln zu kommen.«
»Der neue Geschäftsführer?«, stammel ich. Was soll das bedeuten?
»Chris, ich möchte, dass du meinen Platz einnimmst. Ich verstehe, dass du diese Bitte überhaupt nicht erwartest hast, aber ich habe intensiv darüber nachgedacht. Du bist der Einzige im Unternehmen, der es geschafft hat, in seiner Abteilung die Atmosphäre, die Zusammenarbeit und Qualität der Vergangenheit zu erhalten. Deine mobilen Apps tun das, was sie tun sollen, und sind immer rechtzeitig fertig. Deine Mitarbeiter scheinen glücklich zu sein und du läufst meistens mit einem Lächeln durchs Unternehmen. Ich weiß nicht genau, wie du das schaffst, aber ich glaube an dich, Chris. Du kannst unser Unternehmen retten.« Ich bin perplex und überlege einen Moment, ob Paul einen Witz macht. Ich soll der Geschäftsführer von HRS werden, einem börsennotierten Unternehmen mit 160 Mitarbeitern? Undenkbar!
Paul sieht die Panik in meinen Augen und lächelt, auch wenn er immer noch traurig wirkt.
»Ich meine es ernst, Chris. Ich bin davon überzeugt, dass du die notwendige Veränderung erreichen kannst. Du musst dich nicht sofort entscheiden, aber ich würde mich sehr freuen, wenn du die Aufgabe ernsthaft in Betracht ziehen würdest. Ich brauche deine Antwort bis Mittwochmorgen vor der Vorstandssitzung. Okay?«
Ich nicke, weiß aber nicht, was ich sagen soll. Mittwoch? Das sind nur noch fünf Tage.
»Was wirst du also tun?«, fragt mich meine Frau Kate neugierig, nachdem ich ihr von meinem Gespräch mit Paul erzählt habe.
»Dieser Geschäftsführer-Job ist nichts für mich«, antworte ich. »Ich habe nicht das Talent dafür, den großen Boss zu spielen, die ganze Verantwortung zu tragen und ständig Politik machen zu müssen.«
Kate runzelt die Stirn, sodass ich schnell fortfahre: »Ich bin in diesen Dingen nicht so gut wie Paul. Er ist brillant. Er weiß genau, was er will und wie er mit dem Managementteam und unseren Partnern umgehen muss, um seine Ziele zu erreichen. Und er hat ein extrem großes Netzwerk.«
»Nun gut. Aber offensichtlich funktioniert das, was Paul tut, doch nicht«, entgegnet Kate. »Aber natürlich solltest du den Job nicht übernehmen, wenn du wirklich so darüber denkst.«
Sie geht ins Wohnzimmer und lässt mich etwas perplex zurück.
Ich folge ihr und frage: »Was meinst du denn? Du denkst also auch, dass ich nicht das Zeug zum Geschäftsführer habe?«
»Das hängt davon ab, Schatz«, antwortet sie.
Sie bittet mich, mich neben sie auf die Couch zu setzen.
»Wenn du glaubst, dass ein Geschäftsführer harte Ansagen machen und politische Spielchen spielen muss«, sagt sie, »dann ist das definitiv nichts für dich. Aber würde man nicht eigentlich dasselbe von einem Manager in deiner Position erwarten?«
»Wahrscheinlich«, gebe ich zu.
»Aber so funktionierst du nicht, Chris. Du bist immer so stolz darauf, wie sich deine Teams selbst organisieren, ohne dass du dich um alles kümmern musst. Die Mitarbeiter deiner Abteilung sehen dich nicht primär als ihren Chef, sondern als einen der ihren. Und das liegt daran, dass du dich nicht als etwas Besseres siehst, sondern als jemand, der gemeinsam mit den Mitarbeitern Ziele erreichen will; jemand, dem sie vertrauen können und der offen und ehrlich ist.«
Kate sieht mich an.
»Denke daran, wann du am glücklichsten bist, wenn du abends nach Hause kommst, Chris. Das ist nicht dann, wenn du etwas Wichtiges erreicht hast, sondern wenn ein Team eine neue Einsicht gewonnen oder ein interessantes Experiment gestartet hat. Oder auch, wenn einer deiner Mitarbeiter sich deutlich weiterentwickelt. Das ist dein Führungsstil und damit bist du erfolgreich. Und dabei findest du sogar noch die Zeit, hier und da mitzuprogrammieren.«
Ich nicke. Kate hat recht. Seit ich für das Unternehmen arbeite, habe ich mein Bestes gegeben, um agiles Arbeiten in meiner Abteilung zu etablieren. Agilität ist eine Haltung, in der kleine, selbstorganisierte Teams regelmäßig funktionierende Teile des Produktes liefern statt das komplette Produkt erst am Ende. So können wir früh und regelmäßig Feedback von unseren Kunden einholen und die wertvollsten Produkte bauen. Und wir können früh und preisgünstig auf neue Erkenntnisse reagieren und noch während der Entwicklung umsteuern.
