Unter den Plejaden - Erich Reißig - E-Book

Unter den Plejaden E-Book

Erich Reißig

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Beschreibung

Der Roman erzählt von einer Reise in ein fremdes Land. Eine Reise zu sich selbst, denn wo immer du auch hinfährst, du bleibst immer bei dir selbst

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Handlung und Personen sind frei erfunden.

Tippfehler und andere gehen zu Lasten des Autors.

Ansichten und Aussagen zu politischen Zuständen, historischen Ereignissen und zu Personen sind den Charakteren des Buches zuzuschreiben. Es kann nicht Aufgabe des Autors sein, hier zensierend einzuschreiten, bildet die Literatur doch den einzigen Hort, an dem Meinung frei geäußert werden kann.

Am Fenster zischten Lichter vorbei, rabenschwarze Dunkelheit. Nacht stürzte über Wald, Feld, Straße und Schienenstrang. Räder jagten über Eisen hinweg, gepackt von der Kraft der Motoren. Er versuchte zu schlafen, was nicht gelang. Warum auch? Eine andere Stadt. Ein anderes Land. Leute. Menschen. Häuser. Bäche, die zu Tale rannen. Fort aus der Einfalt dieser Tage, an denen er keine Zeitung mehr aufschlagen konnte ohne an den Texten zu verzweifeln. Die neue Rechtschreibung in einem Land, in dem zwei Drittel der Bewohner Analphabeten waren und es bleiben wollten, denen es doch egal sein konnte, wie Worte geschrieben wurden. Kaum einer konnte zwei Sätze, geschweige zwei Gedanken miteinander verbinden. Eine Dose Bier aus der Reisetasche fischen. Immer die Furcht, dass er sich mit dem Verschluss die Haut aufschlitzen könnte. Acht Stunden noch. Acht Stunden sind ein Tag. Eine Nacht. Für ein halbes Jahr besaß er Geld, länger vielleicht, wenn er riskierte, dass sie ihm das Konto sperrten. Die Angst, was passieren würde, wenn er die Schulden nicht bezahlen konnte. Nur Tagelöhner lebten frei in den Tag hinein. Früher. Heute gab es keine Tagelöhner mehr, Hartz IV-Empfänger hießen die Menschen, die vom Brosamen des Sozialstaates lebten. Ob dieser, der dem seinen Namen gab, gut schlafen konnte? Wahrscheinlich. Was schert mich die Welt? Und jene, denen dies widerfuhr, gaben sich die Kante. Stolz, wenn sie eine Nacht schafften und noch einen Tag. Was hatte er gelernt? Nichts, was er in der Fremde würde brauchen können. Kaum einen Führerschein nannte er sein Eigen. Sein Eigen. Muskeln. Kraft. Als er einmal mit Escher auf ein Gerüst steigen sollte, schwindelte ihm nach den ersten fünf Sprossen. Gärtner. Straßenkehrer. Taxichauffeur. Die Unzulänglichkeit tragen wie ein hübsches Kleid. Ich kann tanzen wie ein Edelmann. Vorsprechen in irgendwelchen Redaktionen. Vier bis sechs Wochen dauerte es, bis Geld auf das Konto kam. Vorschuss. Zeigen, dass er nichts besaß. Das Zögern. Der Schweiß an den Händen. Die abschätzigen Blicke der Gegenüber. Ich war ja auch einmal jung. Warum wollte er sich nicht verwundbar zeigen? Nie mehr, nachdem es ihm einmal gelungen war, den Makel abzustreifen. In Indien, der Türkei sogar, galten Bettler als angesehene Leute. Bei wem und wie lange noch? Den Geschichten entrinnen. Sie logen, trogen sich und ihre Leser über das Elend hinweg. Hast du was, bis du was. Nichts zählte darüber hinaus. Kein Lied, kein Gesang. Keine Amsel am Morgen. Seid wie die Vöglein, sie säen nicht, sie ernten nicht und der Herr nährt sie doch. Seit der Mensch sich der Herrschaft bemächtigt hatte, schwärmten Tauben und Möwen verwirrt über Großstadtmüll. Raben und Krähen wurden von Autos überrollt. Amsel, Drossel, Fink und Star hingen in sterbenden Bäumen oder trieben an Flüssen und Bächen ihr törichtes Spiel, pickten Gift in ihr hübsches Gefieder. Wildschweinrotten verließen den Wald und fielen über Vorstadtgärten her.

