Spiel und Spielen in der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie - Dagmar Lehmhaus - E-Book

Spiel und Spielen in der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie E-Book

Dagmar Lehmhaus

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Beschreibung

Da Kinder sich noch nicht ausreichend über Sprache mitteilen können, wurde das Spiel zum unverzichtbaren Bestandteil psychotherapeutischer Arbeit. Das Buch gibt einen umfassenden Überblick über die Besonderheiten kindlichen Spiels, seine Entwicklung und Störungsmöglichkeiten. Erörtert werden Spielraum, Setting, Haltung und Technik, aber auch sorgfältig ausgewählte Spielmaterialien, die Kindern helfen, in ihr Spiel zu finden, und auch dem Psychotherapeuten seine Aufgabe erleichtern, sodass normales Spielen zu heilsamem Spiel werden kann.

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Die Autorinnen

Dagmar Lehmhaus ist Diplom-Soziologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin; Dozentin, Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin am Institut für Psychoanalyse in Düsseldorf (IPD). Sie ist seit 1983 niedergelassen in eigener Praxis. Sie ist Dozentin und Supervisorin im Bereich Fort- und Weiterbildung in tiefenpsychologischer Psychotherapie für Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater und Kinderpsychotherapeuten im Rahmen der Ärztlichen Akademie und anderer anerkannter Ausbildungsinstitute. Als Autorin hat sie diverse Publikationen veröffentlicht, u. a. gemeinsam mit Bertke Reiffen-Züger das Buch »Psychodynamische Diagnostik in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie«. Seit mehreren Jahren ist sie Lehrbeauftragte an der Privatuniversität Witten-Herdecke.

Bertke Reiffen-Züger ist Diplom-Pädagogin und Lehrerin. Sie war langjährig als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis tätig. Sie ist Dozentin und Supervisorin im Bereich Fort- und Weiterbildung in tiefenpsychologischer Psychotherapie für Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater und Kinderpsychotherapeuten. Sie hat federführend den Plämokasten der Ärztlichen Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen entwickelt und verfasste gemeinsam mit Dagmar Lehmhaus das Buch »Psychodynamische Diagnostik in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie«.

Dagmar Lehmhaus & Bertke Reiffen-Züger

Spiel und Spielen in der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030838-1

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-030839-8

epub:      ISBN 978-3-17-030840-4

mobi:      ISBN 978-3-17-030841-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

