Sperenzien - Erich Reißig - E-Book

Sperenzien E-Book

Erich Reißig

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Beschreibung

Ein Entwicklungsroman? Vielleicht. Der Roman erzählt von einem Autor. Seinem Leben, seinen Stoffen. Den Siegen und Niederlagen. Von den Querschlägen der Politik. Dem seltsamen Zustand der Welt. Ein dunkles Buch? Wohl kaum. Der jähe Glanz des Lachens färbt graue Tage und verheißt einen neuen Morgen.

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Geschrieben 2016 - 2018

Das Buch ist ein Werk der Fiktion. Personen und Handlung sind erfunden. Ansichten und Aussagen zu politischen Zuständen, historischen Ereignissen und Personen der Öffentlichkeit sind den Charakteren des Buches zuzuschreiben. Es kann nicht Aufgabe des Autors sein diese zu zensieren, bildet die Literatur doch den einzigen Hort an dem Meinung frei geäußert werden kann.

Quellen von Zitaten anderer Autoren sind im Text angegeben.

Er geht nur noch selten hinab ins Tal zu der großen Stadt. In den letzten Jahren hat sie sich immer mehr ausbreitet und wird bald mit ihren Gebäuden, Straßen und Grünflächen die Ebene und die angrenzenden Hänge überwuchern. Die Landschaftsgärtner fällen die alten Bäume und ihre hellen Stümpfe ragen freudlos ins Frühjahrsgrau der Wege entlang des Stroms. Widerborstig wälzt er sich in seinem Bette. Bremer hat eine alte Gewohnheit wieder aufgenommen und steckt, wann immer er das Haus verlässt, ein Buch in der Tasche. Einem Freund hat er einmal gesagt, er suche und finde seine Wirklichkeit in Büchern. In Erzählungen, die er lese, und in jenen, die er selbst diesem Kosmos hinzufüge. Damals ein leicht hingeworfener Satz. Inzwischen ist es tatsächlich so. Allerdings hat sich sein Interesse immer deutlicher auf die Druckwerke der Vergangenheit verlagert. Jüngst hat er den Koloss von Sebastian Münsters Cosmologie von 1588 in einem Nachdruck erstanden und verbringt vergnügliche Stunden mit dieser Weltbeschreibung aus vergangener Zeit. In dem reich illustrierten Werk erregten die Stadtansichten und Landkarten seine erste Aufmerksamkeit. Damals fügten sich die Orte noch harmonisch in das sie umgebende Land. Und weil die Karten nicht nach Norden ausgerichtet waren, sondern je nach Gusto und Blickrichtung der Zeichner, erlaubten sie ein freieres Schweifen über die Gestalt der Regionen, als jene der Gegenwart. Es ist ihm aufgefallen, dass auch heutzutage nicht wenige Menschen die Karten in ihre Lauf- oder Fahrtrichtung drehen müssen, wenn sie sich unterwegs orientieren wollen. Das Umdenken in die Nordausrichtung fällt ihnen schwer und er vermutet, dass diese Fähigkeit bald gänzlich verloren gehen wird, sobald Navi und Smartphone herkömmliche Karten verdrängt haben werden. Die Nordausrichtung ist Ergebnis historisch kultureller Normierung, nachdem die Scheibengestalt der Erde ihrer Kugelform Platz machen musste. Allerdings verschwand die Scheibenvorstellung nicht gänzlich. Sie wurde in den Kosmos verschoben, dessen Unendlichkeit nur flächig denkbar ist, nicht aber räumlich.

Beim Blick aus seinem Arbeitszimmer existieren mehrere unterschiedliche innere Landkarten. Jene der Nähe, die außerhalb des Gesichtsfeldes endet, ihm die Felder zeigt, den Pappelweg am Hang, der hinter dem Horizont zur Kirche von Weihmichl führt, neben welcher er die Gastwirtschaft weiß, in deren Garten sie bei schönem Wetter zuweilen die Abende verbringen. Die andere weist in gänzlich andere Richtung, nämlich nach Norden zum baltischen Meer, wo Freunde leben, die sie bald wieder besuchen werden, wenn die Zeit dies erlaubt. Er sehnt sich dorthin. Weiß, dass er ausharren muss. Erst im nächsten Sommer werden sie sich auf den Weg machen können. Lange Tage und Wochen.

Auf den unterschiedlichen Karten dieses Erdenwinkels liest er in Münsters Weltbeschreibung zahlreiche Namen von Orten, die inzwischen an Bedeutung eingebüßt haben, und findet andere nicht, die seitdem wichtig geworden sind. Im Quellgebiet des Narew ist ein mächtiger sarmatischer See ausgewiesen, den er auch auf anderen Karten aus dieser Zeit findet, und in späteren nicht mehr lokalisieren kann. Er weiß, dass flussabwärts und weiter im Westen ein Stausee existiert, der große Teile der Ebene überschwemmt hat. Vielleicht erstreckte sich dort früher ein weitläufiges Sumpfgebiet, dessen Überbleibsel die Pripiatsümpfe im heutigen Weißrussland bilden. Bei seinen Besuchen in diesem geschundenen Land hat er den Direktor des Museums für Natur und Ökologie in Minsk kennengelernt. Der Sechzigjährige war ein paar Tage lang mit ihm herumgereist und hatte ihm vorgeschlagen, bei einem nächsten Aufenthalt eine Exkursion in das Sumpfgebiet zu organisieren. Er habe Anfragen von Time Life und auch anderen, aber die wolle er alle nicht einladen. Bei ihm würde er eine Ausnahme machen. Heimgekehrt bemühte er sich um einen Auftraggeber für dieses Unterfangen. Halbherzig freilich, denn er fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Zu gering schienen ihm seine Kenntnisse über Pflanzen und Tiere. Auch scheute er die Gefahren, denn nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl war das Gebiet stark verseucht worden. Dann änderte sich die politische Großwetterlage, Weißrussland kapselte sich ab und der Kontakt schlief ein. Was blieb, ist die Monografie über den Oberlauf der Memel, der er den Untertitel „Am Rande des Paradieses“ gab. Dieser wurde von seinem Redakteur gestrichen, weil er solchen Überschwang für nicht geboten erachtete. Und es blieb die Erinnerung an die Gespräche mit dem wunderbaren Mann, der ihn gelehrt hat Kummer und Sorgen, aber auch seine Freude, zu den Bäumen zu tragen und diese zu umarmen. „Sie geben dir ihre Kraft und nehmen die Schatten von dir.“ Es sei wichtig, dass Mensch und Natur in Einklang stünden. Heutzutage sei das kaum noch der Fall. „Wir spüren nicht mehr, wie die Sonne aufgeht. Mögen nicht daran erinnert werden, dass es Tag wird oder die Nacht kommt, weil wir daran gewöhnt sind. Doch wenn wir darüber nachdenken, warum die Sonne aufgeht, warum dieser Baum dort wächst und welche Art Kraut uns von Nutzen sein kann, erkennen wir, was tatsächlich wesentlich ist.“

