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Anyone may experience crises as a result of external strains and events such as deaths, separations, accidents, acts of violence, or changes in life circumstances. In this practice-oriented manual with numerous case examples, the most common crisis theories are first explained. In further chapters, the potential dangers of crises are discussed and a systematic presentation of the methodology and potential applications of crisis intervention is provided. This second edition has been expanded to include chapters on e-mail counselling in crises and on crisis intervention for people with a migration background.
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Der Autor
Dr. med. Claudius Stein ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut (KIP) in eigener Praxis. Er ist seit 20 Jahren Ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien, weiters Lehrtherapeut für Katathym Imaginative Psychotherapie (ÖGATAP), Dozent der Deutschen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben (AGKB) und Traumatherapeut. Er ist stv. Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention, Mitglied des Expertengremiums der Kontaktstelle Suizidprävention Austria (SUPRA) im Auftrag des BM für Gesundheit und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Lindauer Psychotherapiewochen.
Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt umfasst die Themen Krisenintervention, Trauer und Verlust, Suizidprävention, Psychotraumatologie und psychotherapeutische Arbeit mit Imaginationen. Zu diesen Themen leitet er auch regelmäßig Fort, Weiter- und Ausbildungsveranstaltungen.
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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2020
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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Für Alina und Renuka
Krisen zu erleben, sie durchzuleben, in ihnen stecken zu bleiben – das gehört zum menschlichen Leben, ist ganz »normal«. Viele Krisen erleben wir im Nachhinein als bedeutungsvoll für unser Leben, geradezu als heilsam – im Nachhinein allerdings erst. Hat eine Krise uns zum Guten hin verändert, uns weitergebracht, uns etwas »gebracht«, dann sprechen wir davon, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt. Dieses Denken ist hilfreich: Begegnen wir in dieser Haltung den unausweichlichen Krisen doch in der Gewissheit, dass sie nicht nur schlecht sind, dass wir mit der Krise umgehen können, dass wir ihr nicht einfach ausgeliefert sind, auch wenn die Lebenssituation, in der wir gerade stecken, sehr belastend ist, unangenehm und eine große Herausforderung. Die Zuversicht, die mit der Idee verbunden ist, dass in der Krise auch eine Chance steckt, lässt uns optimistischer die oft auch großen Schwierigkeiten, die umfassenden emotionalen Probleme, die in einer Krise zum Ausdruck kommen, angehen.
Aber in Krisen stecken nicht nur Chancen, sie können am Anfang von chronischen eskalierenden Schwierigkeiten stecken. Krisen können Menschen dazu bringen, ihr Leben zu beenden – weil sie keinen Ausweg mehr sehen. Sie sind gefangen im Klammergriff der Krise und haben die Überzeugung verloren, das Leben auch gestalten zu können. Wenn wir in einer Krise länger stecken bleiben – vorübergehend stecken zu bleiben ist normal – brauchen wir Menschen, denen wir zutrauen, uns in dieser schwierigen Situation helfen zu können. Wir brauchen Menschen, die bei dieser Krise intervenieren können, »dazwischen treten« können, dass der Kriselnde nicht mehr ganz und gar von der Krise bestimmt ist, sondern wieder ein Verhältnis zur eigenen Krise herstellen kann, damit die Probleme, die damit verbunden sind gelöst, die mit der Krise verbundenen Entwicklungsaufgaben angegangen, die notwendigen Anpassungen an das Leben vollzogen werden können.
Krisenintervention – das klingt recht technisch, ist es aber ganz und gar nicht. Krisen sind existenzielle Dringlichkeitssituationen, in denen ein Therapeut oder ein Berater empathisch, warm und mit manchmal großem Mut zusammen mit einem in die Enge getriebenen Menschen Möglichkeiten findet, mit den Schwierigkeiten umzugehen, wieder Vertrauen in das Leben und in die Mitmenschen herzustellen. So belastend Kriseninterventionen für die Therapeuten und Berater sein können, so belohnend können sie auch sein. Kriseninterventionen setzen nicht nur eine große emotionale Belastbarkeit und eine gewisse Krisenfreundlichkeit voraus, sondern auch viel Wissen und Können.
Hier nun hilft das vorliegende Werk mit viel Information, die genau auf das Thema fokussiert ist, von einem Praktiker verfasst, der auch die Theorien kennt, Theorien und Praxis so in einen Zusammenhang bringt, dass viele Anregungen für das große Gebiet der Krisenintervention daraus resultieren.
Aber nicht nur Theorie und Praxis werden in einen Zusammenhang gebracht, auch die Belastung und die Ressourcen der Menschen in der Krise werden gesehen. Es fokussiert nicht nur auf Belastung, sondern auch auf vorhandene Ressourcen.
Dieses mit großer Sorgfalt und Umsicht verfasste Fachbuch, mit vielen klinischen Hinweisen und genauen Anleitungen, wie der Berater bzw. der Therapeut vorgegangen ist, kann zu einem Standardwerk für die Krisenintervention werden.
St. Gallen, im Januar 2009
Verena Kast
Seit der Erstauflage dieses Buches sind nun 10 Jahre vergangen. In dieser Zeit hat sich die Welt in einer ungemein rasanten Art und Weise verändert. In der Kriseninterventionsarbeit hat man immer besonders aufmerksam für jene Probleme und Konflikte zu sein, mit denen sich Menschen in einer sich wandelnden Welt auseinandersetzen müssen. Der wirtschaftliche Umbruch, der technologische Fortschritt, veränderte Geschlechterrollen, die steigende Lebenserwartung, die dazu führt, dass wir heute in den westlichen Industrienationen mit einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung konfrontiert sind, und die Flucht- und Migrationsbewegungen zwingen uns dazu, unsere Konzepte und Vorstellungen an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen und vor allen Dingen an die Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen. Ich greife drei Themen exemplarisch auf, die unsere Arbeit in den letzten Jahren besonders stark beeinflusst haben:
Die wirtschaftlichen Umbrüche in den Industrienationen, insbesondere die Dominanz neoliberaler Ideen und deren Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte und die Arbeitswelt betreffen natürlich viele unserer Klienten, aber auch uns Helfer und die Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens, in denen wir arbeiten. Der gesellschaftliche Wandel stellt zunehmend große Anforderungen an die Leistungsfähigkeit, Flexibilität und damit an die psychosoziale Stabilität des Individuums. Auch wenn sich die allgemeine wirtschaftliche Situation seit der Erstausgabe des Buches, das ja unmittelbar nach der schweren Wirtschaftskrise 2007/2008 erschienen ist, in den letzten Jahren gebessert hat, gibt es viele Menschen, die verunsichert und/oder marginalisiert sind und am allgemeinen Wohlstand nicht teilhaben können. Verschärfend wirken die z. T. negative Konnotation von Armut in der öffentlichen Diskussion und die damit verbundenen Kürzungen sozialer Leistungen. Die ökonomischen Veränderungen, wie wir sie derzeit erleben, haben also erhebliche, oft negative Auswirkungen auf das Individuum. Sie beeinflussen jene Kernbereiche des Lebens – Partnerschaft, Familie und Arbeitsleben – mit denen wir in der Kriseninterventionsarbeit besonders häufig konfrontiert sind. Die Krisen, mit denen wir aktuell zu tun haben, sind folgerichtig oft komplizierter und komplexer, weil sich die Schwierigkeiten rasch auf mehrere Lebensbereiche erstrecken, aber auch weil sich die Zielgruppen verändert haben.
Eine der aktuell größten gesellschaftlichen Herausforderungen stellt sicherlich die Migrations- und Fluchtbewegung, die in den Jahren 2015 und 2016 einen einstweiligen Höhepunkt erreicht hat, dar. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, wie die psychosoziale und gesundheitliche Versorgung dieser Menschen sichergestellt und verbessert werden kann. Gerade jene, die aufgrund von Krieg, Naturkatastrophen und globalen politischen und wirtschaftlichen Krisen aus ihrer Heimat fliehen mussten, sind besonders krisenanfällig und gleichzeitig mit ernstzunehmenden Zugangsbarrieren zu psychiatrisch-psychosozialen Angeboten konfrontiert. Kriseninterventionseinrichtungen müssen auf eine verstärkte interkulturelle Öffnung achten und ihre Angebote, z. B. durch die Möglichkeit durch Dolmetscher gestützte Gespräche zu führen, für diese Zielgruppen adaptieren ( Kap. 5.11 zu diesem Thema).
Der technologische Fortschritt, insbesondere der Umgang mit den neuen Medien, wirft die Frage auf, wie wir Menschen adäquate Hilfe im Krisenfall anbieten können, die großteils über soziale Medien kommunizieren. Manche von ihnen sind nicht in der Lage oder willens persönliche oder telefonische Beratung in Anspruch zu nehmen. Kriseneinrichtungen sind daher gefordert, entsprechende Beratungsangebote im Netz z. B. in Form von E-Mailberatung anzubieten (zu diesem Kap. 5.14).
Diese Entwicklungen stellen auch erhöhte Anforderungen an die im psychosozialen Bereich tätigen Menschen. Wichtiger denn je sind Institutionen, die sich um jene kümmern, die den Belastungen zeitweise nicht mehr gewachsen sind. Kriseninterventionsarbeit ist zeitintensiv und erfordert ein hohes Maß an Flexibilität von Seiten der Helfer, aber auch der Einrichtungen. Es handelt sich um ein sehr personalintensives Angebot, das eine ausreichende ökonomische Basis benötigt. Dem wird von politischer Seite zu wenig Rechnung getragen. Nach wie vor sind wir mit einer unsicheren Finanzierung konfrontiert, was ein Klima ständiger Instabilität erzeugt, wo doch gerade in der Kriseninterventionsarbeit ein wesentliches Ziel darin besteht, Stabilität und Sicherheit für die Betroffenen herzustellen. Ganz abgesehen davon existieren in vielen ländlichen Gebieten nach wie vor keine adäquaten Hilfsangebote.