1 Einführung

2 Spiel und Spielen

2.1 Was heißt eigentlich »spielen«?

2.1.1 Spielen als ein Handeln besonderer Art

2.1.2 Projektion und Symbolisierung

2.1.3 Inszenierung und Szenisches Verstehen

2.2 Freies Spielen

2.2.1 Zentrum eigener Aktivität

2.2.2 Schutzraum des Zweckfreien

2.2.3 Flow

2.3 Spielfreude

2.4 Neugier

2.5 Fantasie

2.5.1 Fantasie und Realität

2.5.2 Tagträume

2.6 Kreativität

2.7 Die Umwelt spielt immer mit

2.7.1 Spiel und Beziehung

2.7.2 Spiel als symbolische Interaktion

3 Grundlagen und Rahmenbedingungen spielerischer Begegnung

3.1 Entscheidung für das Spieleparadigma

3.2 Rolle, Präsenz und Haltung des Kinderpsychotherapeuten

3.3 Überlegungen zum Spielzimmer

3.4 Überlegungen zum Spielmaterial

3.5 Kind und Kinderpsychotherapeut im intermediären Spielraum

4 Spiel und Entwicklung

4.1 Die Umwelt spielt immer mit

4.2 Spiel und psychische Entwicklung

4.3 Bezogenheit, Vertrauen und Dialog als Fundament der Spielentwicklung

4.4 Präödipales Spiel: Individuation und Symbolisierung

4.5 Vorschulalter: Autonomie und Hineinwachsen in die Kindergruppe

4.6 Mittlere Kindheit: Identitätsfindung und Konsolidierung in der eigenen Generation

4.7 Adoleszenz – Abschied von der Kindheit

5 Wie das Spiel zum psychotherapeutischen Medium wurde

5.1 Wunscherfüllung und Realitätsbewältigung

5.2 Katharsis-Hypothese

5.3 Spiel als Vorübung für das Leben

5.4 Pioniere des Kinderspiels in den psychodynamischen Verfahren

5.4.1 Melanie Klein – die deutende Spieltherapie

5.4.2 Anna Freud – Behebung von Entwicklungshemmungen im Spiel

5.4.3 Der zweite Weltkrieg – ein Rückschlag für das freie Spielen

5.5 Entwicklungen der Arbeit mit dem Kinderspiel nach dem Krieg

5.5.1 Winnicott – der intermediäre Raum

5.5.2 Zulliger – die nicht deutende Spieltherapie

5.5.3 Axline – die personenzentrierte Spieltherapie

5.5.4 Piagets Konzept des Symbolspiels

5.5.5 Spiel, Ichentwicklung und Struktur

5.5.6 Ko-narratives Spielen

6 Das Spiel, das Spielerische und die Spielenden

7 Kinderspiele

7.1 Spiel mit Bewegung, Ton und Rhythmus

7.2 Versteckspiele

7.3 Konstruktionsspiele

7.4 Fantasie- und Rollenspiele

7.5 Puppenspiele

7.6 Kaufladenspiele

7.7 Doktorspiele

7.8 Lehrer- und Schulespiele

7.9 Regelspiele

7.10 Angst- und Gruselspiele

7.11 Gewalt im Spiel

8 Spiel und Spielen mit Miniaturfiguren

8.1 Anfänge der Behandlung mit Miniaturfiguren

8.2 Sandspiel

8.2.1 Das Sandspiel in der kinderpsychotherapeutischen Praxis

8.2.2 Material

8.2.3 Auswertung

8.3 Sceno

8.3.1 Grundsatz

8.3.2 Be-Deutung

8.3.3 Material

8.3.4 Handhabung und Auswertung

8.3.5 Möglichkeiten und Grenzen des Spielmaterials beim Scenotest

8.4 Plämokasten

8.4.1 Grundsätzliche Überlegungen

8.4.2 Materialauswahl und -bedeutung

8.4.3 Handhabung und Auswertung

8.4.4 Ein Beispiel

9 Spiel und Spielen im digitalen Zeitalter

9.1 Ein Marktphänomen?

9.2 Digitales Spielen – (k)ein Thema für die psychodynamische KJP-Praxis?

9.3 Real, digital, ganz egal?

9.4 Was ist das denn für Spiel-Zeug?

9.5 Die nächsten Spiele-Generationen

9.6 Wer spielt denn sowas?

9.6.1 Minecraft – ein Konstruktions- und Action-Spiel

9.6.2 Die SIMS – ein Simulations-, virtuelles Puppenhaus- und Rollenspiel

9.6.3 Grand Theft Auto (GTA) – ein Action- und Autofahrspiel

9.7 Psychodynamik der digitalen Spielwelt oder: Was passiert da eigentlich?

9.7.1 Resonanz im Netz

9.7.2 Ein Paradigmenwechsel?

9.7.3 Das Unbehagen an der Kultur

9.7.4 Zukunft des Erlebens

9.7.5 Der Computer als Übergangsraum

9.7.6 Entwicklung oder Abwehr durch die Nutzung virtueller Medien?

9.7.7 Psychodynamisches Computerspielen

9.8 Was sagen die Eltern dazu?

9.9 Ausblick

Literatur

Spielmaterial für die psychodynamisch orientierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Stichwortverzeichnis

1          Einführung

 

 

 

Kinder sind keine »kleinen Erwachsenen«. Wenn sie einen Kinderpsychotherapeuten1 aufsuchen, können sie selber selten mit Worten zum Ausdruck bringen, was sie belastet oder quält. Auch für die Ruhigstellung auf der berühmten Couch sind quicklebendige Kinder schlecht geeignet. Daher galten sie zunächst auch als psychotherapeutisch nicht behandelbar. Erst als es gelang, in einer endlosen »Kette von Versuchen, den Ausfall der freien Assoziation durch andere technische Hilfsmittel zu ersetzen« (Freud A., 1968, S. 37), und das Spielen nutzbar zu machen, eröffnete sich die Möglichkeit einer Kind-angemessenen therapeutischen Begegnung und das Spiel etablierte sich als unverzichtbarer Bestandteil psychotherapeutischer Arbeit mit Kindern.