Bremer blickt hinüber zur Straße. Der Wind steht heute schlecht und trägt die Motorengeräusche herüber zum Haus. Eine endlose Kette von Lkw bringt Güter hinab ins Tal. Zorn wallt in ihm auf, hat er doch gerade erst gelesen, das eine Bank beim Umbau ihrer Filiale in der historischen Häuserzeile der Altstadt von der Denkmalbehörde die Erlaubnis erhalten hat, ihr Gebäude mit einem hübschen Chromdach zu zieren, dessen Erstellung für das Bankhaus vermutlich preisgünstiger ist, als eine Dachkonstruktion, die sich harmonisch und stilecht in ihre Umgebung einfügt. Sie verschludern das Erbe aus altvorderer Zeit, als die Hausbesitzer gewiss nicht wohlhabender waren als heutige, und dennoch stolz und selbstbewusst ihren Gebäuden Schönheit gaben. Einfältig ist er nun einmal und beharrte wider besseres Wissen auf dieser Haltung zur Welt. Gebietet sie ihm doch, seinem Nächsten ohne Arg als Seinesgleichen gegenüber zu treten. Im Privaten gelingt dies durchaus, doch außerhalb dieser Sphäre herrschen andere Gesetze und Wesen, kaum noch Menschen zu nennen, und es widerstrebt ihm, sie als solche zu bezeichnen, die er achten und lieben kann, und von denen er von Kindheit an nur Gutes erfahren hat. Der Mensch ist gut. Ein Satz, den er immer noch bedingungslos unterschreiben will, auch wenn zahllose Beispiele ihn längst hätten vom Gegenteil überzeugen müssen.

Erst jüngst hat er sich zum ersten Mal länger mit seinem Nachbarn unterhalten, der die große Halle neben seinem Bücherlager bezogen hat. Der alte Malermeister hatte seine Werkstatt in der Stadt aufgeben müssen, weil er nach der Insolvenz eines zweiten großen Kunden, als letzter in der Kette der Gläubiger, selbst vor dem Bankrott stand und gerade noch sein kleines Vorstadthaus retten konnte, während das Grundstück mit dem Anbau von der Bank, bei der schon sein Vater Kunde gewesen war, wie er sagte, erbarmungslos einkassiert wurde. Hier oben habe er gemietet um halbwegs über die Runden zu kommen. „Mit über sechzig fang ich noch einmal fast von vorne an. Wenn das nicht eine glänzende Bilanz eines Handwerkerleben ist. Es war ja schon in den Neunzigern nicht mehr so einfach. Da fingen die größeren Firmen an jeden Auftrag wegzuschnappen. Was sie selber nicht ausführen konnten oder wollten, gaben sie an Subunternehmer weiter. Zu Dumpingpreisen, versteht sich. Den Rest hat der Branche das verfluchte Internet gegeben. Jeder glaubt heute sein Schnäppchen machen zu müssen. Geiz ist geil, wie das so heißt. Qualität und ordentliche Arbeit sind nicht mehr gefragt. Billig bis zum Gehtnichtmehr. Es ist bereits so weit, dass aus Hamburg einer herfährt und für 200 Euro ein Zimmer streicht. Das glaubst du nicht? Hab ich aber erlebt. Neulich habe ich für einen alten Kunden eine Dachgeschoßwohnung hergerichtet. Maisonette wie das neudeutsch heißt. Das ist auch so ein Fall. Der hat sein schönes Haus in der Altstadt verkauft und ist nach München gezogen. Die treibende Kraft mein ich war seine Frau. Die wollte schon immer in die große Welt. Er ist bodenständig, aber sie hat keine Ruhe gegeben. Wie auch immer. Auf jeden Fall haben wir das gemacht und bei der Abnahme hat er mich gefragt, ob ich nicht den Hausflur streichen will. Die Eigentümerversammlung habe das jüngst beschlossen. Ich bin in das Büro von der Hausverwaltung gefahren und da saß so ein junger Schnösel, der mich wie einen Bittsteller empfangen hat. Sie hätten schon Leute an der Hand und ob ich mir das zutrauen würde. Der Bursche war gerade mal von der Schule weggelaufen. Also ich sah sofort, dass ich da keine Chancen hatte und bin gegangen. Im Auto habe ich überlegt, was aus der Stadt werden soll, wenn solche Typen jetzt dort das Sagen haben, und kam zu dem Schluss, die besten Wege in München sind die, auf denen du die Stadt verlassen kannst. Aber das ändert sich überall. Leider, und da sind wir selber schuld, weil wir nicht aufgepasst haben, was da heranwächst. Hinterher hab ich erfahren, ein einziger Mann hat den Auftrag übernommen. Vier Stockwerke und hohe Decken. Das musst du dir erst einmal klar machen. Der ist sechs Wochen dort rumgekrochen und hat vor sich hingepinselt. Mehr kann das ja gar nicht sein. Verrückt ist das!“ Er hatte sich dermaßen in Rage geredet, dass Bremer um das Rad fürchtete, das er aus der Halle holte und auf seinen Transporter lud. „Ein schönes Rad haben Sie da. Ist das für Ihren Enkel?“ Der Malermeister hielt inne, grinste und sagte: „Das ist ein weiterer Meilenstein auf meinem Weg ins Elend. Nein, einen Enkel habe ich nicht.“ Als er ihn fragend anschaute, fuhr er fort: „Das ist recht einfach zu erklären. Wenn es um eine Vertragsverlängerung geht, dann setzt du dich mit dem Kunden zusammen. Das war immer so. Aber früher hat man sich im Wirtshaus getroffen, hat ein paar Halbe getrunken, einen guten Presssack gegessen und dann war die Sache erledigt. Heute wirst du ins Büro bestellt und hörst dir an, wie schwierig alles geworden ist. Die Kosten steigen, die Einnahmen werden geringer, die Banken immer unverschämter und du musst deinem Buben das neueste Smartphone kaufen, weil alle eins haben und er ohne das nicht mehr leben kann. „Auf das starrt er nun vierundzwanzig Stunden lang. Was will er dann mit dem BMX-Rad? Das frage ich Sie. Kostet nur ein Heidengeld!“ Also gehst du her und besorgst deinem Kunden das Rad und kannst eine Zeit lang weitermachen. Das ist so. Er hat auch kein schlechtes Gewissen dabei, weil er hat dir ja nicht gesagt, du musst das kaufen.“ Er verriegelte die Tür und ging zum Führerhaus: „Seien Sie froh, dass Sie mit dem allem nichts zu tun haben. Sie sitzen über Ihren Büchern und die Frau bringt das Geld ins Haus.“ Damit stieg er ein und fuhr vom Hof.