Der Zug rauschte pfeifend an erleuchteten Bahnsteigen vorbei. Dunkle Gestalten warteten auf einzelnen Bänken, unterwegs zur Morgenschicht.

Einfalt und stille Größe. Einfalt war Blödheit geworden, und wurde nicht mehr als angemessen sich begnügen verstanden. Ist noch etwas angemessen, wenn alles vor Überheblichkeit strotzt in einem Kleid aus unbändiger Angst?

Auf dem Wege nach Aleppo. In dem Wirtshaus an der Straße von der Biskaya ins östliche Nirgendwo. War es wichtig, dass er wusste, in welchem Buch dergleichen eine Rolle spielte? Für ihn war es wichtig. Warum wollte er, dass irgendwer erfuhr oder ahnte, dass er dies wusste? Die Geschichte eines Menschenfreundes oder eines Fremden. Da gab es keine Unterschiede, wenn einer das Messer zog. Freund. Feind.

Er ging leichtfertig mit Worten um und machte sich auf, andere zu tadeln. Jetzt fuhr er gar in ein anderes Land, weil ihm das eigene nicht mehr genügte. Es gab für ihn kein Land, dem er vor den andern den Vorzug geben mochte. Deutschland, USA, Frankreich, England, Italien, die Sowjetunion, Russland wie es jetzt hieß mit seinen vielen benachbarten neuen Staaten. In dem einen war er geboren, hatte dort länger gewohnt als anderswo, doch könnte er wohl auch in England leben. In China und Japan selbst. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sich durchzubringen. Die Sprache. Die Kultur. Das einfache Miteinander. Das war zu erlernen. Vielleicht würde er einmal als alter Mann Heimweh verspüren. Wonach? Heimat ist da, wo das Herz ist, wo man Menschen kennt, mit ihnen lebt. Das war auf der ganzen Welt möglich. Wahrscheinlich hasste er deswegen die Politiker so. Sie folgten nicht der Vernunft, dem Gewissen, sondern dem Gebot ihres Standes.

Diese verdammte Suche nach dem Deutschsein. Warum sollte er sich ausgerechnet mit den Deutschen verbunden fühlen? Aus Trotz hatte er sich eine Fahrkarte gekauft und war jetzt auf dem Weg nach Krakau. Schon hinter der Grenze zu diesem Nachbarland. Er wollte sich mit diesen Untermenschen verbrüdern, Sie sind auszurotten! Welch ungeheures Wort! Wer kam auf die Idee? Waren es einzelne, die solchen Gedanken folgten oder liebäugelten auch andere damit? Was war so besonders an ihnen, dass ausgerechnet sie überleben wollten?

Er kannte die Polen nicht, verstand ihre Sprache nicht und glaubte nicht daran, dass sie alle nur Autos stahlen. Er hatte es satt, die Welt ewig nur aus zweiter und dritten Hand zu erfahren und war in diesen Zug geklettert, gewarnt und mit Kopfschütteln bedacht von denen, die sich seine Freunde nannten. Hast du wenigstens ein paar Aufträge an Land gezogen? Versuch ein paar Reisebilder zu schreiben. Ein Stück Landschaft, Geschichte, Leben. Du hast doch hoffentlich darüber gelesen? Kann einer genug über irgendetwas lesen? Hast du Adressen, Kontakte? Du spinnst, so ins Blaue hinein. Warte, bis einer dich hinschickt. Dir die Reise bezahlt. So war er einmal nach Irland gefahren. Weit hinter Cork hatte er einen Alten getroffen und seinen Geschichten von irischen Partisanen aus dem Zweiten Weltkrieg gelauscht, wie sie mit den Nazis gegen die Alliierten kämpften. Das erste Mal, dass er dergleichen öffentlich sagte. Er war alt und durfte es nun. Sein Hass auf die Engländer war so groß, dass er auch den Bund mit dem Teufel nicht scheute. Wilhelm Jensen hatte einen merkwürdigen Brief im ersten Weltkrieg veröffentlicht, den der Alte ihm als Abschiedsgeschenk in die Hand drückte. Muffig roch dieser Band. Nach dem Nebel, der zuweilen tagelang über die Insel trieb. Er gab eine andere Sicht auf die Welt, als er sie gelernt hatte in seinem Leben nach diesem zweiten Krieg. Der Alte hatte ihm noch viele Blätter, Fotos und Zeitungsausschnitte zugesteckt, die er auf der Heimreise verlor. Gut so. Oder nicht? Wollte er, der späte Enkel die Untaten seines Volkes verstehen, entschuldigen? Nein, das wollte er nicht.

