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Jeder Mensch kann durch äußere Belastungen, wie Todesfälle, Trennungen, Unfälle, Gewalthandlungen oder veränderte Lebensumstände in Krisen geraten. Die Begleitung dieser Menschen stellt aufgrund der hohen Dringlichkeit für professionelle Helfer eine große Herausforderung dar. In diesem praxisorientierten Handbuch mit zahlreichen Fallbeispielen werden zunächst die gängigsten Krisentheorien erklärt. In weiteren Kapiteln wird auf die Gefahrenpotenziale von Krisen eingegangen und eine systematische Darstellung der Methodik und Anwendungsmöglichkeiten von Krisenintervention vorgenommen.
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Seitenzahl: 560
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Jeder Mensch kann durch äußere Belastungen, wie Todesfälle, Trennungen, Unfälle, Gewalthandlungen oder veränderte Lebensumstände in Krisen geraten. Die Begleitung dieser Menschen stellt aufgrund der hohen Dringlichkeit für professionelle Helfer eine große Herausforderung dar. In diesem praxisorientierten Handbuch mit zahlreichen Fallbeispielen werden zunächst die gängigsten Krisentheorien erklärt. In weiteren Kapiteln wird auf die Gefahrenpotenziale von Krisen eingegangen und eine systematische Darstellung der Methodik und Anwendungsmöglichkeiten von Krisenintervention vorgenommen.
Dr. med. Claudius Stein ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut. Er leitet seit 10 Jahren das Kriseninterventionszentrum Wien und ist Lehrtherapeut/Dozent für Katathym Imaginative Psychotherapie (KIP).
Claudius Stein
Spannungsfelder der Krisenintervention
Ein Handbuch für die psychosoziale Praxis
Verlag W. Kohlhammer
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrofilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © 2009 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart
Print: 978-3-17-020351-8
E-Book-Formate
pdf:
978-3-17-022764-4
epub:
978-3-17-027372-6
mobi:
978-3-17-027373-3
Geleitwort
Vorwort
1 Kurze Geschichte der Krisenintervention
2 Definition psychosozialer Krisen
2.1 Einführung
2.2 Krisendefinition
2.3 Faktoren, die zur Entstehung und zum Verlauf einer Krise maßgeblich beitragen
2.3.1 Art und Schwere der Auslösesituation
2.3.2 Die subjektive Bedeutung des Geschehens
2.3.3 Krisenanfälligkeit
2.3.4 Die Reaktion der Umwelt
2.3.5 Coping – Abwehr – Ressourcen
2.4 Neurobiologie, Stressforschung und Krise
2.4.1 Vorbemerkung
2.4.2 Der Stress-Reaktionsprozess
2.4.3 Panik- und Furchtsystem
2.5 Symptome
2.6 Diagnostik
2.7 Salutogenese und Metaressourcen
3 Krisenmodelle
3.1 Verlust
3.1.1 Trauer und Verlust
3.1.2 Traumatische Krise
3.2 Lebensveränderungen
3.2.1 Definition
3.2.2 Phasen der Lebensveränderungskrise
3.3 Über- bzw. Unterstimulierungskrisen
3.4 Angrenzende Gebiete – Differenzierungen – Überschneidungen
3.4.1 Entwicklungskrisen
3.4.2 Akute Traumatisierung
3.4.3 Das Burnout-Syndrom
3.4.4 Narzisstische Krise
3.4.5 Psychiatrischer Notfall
4 Krisen und Gefährdungen
4.1 Vorbemerkung
4.2 Warnsignale
4.3 Suizidalität
4.3.1 Grundsätzliche Überlegungen
4.3.2 Ursachen und Motivstruktur von Suizidalität
4.3.3 Einschätzung der Suizidalität
4.3.4 Psychodynamik
4.4 Fremdgefährdung und Gewalt
4.4.1 Definition und grundsätzliche Überlegungen
4.4.2 Entstehung von Gewalt
4.4.3 Einschätzung der Gewaltgefahr
