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Waren Sie schon einmal Spazierenschwimmen? Mit der Eröffnung der spektakulären Hochgebirgsbahn, heute UNESCO Weltkulturerbe, wurde das Rax-Semmering-Gebiet rund um Payerbach und Reichenau Mitte des 19. Jahrhunderts zum bevorzugten Erholungsgebiet der Wiener Gesellschaft: Zuerst kamen Kaiser Franz Joseph und Sisi, dann der Hoch- und Geldadel sowie die bekanntesten Wissenschafter*innen und Künstler*innen. Das Motto für die Sommerfrische gab Robert Musil mit seiner Wortneuschöpfung "Spazierenschwimmen" vor: aus der Muße neue Kraft und neue Ideen gewinnen! Viktor Frankl oder Sigmund Freud erdachten hier bahnbrechende Werke, manch andere bauten sich schöne Villen und es entstanden prächtige Hotels für die High Society. Begleiten Sie Wilma Pfeiffer und Walter "Muck" Stelzle auf ihrer nachhaltigen Kulturreise und suchen Sie mit ihnen die Zeugen einer vergangenen Zeit auf: die alten Villen, die Bäder, die Kurpavillons, die Hotels, die Wirtshäuser. Da ist für alle etwas dabei: Wandern, Spazieren, Schwimmen, Bus- und Zugfahren – oder einfach die Nase in ein Buch stecken. Geschichten und Anekdoten rund um die Sommerfrische in der Region Semmering-Rax Ein Lesebuch mit Ausflugstipps
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Seitenzahl: 221
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Lektorat: Markus Weiglein
Covergestaltung, Grafik und Produktion: Nadine Kaschnig-Löbel
Coverfoto: m_adrian/shutterstock.com
Auch als Hardcover erhältlich:
ISBN 978-3-7025-1081-7
eISBN 978-3-7025-8108-4
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Wilma PfeifferWalter Stelzle
zwischen Rax und Semmering
Kultur • Geschichten • Ausflüge
Vorwort
Eine Sommerfrische entsteht
Reichenau
Prein an der Rax
Rax
Payerbach
Semmering
Schluss
Literatur und Quellen
Der Schriftsteller Robert Musil – Der Mann ohne Eigenschaften heißt sein Jahrhundertroman – verlegte sich in seinen sommerlichen Ferientagen auf das „Spazierenschwimmen“ im Wörthersee. Diese so prägnante Beschreibung haben wir für unseren Buchtitel übernommen. Denn Spazierenschwimmen bedeutete für Musil nicht nur gemächliche Schwimmzüge zu machen, sondern auch, sich der Muße hinzugeben, sich treiben zu lassen, dem Nichtstun, dem Kraftschöpfen und der Fantasie zu überlassen. Ein ideales Motto auch für dieses Buch. Denn die hier versammelten Ferieneindrücke und Urlaubstipps halten Vorschläge bereit für Spaziergänge und gemütliche Wanderungen – für ein Programm, das Zeit lässt für einen Kaffee mit Mehlspeise oder einen Kaiserspritzer, für ein gutes Buch, Ruhe und Beschaulichkeit: wichtige Voraussetzungen für die Erholung und den Kuss der Muse, der zu zart ist, um ihn in hektischer Betriebsamkeit zu spüren. Die Gegend zwischen Rax und Semmering bietet hierfür perfekte Voraussetzungen, denn sie ist ein bisschen aus der Zeit gefallen und deshalb bestens geeignet, für ein paar Tage die Hektik und den Stress des Alltags zu vergessen.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Region zwischen Rax und Semmering die bedeutendste Sommerfrische der Habsburgermonarchie. Mit dem Bau der spektakulären Hochgebirgsbahn über den Semmering 1854 – heute UNESCO-Weltkulturerbe – kamen sie alle: zuerst Kaiser Franz Joseph zum Jagen, dann die schöne Sisi zum Reiten und „Zwiebackessen“, die kaiserlichen Kinder zum Erholen, der Hochadel gefolgt vom Geldadel zum Feiern und Antichambrieren – und nicht zuletzt die bekanntesten Wissenschaftler und Künstler des Vielvölkerstaates, weil die Landschaft die Kreativität und das Denken anregte: Sigmund Freud und Viktor Frankl, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal, Gustav Mahler mit seiner Frau Alma, die später Franz Werfel heiratete, obwohl Oskar Kokoschka unsterblich in sie verliebt war. Viele Sommerfrischler haben sich in Payerbach und Reichenau stattliche Villen gebaut, manche gar Schlösser. Und auf dem Semmering entstanden riesige, luxuriöse Hotels für die High Society. Die Mordmaschine des Nationalsozialismus beendete 1938 dieses kreative und lässige Sommerfrischedasein, das in weiten Bereichen von jüdischen Mitbürgern lebte, abrupt. Die Örtlichkeiten verfielen in einen Dornröschenschlaf, von dem sie sich zum Teil bis heute noch nicht erholt haben.