Von der great famine hatte er in diesen Wochen gehört und gelesen, und die traumatische Angst der Iren vor dem Hunger verstanden. Heute lebten Softwareleute, Dichter und Banker – Bangster hatte er jüngst gelesen – auf der Insel, weil die Steuern niedrig waren. Seinerzeit, wie lang ist das her, hatte er noch den Krieg gegen die britischen Besetzer erlebt. Den Freiheitstraum in den biertrüben Augen der Männer gesehen. Die Alten verbrachten damit ihre Zeit und die Jungen gesellten sich zu ihnen in die rauchdunklen Pubs. Die Frauen ordneten den Tag, zogen die Kinder auf, ängstlich und stolz schauten sie zu wie sie Kämpfer wurden und gleichfalls verschwanden.

Die publizistische Einordnung des Freiheitskampfes ins Bewusstsein der Welt oder wie das hieß. Die verlogenen Sätze McCormicks. Wer war der Verräter in seiner Geschichte – der Vater oder der Sohn? Auch in den Kneipen New Yorks kann man den Verstand vertrinken. Der Kampf der Polen galt als gerecht in den Augen der westlichen Welt, jener der Iren nicht. Keiner weiß mehr. Und keiner kennt sich aus. Die absolute Verblödung der Gegenwart im life style. Postmodern streift der Mensch durch die Gassen, wenn er den alltäglichen Schwachsinn als ihm gemäß akzeptiert. Das Verschwinden der Menschheit im Cyberspace.

Es klopfte an der Abteiltür. Ein Kellner bot Tee, belegte Brötchen und Gebäck für den Morgen an. Nicht mehr lange und Cant würde am ersten Ziel seiner Reise sein. Er winkte ab, er wollte keinen Tee, noch etwas essen.

Seinerzeit, vor wie viel Jahren hatte er über Irland geschrieben und jetzt fragten sie ihn, ob er über Polen schreiben würde. Die, das heißt Angelika, Gert und die anderen hatten nichts verstanden, und er hatte ihnen nichts gesagt. So war er Schriftsteller geworden, er war veröffentlicht worden und nannte sich jetzt eben so. Jasmin hatte ihn Schreiberling genannt und sich zu ihm ins Bett gelegt. Sie lebte jetzt in Hamburg mit einem Maler zusammen und verdiente ihr Geld in einem lichthellen Büro an einem Computertisch.

Vor ein paar Tagen, fünf genau, hatte er ein vergilbtes Manuskript eines Bekannten gefunden „Throw well, throw Shell“. Es gab also auch Geschichte vor der „Brand Star“. Er fand es besser als sein „Grünes Feuerland“. Schamlos war dieser Titel. Gesucht. Doch hatte ihm der Text einen Preis eingetragen und flugs hatte er an sein Talent geglaubt, an sein Leben und auch an sich selbst. Nun zog er nach Osten. Vielleicht war ein besserer und nochmaliger Anfang möglich. Mit zwanzig hat man noch Träume. Er hasste diese Zeit zwischen zwanzig und dreißig. Die Schwaben glauben, die Vernunft setze mit vierzig ein. Er hatte die Grenze bei dreißig gezogen.

Heute musste man mit Vierzig sein Schäfchen im Trockenen haben. Die erste Million besitzen. Lag darin die Weisheit der Schwaben, dass der Mensch mit vierzig erkennt, dass er auf solchen Unsinn, Millionen zu scheffeln nicht verfallen braucht? Politycki zumindest war kein Schwabe. Was ist schon ein Millionär, wenn er bloß besoffen dasitzt und singt „Ich bin der Toni aus Tirol“.