Definition
Agilität ist eine Haltung, in der kleine, selbstorganisierte Teams regelmäßig funktionierende Inkremente eines Produktes liefern und dadurch den Wert für Kunden maximieren.
»Wäre es nicht goßartig, ein ganzes Unternehmen so zu führen?«, fordert Kate mich heraus. »Stell’ dir vor, ganz HRS würde so arbeiten wie dein Team. Wäre das nicht fantastisch?«
»Kate, so wie ich in meiner kleinen Abteilung arbeite, würde es niemals auf Unternehmensebene funktionieren«, rufe ich aus, um meine Ablehnung des Geschäftsführerpostens zu rechtfertigen. »Unternehmen funktionieren nicht so. Auf dieser Ebene braucht es Hierarchie und Politik. Da kann man nicht transparent sein und jedem vertrauen. Das wäre ein einziges Durcheinander.«
»Das ist sehr schade«, seufzt Kate.
»Ja, aber so ist es leider«, antworte ich.
»Das meine ich nicht.«
Ich sehe sie überrascht an.
»Ich meine, es ist schade, dass du dich so schnell damit abfindest. Früher hättest du das nicht getan. Erinnerst du dich an unsere Studienzeit und wie du dich mit dem Dekan über die Führung der Universität gestritten hast? Du hast nicht aufgegeben, bis sich die Dinge geändert haben.«
Ich muss grinsen. Das waren tatsächlich fantastische Zeiten.
»Und du hast all das nicht für dich getan, Chris. Du hast dich für benachteiligte Studierende stark gemacht. Du wolltest die Welt verändern und hast dich nicht darum gekümmert, ob du damit etablierte Systeme infrage stellst.«
Sie holt Luft und fährt fort: »Es ist deine rebellische Seite, die ich in deiner Ablehnung der Geschäftsführerrolle vermisse. Du akzeptierst die Dinge so, wie sie sind, auch wenn du tief in dir drin weißt, dass es andere und bessere Ansätze gibt. Du zeigst das bereits mit deinen Teams.«
Ich will ihr widersprechen, kann ihren Punkt aber verstehen.
Ich frage sie: »Glaubst du, dass ich das Unternehmen retten kann?«
»Das weiß ich nicht, Schatz«, antwortet sie. »Aber wenn du es nicht versuchst, wirst du es niemals erfahren.«
Ich seufze und beginne an meiner Entscheidung, Pauls Angebot abzulehnen, zu zweifeln.
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich anfangen soll«, sage ich nach einer langen Pause. »Es muss sich so viel bei HRS ändern. Das wird der Vorstand niemals akzeptieren.«
»Den letzten Teil wirst du nur herausfinden, wenn du den Vorstand fragst«, schlägt Kate vor. Sie lächelt und plötzlich leuchten ihre Augen: »Vielleicht weiß ich sogar, wie du das alles herausfinden kannst.«
Am nächsten Morgen verlasse ich das Haus neugierig, aber auch skeptisch. Ich bin auf dem Weg zu Bernie, den Kate vor einiger Zeit auf einer Konferenz kennengelernt hat. Auch wenn er sich offiziell bereits zur Ruhe gesetzt hat, scheint er immer noch einer der Hauptakteure bei The Facts zu sein. The Facts ist ein Unternehmen, das ehrliche, politisch neutrale Nachrichten veröffentlicht – unbeeinflusst von Lobbyisten. Nach Auskunft von Kate kooperieren sie mit Dutzenden Journalisten, die als Volontäre oder Angestellte arbeiten. Sie kennt nicht alle Details, aber aus ihren Gesprächen mit Bernie weiß sie, dass sie seit Jahren mit kleinen, selbstorganisierten Teams arbeiten – ohne Manager und ohne Machthierarchie. Sie weiß außerdem, dass sie sich kontinuierlich weiterentwickeln. Weil Kate sich so sicher war, dass Bernie mir helfen kann, habe ich ihn gestern Abend direkt angerufen. Er war sofort bereit, sich mit mir zu treffen und seine Erfahrungen mit mir zu teilen.
Bernie sieht jünger aus, als ich erwartet hatte; er hat einen klaren Blick und den ganzen Kopf voller grauer Locken. Ich hätte ihn niemals auf Mitte Sechzig geschätzt. Er schüttelt mir die Hand mit festem Händedruck und scheint ehrlich erfreut zu sein, mich zu treffen.