Wir, eine Kulturwissenschaftlerin und ein Historiker mit langjährigen Erfahrungen in den Bereichen Kultur und Tourismus sowie als Studienreiseleiter, als Autoren und Erzähler, haben dieses Gebiet zwischen Rax und Semmering bereist und erkundet. Im Rahmen der von uns selbst organisierten Gruppenreisen haben wir vor Ort mit vielen Menschen geredet, die seit Generationen hier leben, haben immer wieder gefragt und gesucht, viele Publikationen gewälzt – und uns in die Gegend verliebt. So ist unser Buch entstanden. Es soll den Leserinnen und Lesern helfen, sich in dieser schönen Kulturlandschaft zurechtzufinden, über Geschichten und Anekdoten tiefer in diese einzudringen und ganz grundsätzlich mehr zu erfahren – über die Region, ihre Menschen und über eine Zeit, die längst vergangen und doch so gegenwärtig ist.
Ausgehend vom grundlegenden Themenfeld rund um Sommerfrische und Urlaub erzählen wir von den Zentren Reichenau und Payerbach, um dann Ausflüge in die Seitentäler und auf die Berge zu unternehmen – und entdecken, was sich heute mehr denn je zu entdecken lohnt. Dabei sind wir, soweit es geht, nachhaltig unterwegs. Denn zu Fuß, mit Bus oder Zug, in einem gemächlicheren Zeitverständnis also, kommen wir der alten Sommerfrische am besten nahe. Heute ist Payerbach mit Wien im Stundentakt verbunden – da werden sogar Ausflüge nach Wiener Neustadt, Baden oder in die Hauptstadt selbst möglich; natürlich auch die Fahrt auf den Semmering. Und bei entsprechender Auswahl halten die Regionalzüge bei allen kleinen Haltestellen wie Küb oder Breitenstein. Der für unsere Touren besonders wichtige Bahnhof Payerbach-Reichenau wird von allen wesentlichen Buslinien angefahren, welche die Region bedienen, alle natürlich mit weiteren Haltestellen dazwischen:
Bus Nr. 341
Payerbach-Reichenau Bahnhof Reichenau Rax-Seilbahn Kaiserbrunn Naßwald Schwarzau im Gebirge
Bus Nr. 342
Payerbach-Reichenau Bahnhof Reichenau Edlach Prein Preiner Gscheid
Bus Nr. 1748
Payerbach-Reichenau Bahnhof Reichenau Rax-Seilbahn Edlach Prein Preiner Gscheid
Das Looshaus und die Speckbacher Hütte, über die im Buch noch viel zu berichten sein wird, sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln leider nicht zu erreichen. Es eröffnen sich aber trotzdem viele Wege, um dorthin zu kommen: zu Fuß im Rahmen einer schönen Wanderung, mit dem Auto, mit einem Shuttle-Taxi oder mit dem Rad. Wer es sich zutraut, die zuweilen deutlichen Steigungen mit dem Mountainbike zu bezwingen, der kann ein solches (oder ganz normale Fahrräder bzw. E-Bikes) in den meisten Hotels oder in Fahrradgeschäften ausleihen.
Zum Schloss Mühlhof schließlich kommt man auch in einem gemütlichen Spaziergang von der Haltestelle „Payerbacherhof“ aus.
Seit dem Frühjahr 2023 bietet die Region zwischen Rax und Semmering einen individuell buchbaren Postbus-Shuttle-Service namens RUFbus an. Er fährt nach Bedarf, muss daher im Voraus, von 30 Minuten bis zu 30 Tagen, gebucht werden (www.semmering-rax.com/shuttle). Der Shuttle verkehrt zwischen Reichenau, Payerbach, Breitenstein und Semmering. Gloggnitz ist ebenso eingebunden, wodurch Gäste im Urlaub endgültig auf ihr Auto verzichten können. Bei der Buchung kann man die gewünschten Abfahrts- und Ankunftszeiten angeben und so etwa Kulturveranstaltungen besuchen, die außerhalb des regulären Busfahrplanes liegen.