Die Worte des Malermeisters nagten lange an ihm. Der beurteilte die Welt nach dem Augenschein. Wusste nicht, wovon er redete. Es war keine leichte Entscheidung gewesen. Tatsächlich hatte er anfangs gehofft, mit dem Aufkommen der kommerziellen Fernsehsender komme Bewegung in den trögen Zustand der Öffentlich-Rechtlichen Sender. Bewegung kam, doch anders, als er es sich vorgestellt hatte. Anstatt sich auf die erworbenen Fähigkeiten zu besinnen und sie auszubauen, begannen die Häuser ihr Niveau zu senken. Zwar gingen sie nicht so weit wie RTL, das mit Softpornos innerhalb kürzester Zeit europaweit zum bekanntesten deutschen Sender aufgestiegen war und diese Position später im prüderen Zeitgeistgebaren der Gegenwart mit der Hardcorevariante von nachmittäglichen Familienselbstentblößungen und nächtlichen Dschungelcampabenteuern erfolgreich und ohne Schamgefühlt verteidigte, doch ohne Selbstsicherheit und Vertrauen auf die eigene Stärke glaubten sie verlorenes Terrain zurück zu gewinnen, wenn sie ihr Angebot jenem der Privatsender anglichen. Der Bildungsauftrag, den die Gründerväter den öffentlichen Medien ins Stammbuch geschrieben hatten und der schon länger als schulmeisterhaft belächelt worden war, wurde durch Infotainment ersetzt. Als frischgebackener Redakteur hatte er Anfang der neunziger Jahre miterlebt, wie die Kultursendungen und die Dokumentarfilme in den meisten Häusern zurückgefahren wurden und auch in seinem beschnitten werden sollten. Das konnte zunächst verhindert werden, weil sich der bis dahin eher unscheinbare Abteilungsleiter, unterstützt von ein paar älteren Kollegen, vehement dagegenstemmte. Es wurden sogar neue Sendeplätze in anderen Dritten Programmen erobert, und das Lob der Zuseher wehte der Westwind bis in die litauische Hauptstadt. Denn als er einmal mit seinem Team in den Gassen von Vilnius drehte, begegnete ihnen eine Urlauberschar aus Norddeutschland, die, kaum hatten sie erkannt, von welchem Sender sie kamen, von den tollen Filmen schwärmten, die sie alle begeistert anschauten. Allerdings währten Ruhm und Hochgefühl nicht lange. In den anderen Abteilungen des Hauses arbeitete man mit Sendeplatzgerangel und Etatkürzungen zäh und verbissen daran alles wieder ins Lot zu bringen. Ausreißer liebte man nicht. Stellten sie doch die eigenen Bemühungen in schlechtes Licht.