Mittlerweile haben das Spiel ebenso wie das Kindliche ihren festen Platz in der Behandlungsarbeit, und es steht außer Frage, dass Kinder Entdecker sind, mit einem großen Bewegungsdrang und Handlungsbedürfnis, denen wichtig ist, alles zu untersuchen und auszuprobieren; die in Bildern und Geschichten denken, sich dabei auf analoger Ebene bewegen, Inszenierungen bevorzugen, und die sich, ihre Ängste, Wünsche, Projektionen und Identifikationen vorzugsweise im und über das Spiel mitteilen. Das gilt allgemein und auch für ihre Spiel-Art im Hier und Jetzt einer psychotherapeutischen Begegnung. Im Folgenden soll daher – auf dem Fundament normal zu erwartender Entwicklung von Spiel und Spielen – der Stellenwert und der Umgang mit dem Spiel vor allem hinsichtlich seiner Nützlichkeit im psychotherapeutischen Kontext beleuchtet werden. Dabei finden Schwierigkeiten ebenso wie Möglichkeiten seiner Handhabung sowie Ansprüche an das Setting Berücksichtigung. Am Beispiel einiger Kinderspiele soll dies nachvollziehbar werden, immer eingedenk, dass ohne Kreativität – aufbauend auf der kindlichen Projektionsneigung und unter Berücksichtigung von Neugier, Symbolisierung und Fantasietätigkeit – kein elaboriertes Spiel entstehen kann.

Lange Zeit wurde Spielen in der Psychotherapie im Wesentlichen verstanden als einseitige Inszenierung des Kindes. Doch schon Winnicott hat das Spieleparadigma zu einem Miteinander erweitert:

»Psychotherapie geschieht dort, wo zwei Bereiche des Spielens sich überschneiden: der des Patienten und der des Therapeuten« (Winnicott, 1971/2015, S. 49).

Heute wird das Spiel unter dem Eindruck relationaler Psychotherapie als reziprokes Prozessgeschehen zwischen zwei Personen verstanden, das sich asymmetrisch, co-konstruktiv und co-narrativ vollzieht. Entsprechend geht es im Folgenden nicht nur um das Spielen, die Spielfreude und Spielfähigkeit des kindlichen Patienten, sondern immer auch um die des Psychotherapeuten.

»Wir haben ja alle einmal gespielt!« könnte man selbstverständlich voraussetzen. Aber auch wenn Erwachsene spielen, und das Spiel als eine »Gangart des Lebens« (Schacht, 2001) angesehen werden kann, wird Erwachsenen das kindliche Spielen in der Regel fremd. Für Kinderpsychotherapeuten stellt sich daher die Frage, wie diese Entfremdung zwischen Erwachsenem und Kind überbrückt werden kann, sodass im psychotherapeutischen Prozess Begegnung »auf Augenhöhe« mit dem Kind und dem Kindlichen möglich wird, und eine gemeinsame spielerische Sprache gefunden werden kann.

Ein Kinderpsychotherapeut muss aber nicht nur spielen können. Er muss auch einen Begriff davon haben, was das Gros der Kinder eines bestimmten Alters in einer bestimmten Gemeinschaft zu spielen pflegt – auch wenn diese Spielkultur nicht seiner eigenen Spielesozialisation entspricht, ihm nicht vertraut ist und ihm vielleicht auch gar nicht gefällt. Nur wenn er sich auf das Kind und dessen Spiel einlässt, kann er sich (co-narrativ) in den Handlungsdialog einbringen und sich mit dem Kind »einspielen«. Daher haben wir den Wandel des Kinderspiels ebenso zu erfassen versucht, wie die sich darin spiegelnde zunehmende Bedeutung der ökonomischen, technischen und virtuellen Welt. Denn der Spielewandel mitsamt seinen Auswirkungen hat auch den psychotherapeutischen Alltag nicht unberührt gelassen. Er verlangt Anpassung von den Kinderpsychotherapeuten, die im Hinblick auf Umgestaltungen in der Behandlung ebenso wie im Hinblick auf die Kompetenz des Psychotherapeuten reflektiert werden muss.