Nun suchen wir sie aber wirklich auf, die stummen Zeugen einer längst vergangenen Zeit: die verträumten Villen, die damals supermodernen Badeanstalten, die mondänen Kurpavillons, die Hotels, die Wirtshäuser, die Cafés. Und träumen uns zurück in das Fin de Siécle, der hohen Zeit der Sommerfrische, die heute wieder an neuer Bedeutung zu gewinnen scheint.
Wilma Pfeiffer und Walter Stelzle,im Frühjahr 2023
„… näher, näher, immer näher, endlich Payerbach. Im Fiaker nach Reichenau, ‚Thalhof‘. Immer dieselben Zimmer, die geliebte Waldaussicht, nichts hat sich verändert. Gott sei Dank.“
Peter Altenberg in seiner Vita Ipsa (1918)
Die Sommer sind in Wien oft sehr heiß und drückend. Da riechen die Autoabgase noch einmal so stark. Früher, im heraufgezogenen 19. Jahrhundert, stank es in der Stadt – und zwar so richtig und beständig nach minderwertiger Kohle, denn es musste ja der Herd auch im Sommer befeuert werden, um Essen zu kochen. Dieser Kohlegeruch lag auf den Straßen, penetrant zwischen den Häusern, über der Stadt, man kam ihm nicht aus. Er war so selbstverständlich, dass man ihn fast nicht mehr wahrnahm, aber wenn die Sonne die Straßenschluchten der Großstadt aufheizte, intensivierte sich dieser Geruch über das Unvermeidliche, Gewohnte ins deutlich Wahrnehmbare, riechbar Unangenehme. Die zu dieser Zeit vielerorts noch offenen Abwasserkanäle faulten in der sommerlichen Hitze. Auf diesen Grundgestank trafen die speziellen Gerüche mancher Handwerksbetriebe, etwa der Gerber; auch die Fleischhauereien machten sich in der Hitze deutlich bemerkbar; aus den vielen Hufschmieden roch es nach angesengtem Horn; dazu kamen die Industriebetriebe der Vorstädte, die jeweils eigene, oft durchdringende Gerüche verbreiteten; die Dampfer, die an den Donaukais an- und ablegten, stießen dicke Rauchwolken aus, die sich mit dem Qualm der vielen anderen Schornsteine wie eine Glocke über die Stadt breiteten. Es war eine schwere Tuchent an Gerüchen, die von der Hitze verstärkt und intensiviert über der Stadt lag und die Bürger dieser Hauptstadt eines der größten Reiche des alten Europas plagte, zumal die Stadt um 1900 bereits etwa zwei Millionen Einwohner zählte, also ungefähr genauso viele wie heute.
Wahrscheinlich, dass sich hiervon der Begriff „Sommerfrische“ ableitete: dem sommerlichen Wunsch nach frischer, sauberer, wenn möglich kühlerer Luft, die man schon in den Bahnhöfen mit ihren offenen Fronten zum Land hin zu spüren vermeinte. Obwohl auch die Bahnhofshallen vom Rauch der Lokomotiven erfüllt waren. „Es riecht nach Rauch, doch außerhalb der langen düsteren Bahnhofshalle wird bereits lichte Bergluft wehen, so von sehr ferne!“, notierte Peter Altenberg in seiner Vita Ipsa (1918) – mehr als Wunsch.
Aber wer konnte es sich in Wien schon leisten, in die Sommerfrische zu fahren, wo Urlaub doch erst Schritt für Schritt in den 1920er Jahren erkämpft und gewährt wurde? Was noch lange nicht hieß, dass man sich diesen Urlaub dann auch leisten konnte. Unter den aus allen Teilen des Reiches zuziehenden Industriearbeitern des 19. Jahrhunderts herrschte Armut und Not. Oft konnte sich eine Familie nicht einmal ein kleines Zimmer leisten, sondern musste einen sogenannten Nachschläfer aufnehmen. Der kam aus der Schicht, wenn der Familienvater zur Arbeit ging, und schlief in dessen eben frei gewordenen Bett. Die Bettmiete half, den Mietzins für das eine Zimmer der ganzen Familie zu finanzieren.