Erfreulicherweise ist es in den letzten Jahren in Deutschland und in Österreich den jeweiligen Fachgesellschaften für Suizidprävention gelungen, nationale Suizidpräventionsprogramme zu verankern (in Deutschland NASPRO, in Österreich SUPRA), die zu einem deutlichen Rückgang der Suizidraten, sowohl in Deutschland als auch in Österreich, beigetragen haben. Leider wurden aber dennoch keine gesetzlichen Grundlagen geschaffen, die eine ausreichende Finanzierung von ambulanten Einrichtungen der Krisenintervention und Suizidprävention sicherstellen.
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen finde ich persönlich die Kriseninterventionsarbeit, gerade auch wegen der immer neuen Anforderungen, nach wie vor äußerst lohnend. Keine Situation gleicht der anderen. Es ist immer wieder faszinierend und berührend wie Menschen auch schwierigste Lebensbedingungen bewältigen und ihren jeweils individuellen Weg aus einer subjektiv zunächst oft aussichtslos erscheinenden Situation finden. Sie dabei begleiten zu dürfen ist eine große Herausforderung, aber auch ein Privileg.
Krisen im Allgemeinen und auch die beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen sind mit Chancen und Risiken verbunden. Beiden Aspekten wird auch in der vorliegenden Neuauflage Rechnung getragen.
Claudius Stein, im März 2020
Das vorliegende Werk ist ein Resultat meiner zwanzigjährigen theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Krisen und Krisenintervention in unterschiedlichen Kontexten. Zuallererst betrifft dies selbstverständlich meine klinische Arbeit mit von Krisen betroffenen Menschen. Auch nach der langen Zeit hat diese Tätigkeit nichts von ihrer Faszination verloren. Jede individuelle Krise ist einzigartig ausgeprägt, sowohl was die Erscheinungsformen als auch die Bewältigungsversuche betrifft, und jede Begegnung mit Menschen, die von einer Krise betroffen sind, stellt eine neue Herausforderung dar. Ich konnte aber auch in der Fort- und Weiterbildung von Kollegen und Kolleginnen aus verschiedenen psychosozialen Bereichen immer wieder neue Erfahrungen machen und dazulernen. Schließlich eröffnete mir auch die inhaltliche und wirtschaftliche Leitung des Kriseninterventionszentrums in Wien neue und andere Blickwinkel auf dieses Thema.
Einige Anmerkungen zum Aufbau des Buches: Zu Beginn steht ein kurzer historischer Rückblick ( Kap. 1). In Kapitel 2 wird zunächst eine Definition und Eingrenzung des Begriffs der Krise vorgenommen und daran anschließend eine Verbindung zu verschiedenen Wissenschaftsgebieten, wie der Neurobiologie, der Stress- und Copingforschung, tiefenpsychologischen, wie verhaltenstherapeutischen Theorien und der Salutogenese hergestellt ( Kap. 2). In Kapitel 3 wird versucht, einen zeitgemäßen Überblick über die gängigsten Krisentheorien und -modelle und deren angrenzende Gebiete zu geben und diese auf ihre klinische Nützlichkeit zu überprüfen. Wesentlich erschien mir dabei herauszuarbeiten, bei welchen Problemen Krisenintervention indiziert ist ( Kap. 3). Wir wissen heute, dass allzu schematische Vorstellungen von Entstehung und Verlauf von Krisen überholt sind. Man kann davon ausgehen, dass sich Krisen nicht nur interindividuell, sondern im Verlauf eines Lebens auch intraindividuell sehr unterschiedlich äußern können. Trotz kritischer Sichtweise bieten viele der vorgestellten Theorien nach wie vor wichtige und im klinischen Alltag hilfreiche Anhaltspunkte, um ein Krisengeschehen besser verstehen zu können.
Erikson spricht davon, dass die Krise eine Nahtstelle zwischen Gesundheit und Krankheit darstellt. Ein grundsätzliches Anliegen dieses Buchs ist es, die zahlreichen Überschneidungen und fließenden Übergänge zwischen Krise und psychischen Störungsbildern bis hin zum psychiatrischen Notfall zu beleuchten. Dies ist nicht immer ganz einfach. Einerseits vertrete ich ein dynamisches Konzept von psychischer Störung, bin aber auch der Meinung, dass die exakte Indikationsstellung für Krisenintervention eine unerlässliche Voraussetzung für deren Gelingen ist.
Krisen stellen einen Scheideweg für den betroffenen Menschen dar. Entweder es gelingt, die Krise zu meistern und die Chance zur Weiterentwicklung zu nutzen oder die Bewältigungsversuche scheitern und führen zu Chronifizierungen oder katastrophalen Zuspitzungen. Dementsprechend wichtig ist es, über das Gefährdungspotenzial von Krisen Bescheid zu wissen ( Kap. 3). Ich lege in meinen Ausführungen allerdings auf eine Betrachtungsweise Wert, die in allen Problemlösungsversuchen, auch wenn diese destruktive Folgen haben, den adaptiven Charakter sieht.
Das zentrale Anliegen besteht darin, dem Leser1 ein praktisches Konzept von Krisenintervention vorzustellen, das im klinischen Alltag gut anwendbar ist ( Kap. 5). Ausgehend von allgemeinen Prinzipien und Methoden, werden im Weiteren differenziertere Interventionsmöglichkeiten bei unterschiedlichen Arten von Krisen, in unterschiedlichen Settings und für verschiedene Zielgruppen vorgestellt.
Anmerkungen zu den notwendigen Rahmenbedingungen und ein kurzer Ausblick in die Zukunft schließen das Buch ab ( Kap. 6). Im Anhang findet sich eine Darstellung des Kriseninterventionszentrums Wien ( Anhang 1) und eines Weiterbildungslehrgangs in Krisenintervention ( Anhang 2) sowie nützliche Internetadressen ( Anhang 3).
Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei allen Personen, Lehrern und Lehrerinnen, Kollegen und Kolleginnen, Freunden und Freundinnen, die mich beim Entstehungsprozess dieses Buches praktisch und ideell unterstützt haben und von denen ich durch Austausch und kritische Diskussion in all den Jahren sehr viel gelernt habe, bedanken. Namentlich möchte ich dabei Harry von der Heyden (auch für die humorvollen Anmerkungen), Eva Paltinger, Ingrid Reichmann und Elisabeth Schnepf erwähnen. Danken möchte ich auch meinen Lektoren und Lektorinnen für deren Unterstützung und Vertrauen. Mein Dank gilt im Besonderen auch allen Klienten und Klientinnen, die ich in den vielen Jahren bei der Bewältigung ihrer Krisen begleiten durfte und die mich viel über den Charakter von Ausnahmesituationen gelehrt haben. Durch diese Begegnungen ist mein Respekt vor der Fähigkeit der Menschen auch mit schwierigsten Belastungen und Lebensumständen zurecht zu kommen immer mehr gewachsen und hilft mir bis heute, auch in sehr bedrohlichen Situationen Zuversicht und Hoffnung zu bewahren. Die Falldarstellungen sind fiktiver Natur. Sie wurden aus unterschiedlichen realen Kriseninterventionen zusammengestellt und so verfremdet, dass ein Rückschluss auf reale Personen nicht möglich ist. Die Umstände wurden zwar verändert, trotzdem könnte sich jede Krise exakt so zugetragen haben.
Ein besonderer Dank gilt meiner Familie, meiner Mutter, meinen beiden Töchtern, Alina und Renuka, und vor allen Dingen meiner Frau, Cornelia Schnieder, die mich während dieses Jahres der Buchentstehung vorbehaltlos begleitet haben. Das Entstehen dieses Buches ist eng mit einer eigenen Entwicklungskrise verknüpft. Das Grundgerüst entstand im ersten Halbjahr 2008 während der Abwesenheit meiner Töchter. Die jüngere verbrachte ein halbes Jahr im Zuge eines Auslandsaufenthalts in Frankreich, die Ältere musste, um ihre Ausbildung zu beenden, ein Internat außerhalb Wiens besuchen. Durch diesen vorübergehenden Abschied war ich selbst mit einem Trauerprozess beschäftigt. Ich habe abseits der schmerzlichen Komponenten auch versucht, diesen in kreativer Weise zu nutzen. Daher widme ich dieses Buch auch meinen beiden Töchtern. Die Begleitung ihres Heranwachsens in schönen wie in krisenhaften Zeiten hat mein Leben in den letzten 18 Jahren sehr wesentlich geprägt und in vieler Hinsicht in ganz spezieller Weise zu meiner persönlichen Entwicklung beigetragen.
Wien, im Januar 2009
Claudius Stein
1 Anmerkung des Autors: Die Personenbezeichnungen beziehen sich gleichermaßen auf Frauen und Männer. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde jedoch darauf verzichtet, in jedem Fall beide Geschlechter ausdrücklich zu benennen.