4.5 Komplizierte Trauerprozesse
4.6 Krise, Trauer und Depression
4.7 Krise und Angst
4.8 Krise und Sucht
4.9 Krise und psychische Störung
4.10 Krise und Psychosomatik
4.10.1 Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper
4.10.2 Funktion körperlicher Symptome bei Krisen
4.10.3 Somatopsychische Aspekte von Krisen
4.11 Krise und soziale Folgen
5 Methoden der Krisenintervention
5.1 Grundlagen der Krisenintervention
5.1.1 Ziele von Krisenintervention
5.1.2 Indikationen für Krisenintervention
5.1.3 Grundprinzipien der Krisenintervention
5.2 Allgemeine Prinzipien der Krisenintervention differenziert nach Krisenformen
5.2.1 Beginn der Intervention
5.2.2 Ziele und Interventionsstil
5.2.3 Fokus
5.2.4 Einbeziehung des sozialen Umfelds
5.2.5 Kooperation
5.3 Ablauf einer Krisenintervention
5.3.1 Herstellung einer tragfähigen Beziehung und emotionale Entlastung
5.3.2 Klärung der Situation und Exploration
5.3.3 Situationsbeurteilung
5.3.4 Problemdefinition
5.3.5 Kontrakt
5.3.6 Problembewältigung
5.3.7 Einbeziehung der Angehörigen und des sozialen Umfelds
5.3.8 Direkte Unterstützung und Vermittlung instrumenteller Hilfen
5.3.9 Spezielle Interventionsmethoden
5.3.10 Abschluss der Krisenintervention
5.3.11 Krisenintervention und Psychotherapie
5.4 Anwendungen der Krisenintervention
5.4.1 Krisenintervention nach dem Tod nahestehender Menschen
5.4.2 Krisenintervention nach Trennungen und Scheidungen
5.4.3 Krisenintervention bei schwerer körperlicher Krankheit
5.4.4 Krisenintervention nach akuten Traumatisierungen
5.4.5 Krisenintervention in akuten Phasen eines Burnout-Syndroms
5.4.6 Krisenintervention bei Arbeitslosigkeit
5.4.7 Krisenintervention bei akuter Suizidalität
5.4.8 Krisenintervention bei drohender Gewalt und nach Gewalthandlungen
5.4.9 Krisenintervention bei Alterskrisen
5.4.10 Krisenintervention bei Krisen Jugendlicher
5.4.11 Krisenintervention mit Paaren
5.4.12 Telefonische Krisenintervention
6 Rahmenbedingungen der Krisenintervention und Ausblick
6.1 Standards für Krisenintervention
6.2 Resümee und Ausblick
Literatur
Anhang 1 Das Kriseninterventionszentrum Wien
Anhang 2 Fort- und Weiterbildung in Krisenintervention im Rahmen von ÖAGG und ÖGATAP – ein Modell
Anhang 3 Wichtige Internetadressen
Sachwortregister
Für Alina und Renuka
Krisen zu erleben, sie durchzuleben, in ihnen stecken zu bleiben – das gehört zum menschlichen Leben, ist ganz »normal«. Viele Krisen erleben wir im Nachhinein als bedeutungsvoll für unser Leben, geradezu als heilsam – im Nachhinein allerdings erst. Hat eine Krise uns zum Guten hin verändert, uns weiter gebracht, uns etwas »gebracht«, dann sprechen wir davon, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt. Dieses Denken ist hilfreich: Begegnen wir in dieser Haltung den unausweichlichen Krisen doch in der Gewissheit, dass sie nicht nur schlecht sind, dass wir mit der Krise umgehen können, dass wir ihr nicht einfach ausgeliefert sind, auch wenn die Lebenssituation, in der wir gerade stecken, sehr belastend ist, unangenehm und eine große Herausforderung. Die Zuversicht, die mit der Idee verbunden ist, dass in der Krise auch eine Chance steckt, lässt uns optimistischer die oft auch großen Schwierigkeiten, die umfassenden emotionalen Probleme, die in einer Krise zum Ausdruck kommen, angehen.