Wer genügend verdiente – und das waren meist höhere Regierungsbeamte, deren es viele gab in der Verwaltung solch eines Riesenreiches, aber auch Ärzte, Rechtsanwälte oder gut situierte Freiberufler –, mietete sich für ein paar sommerliche Wochen eine Wohnung in einem der stadtnahen Winzerdörfer, in Nussdorf etwa oder Grinzing, wo die Luft besser und frischer war. Das war gerade noch nahe genug, dass der Familienvater, der die Woche über ja seinen Pflichten nachgehen musste, übers Wochenende, das erst am Samstag gegen Abend begann, mit dem Fiaker zu seinen Lieben stoßen konnte.
Im Jahr 1851 erreichte die Eisenbahn Payerbach. Mit ihr konnte sich die Sommerfrische in die nun nahegerückten Alpen verlagern. In Reichenau, Payerbach und den umliegenden Orten wurden Landhäuser und herrschaftliche Villen gebaut, bereit, die sommerlichen Gäste einschließlich Personal für lange Sommer- und Frühherbsttage aufzunehmen und alle notwendigen Bequemlichkeiten zu bieten. Der Kaiser kam zur Jagd und wohnte mit seiner Entourage und den Jagdgästen im Thalhof, um sich selbst später großzügige Wohnquartiere schaffen zu lassen. Das stadtnahe Schwarzatal wurde zur bevorzugten Sommerfrische der Wiener Gesellschaft. Für die nächsten 60 Jahre war man hier weitgehend unter sich, obwohl am nahen Gloggnitzer Bahnhof zu Pfingsten 1850 bereits mehr als 10 000 Tagesausflügler gezählt wurden.
Heute lautet das Sprichwort „Zeit ist Geld“. Damals galt es andersherum. Denn nur wer Geld hatte, konnte Zeit erübrigen, um in die Sommerfrische zu fahren. Auch wer schon Urlaub in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts genoss, für den lag eine Urlaubsreise selbst noch lange jenseits der Möglichkeiten. Wenn schon eine Reise in den freien Tagen, dann vielleicht zu den Verwandten aufs Land, wo man Kost und Logis durch Mithilfe in Haus und Garten verdiente, und auch, um Obst und andere Lebensmittel heim in die Stadt mitzunehmen. Wenn’s hoch kam eine Kurzreise, die einer der Vereine günstig organisierte, denen man angehörte. Oder man ersetzte den Urlaub ganz einfach durch einen Sonntagsausflug. Um die Jahrhundertwende wurden die gusseisernen Fahrräder ohne Freilauf so billig, dass sich auch Fabrikarbeiter eines leisten konnten, um damit am Sonntag ins Grüne und zum Heurigen zu radeln. Die Eisenbahn ermöglichte Tagesausflüge an die Donau oder bis in die Alpen.
Im Jahr 1926 nahm die Rax-Seilbahn als erste Seilschwebebahn Österreichs ihren Betrieb auf – eine Sensation. In den folgenden Jahren wurde dieser Gebirgsstock zum Ziel ungezählter Sonntagsausflüge, die Rax zum Hausberg der Wiener. Es wird von sagenhaften Schnitzelbergen berichtet, die Sonntag für Sonntag bei schönem Wetter an die Tagesausflügler verfüttert wurden. Dies alles aber tangierte die Sommerfrischler nicht oder war ihnen gar zuwider, wenn die Dorfstraßen, die Cafés, die Gastgärten und bald entstehenden Souvenierläden von Tagesausflüglern überschwemmt wurden, und unterschied sich damit nicht so sehr von heute. In der Strudlhofstiege (1951) erzählt Heimito von Doderer von einer Reise seines Leutnants Melzer nach dem Urlaub zurück in seine bosnische Kaserne: Nach dem Mittagessen geht er noch auf einen Schwarzen (Kaffee) in das gegenüberliegende Café: „Diese Lokalitäten waren zu jener Zeit sehr gepflegt, verhältnismäßig still und über das Bedürfnis des damaligen Verkehrs – wo noch nicht jede Mehlspeisenköchin unausgesetzt herumreiste – geräumig.“ Die Klage schwingt mit, dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg viele Menschen niederer Stände schon reisen konnten und dass dies zuweilen zulasten der „guten, alten Sitten“ ging. Man begann, die Sonntagsausflügler, im Gegensatz zu den Sommerfrischlern, Touristen zu nennen.