Grundsätzlich kann das Spiel prophylaktisch, psychodiagnostisch ebenso wie kurativ systematisch psychodynamisch genutzt werden. Dabei stützt sich psychodynamische Therapie bei Erwachsenen wie bei Kindern und Jugendlichen immer auf dasselbe theoretische Fundament. Im Falle psychodynamischen Arbeitens bedeutet das ein Fokussieren auf das Analysieren innerhalb der psychotherapeutischen Begegnung (Burchartz, Hopf & Lutz, 2016). Immer geht es um ein gut abgestimmtes Zusammenspiel im Rahmen einer hilfreichen therapeutischen Beziehung im geschützten Rahmen. Gleichwohl folgen Methodik und Interventionen in einer Kinderbehandlung anderen, am kindlichen Patienten evaluierten Gegebenheiten (Ferro, 2003, S. 25). Vor allem im jüngeren Alter, wenn die sprachliche Ausdrucksfähigkeit noch eingeschränkt ist, bietet das Spiel dem Kind die Möglichkeit einer unverfänglichen Kontaktaufnahme zum Psychotherapeuten. Um das zu bewerkstelligen, muss er einen Spielraum, Spielzeug, aber auch Spielbereitschaft vorhalten und alles so ausrichten, dass sich spontanes selbstgewähltes freies Spielen initiieren kann. Diese Forderungen gründen in der Hoffnung, dass der Patient in Gegenwart des Behandlers und gleichsam innerlich angelehnt an die Sicherheit des psychotherapeutischen Settings wagen kann, sich mehr oder weniger verborgenen und belastenden Anliegen, Ereignissen, Gefühlen, Gedanken, Bildern, Bedürfnissen und Fantasien innerlich anzunähern, sie symbolisch und szenisch wiederzubeleben und sie für beide, Kind wie Behandler, über die Veräußerung erlebbar, verstehbar und bearbeitbar werden zu lassen.

Angesichts der hohen Relevanz des Spiels in der klinischen Praxis mit Kindern und auch Jugendlichen ist es erstaunlich, wie wenig Berücksichtigung es bislang in der Ausbildung von Kinderpsychotherapeuten findet. »Lehrjahre sind keine Spieljahre« hat Sabine Tibud (2016, S. 330) dieses Dilemma überzeugend beschrieben und ihr Bedauern ebenso wie Möglichkeiten seiner Überwindung erörtert.

Zusammenfassung

Spielen ist mittlerweile anerkannter Bestandteil der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenbehandlung. Spielen können ist allerdings keine Selbstverständlichkeit, weder auf Patienten- noch auf Psychotherapeutenseite. Das psychotherapeutische Spiel findet sowohl als einseitige Inszenierung seitens des Kindes als auch als gemeinsames Spiel in der Begegnung im intermediären Raum statt. Damit das möglich wird, sollten Psychotherapeuten, die mit Kindern arbeiten, spielen können. Sie sollten aber auch über Spielentwicklung und unterschiedliche Spiel-Arten von Kindern Bescheid wissen. Außerdem sollten sie über Wissen zum soziokulturell eingebetteten Spielewandel verfügen.

Vertiefende Literatur

 

Ferro, A. (2003). Das bipersonale Feld. Konstruktivismus und Feldtheorie in der Kinderanalyse. Gießen: Psychosozial.

Freud, A. (1968). Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. Stuttgart: Ernst Klett.

Tibud, S. (2016). Ludo ergo sum – Ich spiele, also bin ich … Kinderpsychoanalytikerin. Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, 171, 313–338.

Weiterführende Fragen

•  Warum musste das Setting der Erwachsenenpsychotherapie für die Behandlung von Kindern verändert werden?

•  Warum funktioniert die »Redekur« bei Kindern nicht?

•  Welche Bedeutung hat das Spiel für die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen?

•  Was kann alles im Spiel dargestellt werden?

•  Kann jeder spielen, oder was muss ein Behandler mitbringen bzw. wieder erlernen?

•  Warum gibt es immer wieder neue Spiele?

1     Nach langen und kontroversen Überlegungen haben wir uns mit sehr viel Vorbehalt entschlossen, in diesem Buch der gewohnteren und daher besseren Lesbarkeit wegen der männlichen Form den Vorzug zu geben, obwohl die große Mehrzahl der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten weiblich ist. Wir bedauern sehr, dass es so wenig männliche Vertreter in unserem Fach gibt und dass uns sprachlich keine adäquatere Lösung eingefallen ist.