Aber in Krisen stecken nicht nur Chancen, sie können am Anfang von chronischen eskalierenden Schwierigkeiten stecken. Krisen können Menschen dazu bringen, ihr Leben zu beenden – weil sie keinen Ausweg mehr sehen. Sie sind gefangen im Klammergriff der Krise und haben die Überzeugung verloren, das Leben auch gestalten zu können. Wenn wir in einer Krise länger stecken bleiben – vorübergehend stecken zu bleiben ist normal – brauchen wir Menschen, denen wir zutrauen, uns in dieser schwierigen Situation helfen zu können. Wir brauchen Menschen, die bei dieser Krise intervenieren können, »dazwischen treten« können, dass der Kriselnde nicht mehr ganz und gar von der Krise bestimmt ist, sondern wieder ein Verhältnis zur eigenen Krise herstellen kann, damit die Probleme, die damit verbunden sind gelöst, die mit der Krise verbundenen Entwicklungsaufgaben angegangen, die notwendigen Anpassungen an das Leben vollzogen werden können.
Krisenintervention – das klingt recht technisch, ist es aber ganz und gar nicht. Krisen sind existenzielle Dringlichkeitssituationen, in denen ein Therapeut oder ein Berater empathisch, warm und mit manchmal großem Mut zusammen mit einem in die Enge getriebenen Menschen Möglichkeiten findet, mit den Schwierigkeiten umzugehen, wieder Vertrauen in das Leben und in die Mitmenschen herzustellen. So belastend Kriseninterventionen für die Therapeuten und Berater sein können, so belohnend können sie auch sein. Kriseninterventionen setzen nicht nur eine große emotionale Belastbarkeit und eine gewisse Krisenfreundlichkeit voraus, sondern auch viel Wissen und Können.
Hier nun hilft das vorliegende Werk mit viel Information, die genau auf das Thema fokussiert ist, von einem Praktiker verfasst, der auch die Theorien kennt, Theorien und Praxis so in einen Zusammenhang bringt, dass viele Anregungen für das große Gebiet der Krisenintervention daraus resultieren.
Aber nicht nur Theorie und Praxis werden in einen Zusammenhang gebracht, auch die Belastung und die Ressourcen der Menschen in der Krise werden gesehen. Es fokussiert nicht nur auf Belastung, sondern auch auf vorhandene Ressourcen.
Dieses mit großer Sorgfalt und Umsicht verfasste Fachbuch, mit vielen klinischen Hinweisen und genauen Anleitungen, wie der Berater bzw. der Therapeut vorgegangen ist, kann zu einem Standardwerk für die Krisenintervention werden.
St. Gallen, im Januar 2009
Verena Kast
Das vorliegende Werk ist ein Resultat meiner zwanzigjährigen theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Krisen und Krisenintervention in unterschiedlichen Kontexten. Zuallererst betrifft dies selbstverständlich meine klinische Arbeit mit von Krisen betroffenen Menschen. Auch nach der langen Zeit hat diese Tätigkeit nichts von ihrer Faszination verloren. Jede individuelle Krise ist einzigartig ausgeprägt, sowohl was die Erscheinungsformen als auch die Bewältigungsversuche betrifft, und jede Begegnung mit Menschen, die von einer Krise betroffen sind, stellt eine neue Herausforderung dar. Ich konnte aber auch in der Fort- und Weiterbildung von Kollegen und Kolleginnen aus verschiedenen psychosozialen Bereichen immer wieder neue Erfahrungen machen und dazulernen. Schließlich eröffnete mir auch die inhaltliche und wirtschaftlichen Leitung des Kriseninterventionszentrums in Wien neue und andere Blickwinkel auf dieses Thema.