Abgrenzung tat not, man wollte nicht verwechselt werden. Wenn sie wirklich ein paar wenige Tage zum Wandern in den Bergen bleiben wollten, mieteten sie sich in einfachen und kostengünstigen sogenannten Touristenhotels ein. Es müssen im Laufe der Jahre schon relativ viele Gäste geworden sein, denn auch die Luxushotels am Semmering richteten Bürgerstuben ein, etwa das Südbahnhotel im altdeutsch-neogotischen Stil, um mit billigen Angeboten diese Laufkundschaft zum Einkehren zu bewegen.
In der Sommerfrische aber blieb die gute Wiener Gesellschaft unter sich. Und sie mietete sich bevorzugt da ein, wo auch der Kaiser oder die kaiserliche Familie freie Tage verlebten: Sonnen im Glanz der Krone. Die Sommerfrischen Reichenau und Payerbach lebten vom Mythos der Habsburger, der sich im Gefolge des Kaisers einstellte und viele Adelige, die dem Hof nahestanden, nach sich zog. Ihnen folgten Industrielle, Banker, Versicherungsdirektoren: Menschen also, die – oft frisch nobilitiert (der Ritter oder Baron im Namen weisen darauf hin) – sich im Schatten der kaiserlichen Familie Vorteile versprachen. Auch Großbürger fanden sich ein, hohe Beamte etwa, die dem Sog der Prominenz folgten. Zugleich aber kamen solche, die ihren Arbeitsplatz frei wählen konnten, Schriftsteller vor allem, die uns heute noch in ihren Werken die damalige Zeit und ihre Sommerfrischen nahebringen, aber auch Musiker, Maler und den darstellenden Künsten Nahestehende – wie der berühmte Burgtheater-Mime Josef Kainz. Bevorzugt natürlich all diejenigen, die mit ihren Künsten bereits gutes Geld verdient hatten oder aus begütertem Haus stammten und sich die Sommerfrische leisten konnten: Persönlichkeiten wie Arthur Schnitzler, Leo Perutz oder Hugo von Hofmannsthal. Die wohlhabenden Großbürger schmückten sich gern mit bekannten Namen. Und sie gaben oft großzügiger Geld aus als der alte Adel.
Es handelte sich also um eine illustre Gesellschaft, die entweder so reich war, dass sie nicht arbeiten musste, die ihr Geld mit Antichambrieren, also Lobbyarbeit, verdiente, oder aber die Sommerfrische auch zum Arbeiten nutzte, weil sie arbeiten konnte, wo sie wollte. Nicht von ungefähr haben Wolfgang Kos und Elke Krasny ihr Buch über die Sommerfrische österreichischer Schriftsteller Schreibtisch mit Aussicht (1995) genannt. Arthur Schnitzler etwa schrieb an seinen Freund Hugo von Hofmannsthal, dass er nicht wisse, was er in Reichenau ohne Arbeit anfangen solle. Und tatsächlich hat Schnitzler hier in nur sechs Tagen seine bekannte Novelle Leutnant Gustl geschrieben, deren Inhalt erstmalig in der Literaturgeschichte sich nur aus den Gedanken und Gefühlen, also dem Innenleben dieses Leutnants speist, der im Morgengrauen ein vielleicht tödliches Duell bestreiten muss.
Die Eisenbahn war Voraussetzung und Triebfeder der Sommerfrische zugleich, die sich deutlich vom heutigen Urlaub unterschied. Es war nicht der Drang in die Ferne, das Abenteuer fremder Länder und Kulturen, das man suchte, oder die freie Zeit, die man mit möglichst vielen sportlichen Aktivitäten füllen wollte. Ganz im Gegenteil, die Sommerfrischler beabsichtigten ihre Wiener Gepflogenheiten, ihr gewohntes, auch gesellschaftliches Leben, mit hinaus aufs Land zu nehmen in eine Gegend, die stadtnah lag, landschaftlich reizvoll war und sich vor allem durch gute, saubere Luft auszeichnete. Zumal die Sommerfrische ja im besten Falle den ganzen Sommer über dauern sollte.