Das nun wirklich nicht. Oder wünschte er sich Millionen, Milliarden sogar? Der Kameramann, den er neulich bei Bernd getroffen hatte. Es brauchte ein paar Biere, bis er erkannte, was hinter dessen elegant versoffenem Reden steckte. Nachdem die Fassade eingestürzt war, hätte er ihn umarmen mögen, trösten in seiner Angst. Eine halbe Million hatte er an der Börse gemacht, damit er alle zukünftigen Operationen bezahlen konnte, an Herz, Leber und Niere vielleicht. So viel Geld, weil er sich dem Schicksal nicht fügen wollte. Dem Tod von der Schippe springen. In der unglaublichen Kindheit seines Lebens empfand er Mitleid mit dem alten Mann und fragte sich, ob sie wohl alle so waren, ob das auf ihn wartete, ein Welt so ganz ohne Selbstvertrauen. Eine Welt ohne Gott. Als ihm jemand sagte, dass das Grün aus den Tomaten herauszuschneiden sei, weil es die Gesundheit beeinträchtige, untersuchte er postwendend die Scheiben und schnitt fortan das Grün heraus. Von seinem stolz verdienten Geld würde er nichts ausgeben können, weil er es als Sicherheit brauchte. Eine halbe Million als Sicherheit. Die Verachtung der anderen, die solche Sicherheit nicht besaßen. Es gibt sie nicht die Gleichheit der Menschen, dies ist auch eine falsche Auslegung der Ideale der französischen Revolution. Gleichheit wurde seinerzeit nur vor dem Gesetz gefordert. Alles andere war Zugabe und Interpretation von den Sturmvögeln der Revolution, die Anhänger brauchten, mit denen sie sich durch die Gassen treiben lassen konnten. Friede den Hütten, Sturm den Palästen! Die Gedanken sind frei. Wie rasch die Reaktion zuschlug, nachdem die Fehler erkannt waren, die im Beginn schon lagen. Der aufgeschreckte Adel auf der Flucht in die befreundeten Häuser des Auslandes. Die Mutter hatte erzählt, dass auch 68 die reichen Bürger und jene, die es werden wollten, sich tatsächlich fürchteten. Ein bisschen Stolz hatte in ihren Worten mitgeklungen. Verblasste Spuren vom Jugendtraum. Wie kläglich erschien ihm ihre Revolte, und immer kläglicher, wenn er die damaligen Wortführer in der Gegenwart anschaute. Freilich gab es gewisse Ähnlichkeiten, denn so wie der Adel seinerzeit die Revolution nie verzieh und seine Verachtung dem Volk gegenüber noch deutlicher zeigte, so auch das Bürgertum der Gegenwart. Es gab auch Unterschiede, denn während die 68er fast alle abschworen und weitschweifig, zuweilen schon erbärmlich um Verständnis warben, bewahrte das französische Volk, zwar auch erschrocken über die ungeheure Dimension seiner Gewalt, diese doch stets in der Gedächtnis und die Mächtigen wussten, dass sie wieder ausbrechen konnte, trieben sie es zu arg. Die Niederlage saß tief und der Erfolg blieb im Bewusstsein der Untertanen, gelangte aber nicht über den Rhein. Dort regierte und regiert der erhobene Zeigefinger und nach der 68er Revolte, konnte ein paar Jahrzehnte später ein Kanzler von Hausaufgaben schwafeln, was untertänige Schreiber sofort in den Zitatenschatz aufnahmen, anstatt in Gelächter auszubrechen. Was hatte sich verändert, seit dem „Let it be“ der Beatles? Der Günstling von Wirtschaft und Bankenmacht wollte den Blick auf seine Machenschaften verstellen und alle ließen es geschehen und das Machwerk des Staates, dem er vorstand knisterte weiter an allen Ecken und Enden. Einmal, als die große Flut kam, stellte er sich, aus seinen Urlaubsort für ein paar Stunden angereist, zwischen die verstörten Opfer und tröstete sie damit, dass ihr Elend zumindest den Vorteil habe, dass alle sich nun als ein Volk fühlten. Die Betroffenen und jene anderen, die an der Zerstörung gut verdienten, klatschten Beifall. Es erhob sich kein Widerspruch. Vielleicht hörte keiner hin, so wie seit langen schon kaum noch einer hinhörte, weil keiner mehr sich noch den andern vertraute und jeder allein gelassen die Zeit überstehen wollte. Die Lebenszeit.

Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Wie zerstört war dieses Land mit seinen Menschen? Warum? Jeden Morgen geht die Sonne auf. Schreibs auf Kisch, wenn du nicht selbst den eigenen Erwartungen nachschreiben willst. Hast du nicht auch mit der Zeit alles vergessen, Episoden nur noch eingefügt in das System, das gezimmert war, nachdem der Ruhm an die Tür gepocht hatte? Der Sprung vom Schiff in Australien seinerzeit und das lächerliche Ausschlachten des gebrochenen Beins. So überlistet man Weltgeschichte nicht. So wird aus Ohnmacht keine Macht. Der späte Enkel, der grippegeschwächt in ein viel zu kleines Auto gequetscht durch Polen rumpelte und das Land nur noch als Museum wahrnehmen konnte und eine andächtige Pause beim Ortsschild Oswiecim …. Auschwitz einlegte. Mit Gesten die Erkenntnis verstellen, sich huldvoll verbeugen vor der eigenen Teilhabe an der Macht. Der Kodex des Schreibens der Gegenwart, so hübsch anzuschauen, so fortschrittlich, verglichen mit den finsteren Zeiten des Mittelalters, die in barocker Wollust ihr Ende fanden.

Die Tasche ließ er im Bahnhofsschließfach. Er streifte die Jacke über. Es war frisch in Krakau, roch nach Regen. Ein viel versprechender Beginn. Vielleicht hätte er nach Warschau weiter fahren sollen, doch er war neugierig auf die Kellerkneipen und die Kaffeehäuser dieser Habsburgerstadt. Die Kirchen interessierten ihn nicht. Plakate zu Schindlers Tour stachen ihm in die Augen. Offensichtlich wurde der Film noch immer vermarktet oder das, wovon er erzählte. Er hatte ihm gefallen, Schon merkwürdig, dass der Privatsender die zwei Teile ohne Werbeunterbrechung gesendet hatte. Da funktionierte etwas. Vielleicht war gerade dies der Werbegag des Senders. Achtung vor dem Sterben der vielen war es gewiß nicht. Dafür schwelgte das übrige Programm zu selbstverständlich in Mord und Totschlag, vielleicht wurde rein geschäftlich spekuliert und bei dem damaligen Versuch sein Fernsehimperium auszubauen, mochte der deutsche Tycon die Juden als einflussreiche Partner und Gegner im Blick gehabt haben. Nobody knows. Besser, er dachte nicht darüber nach. Der intellektuelle Selbstmord der Deutschen durch die Vernichtung und Vertreibung der Juden aus ihrem Geistesleben war Strafe genug. In ihrem Hochmut hatten sie bis heute nicht wahrgenommen, was geschehen war. Elend sämtliche Diskussionsrunden und die Pfennigfuchserei bei der Entschädigung der Überlebenden. Sie erhielten Almosen, unwillig und laut, und die anderen Opfer konnten vergessen werden. Die Vernichtung der Juden war der deutsche Versuch sich der Aufklärung und ihrer Folgen zu entledigen. Die nicht gewagte Befreiung des Ich musste mit Massenmord enden. Nur als Komplize fand der eine des andern Blick fortan.

Fort. Fort. Er brauchte Abstand um dies wieder oder überhaupt ertragen zu können. Die rasende Tüchtigkeit, die nicht aus offenem Herzen kam. Das kippende Reden. Wie gern hatten sich die Rebellen von 68 bald wieder hineingefügt in die Dumpfheit des Nestes, die ihnen die Alten bereitet hatten. Nun hatten sie ihr eigenes geschaffen, schlau und bösartiger, als das der Eltern war, und wüteten mit feisten Gesichtern gegen die nächstfolgende Generation, weil die den Funken der Revolte nicht weitertrug. Welche denn? Ihr jämmerliches Geschwätz über erlittene Wunden und begangene Irrtümer und die Folgen daraus. Wehe, wenn man den Kopf hob und sie anschauen wollte, jetzt wo sie selbst zu Macht und Einfluss gekommen waren.

Er kannte die fünfziger Jahre nur aus Büchern und Filmen, die Neunziger hatte er erlebt, der Unterschied in der Verleugnung von Wagnis und Schuld wollte ihm nicht aufgehen. Hier wie dort, das kannst du nicht verstehen, bist nicht dabei gewesen. Wir. Wenn es um Verantwortung ging, war keiner der Täter. Da schwadronierte jeder von Zukunft und Gegenwart. Laut, protzend und ein bisschen gewalttätig, damit niemand mit leisen Fragen ihm und sich in die Quere kam. Did you ever feel the pain /That he felt upon the cross /Did you ever feel the knife /Tearing flesh that’s oh so soft/Did you ever feel the blast/As the semtex bomb goes off/Do you ever hear the screams/ As the limbs are all torn off. Fragen sind stets leise. Alles was taugt, ist leise. Lärmend und laut dagegen das Böse, das seine Ohnmacht übertönen will. Darin glich Hitlers Versuch, Europa zu unterwerfen dem heutigen von Microsoft, bei dem gleich die ganze Welt unterworfen werden soll. Do you feel the final hours /Put down paradise as lost/Yeah you’re blinded by rainbows /And faces in windows /Blinded by rainbows. Jaja Herr Balmer, nur immer feste Bellen, damit keiner zum Nachdenken kommt. Welch freche Selbstüberschätzung und Verachtung der anderen. Wie fügsam der Mensch und geduldig das Fleisch.