2          Spiel und Spielen

 

 

2.1       Was heißt eigentlich »spielen«?

»Die Quelle alles Guten liegt im Spiel«, meinte Fröbel (1782–1852) und deutete an, dass Spielen mehr sein könnte als nur ein Spiel. So wie die Sprache erwachsener Patienten wenig variiert, ob sie nun im Alltag oder in einer »talking-cure« eingesetzt wird, so unterscheiden sich auch die Spiele, die Kinder in die Psychotherapie mitbringen zunächst einmal wenig von denen, die sie in ihrem Lebensalltag spielen (Anzieu, Anzieu-Pemmereur & Daymas, 2006, S. 16 f.). Will man Spiel und Spielen verstehen, ist es daher zunächst wichtig, sich mit dem Spielen ganz allgemein zu beschäftigen, um seine Antriebskräfte zu begreifen.

Spielen, da ist man sich einig, gilt als zentrale Tätigkeitsform des kindlichen Lebens, ist darüber hinaus aber auch für alle Menschen maßgebend, die das Spielerische in sich bewahrt haben. Dabei können Spiele verschiedenartigste Gestalt annehmen und Unterschiedlichstes bedeuten. Das verwundert nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es sich beim Spielen um eine anthropologische Grundgegebenheit handelt, die alle Lebensstufen, Zeitalter und Ethnien einschließt. Während Abfolge und Inhalt des kindlichen Spiels durch den gesetzmäßigen Ablauf der geistigen und motorischen Entwicklung eines Kindes bestimmt werden und universal sind (Largo, 2007, S. 273), variieren die Art und Weise, wie ein Spiel zur Darstellung gebracht, und womit und was gespielt wird, kulturell, alters-, reife- und entwicklungsspezifisch, geschlechtsspezifisch, symptomspezifisch, biographisch und individuell. Diese Möglichkeiten sind bei einer Spieleinschätzung immer mit zu bedenken. Infolge dieser unübersichtlichen Vielfältigkeit kann es auch hier gar nicht um eine umfassende Beschreibung des Kinderspiels gehen. Zentral soll im Folgenden neben dem Hinweis auf die schillernde Unterschiedlichkeit von Spielen, ihre individuelle Ausprägung und entwicklungsbasierte Ausgestaltung, vor allem der Blick auf die Brauchbarkeit des Spiels im psychotherapeutischen Kontext sein.

2.1.1     Spielen als ein Handeln besonderer Art

Paulina Kernberg (1995, S. 11) versteht unter »normalem Spiel« eine mit Freude und Hingabe ausgeführte kreative Tätigkeit, die spontan begonnen und über ein sich entwickelndes Thema zu einem konstruktiven Ende geführt wird. Es kann sich in Übungs- und Funktionsspielen, Explorationsspielen oder Konstruktionsspielen konkretisieren. Es können aber auch fiktive Spiele sein, wie Symbolspiele, Rollenspiele oder Regelspiele. Sie können allein für sich (Geduldspiele), nebeneinander (kleine Kinder im Sandkasten), miteinander oder in großen sozialen Einheiten, mit oder ohne Spielsachen gespielt werden. Spielen geht meist einher mit einer inspirierten Haltung, wie Klaus Teuber berichtet. Er legte als Kind »mit Wollfäden Gebirge und Flüsse auf dem Fußboden« (Teuber, 2017, S. 66) und erfand eigene Regeln für sein Spiel »Römer gegen Karthager«. Jahre später wurde er mit seinem Brettspiel »Siedler von Catan« sehr erfolgreich.