Geleitwort
Vorwort zur zweiten Auflage
Vorwort
1 Kurze Geschichte der Krisenintervention
2 Definition psychosozialer Krisen
2.1 Einführung und Krisendefinition
2.2 Faktoren, die zur Entstehung und zum Verlauf einer Krise maßgeblich beitragen
2.2.1 Art und Schwere der Auslösesituation
2.2.2 Die subjektive Bedeutung des Geschehens
2.2.3 Krisenanfälligkeit
2.2.4 Die Reaktion der Umwelt
2.2.5 Coping – Abwehr – Ressourcen
2.3 Neurobiologie, Stressforschung und Krise
2.3.1 Vorbemerkung
2.3.2 Der Stress-Reaktionsprozess
2.3.3 Panik- und Furchtsystem
2.3.4 Das Beziehungsangebot in der Krisenintervention aus neurowissenschaftlicher Sicht
2.4 Symptome
2.5 Diagnostik
2.6 Salutogenese und Metaressourcen
3 Krisenmodelle
3.1 Verlust
3.1.1 Trauer und Verlust
3.1.2 Traumatische Krise
3.2 Lebensveränderungen
3.2.1 Definition
3.2.2 Phasen der Lebensveränderungskrise
3.3 Angrenzende Gebiete – Differenzierungen – Überschneidungen
3.3.1 Entwicklungskrisen
3.3.2 Akute Traumatisierung
3.3.3 Das Burnout-Syndrom
3.3.4 Narzisstische Krise
3.3.5 Psychiatrischer Notfall
4 Krisen und Gefährdungen
4.1 Vorbemerkung
4.2 Warnsignale
4.3 Suizidalität
4.3.1 Grundsätzliche Überlegungen
4.3.2 Ursachen und Motivstruktur von Suizidalität
4.3.3 Einschätzung der Suizidalität
4.3.4 Psychodynamik
4.4 Fremdgefährdung und Gewalt
4.4.1 Definition und grundsätzliche Überlegungen
4.4.2 Entstehung von Gewalt
4.4.3 Einschätzung der Gewaltgefahr
4.5 Komplizierte Trauerprozesse
4.6 Krise, Trauer und Depression
4.7 Krise und Angst
4.8 Krise und Sucht
4.9 Krise und psychische Störung
4.10 Krise und Psychosomatik
4.10.1 Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper
4.10.2 Funktion körperlicher Symptome bei Krisen
4.10.3 Somatopsychische Aspekte von Krisen
4.11 Krise und soziale Folgen
5 Methoden der Krisenintervention
5.1 Grundlagen der Krisenintervention
5.1.1 Ziele von Krisenintervention
5.1.2 Indikationen für Krisenintervention
5.1.3 Grundprinzipien der Krisenintervention
5.2 Allgemeine Prinzipien der Krisenintervention differenziert nach Krisenformen
5.2.1 Beginn der Intervention
5.2.2 Ziele und Interventionsstil
5.2.3 Fokus
5.2.4 Einbeziehung des sozialen Umfelds
5.2.5 Kooperation
5.3 Ablauf einer Krisenintervention
5.3.1 Herstellung einer tragfähigen Beziehung und emotionale Entlastung
5.3.2 Klärung der Situation und Exploration
5.3.3 Situationsbeurteilung
5.3.4 Problemdefinition
5.3.5 Kontrakt
5.3.6 Problembewältigung
5.3.7 Einbeziehung der Angehörigen und des sozialen Umfelds
5.3.8 Direkte Unterstützung und Vermittlung instrumenteller Hilfen
5.3.9 Spezielle Interventionsmethoden
5.3.10 Abschluss der Krisenintervention
5.3.11 Krisenintervention und Psychotherapie
5.4 Anwendungen der Krisenintervention
5.4.1 Krisenintervention nach dem Tod nahestehender Menschen
5.4.2 Krisenintervention nach Trennungen und Scheidungen
5.4.3 Krisenintervention bei schwerer körperlicher Krankheit
5.4.4 Krisenintervention nach akuten Traumatisierungen
5.4.5 Krisenintervention in akuten Phasen eines Burnout-Syndroms
5.4.6 Krisenintervention bei Arbeitslosigkeit
5.4.7 Krisenintervention bei akuter Suizidalität
5.4.8 Krisenintervention bei drohender Gewalt und nach Gewalthandlungen
5.4.9 Krisenintervention bei Alterskrisen
5.4.10 Krisenintervention bei Krisen Jugendlicher
5.4.11 Krisenintervention für Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Fluchterfahrung
5.4.12 Krisenintervention mit Paaren
5.4.13 Telefonische Krisenintervention
5.4.14 E-Mailberatung für Menschen in psychosozialen Krisen
6 Standards für Krisenintervention
Literatur
Anhang 1
Das Kriseninterventionszentrum Wien
Anhang 2
Gatekeeperschulungen in Suizidprävention und Krisenintervention
Fort- und Weiterbildung in Krisenintervention – ein Modell
Anhang 3
Wichtige Internetadressen
Sachwortregister
Wenn wir uns die Frage nach den Wurzeln der Kriseninterventionsarbeit stellen, so lassen sich im Wesentlichen fünf Entwicklungstendenzen finden, auf denen die aktuelle Theorie und Praxis aufbaut. Diese werden in einem kurzen historischen Rückblick dargestellt.
Die ersten beiden Entwicklungslinien finden sich in der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit akuten Traumatisierungen und den Folgen schwerwiegender Verluste ( Kap. 3.1 und Kap. 3.4.2). Dementsprechend sind heute die Begriffe Trauer und Traumatisierung eng mit Konzepten zum theoretischen Verständnis von Krisen und Krisenintervention verknüpft. Eric Lindemann (1944), der 1942 nach der Brandkatastrophe von Coconut-Grove, bei der 140 Menschen in einem Tanzlokal umkamen, Hinterbliebene und Überlebende betreut und untersucht hat, kann diesbezüglich als einer der Pioniere gelten. Seine dabei gewonnenen Erfahrungen ließen ihn zu der Überzeugung gelangen, dass Menschen, die von derart schwerwiegenden Belastungen betroffen werden, unbedingt ein gezieltes psychiatrisches, psychologisches oder psychotherapeutisches Hilfsangebot benötigen. Gerald Caplan (1964) entwickelte diese Ansätze in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts weiter. Sein sozialpsychiatrisch-präventiver Ansatz zielte vor allen Dingen auf die Vermeidung unnötiger psychiatrischer Krankenhausaufenthalte ab. Auf der Basis ihrer Erfahrungen vertraten Lindemann und Caplan die Auffassung, dass im Sinne sekundärer Prävention Krisen möglichst frühzeitig bearbeitet werden sollten, und gründeten folgerichtig das erste Community Crisis Center.
Erik H. Erikson stellte in seinem 1959 erschienenen Buch »Identity and the Life Cycle« (deutsch: Identität und Lebenszyklus 1966) sein Konzept der Entwicklungskrise vor, das sich vorwiegend mit der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung des Individuums beschäftigt. Erikson stellt fest, dass jeder Mensch während seines Lebens bestimmte kritische Phasen durchlebt, in denen er mit existenziellen, neuen Aufgaben konfrontiert wird. Nur eine erfolgreiche Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben ermöglicht Reifung und Wachstum ( Kap. 3.3.1).
Da Suizidalität neben Gewalthandlungen die dramatischste Zuspitzung von Krisen darstellt, waren Konzepte zur Suizidprävention von Beginn an eng mit denen der Krisenintervention verknüpft, wobei Einrichtungen zur Suizidprophylaxe lange vor den ersten Kriseninterventionszentren gegründet wurden. Diese wurden zunächst von nichtärztlichen, karitativen Einrichtungen betrieben. Die erste Telefonseelsorge entstand 1895 in London. 1906 richtete die Heilsarmee in London eine Stelle zur »Selbstmordbekämpfung« ein. In den USA gilt der New Yorker Pfarrer Warren als der erste, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen Notruf für Suizidgefährdete gründete. 1927 wurden in Wien vom Fürsorgeamt der Wiener Polizeidirektion Maßnahmen für Menschen nach einem Suizidversuch entwickelt. Der Philanthrop Wilhelm Börner, Leiter der »Ethischen Gemeinde«, gründete kurz darauf ebenda eine Lebensmüdenstelle mit 60 ehrenamtlichen Mitgliedern (u. a. Viktor E. Frankl). Diese war Vorbild für ähnliche Einrichtungen in mehreren Ländern Mitteleuropas (Sonneck et al. 2008). 1938 verboten die Nationalsozialisten nach dem Anschluss Österreichs die Tätigkeit der Lebensmüdenstelle. In dieser Zeit galt der »Selbstmord« als »gesunder Reinigungsprozess des Volkes von minderwertigen Elementen«. Anstrengungen zur Suizidverhütung waren somit unerwünscht.
Erst 10 Jahre später (1948) wurde im Rahmen der Caritas der Erzdiözese Wien von Erwin Ringel wieder ein Selbstmordverhütungszentrum – »die Lebensmüdenfürsorge« – gegründet, die es sich zur Aufgabe machte, Personen nach einem Suizidversuch und Hinterbliebene von Menschen, die sich suizidiert hatten, zu betreuen. Ähnliche Einrichtungen folgten in ganz Europa. Chad Varah gründete 1953 in London »The Samaritans«, eine Organisation, die bis heute Suizidgefährdete telefonisch und persönlich unterstützt. In Deutschland richtete Pater Leppich 1954 eine telefonische Seelsorge in Nürnberg ein, deren Angebot auch für selbstmordgefährdete Personen gedacht war. 1956 wurde die ärztliche Lebensmüdenfürsorge Berlin (Klaus Thomas) gegründet und nach deren Vorbild in weiteren deutschen Städten telefonische Seelsorgedienste. In den USA entstand 1958 auf Initiative von N.S. Farberow das erste Suicide Prevention Centre in Los Angeles (Sonneck 2008).
Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass isolierte Suizidprävention zu kurz greift. Krisen stellen häufig Situationen dar, in denen Menschen aufgrund der emotionalen Zuspitzung suizidal werden. Somit war es naheliegend, Konzepte der Suizidprävention mit denen der Krisenintervention zu verbinden. Aus der Lebensmüdenvorsorge Wien ging das Kriseninterventionszentrum Wien (KIZ) hervor, eine der ersten derartigen Institutionen in Europa. Auch dieses verstand sich zunächst als Einrichtung, die ihre zentrale Aufgabe in der Suizidprävention bzw. der Nachbetreuung von Menschen nach Suizidversuchen sah. Erst nach und nach entwickelte sich daraus ein umfassenderes Verständnis von Krisenintervention mit einem präventiven psychotherapeutischen Ansatz.
Schließlich hat auch die sozialpsychiatrische Reformbewegung der 1970er Jahre wesentlich zur Entstehung der ersten Kriseninterventionszentren im deutschsprachigen Raum beigetragen. Das Verständnis, dass psychische Krisen eine zentrale Bedeutung bei der Entstehung psychischer Störungen haben, bzw. deren Verlauf beeinflussen, erforderte therapeutische Konzepte abseits der gängigen psychiatrischen Versorgungseinrichtungen, um durch rechtzeitige Intervention präventiv handeln zu können. Dies führte daher zur Gründung von Institutionen, die zwar eng mit ambulanten und stationären Einrichtungen der Psychiatrie vernetzt sind, aber aufgrund ihrer organisatorischen Unabhängigkeit ein niedrigschwelliges Angebot für jene Betroffenen darstellen, die nicht primär psychiatrischer Hilfe bedürfen. Die Abgrenzung von Krisenintervention und Notfallpsychiatrie bleibt allerdings ein bis heute noch nicht ganz befriedigend gelöstes sowohl theoretisches als auch behandlungsrelevantes Problem. Damit ist auch die Frage verbunden, ob eine Krise in gleicher Weise Folge innerer wie auch äußerer Belastungen sein kann. Die klassische Krisendefinition sieht primär äußere Belastungen als krisenauslösend an und schließt somit psychische Krankheit explizit als Krisenanlass aus. Gleichwohl ist die innere Reaktionsbereitschaft des Betroffenen von entscheidender Bedeutung dafür, ob eine Krise entsteht und welchen Verlauf sie nimmt. Klinische Erfahrungen zeigen, dass es zwar nicht immer einfach, aber dennoch sinnvoll ist, Krisenintervention und Notfallintervention auseinanderzuhalten, da die erforderlichen Interventionsstrategien deutlich voneinander abweichen ( Kap. 3.3.5). Klarerweise gibt es viele Überschneidungen. Krisen können eskalieren und sich zu Notfällen entwickeln und umgekehrt können psychiatrische Notfälle und ihre Folgen psychosoziale Krisen auslösen. Es ist wichtig, dass leidende Menschen im Sinne präziser Indikationsstellung die jeweils richtige, für sie passende Hilfe erhalten. Gleichzeitig ist aber eine enge Kooperation der mit diesen Aufgaben befassten Institutionen unerlässlich.
Tab. 1.1: Wurzeln der Krisenintervention
Seit den 1970er Jahren haben sich im deutschsprachigen Raum erfreulicherweise in vielen Großstädten sowohl Kriseninterventionseinrichtungen wie auch rund um die Uhr erreichbare psychiatrische Notdienste als fixe Bestandteile psychosozialer Versorgungsnetze etabliert. In diesem Buch wird in weiterer Folge wiederholt Bezug auf diese fünf Entwicklungslinien genommen ( Tab. 1.1).
Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.« (Max Frisch 1979)
»Warum fallen wir? – Damit wir lernen können, uns wieder aufzurichten« (»Batman begins«, Christopher Nolan 2005)
Krisen gehören selbstverständlich zum Leben. Jeder Mensch kann in jeder Lebensphase und in jedem Lebensalter von außergewöhnlichen Belastungen betroffen sein, die wesentliche Lebensziele in Frage stellen. Es kann sein, dass man nahestehende Personen durch Trennungen oder Tod verliert, dass man ernsthaft erkrankt oder seinen Arbeitsplatz verliert. Man muss sich den unausweichlichen Veränderungen des Lebens stellen und ist dazu manchmal besser und manchmal schlechter in der Lage. Belastungen und Herausforderungen führen nicht notwendigerweise zu Krisen. Erst der Verlust der inneren Überzeugung, dass die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen ausreichen, um mit dem Problem in adäquater Weise umgehen zu können, lässt die Situation subjektiv so bedrohlich werden, dass es zu einer massiven innerpsychischen und sozialen Destabilisierung kommt. Dieses vorübergehende Ungleichgewicht zwischen äußeren belastenden Ereignissen oder Lebensumständen und den individuellen Problemlösungsstrategien und Ressourcen ist das zentrale Element der Krisenentstehung und führt in der Folge zu all den unangenehmen Gefühlen und Symptomen, die so charakteristisch für Krisen sind: Angst, Überforderung, Spannung, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Der Betroffene hat den Eindruck, das eigene Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Man kann nicht schlafen, nicht essen, weiß weder ein noch aus, fühlt sich blockiert und antriebslos oder verfällt in hektische Betriebsamkeit. Viktor von Weizsäcker (1940) beschreibt die Krise als eine Unterbrechung der Ordnung. Die Fundamente werden erschüttert und das Selbstwertgefühl und Identitätserleben sind in Frage gestellt. Das normale psychische Funktionsniveau kann erheblich beeinträchtigt sein. Alle Lebensinhalte, die nicht mit der Krise zu tun haben, treten in den Hintergrund.
Eine psychosoziale Krise ist zeitlich begrenzt. Alle relevanten Theorien und die daraus abgeleiteten Interventionsstrategien gehen von einem Zeitraum von einigen Wochen bis maximal drei Monaten aus (z. B. Lindemann 1944, Jacobson 1974, Ulich 1987, Sonneck 2012, Kap. 5.1.3). Dies lässt sich so erklären, dass niemand einen derartigen emotionalen Ausnahmezustand und den massiven inneren und äußeren Druck über einen längeren Zeitraum ertragen kann. Betroffene unternehmen größte Anstrengungen, um diesen Zustand zu beenden und wieder ihr Gleichgewicht zu finden.
Wie man versucht, mit der Erschütterung umzugehen, stellt wichtige Weichen für die Zukunft. Die Bewältigungsstrategien, die dabei eingesetzt werden, können konstruktiv wie destruktiv sein. Oft ist die Bereitschaft, sich Unterstützung zu holen, Hilfe anzunehmen, über die Probleme zu sprechen und Neues auszuprobieren, hoch. Eine konstruktive Bewältigung stellt einen wichtigen Reifungsschritt dar, der den Betroffenen auch für spätere Anforderungen im Leben stärken kann. Man hat gelernt, »sich wiederaufzurichten«. Scheitern aber die Bewältigungsversuche oder überwiegen schädigende Copingstrategien, kann die Krise zum Auslöser für psychische und psychosomatische Störungen werden und so chronifizieren. »Man bleibt liegen, statt sich wieder aufzurichten.«Im schlimmsten Fall stellt sich ein Gefühl von Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit ein und es kommt zu katastrophalen Zuspitzungen, suizidalen Entwicklungen oder Gewalthandlungen, die den Betroffenen unter Umständen noch »tiefer fallen lassen«.
Krisen stellen also gleichzeitig eine Gefahr und eine Chance für das Individuum dar. Die Dringlichkeit und Zuspitzung, die einerseits besonders unangenehm und bedrohlich ist, birgt auch die besondere Chance zur Veränderung. Ein sehr treffendes Symbol für diese Doppelgesichtigkeit ist der chinesische Begriff für Krise, der sich aus zwei Schriftzeichen Wei und Ji zusammensetzt. Wei steht für Gefahr, Ji für Chance ( Abb. 2.1).
Abb. 2.1: Chinesisches Schriftzeichen für »Krise«
Das Wort krisis stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Wende, Höhepunkt, Umschlagpunkt oder Entscheidung. Genau genommen ist es der richtungsweisende Wendepunkt in einem Entscheidungsprozess.
In der somatischen Medizin beschreibt der Begriff den Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit, an dem sich entscheidet, ob es zur Heilung oder zur Verschlechterung des Zustands kommt. Es handelt sich dabei um ein besonders heftiges, anfallsartiges Auftreten von Krankheitszeichen mit ungewissem Ausgang.
Eine psychosoziale Krise ist somit nicht primär ein pathologisches Geschehen, wenn sie auch Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Fehlentwicklungen sein kann. Folglich findet sich der Begriff auch nicht in den gebräuchlichen psychiatrischen Diagnosemanualen ( Kap. 2.5). Natürlich treffen Krisen häufiger Menschen, die generell Schwierigkeiten haben, ihr Leben zufriedenstellend zu meistern, z. B. jene, die etwa durch psychische Störungen oder soziale Benachteiligung vorbelastet und daher verletzbarer sind. Aber auch Menschen, die üblicherweise gut mit sich und ihrer Umwelt zurechtkommen, können durch eine entsprechende Belastung in einen psychischen Ausnahmezustand geraten. Krisen stellen also ein Phänomen dar, das an der Nahtstelle zwischen Normalität und Krankheit liegt (Erikson 1966).
Leider ist die Verwendung des Begriffs »Krise« im psychotherapeutisch/psychiatrischen Kontext mitunter recht ungenau. Die Bezeichnung »psychosoziale Krise« stellt den Versuch einer Präzisierung und Eingrenzung dar, um so eine exaktere Indikationsstellung für psychosoziale Krisenintervention zu ermöglichen. Besonders die drohende Entwicklung oder Dekompensation schwerer psychischer Störungen, wie etwa einer Psychose (»psychotische Krise«) ist von psychosozialen Krisen zu unterscheiden. In diesem Fall ist es – auch im Hinblick auf die notwendigen Interventionsstrategien und Maßnahmen – sinnvoller, von einem psychiatrischen Notfall zu sprechen ( Kap. 3.3.5).