Als schließlich der Abteilungsleiter in Pension ging, erhielt eine junge Frau diesen Posten, die nicht viel mehr an Qualifikation aufweisen konnte, als die Tochter eines einflussreichen Politikers zu sein. An sich nichts Ungewöhnliches. Seit Jahrzehnten kümmerten sich Parteien und Verbände überall, wo es ihnen möglich war, um gutbezahlte Stellen für verdienstvolle Mitarbeiter oder Verwandte. Die Praxis brachte nicht bloß Meinungsvielfalt in die Redaktionsstuben, sie schuf auch Zukunftsstabilität. War ein Bekenntnis zum Öffentlich Rechtlichen Rundfunk. Wer stellt schon etwas in Frage oder schafft es ab, das der eigenen Klientel nutzt? Es soll auch vorgekommen sein, dass der oder die, kamen sie in jungen Jahren in eine einflussreiche Position, dem Betrieb im Laufe der Zeit durchaus neues Leben einhauchen konnten. Bremer neigte dazu, ihr eine Chance zu geben, war er doch selber jung. Er fand es höchst erheiternd, als ein Redaktionskollege, von dem er wusste, dass er auf der Gewerkschaftsschiene zu seiner Anstellung gekommen war, empört in sein Büro stürzte und herumtönte, man also sie müssten etwas gegen diese offensichtliche und schamlose Vetternwirtschaft unternehmen. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Blauer Himmel. Die Sonne schien. Das Fenster stand halb offen und das Eichhörnchen, für das er auf der Fensterbank eine Futterstelle mit Nüssen eingerichtet hatte, hob ruckartig den Kopf, erschrak und sprang auf einen nahen Ast. Kletterte behänd den Stamm hinauf. Verschwand im Grün. „Sie haben Otto vertrieben!“ Der Ankömmling stutzte, schaute verwirrt zum Fenster hin, sah aber nichts. Wie auch? Otto war ein Eichhörnchen. Kein rosa Elefant. Der wäre vielleicht hocken geblieben. Als er Bremers Lachen hörte, brauste er auf: „Das ist nicht lustig und auch nicht zum Lachen. Das ist ein Skandal, gegen den wir uns wehren werden, sonst geht alles den Bach runter.“ Bremer zeigt auf den ersten Band von Deschners Kriminalgeschichte des Christentums, in dem er gerade gelesen hatte, und sagte: „Sehen Sie Herr Kollege, unser Haus hat gerade mal fünfzig Jahre auf dem Buckel. Die Kirche hat zweitausend Jahre voller Skandale überdauert und besteht noch immer.“ Und weil und während ihn der andere weiterhin aufgebracht anstarrte, fuhr er fort: „Oder wenn Ihnen das mehr liegt: „Die Hund kläffen und die Karawane zieht weiter. Das hat, meine ich, Lenin gesagt.“ Das saß. War aber zu arg. Der Kollege drehte sich um und verließ grußlos den Raum. Bremer ärgerte sich, weil ihm wieder einmal die Gäule durchgegangen waren. Er sollte ihm hinterherlaufen, ihn rasch wieder versöhnen, schließlich mussten sie zusammenhalten. Eigentlich war er kein übler Bursche. Nur etwas betriebsblind und humorlos auch.

Doch die junge Frau nutzte ihre Möglichkeiten nicht. Ließ sich in der Schlangengrube rasch den Schneid abkaufen. Sie verwaltete nur ihr schrumpfendes Reich, anstatt es aktiv zu gestalten. Der Niedergang nahm seinen Lauf. Die Pensionierung des Leiters der Featureredaktion und die Ungewissheit, weil die Stelle lange nicht neu besetzt wurde, bewirkten ein Übriges.

Die Deutschen waren inzwischen Papst geworden, wie eine beliebte Zeitung schrieb, die Bremer noch immer als Revolverblatt bezeichnete, auch wenn sie inzwischen zur Morgenlektüre fast aller Redakteure gehörte, und ein erster Besuch kündigte sich an. Über die Stationen seines Aufenthaltes sollten vier Dokumentarfilme gedreht werden. Die Aufgabe wurde Bremer übertragen, der kommissarischer Redaktionsleiter geworden war. Allerdings durfte er nur das Geld dafür bereitstellen, denn die Filme wurden von einer kircheneigenen Produktionsgesellschaft hergestellt, die auch die Federführung übernahm. Er hatte wenig zu tun. Andere Produktionen waren zurück gestellt, weil es kein Geld für sie gab, und freie Mitarbeiter wurden gekündigt. Sie konnten, wenn sie keine andere Redaktion fanden und lange genug für den Sender gearbeitet hatten, Ausgleichszahlungen beantragen, was die meisten, obgleich er sie ermunterte, nicht unternahmen Sie befürchteten mit diesem Makel behaftet zukünftig erst recht keine Aufträge mehr zu bekommen. So verbrachte er seine Zeit damit, verzweifelte Leute auf die Zukunft zu vertrösten, wobei er ahnte, dass diese keine Besserung bringen würde. Die Hauptabteilung regte Fortbildungsseminare an. Einmal kreuzte ein junger Mann auf, der eine Zeitlang in Hollywood gelebt hatte. Dieser, obgleich er offensichtlich nie selber einen Film gedreht hatte, belehrte die versammelten Filmemacher, die meisten waren brav erschienen, wie ihre Produktionen verbessert werden könnten. Eine höchst makabre Veranstaltung angesichts dessen, dass die Hälfte von ihnen Probleme hatte überhaupt einen Auftrag zu ergattern. Auch ein Schnittseminar wurde angeboten. Das zu besuchen schenkte er sich, denn der Referent war ein Studienkollege, mit dem er in seiner eigenen Zeit als freier Filmemacher bei einem anderen Sender öfters zusammengetroffen war, als dieser sich noch an eigenen Filmen versuchte. Damals hatte er von seinem Cutter geschwärmt. Ein Genie sollte der sein. Als Bremer mit jenem Mann schnitt, kam es gleich am ersten Tag zu einem heftigen Krach, weil der junge Mann sich als verhinderter Filmemacher verstand, partout seinen eigenen Film schneiden und Bremers Vorstellungen ignorieren wollte. Nach seiner mechanischen Auffassung vom Schnitt mit tausend Gesetzen was möglich war oder nicht, unterwarf er das Drehmaterial irgendwelchen Regeln und war nicht bereit, sich vom Inhalt der Bilder die Geschichte erzählen zu lassen. Bremers Können war zwar damals noch bescheiden, doch stemmte er sich vehement gegen dieses Ansinnen. Erst später konnte er die drei Phasen beim Entstehen eines Films formulieren. Ein erster entstand bei der Recherche und dem sich daraus entwickelten Exposé. Der Dreh ließ mit seinen Unwägbarkeiten der Orte, des Wetters, des Lichts und der Ereignisse einen zweiten, veränderten Film entstehen. Und schließlich erzählte das Material die endgültige Geschichte. Diese galt es zu entdecken sollte die Arbeit gelingen. Natürlich war handwerkliches Können unerlässlich, doch hatte es sich der Kreativität unterzuordnen. Dem Lauschen in die Stille, wie er es zuweilen pathetisch formulierte. Dieses Talent war dem Cutter nicht gegeben. Der gemeinsame Schnitt wuchs zu einem törichten Hahnenkampf aus, bis Bremer seinen Willen durchgesetzt hatte. Nach zwei Wochen hob der Cutter den Blick vom Schirm und sagte beifallsheischend: „Ist doch ein guter Film geworden.“ Bremer verkniff sich die Antwort. Später hörte er, der Kollege habe seine Meinung über diesen Schnittmeister revidiert. Anschließend mutierte er offensichtlich selbst zum Experten in diesem Metier und tourte fortan durch die Sender und belehrte seine Zuhörer wie Filme zu schneiden seien. Vielleicht hatte er dazugelernt und inzwischen etwas begriffen. Bremer glaubte nicht daran und unternahm stattdessen eine dreitägige Dienstreise nach Tschechien, wo er ein Team bei Dreharbeiten für einen Film über die Moldau besuchte. Es war eine der letzten Produktionen, die von der Redaktion im Ausland durchgeführt werden konnte, nachdem der Fernsehdirektor verfügt hatte, zukünftig dürfe aus Kostengründen und Heimatverbundenheit nur noch in Bayern und im angrenzenden deutschsprachigen Raum gearbeitet werden. Seltsamerweise war das Projekt dennoch genehmigt worden, doch hatte ein Experte in der Fernsehdirektion, vielleicht auch der Direktor selber, herausgefunden, die Moldau fließe durch Tschechien. Das lag nicht in Bayern und war folglich nicht erlaubt, weil zu teuer. Die Freigabe verzögerte sich und Bremer, der Rangelei überdrüssig, engagierte kurzentschlossen ein tschechisches Team, das kostengünstiger war als eines vom Haus, und schickte den Autor los. Eigentlich hatte er das Redakteursprivileg zu Dreharbeiten zu fahren bisher nicht in Anspruch genommen. Er war der Meinung seinen Leuten vertrauen zu können und sollen. Zudem wusste er, keiner schätzte diese Art der Beaufsichtigung. Im Gegenteil! Inzwischen aber und weil er die Tage im Büro kaum noch ertragen konnte, sah er in der Reise eine willkommene Gelegenheit der Öde zu entfliehen, und nach einem kurzen Besuch beim Team ein oder zwei Tage Urlaub zu machen. Er genoss die Zeit im Hotel am Moldaustausee bei herrlichem Wetter und unglaublichem Vogelgesang, wenn frühmorgens die Sonne aufging. Wie er hörte war dieser auch dem Tonmeister aufgefallen, so dass er beim ersten Tageslicht aufgestanden war um das Konzert aufzunehmen. Ein guter Mann!