»Du bist also der neue Geschäftsführer von HRS, Chris?«, heißt er mich willkommen. »Komm’ herein.«
»Nicht wirklich«, murmel ich. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Natürlich«, lacht Bernie. »Ich ärgere dich nur. Aber ich bin froh, dass du es in Betracht ziehst. Kate hat mir von deinen Teams und deinem Führungsstil berichtet. Es ist keine einfache Aufgabe, ein ganzes Unternehmen so zu führen, aber es ist möglich. The Facts ist der lebende Beweis dafür.«
Unser Gespräch hat gerade erst begonnen, aber ich mag Bernie jetzt schon. Verrückt! Er wirkt besonnen und ruhig und dabei gleichzeitig voller Energie und Tatendrang. Er erzählt mir mehr von The Facts und bestätigt, dass sie tatsächlich ohne traditionelle Machthierarchie arbeiten. Die Mitarbeiter organisieren sich in kleinen Teams selbst und fällen viele Entscheidungen autonom.
»Bedeutet das, dass ihr eine komplett flache Organisation ohne Struktur habt?«, unterbreche ich ihn.
»Wir haben eine klare Struktur und klare Vereinbarungen, sodass Informationen und Einflussmöglichkeiten effektiv zu den richtigen Leuten gelangen.«
»Überhaupt nicht«, lacht Bernie. »Was soll das überhaupt sein, eine flache Organisation? Wir haben klare Strukturen und klare Vereinbarungen, die bestimmen, was wir tun und wie wir es tun. Bei uns sind Entscheidungen darüber, was passiert, in der Organisation verteilt. Eine klare Struktur hilft, dass wir gemeinsam alle notwendigen Arbeiten auch erledigen und damit die Organisation am Laufen halten.«
Ich verstehe noch nicht, wie Informationen und Einfluss ohne eine traditionelle Machthierarchie zu den richtigen Menschen gebracht werden können, aber Bernie fährt fort. Er wirkt aufrichtig enthusiastisch bezüglich der Arbeitsweise von The Facts – genau wie Kate es gesagt hatte.
Bernie erklärt, dass alle Informationen und Entscheidungen transparent sind – es sei denn, es gibt gute Gründe dafür, dass bestimmte Informationen vertraulich behandelt werden müssen. Das bedeutet auch, dass jeder und jede die volle Verantwortung für die eigene Arbeit übernimmt, ohne dafür Manager involvieren zu müssen.
Ich bin beeindruckt und erzähle ihm, was HRS macht und dass ich für die Abteilung verantwortlich bin, die die mobilen Apps entwickelt. Bernie zeigt sich sehr interessiert daran, wie wir agil arbeiten und welche Atmosphäre in meinen Teams herrscht. Ich erzähle Bernie auch von Pauls Anliegen an mich und wie es dazu kam. Ich führe aus, dass ich nicht Geschäftsführer werden möchte, weil der klassische Managementstil nicht zu mir passt. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie ich meinen Führungsstil auf ein ganzes Unternehmen anwenden kann. Bernie hört mir aufmerksam zu, bis ich zu Ende geredet habe.
»Wenn ich dich so reden höre, Chris, glaube ich, dass unsere Arbeitsweise bei The Facts dir und HRS wirklich helfen könnte. Unsere Arbeitsweise ähnelt der Art und Weise, wie du deine Abteilung führst. Wenn du möchtest, würde ich dir gerne helfen und dabei würdest du die Arbeitsweise bei The Facts kennenlernen.«
»Sehr gerne«, antworte ich.
Bernie lächelt.
»Wunderbar. Dann schlage ich vor, dass wir uns am Montag in den Räumen von The Facts treffen. Sagen wir gegen 13 Uhr? So kannst du direkt ein Gefühl für unsere Arbeitsweise bekommen. Das wird dir viel mehr nützen, als wenn ich dir erkläre, wie The Facts arbeitet.«
»Okay«, antworte ich. Aber ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen, dass ich bis Montag warten muss. Ich bin wirklich neugierig, wie Bernie und seine Kollegen zusammenarbeiten.
Ich erreiche das Büro von The Facts ein wenig vor der vereinbarten Zeit. Bernie macht uns beiden einen Kaffee und führt mich in eine gemütliche Sitzecke, in der wir in Ruhe miteinander reden können.