Mit Krise werden auch unterschiedlichste Ereignisse politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Natur beschrieben. Oft hat dies nichts mit einer Krise im beschriebenen Sinn zu tun. Tatsächlich gibt es aber gesellschaftliche Situationen, die zu Phänomenen und Zuspitzungen führen, wie man sie auch bei individuellen Krisen findet. So belastende äußere Ereignisse, wie Kriegshandlungen, Naturkatastrophen oder wirtschaftliche Krisen stellen die zentralen Übereinkünfte eines Gemeinwesens in Frage und häufig sind Gesellschaften in ihrer Gesamtheit dann zeitweise nicht mehr in der Lage, die damit verbundenen Probleme zu bewältigen. Solche Situationen haben natürlich erhebliche Auswirkungen auf das Individuum. Veränderungsprozesse erfahren unter Umständen im Individuum ihre krisenhafte Zuspitzung. Dessen Destabilisierung kann wiederum gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar machen (Stromberger 1990) und hat dann Einfluss auf die Gesellschaft, wie z. B. in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit.
Die an die Arbeiten von Caplan (1964) und Cullberg (1978) angelehnte klassische Definition psychosozialer Krisen von Sonneck (2000; S. 15) lautet:
»Unter psychosozialen Krisen versteht man den Verlust des seelischen Gleichgewichtes, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und dem Ausmaß her seine durch frühere Erfahrungen erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder zur Bewältigung seiner Lebenssituation überfordern.«
In Erweiterung dieser Definition lassen sich zusammenfassend folgende allgemeine Charakteristika psychosozialer Krisen beschreiben ( Kasten 2.1).
Kasten 2.1: Charakteristika psychosozialer Krisen
• Der Betroffene wird mit belastenden Ereignissen oder neuen Lebensumständen konfrontiert, die wesentliche Lebensziele in Frage stellen.
• Gewohnte Problembewältigungsstrategien versagen.
• Dies macht die Situation rasch bedrohlich und führt zu einer massiven Störung des psychosozialen Gleichgewichts.
• Die emotionale Belastung ist hoch.
• Es kommt zu einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und des Identitätserlebens sowie zum Verlust des normalen psychosozialen Funktionsniveaus.
• Es können unterschiedlichste psychopathologische Symptome auftreten.
• Der Vorgang ist zeitlich begrenzt – es wird versucht, möglichst rasch ein neues Gleichgewicht herzustellen.
• Wichtige Weichenstellungen für die Zukunft: Je nachdem ob konstruktive oder destruktive Bewältigungsschritte überwiegen, besteht die Chance zur Weiterentwicklung und Reifung. Ansonsten entstehen spezifische Gefährdungen und Fehlentwicklungen.
Eine 45-jährige Frau sucht das Kriseninterventionszentrum auf Empfehlung der Stationsschwester einer Entgiftungsstation auf. Wegen eines Suizidversuchs mit Medikamenten war sie dort stationär aufgenommen. Sie erzählt, dass ihre 15-jährige Tochter vor drei Wochen für sie ganz unerwartet zum Vater gezogen ist und seither jeden Kontakt zu ihr verweigert. Luise arbeitet als Sekretärin. Seit der Trennung von ihrem Ex-Mann vor vier Jahren dreht sich ihr Leben hauptsächlich um ihre Tochter, auch wenn sie ab und zu kurze Beziehungen hat. Sie ist vollkommen verzweifelt, fühlt sich hilflos und ohnmächtig und meint, ohne die Tochter hätte das Leben keinen Sinn mehr. Ihr Zustand ist in den drei Wochen immer schlechter geworden, sie konnte nicht mehr schlafen, da sie die ganze Nacht wach lag und darüber nachdachte, was sie falsch gemacht habe. Sie ist davon überzeugt, eine »miserable« Mutter zu sein.
Bisher hatte sie ihr Leben ganz gut gemeistert. Sie hat viele soziale Kontakte und redet gerne mit ihren Freundinnen. Derzeit ist sie aber völlig blockiert. Üblicherweise packt sie anstehende Probleme aktiv an. Gerade deshalb fühlt sie sich in der jetzigen Situation so hilflos. Sie hat mehrfach versucht, die Tochter zu kontaktieren, aber diese hat ihr Handy abgeschaltet. Da sie sich für ihr »Versagen« schämt, will sie mit niemandem über die Situation reden. Sie ist krankgemeldet und verbringt die ganze Zeit alleine zu Hause. Die Situation ist so unerträglich geworden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat, als alle Tabletten, die ihr der Hausarzt verschrieben hatte, einzunehmen. Sie wollte einfach nur Ruhe von den quälenden Gedanken und Gefühlen haben.
Diskussion: Der vollkommen überraschende Auszug ihrer Tochter stellt für Luise einen subjektiv unerträglichen Verlust dar. Da die Tochter der Mittelpunkt ihres Lebens war und sie davon ausgegangen ist, auch die nächsten Jahre mit ihr zu verbringen, sind ihre derzeitigen Lebensziele erheblich in Frage gestellt. Sie ist sehr gekränkt und ohne Perspektive.
Ihre Problemlösungsstrategien versagen. Sie geht üblicherweise aktiv an Probleme heran, aber derzeit gibt es für sie keine Möglichkeit zu handeln. Infolgedessen fühlt sie sich ohnmächtig und ausgeliefert. Sie redet gerne und holt sich normalerweise auch Unterstützung von ihren Freundinnen. Da sie sich aber so schämt, will sie niemanden sehen und versucht alleine zurecht zu kommen. Ihre Situation spitzt sich während dieser drei Wochen gefährlich zu. Sie ist vollkommen verzweifelt, kann nicht schlafen, sie hat Schuldgefühle und ihr Selbstwert ist sehr beeinträchtigt. Sie weiß nicht mehr aus noch ein und schließlich kommt es zum Suizidversuch. Diese an sich destruktive Handlung eröffnet aber auch eine neue Perspektive, da sie erstmals Hilfe von außen erhält und sich ihr so die Möglichkeit bietet, über ihre Situation zu sprechen.
Intervention: Die Krisenintervention umfasst acht Stunden. Die Beziehung zum Berater ist sehr vertrauensvoll, dadurch ist es Luise möglich, offen über sich und ihre Gefühle zu sprechen. Es wird ihr klar, dass sie keine andere Wahl hat, als von der Beziehung zu ihrer Tochter in der bisherigen Form Abschied zu nehmen. In den Stunden weint sie viel, manchmal ist sie über das Verhalten ihrer Tochter auch verärgert. Sie beginnt aber auch zu verstehen, dass der Auszug für die Tochter wahrscheinlich einen wichtigen Ablösungsschritt darstellt, der aufgrund der sehr engen Beziehung vielleicht nicht anders zu bewerkstelligen war. Das relativiert Luises Schuld- und Schamgefühle.
Sie nimmt Kontakt zu den Freundinnen auf, die in der Folge sehr unterstützend sind. Sie geht wieder zur Arbeit und unternimmt Dinge, die ihr Spaß machen. Am Ende der Krisenintervention geht es ihr deutlich besser. Der Trauerprozess ist natürlich noch nicht abgeschlossen. Zusätzlich wird ihr der Zusammenhang mit ihrer eigenen schwierigen Erfahrungen in der Adoleszenz schmerzhaft bewusst. Sie hat im Alter von 15 Jahren ihre Mutter durch eine Krebserkrankung verloren. Viele Erinnerungen an die damalige Situation tauchen auf. Sie überlegt daher eine Psychotherapie zu beginnen.
Ob sich eine Krise entwickelt und wie sie verläuft, hängt von sehr unterschiedlichen Faktoren ab, die in einer komplexen Wechselwirkung zueinander stehen. Im folgenden Kapitel werden diese Faktoren – Art und Schwere der Auslösesituation, subjektive Bedeutung des Geschehens, Krisenanfälligkeit, Reaktion der Umwelt, Problemlösungsstrategien, Abwehrmechanismen und Ressourcen erläutert ( Abb. 2.2). Die Kenntnis dieser Faktoren ist für die praktische Krisenintervention von großer diagnostischer wie auch therapeutischer Relevanz. Dies wird in Kapitel 5 weiter ausgeführt ( Kap. 5).
Abb. 2.2: Faktoren, die zur Entstehung und zum Verlauf einer Krise maßgeblich beitragen
Von wesentlicher Bedeutung ist selbstverständlich die Art und Schwere der Auslösesituation. Die klassischen Modelle unterscheiden je nach Plötzlichkeit des Auftretens und Bedeutung des Krisenanlasses zwischen traumatischen Krisen (Cullberg 1978) und Lebensveränderungskrisen (Caplan 1964). Da ich den Begriff der traumatischen Krise auch in Hinblick auf die Unterscheidung zu Posttraumatischen Belastungsreaktionen für missverständlich halte ( Kap. 3.1.2), erscheint es mir sinnvoller, Krisen, die durch irreversible Verluste ausgelöst werden, als Verlustkrisen ( Kap. 3.1) zu bezeichnen und von jenen zu unterscheiden, bei denen es eher um eine Form der tatsächlichen oder antizipierten Bedrohung oder Überforderung geht (vgl. Dross 2001). Diese ließen sich dann im weitesten Sinn als Krisen im Gefolge von einschneidenden Lebensveränderungen verstehen ( Kap. 3.2).