Einige Anmerkungen zum Aufbau des Buches: Zu Beginn steht ein kurzer historischer Rückblick (Kapitel 1). In Kapitel 2 wird zunächst eine Definition und Eingrenzung des Begriffs der Krise vorgenommen und daran anschließend eine Verbindung zu verschiedenen Wissenschaftsgebieten, wie der Neurobiologie, der Stress- und Copingforschung, tiefenpsychologischen, wie verhaltenstherapeutischen Theorien und der Salutogenese hergestellt. Kapitel 3 versucht, einen zeitgemäßen Überblick über die gängigsten Krisentheorien und -modelle und deren angrenzende Gebiete zu geben und diese auf ihre klinische Nützlichkeit zu überprüfen. Wesentlich erschien mir dabei herauszuarbeiten, bei welchen Problemen Krisenintervention indiziert ist. Wir wissen heute, dass allzu schematische Vorstellungen von Entstehung und Verlauf von Krisen überholt sind. Man kann davon ausgehen, dass sich Krisen nicht nur interindividuell, sondern im Verlauf eines Lebens auch intraindividuell sehr unterschiedlich äußern können. Trotz kritischer Sichtweise bieten viele der vorgestellten Theorien nach wie vor wichtige und im klinischen Alltag hilfreiche Anhaltspunkte, um ein Krisengeschehen besser verstehen zu können.
Erikson spricht davon, dass die Krise eine Nahtstelle zwischen Gesundheit und Krankheit darstellt. Ein grundsätzliches Anliegen dieses Buchs besteht darin, diese Nahtstelle näher zu betrachten. Es wird der Versuch unternommen, die zahlreichen Überschneidungen und fließenden Übergänge zwischen Krise und psychischen Störungsbildern bis hin zum psychiatrischen Notfall zu beleuchten, ohne dabei den Krisenbegriff zu sehr zu verwässern. Dies stellt eine Gratwanderung dar. Einerseits vertrete ich ein dynamisches Konzept von psychischer Störung, bin aber auch der Meinung, dass die exakte Indikationsstellung für Krisenintervention eine unerlässliche Voraussetzung für deren Gelingen ist.
Krisen stellen einen Scheideweg für den betroffenen Menschen dar. Entweder es gelingt, die Krise zu meistern und die Chance zur Weiterentwicklung zu nutzen oder die Bewältigungsversuche scheitern und führen zu Chronifizierungen oder katastrophalen Zuspitzungen. Dementsprechend wichtig ist es, über das Gefährdungspotenzial von Krisen Bescheid zu wissen (Kapitel 3). Ich lege in meinen Ausführungen allerdings auf eine Betrachtungsweise Wert, die in allen Problemlösungsversuchen, auch wenn diese destruktive Folgen haben, den adaptiven Charakter sieht.
Das zentrale Anliegen besteht darin, dem Leser1 ein praktisches Konzept von Krisenintervention vorzustellen, dass im klinischen Alltag gut anwendbar ist (Kapitel 5). Ausgehend von allgemeinen Prinzipien und Methoden, werden im Weiteren differenziertere Interventionsmöglichkeiten bei unterschiedlichen Arten von Krisen, in unterschiedlichen Settings und für verschiedene Zielgruppen vorgestellt.
Anmerkungen zu den notwendigen Rahmenbedingungen und ein kurzer Ausblick in die Zukunft schließen das Werk (Kapitel 6) ab. Im Anhang findet sich als Modelle eine Darstellung des Kriseninterventionszentrums Wien (Anhang 1) und eines speziellen Weiterbildungslehrgangs in Krisenintervention (Anhang 2), sowie nützliche Internetadressen (Anhang 3).
Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei allen Personen, Lehrern und Lehrerinnen, Kollegen und Kolleginnen, Freunden und Freundinnen, die mich beim Entstehungsprozess dieses Buches praktisch und ideell unterstützt haben und von denen ich durch Austausch und kritische Diskussion in all den Jahren sehr viel gelernt habe, bedanken. Namentlich möchte ich dabei Harry von der Heyden (auch für die humorvollen Anmerkungen), Eva Paltinger, Ingrid Reichmann und Elisabeth Schnepf erwähnen. Danken möchte ich auch meinen Lektoren für deren Unterstützung und Vertrauen. Mein Dank gilt im Besonderen auch allen Klienten und Klientinnen, die ich in den vielen Jahren bei der Bewältigung ihrer Krisen begleiten durfte und die mich viel über den Charakter von Ausnahmesituationen gelehrt haben. Durch diese Begegnungen ist mein Respekt vor der Fähigkeit der Menschen auch mit schwierigsten Belastungen und Lebensumständen zurecht zu kommen immer mehr gewachsen und hilft mir bis heute, auch in sehr bedrohlichen Situationen Zuversicht und Hoffnung zu bewahren. Die Falldarstellungen sind fiktiver Natur. Sie wurden aus unterschiedlichen realen Kriseninterventionen zusammengestellt und so verfremdet, dass ein Rückschluss auf reale Personen nicht möglich ist. Die Umstände wurden zwar verändert, trotzdem könnte sich jede Krise exakt so zugetragen haben.
Ein besonderer Dank gilt meiner Familie, meiner Mutter, meinen beiden Töchtern, Alina und Renuka, und vor allen Dingen meiner Frau, Cornelia Schnieder, die mich während dieses Jahres der Buchentstehung vorbehaltlos begleitet haben. Das Entstehen dieses Buches ist eng mit einer eigenen Entwicklungskrise verknüpft. Das Grundgerüst entstand im ersten Halbjahr 2008 während der Abwesenheit meiner Töchter. Die jüngere verbrachte ein halbes Jahr im Zuge eines Auslandsaufenthalts in Frankreich, die Ältere musste, um ihre Ausbildung zu beenden, ein Internat außerhalb Wiens besuchen. Durch diesen vorübergehenden Abschied war ich selbst mit einem Trauerprozess beschäftigt. Ich habe abseits der schmerzlichen Komponenten auch versucht, diesen in kreativer Weise zu nutzen. Daher widme ich dieses Buch auch meinen beiden Töchtern. Die Begleitung ihres Heranwachsens in schönen wie in krisenhaften Zeiten hat mein Leben in den letzten 18 Jahren sehr wesentlich geprägt und in vieler Hinsicht in ganz spezieller Weise zu meiner persönlichen Entwicklung beigetragen.
Wien, im Januar 2009
Claudius Stein
1 Anmerkung des Autors: Die Personenbezeichnungen beziehen sich gleichermaßen auf Frauen und Männer. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde jedoch darauf verzichtet, in jedem Fall beide Geschlechter ausdrücklich zu benennen.
Wenn wir uns die Frage nach den Wurzeln der Kriseninterventionsarbeit stellen, so lassen sich im Wesentlichen fünf Entwicklungstendenzen finden, auf denen die aktuelle Theorie und Praxis aufbaut. Diese werden in einem kurzen historischen Rückblick dargestellt.
Die ersten beiden Entwicklungslinien finden sich in der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit akuten Traumatisierungen und den Folgen schwerwiegender Verluste (vgl. Kap. 3.1 und 3.4.2). Dementsprechend sind heute die Begriffe Trauer und Traumatisierung eng mit Konzepten zum theoretischen Verständnis von Krisen und Krisenintervention verknüpft. Eric Lindemann, der 1942 nach der Brandkatastrophe von Coconut-Grove, bei der 140 Menschen in einem Tanzlokal umkamen, Hinterbliebene und Überlebende betreut und untersucht hat, kann diesbezüglich als einer der Pioniere gelten. Seine dabei gewonnenen Erfahrungen ließen ihn zu der Überzeugung gelangen, dass Menschen, die von derart schwerwiegenden Belastungen betroffen werden, unbedingt ein gezieltes psychiatrisches, psychologisches oder psychotherapeutisches Hilfsangebot benötigen. Gerald Caplan (1961, 1964) entwickelte diese Ansätze in den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weiter. Sein sozialpsychiatrisch-präventiver Ansatz zielte vor allen Dingen auf die Vermeidung unnötiger psychiatrischer Krankenhausaufenthalte ab. Auf der Basis ihrer Erfahrungen vertraten Lindemann und Caplan die Auffassung, dass im Sinne sekundärer Prävention Krisen möglichst frühzeitig bearbeitet werden sollten, und gründeten folgerichtig das erste Community Crisis Center.