»Wir haben gleich unser monatliches Steuerungsmeeting«, sagt Bernie. »Komm’ doch einfach mit uns und schau’ dir das Meeting an. So kannst du wichtige und konkrete Elemente unseres Ansatzes kennenlernen.«
»Okay«, sage ich. »Aber was ist ein Steuerungsmeeting?«
»Lass’ uns am Anfang beginnen«, sagt Bernie. »Wir haben uns dafür entschieden, Soziokratie 3.0 – oder abgekürzt S3 – bei The Facts einzusetzen. Wir benutzen S3, um unsere Arbeit zu organisieren und unsere Organisation weiterzuentwickeln. S3 ist die aktuelle Entwicklungsstufe der soziokratischen Kreismethode, die in den Siebzigerjahren in den Niederlanden entwickelt wurde. Der Ansatz organisiert Unternehmen auf Augenhöhe.«
S3 ist die aktuelle Entwicklungsstufe der soziokratischen Kreismethode kombiniert mit agilen und Lean-Prinzipien sowie Techniken.
»Was S3 so kraftvoll macht«, fährt Bernie fort, »ist die Kombination des soziokratischen Ansatzes mit agilem und Lean Mindset.«
Ich schaue überrascht und Bernie lacht.
»Agil?«, frage ich.
»Tatsächlich. Und du weißt alles darüber, wie ich am Samstag herausgefunden habe.«
»Hmm, stimmt«, antworte ich. »Meine Teams nutzen seit Jahren agile Prinzipien und sind damit erfolgreich. Deshalb hat Paul mich gebeten, Geschäftsführer zu werden. Was für ein Zufall, dass sich diese Prinzipien auch in S3 finden.«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, lächelt Bernie. »Deine Erfahrungen mit der agilen Philosophie und den agilen Techniken werden dir dabei helfen, S3 einzusetzen. Und ich vermute, dass ich ein paar Dinge über agile Ansätze von dir lernen kann. Mein Hintergrund ist die soziokratische Kreismethode und ich bin erst auf Agilität gestoßen, als ich S3 bei The Facts eingeführt habe.«
Bernie erklärt mir, dass Soziokratie so viel wie »Steuerung durch Kollegen« bedeutet. Diese Form der Steuerung geht davon aus, dass alle Involvierten gleichgestellt sein sollen. Dadurch unterscheidet Soziokratie sich von Autokratie, in der eine Person oder eine kleine Gruppe die Macht hat, Entscheidungen zu fällen. Soziokratie unterscheidet sich auch von Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet. Ich schreibe all das emsig in mein Notizbuch. Bernie wartet geduldig, bis ich fertig geschrieben habe, und fährt dann fort.
»S3 ist eine praktische Anleitung, um effektivere und bewusstere Zusammenarbeit zu ermöglichen. Es geht darum, agilere und resilientere Organisationen zu entwickeln; Organisationen, in denen sich Menschen voll einbringen und Erfüllung finden können.«
Definition
S3 ist eine praktische Anleitung für bewusste und effektive Zusammenarbeit sowie zur Entwicklung resilienter Organisationen.
»S3 hat verschiedene Stärken«, fährt Bernie fort. »Es ist unter einer Creative-Commons-Lizenz für alle frei verfügbar und es ist modular aufgebaut. Im Grunde ist S3 eine Sammlung von sich gegenseitig unterstützenden Mustern, aus denen du dir die aussuchen kannst, die besonders nützlich für dich sind.«
»Muster?«, frage ich.
»Ja«, sagt Bernie, »so nennen wir sie. Wenn man sich die Geschichte der Kooperation unter Menschen ansieht, findet man bestimmte Verhaltensweisen und Praktiken, die sich für Zusammenarbeit bewährt haben. Stell’ dir ein Muster als eine flexibel verwendbare Komponente vor – du findest heraus, was für dich nützlich sein kann, und kombinierst die Muster so, wie es für deinen Kontext passend ist. S3 ist kein Top-down-Ansatz und keine ›One size fits all‹-Methode, sondern eher ein Rucksack voller nützlicher Werkzeuge, die sich gegenseitig ergänzen.«
Es erleichtert mich, das zu hören. Ich habe in der IT bereits zu viele drakonische, allumfassende Methoden gesehen, die man komplett einsetzen musste. Diese Methoden basierten meist auf guten Ideen, ihre Umsetzung wurde aber allzu oft erzwungen und war von kommerziellen Beweggründen der Anbieter getrieben.
»Also entscheidet man selbst, welche Muster man auswählt?«, frage ich Bernie.
»Das stimmt«, fährt er fort. »Aber ich habe dir noch nichts von den sieben wichtigen Prinzipien erzählt, auf denen S3 fußt. Diese Prinzipien sind das Fundament der Muster und stellen sicher, dass die S3-Muster in Kombination reibungslos im Unternehmen funktionieren.«
Gleichstellung nicht mit Gleichheit verwechseln.