Die Schritte, die zu einer Restabilisierung führen, sind bei Verlust- und Lebensveränderungskrisen sehr verschieden und erfordern daher auch unterschiedliche Strategien der Unterstützung ( Kap. 5.2). Letztendlich entscheidet nicht nur der Anlass, sondern auch der Verarbeitungsmodus und die anderen in diesem Kapitel dargestellten Faktoren darüber, wie die Krise einzuordnen ist. Selbst ein zunächst eindeutiger Anlass, wie der Tod einer nahestehenden Person, kann zu gänzlich unterschiedlichen Krisenverläufen führen. So wird der unerwartete plötzliche Tod eines Ehepartners überwiegend Aspekte einer Verlustkrise haben. Konnte sich der Hinterbliebene hingegen nach längerer Krankheit auf den Tod eines Partners vorbereiten, ist es möglich, dass der Trauerprozess zwar »unkompliziert« verläuft, aber sich eine Krise entwickelt, weil die Schwierigkeiten, die bei der Neuorganisation des Lebens ohne den Partner entstehen, überfordernd sind. Dann finden sich unter Umständen mehr Elemente einer Lebensveränderungskrise. In beiden Fällen wird daher auch der Interventionsschwerpunkt unterschiedlich sein ( Kap. 5.2).
Eine 35-jährige Frau kommt ins Kriseninterventionszentrum, da ihr Mann wegen Unterschlagung seit vier Wochen in Untersuchungshaft ist. Sie beschreibt ihren Mann als liebevollen Partner und die Beziehung als harmonisch. Sie haben einen achtjährigen Sohn. Der Mann hatte eine leitende Position in einer Bank. Sie selbst übt eine Teilzeitbeschäftigung als Sekretärin aus. Wie sich jetzt herausgestellt hat, ist ihr Mann aufgrund einer Spielsucht hochverschuldet. Sie wusste zwar nichts von seinen Problemen, hatte sich in letzter Zeit allerdings über seine vielen Überstunden und die für ihn untypische Gereiztheit und abweisende Art ihr und dem Sohn gegenüber gewundert.
Nach seiner Verhaftung war sie zunächst mit der Bewältigung des Alltags beschäftigt und dadurch relativ gefasst. Jetzt wachsen ihr die Probleme aber über den Kopf. Die Bank macht Druck, da sie die Kreditraten für das gemeinsame Haus nicht mehr zahlen kann, ihr Sohn hat Schlafstörungen und ist ganz durcheinander, weil sein Vater nicht da ist. Die Besuche im Gefängnis sind eine Qual, sie sind bei den Gesprächen durch eine Glasscheibe getrennt. Auch wird ihr erst jetzt der ungeheuerliche Vertrauensbruch ihres Mannes bewusst. Sie ist zunehmend verzweifelt und weiß nicht mehr weiter.
Diskussion: Auslöser für die Krise ist natürlich die Verhaftung des Mannes und der damit verbundene Verlust. Belastend ist allerdings nicht nur die vorübergehende Trennung vom Partner, sondern vor allen Dingen auch der Vertrauensbruch, der für sie die Beziehung als Ganzes in Frage stellt. Gerade zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme finden sich aber auch einige Aspekte einer Lebensveränderungskrise, denn erst die zunehmenden Schwierigkeiten in der Bewältigung des Alltags führen zum endgültigen Zusammenbruch.
Auch bei akuten Traumatisierungen ist häufig eine modifizierte Form der Krisenintervention indiziert. Es gibt allerdings gute Gründe, traumatische Ereignisse und deren Folgen nicht unter dem Krisenbegriff zu subsumieren ( Kap. 3.3.2). Bei der Krisenintervention akuter Traumatisierungen sind daher spezifische Grundregeln zu beachten, die von denen psychosozialer Krisen abweichen ( Kap. 5.4.4).
Krisenhaften Charakter bekommt eine äußere Belastung erst durch die subjektive Bedeutung, die Menschen ihr beimessen. Diese kann sowohl interindividuell als auch intraindividuell im Lauf eines Lebens erheblich variieren. Die Vorstellung über die Ursachen und die Funktion der Krise und deren Bedeutung kann dabei erheblich von den realen Hintergründen abweichen. Zum Verständnis, warum die subjektive Bewertung des Geschehens oft so unterschiedlich ausfällt, sind sowohl lerntheoretische Überlegungen, wie auch psychodynamische Theorien hilfreich.
Wie bedrohlich man eine Situation erlebt und ob das Gefühl entsteht, eine Belastung sei momentan nicht bewältigbar, hängt nicht nur mit der Intensität der Anforderung zusammen, sondern auch damit, wie man sie kognitiv begreift. Im transaktionalen Stress-Coping Modell (Lazarus und Folkman 1984) wird dies als »primary appraisal« bezeichnet. Als Folge der Belastung muss der Betroffene außerdem überprüfen, auf welche Ressourcen er aktuell zurückgreifen und über welche Bewältigungskompetenz er somit verfügen kann (»secondary appraisal«). Beides zusammen bestimmt dann darüber, ob durch ein momentanes Ungleichgewicht zwischen Belastung und Bewältigungsmöglichkeit Überforderung und unkontrollierbarer Stress entstehen und sich eine Krise entwickelt.
Wieso der Betroffene die Situation aber kognitiv genau so und nicht anders begreift, ist oft nur aus seiner Persönlichkeits- und Lebensentwicklung und der sich daraus ergebenden Psychodynamik nachvollziehbar und verstehbar. Diese wird noch durch eine ganze Reihe von zusätzlichen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören die Bindungserfahrungen, die mit den wichtigsten Bezugspersonen in der Kindheit gemacht wurden, die aktuellen Lebensumstände, das Lebensalter, die Vulnerabilität durch psychische oder körperliche Krankheit ( Kap. 2.2.3) und die Lebenseinstellung im Allgemeinen ( Kap. 2.6). So wird in aller Regel der Verlust eines Elternteils in der Kindheit eine vollkommen andere Bedeutung haben als in einem späteren Lebensalter und folglich wird mit der eventuell entstehenden Krise auch sehr unterschiedlich umgegangen.
Für Anita stellt vor allen Dingen der Vertrauensbruch ihres Mannes, der ihr nichts von seinen Schwierigkeiten erzählt hatte, eine große Kränkung dar. Sein Verhalten ist ihr umso unverständlicher, da sie bisher immer sehr vertrauensvoll miteinander umgegangen waren und Ehrlichkeit und Offenheit auch in ihrer Herkunftsfamilie einen hohen Stellenwert haben. Sie fühlt sich von ihm im Stich gelassen und empfindet tiefe Verlassenheit. Dieses subjektive Erleben spiegelt nur teilweise die äußere Realität wider, denn sie erhält von ihrer Familie und ihren Freunden sehr viel Unterstützung. Vielmehr hängt diese spezifische Art der Verarbeitung auch damit zusammen, dass sie sich für die Situation als Ganzes außerordentlich schämt, insbesondere auch dafür, dass sie die Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophe nicht wahrgenommen hat.
Frühere unbewältigte Krisen haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf, welche Bedeutung Betroffene einer neuerlichen Krise geben und können dadurch die aktuellen Bewältigungsprozesse erheblich beeinträchtigen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die neue Belastung mit einer ähnlichen Thematik zu tun hat wie die frühere Krise. Die Erfahrung, an der Lösung eines Problems bereits einmal gescheitert zu sein, stellt ein ernstes Hindernis für eine konstruktive Herangehensweise dar. Es kommt unter Umständen zur Aktivierung ungünstiger dysfunktionaler Grundmuster, die sich in der damaligen Situation entwickelt und verfestigt haben.
Die Krise, die durch den Auszug der Tochter ausgelöst wird, aktiviert Erinnerungen und Gefühle, die mit dem frühen Verlust der Mutter zu tun haben. Erschwerend kommt hinzu, dass Luise damals im selben Alter wie die Tochter jetzt war. Diese Umstände stellen eine zusätzliche Erklärung dafür dar, warum die Reaktion auf die aktuelle Krise derart heftig ausfällt.
Ebenso problematisch ist die rasche zeitliche Aufeinanderfolge mehrerer Belastungen. Hat der Betroffene eine aktuelle Krise noch nicht abgeschlossen und folgt ein weiterer Schicksalsschlag, kann ein gerade mühsam hergestelltes Gleichgewicht rasch wieder verloren gehen.
Ein tragfähiges soziales Netz wirkt sich üblicherweise äußerst positiv auf die Bewältigung einer Krise aus. Unterstützung durch Freunde und Angehörige trägt dazu bei, dass viele Krisen ganz ohne professionelle Hilfe gelöst werden können. Auch das zentrale Element professioneller Krisenintervention ist die Herstellung einer haltgebenden Beziehung ( Kap. 5.3.1).
Von einer Krise Betroffene sind aber nicht immer in der Lage, sich Unterstützung zu organisieren, bzw. diese entsprechend zu nutzen. Ein wesentlicher Faktor dafür sind die frühen Bindungserfahrungen eines Individuums. Konnte sich der Mensch in der Kindheit Schutz und Halt gebender Beziehungen sicher sein und sich in schwierigen Situation auf die Hilfe seiner wichtigsten Bezugspersonen verlassen, wird er auch im späteren Leben das Vertrauen haben, dass Probleme oft gemeinsam besser gelöst werden können. Haben ihn die Eltern gleichzeitig darin unterstützt, sich in einem für das jeweilige Alter adäquaten Ausmaß Problemen zu stellen und eigene Bewältigungsstrategien zu entwickeln, trägt dies auch später dazu bei, neue Lebenssituationen nicht als Bedrohung sondern als zum Leben gehörige Herausforderungen zu verstehen. So kann sich auch die Metaressource der Selbstwirksamkeit herausbilden ( Kap. 2.3 und Kap. 2.6). Menschen, die derartige Erfahrungen von Gehaltenwerden und Sicherheit nicht gemacht haben, entwickeln oft ein Grundgefühl, dass sie ganz auf sich selbst gestellt sind und daher Probleme in jedem Fall allein lösen müssen. Sie erleben Beziehungen grundsätzlich als unzuverlässig. Eine zu protektive Haltung der Eltern wiederum behindert die Autonomieentwicklung, verhindert wichtige Lernerfahrungen und begünstigt später unter Umständen eine passiv-vermeidende Herangehensweise an Krisensituationen.