„Der Schweizer, der Tiroler liebt seine Berge, aber meine Familie liebte Reichenau – Reichenau an der Schwarza, Südbahnstation Payerbach. Reichenau und wir gehörten zusammen. Niemandem war es so ans Herz gewachsen, außer noch dem Herrn Landesgerichtsrat Alfred P., dem Herrn Hofsekretär Karl Schrauf. Ohne Reichenau kein Sommer, kein Leben, kein Glück, kein Ausruhen von den übrigen Monaten! Die Hoffnung auf Reichenau bei Payerbach hielt uns alle aufrecht in den Widerwärtigkeiten, Nutzlosigkeiten des Daseins. Den Koffer packen für Reichenau, das Billett nehmen, aus der düsteren, angenehm romantisch kohlenduftenden Halle hinaus fahren, Meidling, Liesing, Guntramsdorf, Mödling, Baden, näher, näher, immer näher, endlich Payerbach. Im Fiaker nach Reichenau, ‚Thalhof‘. Immer dieselben Zimmer, die geliebte Waldaussicht, nichts hat sich verändert. Gott sei Dank. Ja, elektrische Beleuchtung, die Wannenbäder aus Porzellan und der älteste Kutscher ist gestorben!“
Der Schriftsteller und Bohemien Peter Altenberg erinnert sich inseiner Vita Ipsa (1918) an Ferienaufenthalte mit seinen Eltern
Auch das gehört zur Sommerfrische: das Erwartete, Ersehnte, Jahr für Jahr Wiederkehrende – keine Entdeckung des Fremden, Unbekannten. Die Psychologen sagen, dass dies eben zu einer möglichst effektiven Erholung gehört: sich auszukennen und zu wissen, was einen erwartet. Routine, auch in den Ferien.
Die Orte Payerbach und Reichenau an der Rax, die in den Jahren um die Wende zum 20. Jahrhundert zu den größten Sommerfrischen des Habsburgerreiches anwachsen sollten, richteten sich nach den Wünschen ihrer Gäste: Spazierwege wurden angelegt, Ruhebänke an Plätzen mit schöner Aussicht aufgestellt, Kurpavillons errichtet, in denen täglich gern besuchte Kurkonzerte stattfanden, Cafés nach Wiener Vorbild eröffnet, Kurbäder angeboten und modernste Badeanstalten gebaut. Abends konnte man sich festlich kleiden, zeigen, was man hatte und wer man war, und bei mehr oder weniger geistvollen Gesprächen und Kerzenlicht dinieren, später sogar tanzen. Man begegnete sich auf der Promenade, sah und wurde gesehen, begrüßte sich und blieb auf ein Schwätzchen stehen, vielleicht gar, um einen gemeinsamen Ausflug zu vereinbaren – oder den Besuch einer kulturellen Veranstaltung.
Um das gesellschaftliche Leben der Stadt, oft für mehrere Sommermonate, aufs Land zu transferieren, mussten zu Hause in Wien erhebliche Vorbereitungen getroffen werden. Das traf alle, die eine Ferienwohnung bei einem Bauern oder Handwerker angemietet hatten oder gar ein Landhaus ihr Eigen nannten, das nur in den Sommermonaten bewohnt wurde. In den 1890er Jahren erst kamen Ferienwohnungen auf, ganze Etagen in komplett vermieteten Ferienhäusern mit Platz auch für die Dienstboten, die, wie heute, mit allem ausgestattet waren, was man brauchte. Nur die Koffer mit der persönlichen Habe musste man mitbringen. Aber bis dahin wurde fast der gesamte Hausstand aus Wien in die Sommerfrische transferiert – die Betten in großen Schließkörben verstaut, Bett- und Tischwäsche, Handtücher, Geschirrtücher und was man sonst noch in den langen Sommermonaten brauchte, eingepackt. Töpfe, Pfannen, Schüsseln, Vorlegeplatten, Saucieren mussten mitgenommen werden, um den gewohnten Luxus nicht zu entbehren.