Zurück in der Redaktion besuchte ihn eine Filmemacherin, die mit ihren beliebten Sendungen von den Einsparungen weniger betroffen war und am Schnittseminar teilgenommen hatte. Ihr Fazit lakonisch und kurz: „Nichts Neues im Westen. Zwei oder drei Aspekte, die ich mal ausprobieren werde. Aber Sie kennen ja mein Erfolgsrezept: in jeden Film ein paar Tiere einbauen, das lieben die Zuseher und bringt Quote. Wie Sie wissen, hat sich das Ökomagazin inzwischen einen eigenen Hund zugelegt, der während der Sendung im Studio herumliegt, mit den Ohren wackelt, seine braunen Augen aufschlägt, ausgiebig gähnt und sich mit der Pfote über die Nase fährt. Den Tieren gehört die Zukunft beim Fernsehen.“ Damit rauschte sie zur Tür hinaus und Bremer schaute zum Fenster hin. Otto war heute noch nicht aufgetaucht. Höchst ungewöhnlich! Aber vielleicht fand er ausreichend Futter in der freien Natur. Er überlegte, wann er zum letzten Mal auf einen Baum geklettert war. Lange her. Umarmt hatte er auch keinen mehr seit er in Weißrussland gewesen war. So großen Kummer trug er nicht mit sich herum, dass ihm dies notwendig schien.