Anita erhält durch ihr Umfeld sehr viel Unterstützung. Anfänglich hat sie allerdings aufgrund ihrer Scham Schwierigkeiten, diese Hilfe anzunehmen. Ihre Kindheit war sehr behütet und die Beziehung zu ihren Eltern ist sehr gut. Sie borgen ihr Geld, damit sie die Kreditraten abdecken kann, und kümmern sich rührend um Anitas Sohn. Freundinnen betreuen den Jungen an jenen Nachmittagen, an denen bisher der Vater auf ihn aufgepasst hat. Luise kann sogar das Angebot ihres Chefs annehmen, mehr Stunden zu arbeiten, wodurch sich ihre finanzielle Situation etwas entspannt. Sehr kränkend ist, dass die Familie ihres Mannes sich distanziert, worunter auch er sehr leidet. Naturgemäß sind auch die Erfahrungen mit der Polizei unerfreulich. Die Beamten wollen ihr zunächst nicht glauben, dass sie nichts von den Problemen des Mannes wusste. Dies intensiviert ihre Schuldgefühle.
Häufig kommt es aber auch vor, dass die wesentlichen Bezugspersonen zu sehr in das Krisengeschehen verstrickt sind oder sich überfordert fühlen. Sie tragen dann eher zur Verschärfung der Situation bei. In solchen Situationen sollte der Krisenhelfer die Distanznahme fördern und gemeinsam mit den Betroffenen entsprechende entlastende Maßnahmen für alle Beteiligten erarbeiten.
Schließlich kann es vorkommen, dass Menschen durch ihre Handlungen gewollt oder ungewollt krisenauslösend für ihre Mitmenschen wirken. Im privaten Umfeld ist dies naturgemäß im Zuge von Trennungen der Fall. Im professionellen Kontext können z. B. die Mitteilung einer Krankheitsdiagnose durch einen behandelnden Arzt oder die Abnahme eines Kindes durch das Jugendamt Krisen auslösen. Krisenintervention durch eine an der Krisenentstehung mitbeteiligte Person ist meist sehr kompliziert, da die Herstellung einer vertrauensvollen Beziehung durch die Umstände erheblich erschwert wird. Es ist dann meist sinnvoller, eine klare Rollentrennung vorzunehmen und andere Berater zur Krisenhilfe beizuziehen.
Von entscheidender Bedeutung für die Bewertung einer belastenden Situation und den Umgang mit dieser sind die Art und Effizienz der Bewältigungsstrategien, die verfügbaren Ressourcen und die spezifischen Abwehrmechanismen. Bewältigung und Abwehr beschreiben ähnliche und teilweise sogar identische Vorgänge. Während das Abwehrkonzept aus der Psychoanalyse stammt, wurde das Bewältigungskonzept in der Verhaltensmedizin entwickelt (vgl. Ermann 2007).
»Coping oder Bewältigung ist als das Bemühen zu verstehen, bereits bestehende oder zu erwartende Belastungen durch Krisen innerpsychisch (emotional/kognitiv) zu verarbeiten oder durch zielgerichtetes Handeln auszugleichen und zu meistern« (Heim 1993, S. 29).
Bewältigungsmechanismen sind mehr oder weniger bewusst eingesetzte Denk-, Empfindungs- und Verhaltensstrategien. Die verschiedenen Strategien lassen sich zu drei typischen Bewältigungsstilen zusammenfassen ( Kasten 2.2): Verleugnung, aktive Auseinandersetzung und depressiver Rückzug (Ermann 2007). Coping ist kein einmaliger sondern ein prozesshafter Vorgang, mit dem ein Betroffener versucht, sein inneres Gleichgewicht trotz einer andauernden Belastung zu erhalten oder wiederherzustellen und dadurch den inneren und äußeren Druck zu reduzieren. Jedes Individuum verfügt über ein bestimmtes Repertoire an Bewältigungsstrategien, aus denen es in einer Krisensituation, die ihm am sinnvollsten erscheinenden auswählt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Auf dieses Ziel ausgerichtet werden die Bewältigungsversuche erprobt und auf ihren Erfolg hin bewertet. Demgemäß gibt es nicht primär schlechtes oder gutes Coping, sondern es handelt sich um den mehr oder weniger geglückten Versuch der Neuanpassung mittels der individuell verfügbaren Problemlösungsstrategien. So sind in einer Krise neben aktiven Veränderungsbemühungen durchaus auch Episoden von Rückzug und Verleugnung sinnvoll, da eine ständige bewusste Auseinandersetzung auch überfordernd sein kann.
Kasten 2.2: Wichtige Bewältigungsformen (Ermann 2007)
• Verleugnung
• Sich ablenken
• Aktive Auseinandersetzung – Zupacken
• Schuldzuweisung an andere
• Problemanalyse
• Haltung bewahren
• Gefühlsisolation, Nichtwahrnehmen von Gefühlen
Unterschiedliche Krisen erfordern auch unterschiedliche Bewältigungsstrategien ( Kasten 2.3). Assimilierende Bewältigungsvorgänge sind aktive Veränderungsanstrengungen, bei denen das Ziel mehr oder weniger beibehalten wird. Bei den akkommodierenden Bewältigungsprozessen korrigiert das Individuum teils bewusst, teils unbewusst die ursprünglichen Ziele, ersetzt diese Ziele durch andere und passt sich einer als nicht veränderbar erlebten Realität an, wie dies bei de facto irreversiblen Verlusten sinnvoll ist (Rothermund und Brandstätter 1997).
Kasten 2.3: Bewältigungsprozesse (Rothermund und Brandstätter 1997)
• Assimilierende Prozesse – aktive Veränderungsanstrengungen – Ziel wird beibehalten
• Akkommodierende Prozesse – Korrektur der Ziele, Anpassung an nicht veränderbare Realität
Luise muss lernen die Entscheidung ihrer Tochter zu akzeptieren und sich auf ein Leben ohne sie einzustellen. Dies erfordert zunächst akkommodierende Bewältigungsprozesse. Das bedeutet, Abschied zu nehmen und den Verlust zu betrauern ( Kap. 3.1.1).
Anita benötigt für ihre Krisenbewältigung beide Strategien: Sie muss den vorübergehenden Verlust des Mannes betrauern und muss sich mit dem Vertrauensbruch auseinandersetzen (akkommodierend). Sie muss aber auch das Leben mit ihrem Sohn neu organisieren und versuchen ihre finanziellen Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Sie nimmt Kontakt mit dem Jugendamt auf, organisiert einen Hortplatz und nimmt das Angebot ihres Chefs an mehr Stunden zu arbeiten. Sie verhandelt mit der Bank über die Modalitäten zur Kreditrückzahlung (assimilierend).
»Jeder psychische Vorgang und jedes Verhalten, welches das Ziel erreicht, etwas Gefürchtetes oder Verpöntes in Schach zu halten, kann zur Abwehr herangezogen werden« (Mentzos 2005, S. 59).
Abwehr ist von Coping zu unterscheiden. Gelegentlich bleibt die Abgrenzung wie beim Mechanismus der Verleugnung unscharf. Während Coping ein mehr oder weniger bewusster Prozess ist, stellt Abwehr einen überwiegend unbewussten Vorgang dar, der einsetzt, wenn ein Betroffener mit einem derzeit unlösbaren Konflikt konfrontiert ist, vor einer momentan unlösbaren Aufgabe steht oder überwältigende Erfahrungen macht. Abwehr stellt einen Versuch dar, die dadurch entstehende Angst und seelische Spannung zu vermeiden (Mentzos 2005). Sie führt nicht zu einer bewussten Lösung des Problems, sondern dazu, dass Erinnerungen, Phantasien, Impulse, Gefühle und Konflikte aus der bewussten Wahrnehmung und Reflexion ausgeschlossen werden. Abwehr und Coping sind lebenswichtige Funktionen des »Ich« (Ermann 2007) und nicht primär pathologisch. Abwehr kommt ständig vor und ist teilweise zur Erhaltung der Ökonomie des täglichen Lebens unverzichtbar (Mentzos 2005). Sie hat somit eine wichtige Schutzfunktion. Bestimmte Formen finden sich mit großer Regelmäßigkeit wieder, sie sind offenbar besonders effektiv. Man spricht von Abwehrmechanismen ( Kasten 2.4).
Kasten 2.4: Wichtige Abwehrmechanismen (Ermann 2007, Mentzos 2005)
• Verdrängung: Vergessen, d. h. Unbewusstmachen von Affekten, Absichten, Vorstellungen, Impulsen oder Wahrnehmungen
• Reaktionsbildung: Ein verpönter Impuls wird durch sein Gegenteil ersetzt (»ich bin besonders freundlich zu jemandem, auf den ich eigentlich wütend bin«).
• Intellektualisierung: Der unerwünschte Impuls wird aus dem emotionalen Bereich in den intellektuell theoretischen verschoben (»ich habe keine Suizidimpulse, aber das Thema interessiert mich theoretisch«).
• Identifikation: Dies ist ein wichtiger Grundmechanismus der Entwicklung, der für die Aneignung von Eigenschaften und Modelllernen unerlässlich ist
• Identifizierung mit dem Aggressor: Um unerträgliche Angst erträglicher zu machen, stellt sich das Opfer quasi auf die Seite des Angreifers, z. B. bei andauernder Gewalt in Beziehungen: das Opfer quält sich mit Selbstanklagen, demütigt und entwertet sich oder verletzt sich selbst und behandelt sich gleichsam so wie es der Täter tat oder noch tut.