»Okay, ich verstehe«, sage ich. »Was sind dann die Prinzipien?«
»Das erste Prinzip ist Gleichstellung«, erklärt Bernie.
»Ah, nett«, unterbreche ich ihn. »Ich behandle meine Mitarbeiter auch alle gleich.«
»Vorsicht«, reagiert Bernie. »Du solltest Gleichstellung nicht mit Gleichheit verwechseln, bei der alle gleich sein und das Gleiche tun sollen. Gleichstellung bedeutet in S3, dass alle, die von einer Entscheidung betroffen sind, die Möglichkeit haben sollen, diese zu beeinflussen. Daher werden Entscheidungen häufig über Konsent hergestellt, das auch gleich das zweite Prinzip ist. Konsent als Prinzip bedeutet, dass wir aktiv nach Einwänden gegen Entscheidungen suchen und diese dann auflösen. Begründete Einwände sind uns dabei sehr willkommen.«
»Begründete Einwände?«, frage ich. »Was bedeutet das?«
»Wir haben alle unsere Meinungen und Präferenzen und das kann die Entscheidungsfindung sehr schwer machen. Ein Einwand hingegen deutet auf unbeabsichtigte Konsequenzen einer Entscheidung oder Handlung hin. Ein Einwand kann auch direkt einen Verbesserungsvorschlag enthalten.«
Definition
Konsent lädt dazu ein, Einwände gegen Entscheidungen oder Handlungen zu suchen, zu äußern und aufzulösen.
Ich nicke, um Bernie zu signalisieren, dass ich verstehe, was er sagt. Zumindest glaube ich das.
»Das dritte Prinzip ist Transparenz«, fährt er fort. »Alle Informationen und Entscheidungen sind transparent für jeden, mit Ausnahme von Informationen, die aus guten Gründen vertraulich behandelt werden müssen. Über Vertraulichkeit wird wieder im Konsent entschieden.« Ich sehe überrascht auf.
»Wenn du von ›allen Informationen‹ sprichst, meinst du dann auch Finanzdaten wie Umsatzziele und Gehälter? Und das bezieht sich auch auf strategische Entscheidungen?«, frage ich.
»Ja. Tatsächlich sind fast alle Informationen bei uns transparent«, antwortet Bernie. »Eine Ausnahme sind Details zu einigen unserer Quellen oder andere hochsensible Informationen.«
Ich beginne zu verstehen, wie sich die Prinzipien gegenseitig unterstützen, aber Bernie fährt bereits fort.
»Ein anderes Prinzip ist Verantwortung. Es bedeutet, dass alle Initiative ergreifen, alle reagieren, wenn etwas benötigt wird, und alle Verantwortung übernehmen für das, was vereinbart wurde.«
»Ja, das tut mein Softwareentwicklungsteam auch«, antworte ich begeistert. »Sie nennen es ›Commitment‹. Alle halten sich an das, was vereinbart wurde, und helfen konstruktiv mit. Wenn etwas schiefgeht, gibt es keine Schuldzuweisungen.«
»Genau das meine ich«, bestätigt Bernie. »Ich freue mich, dass deine Teams das bereits können. Davon kann man nicht immer ausgehen.«
»Das stimmt«, sage ich. »Und es funktioniert nicht immer perfekt. Aber erzähle weiter. Was sind die verbleibenden drei Prinzipien?«
»Empirismus ist das fünfte Prinzip, und es passt gut zum sechsten Prinzip: Kontinuierliche Verbesserung. Empirisches oder faktenbasiertes Arbeiten bedeutet, dass man Dinge nicht blind aufgrund von Annahmen oder Theorien weiter verfolgt, sondern dass man möglichst schnell auf Basis von Experimenten und überprüfbaren Ergebnissen dazulernt. Wissen entsteht aus Erfahrung, und Beobachtungen der Realität helfen, kontinuierlich zu lernen und zu verbessern.«
Entscheidungen müssen gut genug für jetzt und sicher genug zum Ausprobieren sein.
Ich nicke, weil ich diese Prinzipien aus der agilen Arbeit meiner Teams kenne.
»Wir sagen, dass unsere Entscheidungen oder Lösungen ›gut genug für jetzt und sicher genug zum Ausprobieren‹ sein müssen«, erläutert Bernie.