Ein dreiviertel Jahr verging, bis ein neuer Redaktionsleiter bestimmt wurde. Bremer hatte sich auch beworben, wusste aber, dass er kaum berücksichtigt würde. Man hatte sich für eine Redakteurin eines anderen Senders entschieden, die dort eine höchst erfolgreiche Kochsendung entwickelt hatte. Nach dem Abgang ihres beliebten Moderators veränderte ein jüngerer Nachfolger das gemütliche Kochen mit diversen Berühmtheiten zur Küchenschlacht weiter, was ihr nicht recht behagte, so dass sie sich nach neuen Herausforderungen umsah. Sie schien recht umgänglich zu sein, und weil im Haus schon zwei Starköche kochten, war nicht zu befürchten, sie greife gleichfalls zum Kochlöffel. Allerdings hielt sie sich in den ersten Vorgesprächen zu den Planungen des nächsten Jahres ziemlich bedeckt. Als der Herbst kam und die Gespräche in ein konkretes Stadium münden sollten, lag eines Morgens ein Strategiepapier in seinem Postfach. Es las die Blätter, schaute hin und wieder zu Otto, der heute Vorräte in sein Winterversteck schaffte. „Das kann doch nicht wahr sein?“ Er wollte seinen Redaktionskollegen anrufen. Legte wieder auf. Der war in Südtirol wie jedes Jahr und probierte den neuen Wein. Er stand auf, lief ins Vorzimmer und erfuhr von der Sekretärin, die Redaktionsleiterin sei noch nicht im Hause. „So haben Sie es also gelesen?“ Erbost schaute er zu der Sekretärin, die sich vom Computer weg und ihm zugedreht hatte. „Wieso kennen Sie den Text? Lesen sie meine Post?“ Kaum waren ihm die Worte herausgerutscht, schon bereute er sie. Doch Frau Feicht, seit Urzeiten in der Redaktion, mit der er eigentlich gut auskam, war nicht eingeschnappt, sondern sagte leichthin: „Ich verfüge über bessere Quellen. Das sollten sie inzwischen erkannt haben. Die Tina Böck hat mir schon längst davon erzählt, was da im Busch ist. Die hat ja den Text abgetippt..“ „Und Sie konnten mich nicht unterrichten, warnen meine ich?“ „Wo denken Sie hin? Die Sache war unter Verschluss. Da wäre sofort der Verdacht auf uns gefallen. Ich weiß wie das Spiel gespielt wird hier im Haus. Und Sie auch. Tut mir leid. Außerdem wären Sie doch gleich in die Luft gegangen, und wir hätten alles ausbaden können.“ Er betrachtete sie nachdenklich. Sie wich seinem Blick nicht aus. Sie hatte Recht. Er wäre in die Luft gegangen. Stand auch jetzt kurz davor. „Also haben die oben heimlich etwas ausgeheckt, das alle Planungen über den Haufen wirft, und uns als Narren dastehen lässt?“ „Da waren viele beteiligt und der Fernsehdirektor hat selbstverständlich sein Placet gegeben.“ Er verkniff sich die Antwort, ging in sein Büro zurück, setzte sich. Otto war nicht zu sehen, während er das Papier noch einmal las. Sie hatten nichts vergessen. Im Frühjahr sollte die neue Serie auf Sendung gehen. Montags und Donnerstags jeweils eine halbe Stunde lang würden Geschichten aus dem Tierpark in die Wohnzimmer flimmern. Und das zunächst bis zur Sommerpause, dann sollte ausgewertet werden und entschieden, wie etwas verbessert und verändert werden konnte. Im Mittelpunkt würden Tiere stehen. Ihr Alltag im Zoo. Die Arbeit der Tierpfleger. Affenhaus, Greifvogelvolieren und der Elefanten- und Giraffenbau waren als erste Drehorte vorgesehen. Durch laufende Berichterstattung sollten beim Zuseher Nähe und Sympathie erzeugt werden. Davon versprachen sich die Initiatoren hohe Einschaltquoten. Ein Moderator würde die Episoden verbinden. Eine geeignete Person war schon ins Auge gefasst worden. Der Name fehlte. Finanziert werden sollte das Projekt vom Redaktionsetat. Die Fernseh-direktion wollte den ein wenig aufstocken. Sie kalkulierten erheblich geringe Kosten für die Halbstundensendungen, als für einen herkömmlichen Film, doch ihre Anzahl würde steigen und damit auch die Aufwendungen.

Bremer legte die Papiere auf den Schreibtisch. Das bedeutete eine komplette Umstrukturierung der Abteilung und das Aus für die Dokumentarfilmreihen. Er schaute zum Fenster. Überflog die Kalkulation noch einmal. Sechs Filme sollten neben der Zooreihe noch produziert werden. Sechs! Mehr als zwanzig Filme waren früher jährlich entstanden. Absehbar, dass auch diese Sechs bald gestrichen würden. Da hatte er monatelang bei den Autoren Vorschläge eingesammelt und mit ihnen geredet. Alles für die Katz! Hinter verschlossenen Türen war beraten und entschieden worden. Wenn das der neue Führungsstil war, dann vielen Dank. Friss Vogel oder stirb! Vielleicht sollte er dies als Reihentitel vorschlagen. Am meisten ärgerte ihn, dass auch die Feichtin dicht gehalten hatte. Wie das Spiel gespielt wird. Tatsächlich, so wurde es gespielt und nicht so, wie er es sich mit seiner naiven Weltsicht vorstellte! Er beschloss ins Casino zu gehen. Hier würde er heute sowieso nichts mehr zustande bringen. Wozu auch?

Im Casino herrschte die Ruhe vor dem Sturm. Um halb zwölf mit Beginn der Essenausgabe, brach der erst los. Er holte sich Wiener, nahm eine Semmel und eine Flasche Apfelsaft. Lediglich der Kameratisch war dicht besetzt. Dort warteten die Kollegen der aktuellen Berichterstattung auf ihren Einsatz. In den Redaktionen wurden frühmorgens erst einmal die Zeitungen aufgeschlagen um herauszufinden, was am Tag Berichtens wert sein könnte. Zudem galt es die Parteizentrale anzurufen, damit abgesprochen werden konnte, was anlag und selbstverständlich ins Programm gehörte. Er ging zu seinem Platz am Fenstereck und begann seine Würstchen zu essen. Seit der neue Pächter hier regierte, waren Wiener zu seinem Lieblingsgericht avanciert. Wenn Renate nicht kochen würde, wäre er längst verhungert. Sie hatte für den Abend Spareribs und ihren wunderbaren Kartoffelsalat vorbereitet. Leider fand sie nicht mehr so viel Zeit für ihre Zauberkünste nachdem die Kinder aus dem Haus waren und ihre Arbeit immer breiteren Raum einnahm. „Lost in law“, hatte sie das einmal genannt.