Um die Ecke bog eine Horde Jugendlicher mit israelischen Fahnen auf ihren Schultern. Auch sie unschuldig dumm. Sie wussten nicht oder doch, was sie anrichteten. Einige erwiderten seinen Blick. Ob sie erkannten, dass er ein Deutscher war. Oder ein mitschuldiger Pole? Sie hassten beide. Wie gerecht verteilt ist zuweilen Schuld. Später, wenn das Schreckliche geschehen ist, gebietet es die Vernunft zu schweigen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er. Durfte geschwiegen werden, musste geschwiegen werden, weil jeder Satz in sein Gegenteil verkehrt und missbraucht werden konnte. So überließ man ihnen die Welt. Man gab ihnen nicht Recht, widersprach aber auch nicht, so dass sie sich im Recht wähnen konnten. Es durfte nicht geschwiegen werden, in keinem Fall, denn jedes Verschweigen rächte die Geschichte. Immer und zumeist verquer. Es war, ist Aufgabe der Intellektuellen zu sprechen. Es ist Teil ihrer Existenz und auch der Vorteil, den sie daraus zogen. Auch der Nachteil.

Wie leicht sich Geschichte umschreiben lässt. Die Ohnmacht der Skribenten. Die Macht der Genauigkeit.

Zwei Gruppen Israelis begegneten ihm auf seinem Weg zum Zentrum, ansonsten nur einzelne Leute, die ebenso oder anders die Sturmtruppen umsteuerten, ihnen vermutlich vertrauter als ihm. An den Busstationen und Straßenbahnhaltestellen stauten sich die Menschen. Erst jetzt, nachdem er schon eine Zeitlang gegangen war, fiel ihm auf, dass hier wie daheim die Fahrbahnen und Straßenränder mit Autos voll gestopft waren. Der Verkehr quetschte sich hupend, brummend, röhrend und tuckernd über den Asphalt.

Die gleichen Marken, die gleichen gelangweilten oder erschrockenen Gesichter hinter den Scheiben, falls man sie denn ausmachen konnte, denn auch hier bevorzugte man die Volltönung. Es gab was zu verbergen und wenn es nur das eigene Gesicht war. Dieser Pest war er also nicht entkommen. Vermutlich fraß der Tod auf den Straßen die Bevölkerung des Landes inzwischen kleinstadtweise und die übrigen ließen sich einreden, dies sei Freiheit und Lebensgefühl. Das kleine Glück in schwarz gepanzerten Limousinen im Getümmel von Blech, Plastik und Glas. Ein Prosit der Gemütlichkeit.

Taschen trugen die Menschen hier andere und auch mehr als daheim. Erst auf den Zugangsstraßen zur Altstadt, wo die Autos weniger wurden und ihr Gedröhn aus dem Vordergrund hinter die Ecken wich, aufheulend zuweilen, damit keiner sich etwa in Sicherheit wähne, denn auch in den engen Gassen fuhren und standen überall diese geschleckten Exemplare von Pkw und Lieferwägen, wollte er behände ausschreiten. Doch ein ranziger Laster schleppte sich über das Pflaster. Vielleicht alter Zeiten bedenkend, als er noch allein auf den Straßen zu sehen war, machte er rußröchelnd und laut auf sich aufmerksam. Jetzt störte er tatsächlich. Selbst den Gang der Geschichte hielt er auf, weil keiner an ihm vorbeikam, da der Fahrer irgendwie sein Gefährt in die schmale Gasse hineinbugsiert hatte und nicht weiterkam, weshalb er sie rückwärts wieder verlassen wollte, was aber nicht gelang, weil hinter ihm schon andere standen, die gleichfalls hineinwollten und nun, sobald er Gas gab, in einer Wolke von Ruß verschwanden, was sie aber nicht gänzlich verschwinden, sondern nach Sekunden brüllend wieder auftauchen ließ.