»Das bezieht sich vor allem auf das Konsent-Prinzip, aber man kann deutlich sehen, wie Konsent Empirismus und kontinuierliche Verbesserung impliziert. Wir begutachten und verbessern regelmäßig unsere Vereinbarungen, sodass diese nicht perfekt sein müssen, sondern nur ›gut genug für jetzt‹.«
»Großartig«, sage ich. »Ich kann jetzt erkennen, wie die Prinzipien miteinander verbunden sind. Aber hast du nicht von sieben Prinzipien gesprochen? Ich habe bisher nur sechs gezählt.«
»Richtig«, nickt Bernie. »Das letzte Prinzip ist Effektivität. Wir fokussieren auf das, was notwendig ist, um unsere Ziele zu erreichen, Hindernisse zu beseitigen und Verschwendung zu elimieren.«
Ich bin noch dabei, das letzte Prinzip aufzuschreiben, als Bernie weiter ausführt:
»Das waren die sieben Prinzipien, die für die S3-Muster sinnstiftend sind. Sie fungieren außerdem als Richtlinien für die Verwendung der Muster, sodass diese wirksam werden. Gleichzeitig hilft die Implementierung der Muster, die Prinzipien besser zu verstehen.«
»Okay«, sage ich. »Die Prinzipien muss ich also komplett verwenden?«
»Nein, musst du nicht. Aber wenn du S3-Muster verwendest, wird schnell klar, warum es nützlich ist, sich an den Prinzipien zu orientieren. Tatsächlich kommst du mitunter an den Punkt, an dem du die Prinzipien formell für das Unternehmen oder ein Team etablieren willst. Daher gibt es mit Die sieben Prinzipien leben ein eigenes S3-Muster, das optional und kein Zwang ist. Man kann entscheiden, ob man das Muster verwenden will und ob man es anpassen möchte.«
»Okay, ich glaube, ich habe die Prinzipien verstanden. Jetzt möchte ich mehr über die Muster erfahren.«
»Bevor wir damit beginnen«, lächelt Bernie, »möchte ich dir noch eine Metapher mit auf den Weg geben. Ich sehe Ähnlichkeiten zwischen Unternehmen und lebenden Organismen, wie Städten, Bäumen oder dem menschlichen Körper. Dies alles sind Systeme, die sich kontinuierlich an das anpassen müssen, was in ihnen und um sie herum passiert. Und es gibt keinen Chef, der alles organisiert und durch Anweisungen steuert. Das würde nicht funktionieren, weil man in einem komplexen System nicht vorhersagen kann, was passieren wird. Jeder Teil reagiert auf Impulse und entscheidet selbst mit Blick auf das große Ganze. Das braucht effektive Kommunikation, aber es macht das Ganze stärker und flexibler.«
Ich nicke.
»So betrachtet«, denke ich laut nach, »kann ich Pauls Frustration sogar noch besser verstehen. Mit dem Wachstum von HRS kann er nicht mehr selbst auf alle Impulse und Anfragen reagieren, aber seine Funktion und unsere Struktur führen genau zu dieser Erwartung. Und das bremst uns als Unternehmen.«
Bernie nickt zustimmend.
»Kannst du mir noch mehr über die Muster erzählen?«, frage ich.
»Es gibt zu viele, als dass ich sie jetzt alle erklären könnte«, lacht Bernie. »Tatsächlich gibt es mehr als 70 Muster in S3. Aber um dir einen Eindruck zu vermitteln: Ein Teil der Muster unterstützt Entscheidungsfindung, sodass die kollektive Intelligenz im Unternehmen genutzt werden kann, ohne dabei die Effizienz zu opfern. Es gibt außerdem Muster, um die Partizipation der Mitarbeiter im Unternehmen effektiv zu gestalten. Diese stärken diie Motivation und erlauben persönliches Wachstum der Mitarbeiter. Außerdem geht es darum, Verantwortung zu stärken, indem die Mitarbeiter für ihr Verhalten im Unternehmen Verantwortung übernehmen.«
Ich nicke und schreibe so viel wie möglich von dem mit, was Bernie erzählt.
»Es gibt eine weitere Gruppe von Mustern, die mit der Organisation und Durchführung von Arbeit zu tun haben«, fährt Bernie fort. »Sie geben den Mitarbeitern mehr Freiheit, sodass sie in der bestmöglichen Art und Weise zum Unternehmen beitragen können. Diese Muster stammen größtenteils aus Agile und Lean. Wahrscheinlich kennst du sie bereits.«
»Und die letzte Gruppe von Mustern«, sagt Bernie, »unterstützt beim Aufbau einer agilen und resilienten Organisation.«
»Moment mal«, unterbreche ich Bernie. »Was meinst du mit dem Aufbau einer Organisation?«
»Ich spreche davon, die Organisationsstruktur bewusst zu definieren und an die Erfordernisse anzupassen«, erklärt Bernie. »S3 bietet zum Beispiel Muster, um Rollen und Kreise zu definieren.«
Er zögert, dann fährt er fort. »Für den Moment kannst du dir einen Kreis als teilautonomes Team vorstellen; die Charakteristika erkläre ich dir später detaillierter. Bis dahin ist wichtig, dass Rollen und Kreise miteinander verknüpft sind. So kann man effektiv gemeinsam an großen Zielen arbeiten, die auf den Unternehmenszweck abgestimmt sind.«
Bernie sieht auf seine Uhr und fügt hinzu: »Die Organisationsstruktur klärt die Verteilung von Arbeit, ermöglicht den Mitarbeitern Einflussnahme wo nötig und sorgt dafür, dass Informationen die richtigen Personen erreichen – ohne dass dafür eine Machthierarchie benötigt wird.«
Ich nicke und will noch mehr Fragen stellen. Aber Bernie fährt fort: »Unser Steuerungsmeeting beginnt gleich.«
»Was bedeutet Steuerung in diesem Kontext?«, will ich wissen.