Auch Lebens- und Genussmittel, die es auf dem Lande nicht zu kaufen gab, waren vorsorglich haltbar zu verstauen. Das gute Geschirr wurde in Papier gehüllt, um es vor dem Zerschlagen beim Transport zu schützen; das Besteck einschließlich Kochlöffel, Bratenmesser, Schöpflöffel und so weiter durfte nicht zurückgelassen werden. Mit Sorgfalt wurden die Kleider im Koffer verstaut. Kinderspielzeug für die Kleinen, Lektüre, Spielkarten und das Domino, Schuhe, Schmuck. An alles und noch viel mehr war zu denken. Es war eine ganze Karawane, die da Tage vor Abreise mit den Dienstmädchen und dem Hausdiener losgeschickt wurde. Als 1862 die Kinder des Kaisers, Rudolf und Gisela, im Sommer nach Reichenau geschickt wurden, benötigte man sieben Personen-Pferdewagen und zwei große Leiterwagen, um den Umzug zu bewältigen. Die spätere Kaiserin Zita, die mit ihren Eltern die Monate von Juli bis Dezember immer in Niederösterreich verbracht hatte, erzählte, wie bei Christoph Rella zu lesen ist: „Und was das für Übersiedlungen waren! Jedes Jahr und für jede Hin- und Rückfahrt hatten wir einen Sonderzug. Wenn er für die Reise zusammengestellt war, muss er 15 oder 16 Waggons lang gewesen sein. Zwei Lokomotiven waren erforderlich, um ihn über den Semmeringpass … zu befördern.“
Während der vorangeschickte Tross die Sommerfrische bezugsfähig machte, unterzog die Hausfrau mit anderen Helfern die nun weitgehend ausgeräumte Wohnung in Wien einer Generalreinigung und machte sie für den Sommerschlaf fertig. Die Polstermöbel wurden mit Leintüchern abgedeckt, um die Bezüge vor der Sonne zu schützen, manche Möbel auch in der Raummitte zusammengerückt, die Teppiche zusammengerollt, die verwaisten Schränke gesäubert, die zurückbleibende Herbstund Wintergarderobe eingemottet. Es sah nicht nur so aus wie geradewegs vor einem Umzug, es war eine – wenn auch nur temporäre – Übersiedlung. Dann ging’s mit den Kindern, der Bonne und dem Hofmeister (so wurde der Privatlehrer genannt, der die größeren Kinder für das nächste Schuljahr fit machen musste und für die allgemeine Bildung zu sorgen hatte) zum Bahnhof und auf den Zug nach Payerbach-Reichenau.
Dort angekommen, musste als Erstes das zurückgebliebene Familienoberhaupt von der glücklichen Ankunft in der Sommerfrische unterrichtet werden. Das geschah in der Regel mit der modernsten der damaligen technischen Möglichkeiten, dem Telegramm. Die späteren Luxushotels stellten wohl eigene Post- und Telegraphenstationen bereit. Alle anderen, durchschnittlichen Sommerfrischler mussten zentrale Anlaufstellen aufsuchen. Eines von diesen Post- und Telegraphenämtern lag in Küb, nahe Payerbach, an der Semmeringbahn. Es wurde 1905 gegründet und ist heute ein Museum. Ein Besuch dort lohnt sich auf jeden Fall, kann man hier doch mit eigenen Augen sehen, wie sich die Kommunikation bis heute geändert, ja revolutioniert, hat: das Briefeschreiben, der Telegraph, dessen Botschaft gemorst wurde, der Klappenschrank für die telefonische Verbindung. Bei einem Telegramm kostete jeder Buchstabe, deshalb achtete man auf äußerste Kürze und stellte, wenn’s denn erforderlich war, einen Brief in Aussicht. Ein berühmt gewordenes Beispiel einer solch überaus verknappten Botschaft hat Friedrich Torberg in seiner Tante Jolesch (1975) geschildert: „Seid besorgt. Brief folgt.“
Die in Wien unterdessen ihrer Arbeit nachgehenden Männer lebten, mit Ausnahme der kurzen Wochenenden, im Ungemach: Essen in der Küche aus dem übrig gebliebenen Geschirr, Nachtruhe in den Resten des Schlafzimmermobiliars, in der ganzen Wohnung der Geruch nach Naphthalin, das Polster und Vorhänge vor Mottenbefall schützen sollte. Gemütlichkeit ade! Im besten Falle war eines der Dienstmädchen zur Versorgung des Gatten zurückgeblieben. In der Strudlhofstiege problematisiert Heimito von Doderer dieses Thema mehr als einmal: „… an diesem Samstag-Vormittage war Grete Siebenschein damit beschäftigt, die Wohnung im nötigsten für den Empfang der Eltern bereit zu machen, das Schlafzimmer durchzulüften … die Betten zu überziehen, den feinen, kühlen Staub zu stören, der sich da und dort niedergelassen hatte, den Sauger … über den entrollten Teppich zu führen.“ Bei solch häuslichen Lebensverhältnissen gingen viele Männer zum Abendessen in ein Beisl, um anschließend – zu Hause wartete ja niemand – noch auf ein Glas Wein Geselligkeit zu suchen. Da konnten sich leicht Sommerliebschaften anbahnen. Anton Kuh, der große Spötter unter den Journalisten, schrieb 1913 im Prager Tagblatt: „Ohne Zweifel, es gibt wirklich streng gezügelte Ehemänner, die ihre jahrüber verhaltene Abenteuerlust in diesen zwei Monaten froher Ungebundenheit austollen lassen; und so wird aus dem Winter-Ehemann ein Sommer-Lebemann.“ Was natürlich auch für die Ehegattinnen in der Sommerfrische galt, allerdings ungleich schwerer zu bewerkstelligen war, da Kinder und Dienstboten die Bewegungsfreiheit hemmten. Um die Jahrhundertwende, als am Semmering Luxushotels ihre Gäste verwöhnten und Frauen von Stand dort zuweilen ohne Gatten einen Kurzurlaub verbrachten, war eine flüchtige Liaison eher möglich, wie etwa auch Stefan Zweig in seiner Novelle Brennendes Geheimnis (1911) schildert.