Erik H. Erikson stellte in seinem 1959 erstmals erschienenen Buch »Identity and the Life Cycle« (deutsch: Identität und Lebenszyklus) sein Konzept der Entwicklungskrise vor, das sich vorwiegend mit der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung des Individuums beschäftigt. Erikson stellt fest, dass jeder Mensch während seines Lebens bestimmte kritische Phasen durchlebt, in denen er mit existenziellen, neuen Aufgaben konfrontiert wird. Nur eine erfolgreiche Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben ermöglicht Reifung und Wachstum (siehe Kap. 3.4.1).
Da Suizidalität neben Gewalthandlungen die dramatischste Zuspitzung von Krisen darstellt, waren Konzepte zur Suizidprävention von Beginn an eng mit denen der Krisenintervention verknüpft, wobei Einrichtungen zur Suizidprophylaxe lange vor den ersten Kriseninterventionszentren gegründet wurden. Diese wurden zunächst von nichtärztlichen, karitativen Einrichtungen betrieben. Die erste Telefonseelsorge entstand 1895 in London. 1906 richtete die Heilsarmee in London eine Stelle zur »Selbstmordbekämpfung« ein. In den USA gilt der New Yorker Pfarrer Warren als der erste, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen Notruf für Suizidgefährdete gründete. 1927 wurden in Wien vom Fürsorgeamt der Wiener Polizeidirektion Maßnahmen für Menschen nach einem Suizidversuch entwickelt. Der Philanthrop Wilhelm Börner, Leiter der »Ethischen Gemeinde«, gründete kurz darauf ebenda eine Lebensmüdenstelle mit 60 ehrenamtlichen Mitgliedern. Diese war Vorbild für ähnliche Einrichtungen in mehreren Ländern Mitteleuropas (Sonneck el al., 2008). 1948 wurde im Rahmen der Caritas der Erzdiözese Wien die Lebensmüdenfürsorge von Erwin Ringel gegründet, die es sich zur Aufgabe machte, Personen nach einem Suizidversuch und Hinterbliebene von Menschen, die sich suizidiert hatten, zu betreuen. Ähnliche Einrichtungen folgten in ganz Europa. Chad Varah gründete 1953 in London »The Samaritans«, eine Organisation, die bis heute Suizidgefährdete telefonisch und persönlich unterstützt. In Deutschland richtete Pater Leppich 1954 eine telefonische Seelsorge in Nürnberg ein, deren Angebot auch für selbstmordgefährdete Personen gedacht war. 1956 wurde die ärztliche Lebensmüdenfürsorge Berlin (Klaus Thomas) gegründet und nach deren Vorbild in weiteren deutschen Städten telefonische Seelsorgedienste. In den USA entstand 1958 auf Initiative von N. S. Farberow das erste Suicide Prevention Centre in Los Angeles (Sonneck 2008).
Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass isolierte Suizidprävention zu kurz greift. Krisen stellen häufig Situationen dar, in denen Menschen aufgrund der emotionalen Zuspitzung suizidal werden. Somit war es naheliegend, Konzepte der Suizidprävention mit denen der Krisenintervention zu verbinden. Aus der Lebensmüdenvorsorge Wien ging das Kriseninterventionszentrum Wien (KIZ) hervor, eine der ersten derartigen Institutionen in Europa. Auch dieses verstand sich zunächst als Einrichtung, die ihre zentrale Aufgabe in der Suizidprävention bzw. der Nachbetreuung von Menschen nach Suizidversuchen sah. Erst nach und nach entwickelte sich daraus ein umfassenderes Verständnis von Krisenintervention mit einem präventiven therapeutischen Ansatz.
Schließlich hat auch die sozialpsychiatrische Reformbewegung der 1970er Jahre wesentlich zur Entstehung der ersten Kriseninterventionszentren im deutschsprachigen Raum beigetragen. Das Verständnis, dass psychische Krisen eine zentrale Bedeutung bei der Entstehung psychischer Störungen haben, bzw. deren Verlauf beeinflussen, erforderte therapeutische Konzepte abseits der gängigen psychiatrischen Versorgungseinrichtungen, um durch rechtzeitige Intervention präventiv handeln zu können. Dies führte daher zur Gründung von Institutionen, die zwar eng mit ambulanten und stationären Einrichtungen der Psychiatrie vernetzt sind, aber aufgrund ihrer organisatorischen Unabhängigkeit ein niedrigschwelliges Angebot für jene Betroffenen darstellen, die nicht primär psychiatrischer Hilfe bedürfen. Die Abgrenzung von Krisenintervention und Notfallpsychiatrie bleibt allerdings ein bis heute noch nicht ganz befriedigend gelöstes sowohl theoretisches als auch behandlungsrelevantes Problem. Damit ist auch die Frage verbunden, ob eine Krise in gleicher Weise Folge innerer wie auch äußerer Belastungen sein kann. Die klassische Krisendefinition sieht primär äußere Belastungen als krisenauslösend an und schließt somit psychische Krankheit explizit als Krisenanlass aus. Gleichwohl ist die innere Reaktionsbereitschaft des Betroffenen von entscheidender Bedeutung dafür, ob eine Krise entsteht und welchen Verlauf sie nimmt. Klinische Erfahrungen zeigen, dass es zwar nicht immer einfach, aber dennoch sinnvoll ist, Krisenintervention und Notfallintervention auseinanderzuhalten, da die erforderlichen Interventionsstrategien deutlich voneinander abweichen (siehe Kap. 3.4.5). Klarerweise gibt es viele Überschneidungen. Krisen können eskalieren und sich zu Notfällen entwickeln und umgekehrt können psychiatrische Notfälle und ihre Folgen psychosoziale Krisen auslösen. Es ist wichtig, dass leidende Menschen im Sinne präziser Indikationsstellung die jeweils richtige, für sie passende Hilfe erhalten. Gleichzeitig ist aber eine enge Kooperation der mit diesen Aufgaben befassten Institutionen unerlässlich.
Tab. 1.1: Wurzeln der Kriseninterventioṇ
Trauer und Verlust
E. Lindemann G. Caplan
1942 Brandkatastrophe Coconut Grove 1961, 1964
Kap. 3.1, 4.5, 5.4.1
Traumatisierung
Kap. 3.4.2, 5.4.4
Entwicklungskrise
E. Erikson
1959
Kap. 3.4.1
Suizidverhütung
1895 erste Telefonseelsorge in London
Kap. 4.3, 5.4.7
W. Börner
1927 Lebensmüdenstelle Wien
E. Ringel
1948 Lebensmüdenfürsorge Wien 1977 Kriseninterventionszentrum Wien
C. Varah
1953 The Samaritans
Pater Leppich
1954 Telefonische Seelsorge Nürnberg
Klaus Thomas
1956 Ärztliche Lebensmüdenvorsorge Berlin
N.S. Farberow
1958 Suicide Prevention Center Los Angeles
Krise als Auslöser psychischer Störungen
Ab 1970 sozialpsychiatrische Reformbewegung
Kap. 3.4.5, 4.9
Seit den 1970er Jahren haben sich im deutschsprachigen Raum erfreulicherweise in vielen Großstädten sowohl Kriseninterventionseinrichtungen wie auch rund um die Uhr erreichbare psychiatrische Notdienste als fixer Bestandteil psychosozialer Versorgungsnetze etabliert. In diesem Buch wird in weiterer Folge wiederholt Bezug auf diese fünf Entwicklungslinien genommen (Tab. 1.1).
»Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.« (Max Frisch)
»Warum fallen wir? – Damit wir lernen können, uns wieder aufzurichten.« (»Batman begins«, Christopher Nolan 2005)
Krisen gehören selbstverständlich zum Leben. Jeder Mensch kann in jeder Lebensphase und in jedem Lebensalter von außergewöhnlichen Belastungen betroffen sein. Es kann sein, dass man nahestehende Personen durch Trennungen oder Tod verliert, dass man ernsthaft erkrankt oder seinen Arbeitsplatz verliert. Man muss sich den unausweichlichen Veränderungen des Lebens stellen und ist dazu manchmal besser und manchmal schlechter in der Lage. Belastungen und Herausforderungen führen nicht notwendigerweise zu Krisen. Erst wenn man beginnt, die Situation als bedrohlich zu erleben und die innere Überzeugung verliert, dass die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen ausreichen, um mit dem Problem in adäquater Weise umgehen zu können, befindet man sich auf dem Weg in die Krise. Dieses vorübergehende Ungleichgewicht zwischen äußeren belastenden Ereignissen oder Lebensumständen und den individuellen Problemlösungsstrategien und Ressourcen ist das zentrale Element der Krisenentstehung und führt in der Folge zu all den unangenehmen Gefühlen und Symptomen, die so charakteristisch für Krisen sind: Angst, Überforderung, Spannung, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Man kann nicht schlafen, nicht essen, weiß weder ein noch aus, fühlt sich blockiert oder verfällt in hektische Betriebsamkeit. Viktor von Weizsäcker (1940) beschreibt die Krise als eine Unterbrechung der Ordnung. Die Fundamente werden erschüttert und das Selbstvertrauen geht verloren. Alle Lebensinhalte, die nicht mit der Krise zu tun haben, treten in den Hintergrund. Niemand kann diese hohe emotionale Belastung und den massiven inneren und äußeren Druck über einen längeren Zeitraum ertragen. Betroffene unternehmen größte Anstrengungen, um diesen Zustand zu beenden und wieder ihr Gleichgewicht zu finden. Die Bewältigungsstrategien, die dabei zum Einsatz gelangen, können konstruktiver wie destruktiver Natur sein.
Wenn es gelingt, die Krise zu meistern und dabei vielleicht sogar neue Erfahrungen und Problemlösungsstrategien zu entwickeln, kann man sein Leben gereift und gestärkt weiterführen. Man hat gelernt, »sich wieder aufzurichten«. Scheitern die Bewältigungsversuche oder überwiegen schädigende Copingstrategien, kann die Krise chronifizieren und sich zu psychischen und psychosomatischen Störungen weiterentwickeln. Man bleibt liegen, statt sich wieder aufzurichten. Im schlimmsten Fall kommt es zu katastrophalen Zuspitzungen, suizidalen Entwicklungen oder Gewalthandlungen, die den Betroffenen unter Umständen noch »tiefer fallen lassen«.
Krisen stellen also gleichzeitig eine Gefahr und eine Chance für das Individuum dar. Die Dringlichkeit und Zuspitzung, die einerseits besonders unangenehm und bedrohlich ist, birgt auch die besondere Chance zur Veränderung. Ein sehr treffendes Symbol für diese Doppelgesichtigkeit ist der chinesische Begriff für Krise, der sich aus zwei Schriftzeichen Wei und Ji zusammensetzt. Wei steht für Gefahr, Ji für Chance (Abb. 2.1).
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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