»Steuerung bedeutet, Ziele zu definieren und Entscheidungen zu fällen und anzupassen, sodass die Mitarbeiter die Ziele erreichen können. Steuerung kann Ziele, Prozesse, Vereinbarungen und Strukturen im Unternehmen oder im Team betreffen.«
»Ah, Okay«, sage ich. »Dann werden im Steuerungsmeeting solche Entscheidungen gefällt?«
In einer lernenden Organisation verändern sich ständig Pro zesse, Vereinbarungen und sogar Organisationsstrukturen.
»Ja, das stimmt. Und in einer lernenden Organisation verändern sich Prozesse, Vereinbarungen und sogar Rollen und Teams die ganze Zeit. In einer lernenden Organisation verändern sich ständig Prozesse, Vereinbarungen und sogar Organisationsstrukturen. Das ist notwendig, um sich verändernden Kontexten anzupassen und schnell und effektiv auf Probleme und Chancen zu reagieren. Das unterscheidet sich stark von einem traditionellen Unternehmen, in dem die Struktur normalerweise fix ist und sich selten ändert – es sei denn durch große und schwerfällige Reorganisationen.«
Ich nicke. Ich habe in meiner Karriere bereits einige Reorganisationen erlebt, rückblickend mit wenig Erfolg.
»Das bedeutet natürlich nicht, dass alle machen können, was sie wollen und Entscheidungen nach Belieben treffen«, sagt Bernie. »Dafür haben wir die Steuerungsmeetings. Und dieses ist nicht das einzige Steuerungsmeeting bei The Facts. Viele unserer Teams sind selbstorganisiert und diese Teams nennen wir Kreise. Jeder Kreis hat seine eigenen regelmäßigen Steuerungsmeetings, in denen sie entscheiden, wie sie ihre Arbeit effektiv erledigen.«
»Aber unser heutiges Meeting ist kein gewöhnliches Steuerungsmeeting«, erläutert Bernie. »Heute kommen die Repräsentanten von fünf Kreisen zusammen, weil diese Kreise regelmäßig miteinander sprechen müssen, um Entscheidungen zu fällen, die alle fünf Kreise betreffen.« Bernie bemerkt meinen zweifelnden Blick.
»In S3 arbeiten wir normalerweise mit Repräsentanten, um Kreise miteinander zu verbinden«, erklärt Bernie. »Teams geben ihren Repräsentanten das Mandat und Vertrauen, Entscheidungen für sie zu treffen.«
»Aha, dann habt ihr also doch so eine Art Manager«, sage ich.
»Keineswegs. Es sind Repräsentanten im wahrsten Sinne des Wortes. Sie bringen die Bedürfnisse, Interessen und das Wissen ihrer Gruppe in das Steuerungsmeeting einer anderen Gruppe ein. Das nennt sich Verbindung. Die Rolle des Repräsentanten wird temporär übernommen. Es handelt sich nicht um eine feste Position. Und wenn wir heute eine Entscheidung treffen und jemandem aus dem Kreis fällt später noch ein schwerwiegender Einwand ein, wird die Entscheidung im nächsten Steuerungsmeeting erneut begutachtet oder sogar vorher. Alle sind gleichgestellt, erinnerst du dich?«
Ich nicke.
»Und das macht ihr jeden Monat?«, frage ich ungläubig.
»Sicher, und einige Kreise haben sogar häufigere Steuerungsmeetings«, antwortet Bernie. »Aber jetzt lass’ uns gehen. Das Meeting beginnt in wenigen Minuten.«
Während wir zum Besprechungsraum gehen, bereitet Bernie mich weiter vor.