• Gefühlsabspaltung: Trennung von Erlebnis und begleitender emotionaler Tönung (jemand erzählt ganz nüchtern von einem schwerwiegenden Verlust ohne dass der Kummer spürbar wird)
• Rationalisierung: Das durch ein abgewehrtes Motiv veranlasste Handeln wird im Nachhinein durch eine andersartige Begründung ersetzt oder umgedeutet (»ich konnte mit dem Chef nicht über meine Überforderung sprechen, weil so viel zu tun war – nicht weil ich Angst vor ihm habe«)
• Regression: Einem Konflikt oder einem unlustvollen Impuls wird durch eine Wiederbelebung früherer Erlebnisweisen und Verhaltensmuster ausgewichen, man verhält sich wie ein Kind (z. B. Nägelbeißen während der Adoleszenzkrise)
• Verleugnung: Ein Konflikt, eine Bedrohung oder Beeinträchtigung wird einfach nicht anerkannt, obwohl der Betroffene darüber Bescheid weiß. Er verhält sich so, als ob er nichts davon wüsste.
• Verschiebung von Bedeutendem auf weniger Bedeutendes: Beispiel: Die Wut auf eine bestimmte Person (z. B. den Chef) wird auf andere (meist unterlegene) Personen verschoben, dies ist dann weniger bedrohlich und einfacher zu handhaben (z. B. Aggression im Straßenverkehr).
• Wendung gegen das Selbst: Ein aggressiver Impuls wird nicht auf eine andere Person sondern auf sich selbst gerichtet (Suizidimpuls in Trennungssituationen).
• Spaltung: Widersprüchliche Wahrnehmungen, Bewertungen und Erlebnisweisen wechseln einander ab und bilden polare Erlebnis- und Reaktionsmuster (»nur gut/nur schlecht«). Beide Pole können einander im Erleben abwechseln. An der Umschlagstelle steht meist ein starkes affektives Erleben, z. B. eine massive Kränkung (Narzisstische Krise, Kap. 3.3.4, Fall Christa). Eine Person wird also nicht mit ihren positiven und negativen Seiten als Ganzes wahrgenommen, sondern einmal als ein idealer Mensch ohne Fehler gesehen und dann z. B. in Folge einer Kränkung vollkommen abgelehnt.
• Idealisierung/Entwertung: Ähnlicher Mechanismus wie bei der Spaltung, aber weniger Polarisierung des ursprünglich ganzheitlichen Erlebens und weniger Realitätsverzerrung.
• Projektion: Ein unerwünschter eigener Impuls wird in die Außenwelt verschoben und einem anderen zugeschrieben (»nicht ich bin aggressiv, sondern du bedrohst mich ständig mit deiner Wut«)
• ProjektiveIdentifizierung: Andere Personen werden durch manipulierendes Verhalten dazu gebracht, sich so zu fühlen, wie man sich selbst fühlt. Man kann sich damit von unerträglichen Gefühlen oder eigenen Anteilen distanzieren (z. B. durch Suiziddrohungen entstehen im Gegenüber Hilflosigkeit und Ohnmacht).
Abwehr beeinflusst auch den Bewältigungsprozess in einer Krise – manchmal durchaus in einer positiven Weise. So ist das Verdrängen oder Verleugnen der Realität in der Schockphase einer Verlustkrise ( Kap. 3.1.1 und Kap. 3.1.2) ein sinnvoller Mechanismus, um sich zunächst vor der momentan nicht verarbeitbaren Mitteilung oder Wahrnehmung und den damit verbundenen überwältigenden Gefühlen zu schützen. Durch Verleugnung wird die Bedrohung oder Beeinträchtigung einfach nicht anerkannt, obwohl der Betroffene darüber Bescheid weiß. Er verhält sich so, als ob er nichts davon wüsste.
Zum Problem wird nur der übermäßige Einsatz von Abwehr oder eine ausgeprägte Starre der Abwehrmechanismen. Auch die Folgen von Abwehrprozessen, meist in Form von Symptombildungen können schädlich für das Individuum sein. Das könnte z. B. heißen, dass nach einem schmerzhaften Verlust die Verleugnung beibehalten wird, dadurch eine depressive Entwicklung einsetzt und in der Folge den notwendigen Trauerprozess verunmöglicht.
In Krisen können aufgrund der massiven innerseelischen Labilisierung Abwehrmechanismen aller Strukturniveaus, also auch solche, die man normalerweise nur bei schweren psychischen Störungen findet, vorkommen.
Anita kann sich zu Beginn der Krise mit dem Aspekt des Vertrauensbruchs nicht auseinandersetzen, weil sie ihre Energie für die Organisation des äußerst schwierigen Alltags benötigt. Sie spaltet ihre Gefühle ab. Dies ist in dieser Situation ein sinnvoller Abwehrmechanismus, da sie sonst Gefahr läuft ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren. Nach 4 Wochen ist die Überforderung aber so groß, dass die Abwehr zusammenbricht und sie professionelle Hilfe benötigt.
Erst im Laufe der Krisenintervention, zu einem Zeitpunkt, zu dem die gröbsten Probleme entschärft sind, kann sie sich eingestehen, wie enttäuscht und gekränkt sie ist und die Gefühle von Schmerz, Trauer und Wut zulassen. Deutlich wird auch, dass sie ihren Mann und ihre Beziehung lange Zeit idealisiert hat und dadurch Anzeichen für die Schwierigkeiten ihres Partners und entsprechende Alarmsignale (seine häufige Abwesenheit, seine zunehmende Gereiztheit und seinen Rückzug) verdrängt und verleugnet hat.
Unter Ressourcen versteht man sowohl unspezifische allgemeine Kräfte, als auch individuelle Fähigkeiten des Menschen, die zur Bewältigung von Aufgaben und Anforderungen mobilisiert werden können. Soziale Ressourcen sind die allgemeinen sozioökonomischen Lebensbedingungen des Individuums, also seine finanziellen Möglichkeiten, das Vorhandensein von Arbeits- und Wohnmöglichkeiten, aber auch die Verfügbarkeit eines tragfähigen sozialen Netzes und mitmenschlicher Unterstützung. Persönliche Ressourcen hingegen haben individuellen und subjektiven Charakter. Dazu gehören Persönlichkeitsmerkmale und Fähigkeiten, wie Introspektionsfähigkeit, die Bereitschaft, sich anderen mitteilen zu können, Zugang zu den eigenen Emotionen, Realitätssinn, Selbstwirksamkeit, Optimismus und internale Kontrollüberzeugung. Als instrumentale Ressourcen bezeichnet man die Verfügbarkeit erworbener Problemlösungsstrategien. Können diese instrumentalen Ressourcen in Krisensituationen in zielorientierten Handlungen eingesetzt werden, hat das stabilisierende und bestärkende Effekte (vgl. Lorenz 2005).
Tab. 2.1: Ressourcen
Anita verfügt über gute soziale Ressourcen, auch wenn die ökonomische Situation schwierig ist. Sie kann sowohl auf die praktische wie auch ideelle Unterstützung ihrer Umwelt zählen. Sie kann gut über sich und ihre Gefühle sprechen, ist reflexionsfähig und nach der ersten Schockphase ( Kap. 3.1.1) in der Lage, die Realität zu akzeptieren und sich an die veränderten Umstände anzupassen. Da sie all die Jahre zunächst im Elternhaus und dann in der Beziehung sehr behütet war, fällt es ihr zunächst schwer, eigenständig zu entscheiden und selbst aktiv zu handeln. Sie ist aber überraschend bald in der Lage, diese neue Rolle auszufüllen, was zeigt, dass sie über gute Metaressourcen ( Kap. 2.6) verfügt.
All die in diesem Kapitel beschriebenen Variablen tragen also dazu bei, ob es überhaupt zu einer Krise kommt und wie mit ihr umgegangen wird. Sie bestimmen den Grad der Erschütterung, der sich aus dem bedrohlichen Ereignis ergibt. Die Anpassung an die veränderte objektive und subjektive Situation erfolgt in mehreren Schritten bzw. Phasen und führt je nach Art und Gelingen der Bewältigungsversuche zu einer spezifischen mehr oder minder gesunden Form der Restabilisierung.
»Menschen haben im Unterschied zu Tieren ganz besondere Fähigkeiten zur Stressbewältigung. Mit der enormen Ausdehnung der Hirnrinde geht die Fähigkeit zur Verknüpfung verschiedener Wahrnehmungen, zur Verankerung von Erfahrungen, zur Ausbildung eines enormen autographischen Gedächtnisses, zum Erlernen und Abspeichern von Sachwissen im expliziten Gedächtnis und zur Herausbildung sogenannter Metakompetenzen, wie Selbstwirksamkeitskonzept, Handlungsplanung, Impulskontrolle, Folgeabschätzung, Frustrationstoleranz und Metakognitionen, wie Vorstellungen, Ideen und Überzeugungen einher.« (Hüther und Sachsse 2007, S. 170)
Neuere neurobiologische Forschungsergebnisse bestätigen das komplexe Zusammenspiel zwischen Stressor (bzw. Auslöser), Coping (Problembewältigungsstrategien), der subjektiven Bewertung eines Ereignisses und den Reaktionen der Umwelt und bestätigen somit wesentliche Elemente der Krisentheorie. Im Folgenden wird versucht, bezugnehmend auf die Forschungen von Hüther und Sachsse (2004, 2007), diese Zusammenhänge herauszuarbeiten.