Man kann sich heute kaum vorstellen, wie Erfindung und Einführung der Eisenbahn auf die Menschen der damaligen Zeit gewirkt haben müssen. Es gab Ärzte, die solch schnelle Fahrten mit dem eisernen Wagen – in einer Geschwindigkeit, die kaum einmal 20 Stundenkilometer betrug – für gesundheitsschädlich hielten. Andere verglichen Menschen, die eine Bahnfahrt unternahmen, mit Paketen, die von einem Ort zum anderen expediert wurden. Die Landbevölkerung machte sich wohl keine solch tiefgründigen Gedanken. Man sah die Geschwindigkeit, mit der der Zug die Landschaft durcheilte, und verglich sie mit dem schnellsten, was man zur damaligen Zeit kannte, dem Pferd – Dampfross nannte man ihn deswegen und eine Fahrt mit ihm war für viele ein Wunschtraum. Man sah in der Eisenbahn schnell das Transportmittel, das vieles im Leben einfacher machen konnte.
„Da tat es schon ein kläglich Stöhnen. Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus. … ‚Kreuz Gottes!‘, rief mein Pate, da hängen ja ganze Häuser dran!‘ Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten, an das Lokomotiv wären ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die Reisenden sitzen konnten, so sahen wir nun einen ganzen Marktflecken mit vielen Fenstern heranrollen, und zu den Fenstern schauten lebendige Menschenköpfe heraus, und schrecklich schnell ging’s, und ein solches Brausen war, dass einem der Verstand still stand. Das bringt kein Herrgott mehr zum Stehen!, fiel’s mir noch ein. Da hub der Pate die beiden Hände empor und rief mit verzweifelter Stimme: ‚Jessas, jessas, jetzt fahren sie richtig ins Loch‘. Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in der Tiefe.“
Der in Krieglach auf der steirischen Seite der Rax lebende Peter Roseggerüber seine erste Begegnung als „Büberl“ mit einem „Dampfwagen“in seinem Buch Als ich noch Bergbauernbub war (1902)
Die Menschen gewöhnten sich letztendlich sehr schnell an das neue Fortbewegungsmittel und nützten es bald für ihre eigenen Bedürfnisse. Sogar Kaiser Franz Joseph fuhr oft und regelmäßig mit der Eisenbahn, obwohl er sich in die andere Erfindung der Zeit, das Automobil, nur ein einziges Mal setzte und fortan bis zu seinem Lebensende weiter der Kutsche den Vorzug gab. Die Eisenbahn rückte weiter entfernte Ziele näher und machte sie schneller, leichter erreichbar. Sie brachte die Großstädter in knapp zwei Stunden hinaus aufs Land, nach Gloggnitz und damit in die Alpen – eine Entfernung, für die eine Kutsche einen ganzen Tag benötigt hatte. Es funktionierte aber auch umgekehrt: Die Landbewohner kamen ebenso schnell in die Stadt, um ihre Produkte zu verkaufen, Geschäfte zu tätigen, Besorgungen zu machen und Luxusartikel, die man bisher auf dem Lande nicht gebraucht hatte, aber von den Sommerfrischlern nachgefragt wurden, zu importieren. Auch die Post reiste nun schneller mit dem Zug. Doderer erzählt etwa, wie das Postamt in der Prein zum Treffpunkt für Einheimische und Sommergäste wurde. Denn nicht nur Briefe expedierte man schneller, die Tageszeitungen bekamen gleichsam die Chance, am selben Tag noch mit dem Nachmittagszug einzutreffen und wurden schon sehnlichst erwartet.
In dieser verdichteten, schrumpfenden Entfernung verwischten sich manche Gegensätze, die ehedem Stadt und Land trennten. Edle Stoffe und städtische Kleidung hielten langsam auch Einzug auf dem Land, städtische Umgangsformen wurden