»Du wirst natürlich nicht alles verstehen, was dort passieren wird. Aber das ist auch nicht das Wichtigste«, versichert er mir. »Verfolge einfach aufmerksam die Art und Weise, wie wir Entscheidungen gemeinsam fällen, und versuche zu erkennen, wie wir die sieben Prinzipien anwenden.«
»Okay«, sage ich. Und auch wenn mir noch nicht alles klar ist, bin ich sehr neugierig, was auf mich zukommen wird.
»Was denkst du?«, fragt Bernie mich, als wir den Besprechungsraum verlassen.
»Ich bin sprachlos«, beginne ich. »Es ist schwer zu glauben, dass ihr in nur zwei Stunden so viele wichtige und teilweise schwierige Entscheidungen getroffen habt. Bei HRS hätten wir mehrere Tage, wenn nicht Wochen, gebraucht, um Einigkeit in diesen Fragen herzustellen – zumindest bezüglich der Entscheidungen zu neuen Partnerschaften und Gehaltserhöhungen.«
Es ist schwer zu glauben, dass ihr in nur zwei Stunden so viele wichtige und teilweise schwierige Entscheidungen treffen konntet.
»Du bist nicht der Erste, der so reagiert«, lacht Bernie. »Aber für uns ist das die normale Art, zu kooperieren und zu Entscheidungen zu kommen. Das war ein sehr typisches Steuerungsmeeting.« Er hält für einen Moment inne, mit einem Glitzern in den Augen – er ist offensichtlich stolz auf ihre Zusammenarbeit. Dann fährt er fort: »Was ist dir sonst noch aufgefallen?«
»Nun«, antworte ich, »vielleicht in erster Linie, wie ehrlich und direkt ihr miteinander umgeht. Ihr scheint nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, und zwar im positiven Sinne. Alle dürfen sagen, was sie brauchen und welche Einwände sie haben. In unserem Unternehmen werden diese Punkte meist erst hinterher im Flur oder in der Kaffeeküche geäußert.« Bernie nickt wissend.
»Also, welche der sieben Prinzipien hast du während des Meetings bemerkt?«
Ich denke einen Moment darüber nach. »Ich habe ganz sicher Gleichstellung und Konsent gesehen. Aber auch Verantwortung war dabei. Es war wunderbar zu sehen, dass niemand Angst zu haben schien, auch schwierige Themen anzusprechen oder für seine eigene Idee einzustehen – und niemand schien das Bedürfnis zu haben, Dinge zu thematisieren, die nichts zur Diskussion beitragen.«
»Richtig, und der letzte Punkte hat natürlich mit Effektivität zu tun. Wir tun nur das, was uns hilft, voranzukommen. Was hast du noch bemerkt?«
»Dass ihr früh zufrieden seid«, sage ich lachend.
Bernie runzelt die Stirn. »Was meinst du damit?«, fragt er.
»Ich meine das nicht im negativen Sinne – ganz im Gegenteil. Ihr nennt es: ›Gut genug für jetzt und sicher genug zum Ausprobieren‹.«
Bernie nickt.
Einen Schritt in die richtige Richtung machen, ohne endlos nach der perfekten Lösung zu suchen.
»Erst in dem Meeting habe ich verstanden, was das wirklich bedeutet: Ihr unternehmt den nächsten Schritt in die richtige Richtung, ohne endlos nach der perfekten Lösung zu suchen. Als ihr zum Beispiel den Vorschlag für die neuen Gehälter ausgearbeitet habt, habt ihr nicht versucht, jede kleine Ausnahme zu berücksichtigen. Ihr habt nach einer funktionierenden Lösung gesucht, die ihr in den nächsten Monaten ausprobieren und dann auswerten und anpassen könnt. Ich vermute, dass ihr damit viel Zeit gewinnt. Außerdem basiert euer Handeln damit auf dem, was tatsächlich passiert, und ihr versucht nicht, die Zukunft in all ihren Details zu erraten.«
»Genau«, nickt Bernie. »Ich freue mich, dass es dir aufgefallen ist.«
»Es gibt noch einen weiteren Punkt«, fährt er fort, »mit dem ich unsere Diskussion für heute abrunden möchte.«
Er mustert mich aufmerksam.
»Nun, Chris, wie bewertest du das, was du heute hier erlebt hast? Glaubst du, dass es möglich ist, HRS eher so zu führen, wie wir es bei The Facts tun?«
»Ich bin wirklich beeindruckt von dem, was ich gesehen habe. Euer Geschäft ist anders als unseres, aber anscheinend ähnlich komplex. Theoretisch müsste es also möglich sein.«
»Aber?«, lächelt Bernie, der den Zweifel in meiner Stimme gehört hat.
»Ich weiß nicht«, seufze ich. »Ich möchte etwas darüber nachdenken.«