Der Lasterfahrer gab erneut Gas, aus den Wolken hörte man nur Röcheln und wie Blinde stocherten sich die ersten Fahrer aus ihrem Pkw, ihr Versuch sich nach vorne durchzukämpfen und dem Fahrer Bescheid zu geben scheiterte kläglich an den Wolken, die nun stoßweise kamen je nachdem er Gas gab, denn der Fahrer gleichfalls wütend oder auch nur im vollen Bewusstsein seiner Macht schickte unter dem Höllenlärm seines krächzenden Motors immer neuen Ruß nach hinten als wolle er mit diesen den Weg frei räumen, vielleicht auch aus Verzweiflung, dass er sich in diese Lage manövriert hatte, aus der er nun nicht mehr herauszukommen wusste. Ewig und drei Tage würde er mit seinem Gefährt hier stecken bleiben, alles und sich einnebeln, verschwinden aus der Zeit.

Aus Lärm und Ruß tauchten einzelne Wortfetzen auf, die Cant erkennen ließen, dass diese Rechtschreibreform in der Tat ein gewagtes Unternehmen sein konnte, denn so wie der Hörende zuweilen und eigentlich sogar fast immer ins Antlitz, auf den Mund oder ins Auge schauen musste, um aus unverständlichem Geplapper oder barbarischen Lauten sinnvolle herauszublicken und picken, die sich als vernünftige Laute der menschlichen Sprache zuordnen ließen um sie dann im eigenen Gehirn, in dessen Sprachzentrum in eine halbwegs verständliche Botschaft zusammenzusetzen, was nicht immer leicht war, weil hinzugefügt und weggelassen werden, also alles in einen vernünftigen Zusammenhang gebracht werden musste, denn jeder auch der Unscheinbarste wollte ja heutzutage von den anderen verstanden werden, ein ziemlich unsinniges Unterfangen, weil sich ja leicht feststellen ließ, dass die meisten nicht einmal sich selber verstanden, wie also hätten sie erwarten können, dass sie ein anderer verstünde oder sie ihn.