Huber, der Leiter der Heimatredaktion setzte sich an seinen Tisch. „Na haben Sie unseren neuen Grzimek schon begrüßt?“ „Wie? Was? Wer?“ Bremer schaute ihn fragend an. „Ja sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, dass der Boldt die Moderation eurer Zooreihe übernehmen soll?“ Er zeigte zu einem Tisch an der Glasfront des Wintergartens. Dort saß der Genannte ins Gespräch mit Isabella von Winterstein vertieft. Diese war selten im Haus. Wohnte in London oder Stockholm und brachte den Fernsehzuschauern Residenzen und Leben des europäischen Hochadels nahe. Vielleicht stand wieder eine Hochzeit oder die Geburt eines Thronfolgers an. Die beiden steckten die Köpfe zusammen. Es wirkte, als wären sie in Liebe entbrannt, oder Boldt betrachtete das Tiergehege bloß als Zwischenstation auf seinem Weg zu den Jagdabenteuern im fürstlichen Wald. „Mir sagt ja keiner was.“ Huber nahm einen Schluck von seinem Wein. „Ich dachte immer Sie wüssten, wie im Haus der Hase läuft.“ „Will ich nicht wissen.“ „Das ist aber höchst fahrlässig, Herr Kollege!“ Er hatte ja gut reden. Als ihm die Mittel für seine Dokumentarfilme zusammengestrichen wurden, weil die Sendeplätze im Vorabendprogramm des Ersten wegfielen und auch der Sonntagabend im Dritten zur Disposition stand, hatte er sich am Schopf gepackt, selbst aus dem Sumpf gezogen und kurzerhand den Programmschwerpunkt aufs Bauertheater verlegt. Damit füllte er nun die drei Stunden Sendezeit und konnte auch weiterhin Filme produzieren, denn die meisten Stücke dauerten nur rund zwei Stunden. Bremer beendete sein Mahl, linste noch einmal zum Tisch der Fernsehstars und trank seinen Apfelsaft. Sein Gegenüber hob sein Weinglas, prostete ihm zu: „Nun lassen Sie mal den Kopf nicht hängen. Nichts ist für die Ewigkeit.“ „Ich lasse den Kopf nicht hängen. Ich bin wütend“, antwortete er barsch, nahm sein Tablett und verließ grußlos den Tisch.

Das Büro leer. Die Feichtin vermutlich auch im Mittag. Die Tür zum Chefzimmer war angelehnt. Er konnte hineingehen und alles kurz und klein schlagen. Ich muss mich zusammen nehmen. Was war eigentlich geschehen? Nichts! Er hatte als einer der Letzten einen unbefristeten Vertrag erhalten. Seitdem gab es nur noch Zeitverträge, die freilich in der Regel verlängert wurden. Er konnte beruhigt bis zur Rente hier sitzen bleiben. Es war still im Raum. Kein Telefon. Keine Besucher. Er setzte sich an den Schreibtisch. Starrte auf den toten Bildschirm, hinter dem sich die ganze Welt verbarg. Lange schon hatte er durchgesetzt, dass die Autoren ihm ihre Texte per Mail schickten. Seine Autoren. In diesem Jahr hatte er auf einen eigenen Film, den er sich vertraglich ausbedungen hatte, verzichtet, damit er nicht noch einen weiteren Filmemacher in die Wüste schicken musste. Er zog die Schreibtischschublade auf, in der er Notizen für künftige Projekte verwahrte. Zuoberst lag sein Lieblingsstoff: „Im Land der schönsten aller schöner Feen.“ Wenn er den jetzt anbot, würden ihn die regierenden Damen für verrückt erklären. Sei’s drum! Schon immer hatten ihn Wolken fasziniert. Ein Sommertag mit endlos blauem Himmel mochte schön sein, wenn man faul am Strand lag, doch erst die Wolken gaben der Landschaft Charakter. Einmal während einer herbstlichen Bergwanderung, als er mit Renate entspannt und glücklich abseits der Stecke im Gras lag und die Wolken betrachtete, die sie mahnten sich talwärts auf den Weg zu machen, kam ihm der Einfall zu einem Film nur über Wolken. Nicht über Wolken an sich, sondern über ihre Landschaften, die sie formten, wieder verbargen und neu entstehen ließen. Er erzählte ihr davon und sie fragte, wie ihm gelingen sollte, da eine Spannung aufzubauen. Auch wenn er ganz tolle und unterschiedliche Bilder fände, so würde der Betrachter gewiss bald das Interesse verlieren. „Naja, man könnte mit Musik arbeiten. Erinnerst du dich an den wunderbaren Film von Werner Herzog über die Sahara?“ „Das ist lange her. Gibt’s den eigentlich noch?“ „Der ist aus der Welt gefallen. Die bestechenden Produktionen des neuen deutschen Kinos haben seine Filme verdrängt. Er lebt seit Jahren in Amerika, arbeitet unermüdlich und dort auch erfolgreich, aber hier wird von ihm kaum etwas gezeigt. Weder im Kino, geschweige im Fernsehen. Nein, Musik ist zu wenig. Da braucht es eine andere Idee.“ Sie richtete sich auf: „Die wirst du jetzt nicht finden, und wenn wir nicht bald aufbrechen, leuchtet uns die Gewitterfee heim.“ „Das ist es!“ Er umarmte sie stürmisch: „Ich werde vom Feenreich erzählen, das in den Wolken liegt. Ich wusste, warum ich dich geheiratet habe.“ „Du mich? Ich dich!“ antwortete sie und machte sich lachend frei.

Den gesamten Nachmittag beschäftigte er sich mit den Notizen. Ab und an hörte er und sah auf dem Display der Telefonanlage die Feichtin telefonieren. Die Bürotür war geschlossen. Auch eine Neuerung! Die Chefin wollte, Besucher sollten im Vorzimmer bleiben. Überhaupt verlangte sie, dass die Autoren und andere nur nach Terminfestlegung kamen und nicht einfach hereinplatzten. Eine völlig unsinnige Maßnahme wie er fand. Er umging sie. Sagte der Feichtin, sie solle ihm mitteilen, wenn jemand unangemeldet erscheine, und ging mit dem oder der Betreffenden vors Haus oder ins Casino. Dafür hatte er sich eigens ein rotes Notizbuch angeschafft, falls es etwas zu notieren galt.