Alles eben ging leichter oder weil es eben nicht funktionierte so deswegen, weil neben dem akustischen Kontakt auch der optische versagte, zumindest oft nicht optimal war, getrübt vielleicht, was so ähnlich ist, wie wenn beim Schreiben ein Wort, das normalerweise und solange man sich erinnern konnte eben in einer bestimmten Buchstabenfolge geschrieben worden war, die, wenn sie nicht mehr vorhanden war, daraufhindeutete, dass es sich um ein anderes Wort handeln könnte oder eben um dieses nur falsch geschrieben, was dann der Blödheit des anderen, der es aufgeschrieben hatte oder besser versucht hatte, es aufzuschreiben, nach seinem Vermögen eben, wer hat schon Vermögen, wenn einer eines hat, dann gibt er wenig oder eigentlich nichts von eben diesem Vermögen her, so dass meistens nur Unvermögende schrieben und wie sollten diese sich verständlich machen können, wenn nun auch noch die Buchstabenfolgen verändert worden waren, so dass nun richtig war, was früher falsch war und umgekehrt, dass man also neben den Möglichkeiten, dass ein Wort ein anderes sei oder doch dies aber nur eben falsch geschrieben nun noch bedenken musste, es könne sich durchaus auch um eben dieses handeln nur eben nach den neuen Regeln geschrieben, wobei erschwerend hinzukam, dass wiederum auch hier sich hätten Fehler eingeschlichen haben können und, auch dies war nicht auszuschließen, dass es sich auch nach den neuen Regeln um ein ganz anderes Wort handeln könnte oder man kann sich eigentlich gar nicht recht klar machen wie verzwickt die Welt ist, um eines, dass durchaus noch korrekt nach den alten Regeln geschrieben worden war, denn in den ersten Jahren sollte es ja eine übergangszeit geben in der beide Regeln nebeneinander bestehen sollten, allerdings nicht ganz gleichwertig, schon mit der Tendenz eher zu den neuen Regeln, denn die sollten ja die alten ablösen, so dass eben die eine Regel auch in dieser Übergangszeit ein weniger gleicher war als die andere, wie überall im Leben oder sagen wir in der Demokratie, die ja im ursprünglichem Sinne eine Gemeinschaft von Gleichen war oder sein sollte und von der jeder weiß, dass dies nicht stimmt, genau wie bei den Regeln, weil die einen eben schon nicht mehr oder immer weniger stimmen, was zu vergleichen ist mit dem Einfluss des gemeinen Volkes im Staat, der vom Prinzip her eigentlich in jedem seiner Teile ebenso groß sein sollte wie der jener dünnen Ölschicht, die auf dem Meer des Volkes schwimmt und in seinem bunten Schillerkleid den Blick unter die Oberfläche verhindert, was zu dem fatalen Ergebnis führt, dass sich nicht mehr ausmachen lässt, ob der Einfluss dieser dünnen Schicht ebenso gleich ist wie jener des Untergrundes, also der des gemeinen Volkes, das ja eigentlich die Mehrheit ausmacht und folglich auch was mitbestimmen sollte nach seinem Willen, was aber offensichtlich nicht immer der Fall ist, denn eine Mehrheit ist leichter gefügig zu machen als ein einzelner Mensch, obgleich es auch dafür schon lange erprobte Methoden gibt und auch täglich neue ersonnen werden, allerdings werden diese nun ebenfalls nicht gleich und immer gleich angewandt, folglich hier wie da keine Gleichheit besteht und bei den zuweilen noch gleichen alten von den neuen Regeln diese nun wieder ungleich richtiger waren als wären sie die alten, weil sie eben den Vorteil der Neuheit hatten oder eben der Jugendlichkeit, denn in der heutigen Zeit zählt Überzeugungskraft und Spontanität der Jugend tausend Mal mehr als die Weisheit des Alters, die seit langem schon als Blödheit erkannt worden ist, weswegen die Alten zunehmend in Heime weggesperrt wurden, die allein schon der täglichen und monatlichen Kosten wegen durchaus nur mit Narrenburgen zu vergleichen waren, denn nur Narren konnten dergleichen Summen zum Fenster hinauswerfen oder eben in die Taschen der Betreiber solcher Betriebe und das allein deswegen, damit sie den eigenen Kindern nicht mehr und vor allem nicht ewig auf den Wecker gingen mit ihrer unnützen Weisheit, Gleiches galt für Nachfahren und zuweilen auch Mitfahren, etwa dann wenn der Bruder den Bruder wegsteckte und die Schwester oder der Mann die Frau, weil die nicht mehr spontan jugendlich sein wollte oder konnte oder die ihm einfach nicht mehr in den Kram passte, nachdem sie in letzter Zeit nach jedem erfolgreichem Geschäftsabschluss permanent genölt hatte. Es musste doch allmählich auch vom Spatzenhirn dieser blöden Gans begriffen werden, dass die moderne Volkswirtschaft nur funktionieren konnte, wenn anderweitig Abstriche gemacht wurden und da ließ sie nun immer dreister und spontan die Spendenquittungen für Greenpeace auf ihrem Barockspielzeugschreibtisch liegen. Es war sowieso das Allerletzte und nur auf die lasche Haltung der Berliner Pappkameraden zurückzuführen, dass diese radikalökologischen Terrorgruppen überhaupt Spendenquittungen ausstellen durften. Ein Witz der Weltgeschichte. Wachstum und Geld allein konnten garantieren, dass man und die jetzt Jungen später dem Elend des Alters entfliehen konnten, was freilich immer nur wenigen gelingen würde, weil in Zukunft die Unnützen noch weniger gebraucht werden konnten, denn es war ja schon abzusehen, dass die Kosten stiegen und folglich mehr verdient werden musste und zwar rechtzeitig und nicht erst, wenn’s zu spät war.

Die ganze Zukunft lag im Nebel, genauso wie die Gasse in der dieser alte Laster klemmte, die zudem mit Gestank, Plärren und sonstigem angefüllt war, wobei freilich keiner ausmachen konnte, wo eigentlich der steckte, der schrie, und wenn einer schrie und derselbe nicht mehr davon ausgehen konnte, dass man ihn als Urheber wahrnahm und Aufmerksamkeit schenkte, so war es nachgerade kein Wunder, dass er noch lauter schrie, also brüllte, was die Stimmbänder nur hergaben. Ein Höllenspektakel das Ganze, dessen komischer Zug einer Kirche glich, wobei natürlich eine Kirche kein Zug sein kann, auch wenn in ihr wie in ihm sich zuweilen manchmal unterschiedliche, zuweilen die gleichen Menschen auf Reisen befinden mit dem ebengleichen unsicherem Ziel, denn während die einen zwar glaubten, irgendwohin zu kommen, sich dessen aber nicht sicher waren, weswegen einige