In der Hauptabteilung hatte man sich auch etwas einfallen lassen. Dort wurden alle einmal in der Woche am Donnerstag zu einen After-Work-Party eingeladen um das Miteinander zu pflegen und zu fördern. Erscheinen war Pflicht. Er erzählte Renate davon. Sie meinte in vielen Firmen und Bürogemeinschaften sei dies inzwischen gang und gäbe und so neu sei das eigentlich gar nicht, die Arbeiter seien früher nach der Schicht auch ins nächste Wirtshaus gegangen. Noch früher, als der Freitag noch Zahltag war, seien manche so lange dort geblieben, bis vom Geld kaum noch etwas übrig war.“ „Du meinst auch die Heutigen haben so etwas wie Traditionsbewusstsein?“ „Durchaus und manchmal lernen sie aus der Geschichte.“ Er schaute sie erstaunt an: „Tatsächlich? Das ist mir neu.“ Sie lachte: „Überleg mal, wenn die Göttergatten dann heimkehrten und ihren Rausch ausschliefen, konnten die kreuzbraven Ehefrauen ihre Taschen nach irgendwelchen verbliebenen Groschen durchforsten und diese zu Krämer und Fleischer tragen, damit alte Schulden getilgt und neue angeschrieben werden konnten. Diese tief verwurzelten Erfahrungen und Verhaltensmuster machen sich heute Banken und Geschäfte zu Nutze, wenn sie immer höhere Überziehungskredite einräumen und tolle Ratenzahlungen anbieten. Wie früher Brot und Milch werden nun Fernseher, Autos und Häuser auf Kredit gekauft. Das nennt man Fortschritt.“ „Und du und deine Kollegen in der Kanzlei, ihr profitiert davon, wenn die Schulden überhand nehmen.“ Sie nickte: „Es hat aber auch Vorteile für die Allgemeingesellschaft.“ „Ein schönes Wort. Ich ahnte immer, dass an oder in der Gesellschaft etwas gemein ist.“ „Du darfst das nicht so eng sehen. Sieh mal, Schulden verhindern, dass es zu Revolten oder Umstürzen kommt. So absurd es klingt: der Tagelöhner früher war freier als der heutige Konsument. Er hatte nichts zu verlieren, es sei denn sein Leben, wie es in den vielen Revolutionsliedern heißt. Heutzutage liegen alle in den Banden ihrer Verpflichtungen und ihres vermeintlichen Besitzes und niemand traut sich zu rebellieren, weil jeder sich einreden ließ, nur er allein sei seines Glückes Schmied. Also ist es gut und weise, dass bei dir im Büro die Türen geschlossen sind. So bleibt das Unheil draußen vor der Tür.“ Er musste schmunzeln. Er liebte diese Frau mit ihrem gelassenen Humor und dem schönen Leib, von dem er nicht lassen konnte.

Otto hockte vor dem Fenster. Er hielt eine Haselnuss in seinen Vorderpfoten. Vielleicht sollte er der Chefin vorschlagen ihn in ihre Zoosendung einzubauen.

Bevor er in sein Arbeitslager hinübergeht, schaltet er noch rasch das Notebook ein. Drüben der I-Mac hat keine Verbindung zum Internet. Jeder nur halbwegs Versierte kann auf alle Daten zugreifen, sobald man online ist. Das musste nicht sein. Beim Durchblättern der Nachrichten liest er einen offenen Brief der prorussischen Separatisten in der Ostukraine an die Bundeskanzlerin und den französischen Staatspräsidenten, in dem sie ein Ende der Finanzblockade durch die Kiewer Regierung fordern. Kiew hat vor einem halben Jahr sämtliche Rentenzahlungen und Sozialleistungen an die Menschen in der Ostukraine eingestellt. Er erinnert sich darüber eine kurze Notiz im Internet gelesen und sich gewundert zu haben, dass diese Ungeheuerlichkeit in den offiziellen Medien, Zeitungen, Fernsehen und Radio, keine Beachtung fand. Eine Million Menschen wurde von den im Westen gepriesenen Machthabern in Geiselhaft genommen und der freien Presse war dies keine Meldung wert. Schon zu Beginn des Konflikts rannten westliche und, wie er feststellen musste, oft weibliche Berichterstatter mit feuchtglänzenden Augen den faschistischen Einheiten hinterher und schwärmten von ihrem heldenhaften Kampf gegen die von Russland unterstützten Rebellen. Nach Protesten gegen die einseitige Darstellung und einer Rüge des Fernsehrates, reagierten die Sender höchst beleidigt und korrigierten ihre Berichte fortan leicht. Doch blieb die Parteinahme.

Bremer vermutet bei der Berichterstattung aus den Krisenregionen der Welt allerdings auch strukturelle Probleme. Offensichtlich glauben manche Heimatredaktionen die Lage besser beurteilen zu können, als ihre Korrespondenten vor Ort, und erwarten Berichte, die ihren Vorstellungen entsprechen. Ein langjähriger Reporter, der Bevormundung wohl überdrüssig, quittierte nicht nur seine Arbeit im Irak, sondern ließ, heimgekehrt, auch das Vaterland im Stich und suchte in der Schweiz Unterschlupf.

Inzwischen wird offiziell von einem neuen Kalten Krieg gefaselt und, so muss Bremer vermuten, bedauert, dass noch kein heißer gelingt. Für ihn fand die europäische Zeitenwende nicht beim Zerfall des Ostblocks statt sondern beim Tabubruch des ersten Jugoslawienkrieges. Krieg wurde in Europa wieder hoffähig. Seitdem ist militärische Gewalt wie ehedem akzeptiertes Mittel der Politik. Beinahe folgerichtig eskaliert auch der Terror extremistischer Gruppen.