Oerter spricht vom Spielen als einem »Handeln besonderer Art« (Oerter, 2003), das Ausdruck von Psyche, Körper, Bewegung und Imagination gleichzeitig ist. Wer spielen will, muss demnach nicht nur einen Fuß vor den anderen setzen, die Arme heben und zugreifen können. James Herzog (1994) differenziert ausdrücklich zwischen symbolischem (Rollenspiel), motorischem (Balancieren) und interaktivem Spiel (Fußballspielen), die er als Variablen einer »Kapazität zum Spielen« betrachtet, die sich im Einzelfall wie eine »Spielunterschrift« konkretisiere. Das Spielrepertoire eines Kindes, seine Qualität, seine Begrenzungen ebenso wie die darin aufscheinenden Vorlieben verdanken sich der persönlichen Ausstattung und Erfahrung ebenso wie der Resonanzfähigkeit seitens der Umwelt. Spielszenarien spiegeln mithin Erleben und Erfahrungen und können eng mit Wohlgefühl, aber auch mit Schmerz und realen Sorgen verknüpft sein. Traumatisierungen und zufällige Ereignisse überarbeiten immer wieder den Fundus und die Qualität der Spiele (Herzog, 1994, S. 15 ff). Darüber hinaus versteht Herzog das Spiel als »Sprache des Handelns«, welche dazu diene, im Dienste des Ich etwas zu tun, zu wiederholen und ungeschehen zu machen. Besonders jüngeren Kindern, deren sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten noch sehr eingeschränkt sind, gelinge über das Spiel eine unverfängliche Kontaktaufnahme mit der Umwelt, indem es ihnen hilft, ihre Wünsche, Ängste und Fantasien, aber auch ihre Abwehr über Inszenierungen darzustellen, zu kommunizieren und auszuprobieren, sowohl innerhalb des sich entfaltenden Selbst wie auch zwischen dem Selbst und den Anderen (Herzog, 1994, S. 15 ff).

Spielen ist mithin eine hochkomplexe Angelegenheit. Es umfasst geistige Aktivität, die bewusste und unbewusste Fantasien miteinbezieht; körperliche Aktivität, die zu beobachtbarem Verhalten führt und auf die Fähigkeit zur Selbst- und Impulsregulation verweist; sowie Als-ob-Fähigkeit, die die Entwicklung eines inneren Spielraums im Sinne eines »Übergangsraums« nach Winnicott voraussetzt, und die es ermöglicht zu erkennen, dass das, was in Handlung umgesetzt wird, nicht real ist, auch wenn es von dem Kind als wirklich erlebt wird (Neubauer, 1987).

2.1.2     Projektion und Symbolisierung

Im Zusammenhang mit den diversen Spielansätzen ist es sinnvoll, sich eine Erfahrung in Erinnerung zu rufen, die wir Projektion2 nennen. Mit Projektion bezeichnen wir die menschliche Neigung, etwas in Dinge »hinein zu sehen«, oder dahinter zu entdecken. Diese Neigung zu projizieren, Dinge zu beleben, ihnen eine Bedeutung zu geben, sodass über ihre Realexistenz hinaus »Spielräume der Wirklichkeit« entstehen, treffen wir in der Übertragung ebenso wie bei der Spielgestaltung, und wir können diesen Möglichkeitsraum zwischen Ich und Selbst, in dem wir Bilder dessen finden oder entwerfen, was wir sein möchten oder sollten, psychotherapeutisch nutzen.

Projektionen fußen in der allgemeinen menschlichen Bereitschaft, einen inneren Zustand, eigene Erfahrungen, Affekte, Wünsche und Impulse in die Außenwelt zu verlagern. In der Fantasie ebenso wie im Spiel schafft sich das Kind projektiv eine eingebildete Situation (Elkonin, 1980).

»Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt«, sagt Freud (Freud, 1908/2000, S. 171).

Um das zu bewerkstelligen, wird die Welt vom Kind magisch und metaphorisch definiert, ihre Objekte animiert und umgestaltet.

Natürlich gibt es auch präsymbolisches senso-motorisches Spiel, das Aufschluss gibt: Jeder Mensch kann mit seinen Gesten, seiner Stimme, seinen Bewegungen und Handlungen Zeichen setzen. Aber Voraussetzung dafür, dass sich Themen des Alltags ebenso wie des seelischen Geschehens auf spielerische Weise und in bildlicher, szenischer und symbolischer Form z. B. im Rollenspiel Ausdruck verschaffen können, ist die Etablierung der Symbolfunktion. Symbolische Repräsentation aber ist erst möglich, wenn die kognitiven Möglichkeiten eines Kindes sich zur Symbolisierungsfähigkeit hin entwickelt haben. Erst dann kann es wünschen (Dornes, 2005).

Ein gut Dreijähriger war von seiner Mutter liebevoll ins Bett gebracht worden, um immer wieder aufzustehen. Irgendwann war es der Mutter genug, was sie ihm ruhig aber nachdrücklich mitteilte. Sie setzte sich vor sein Bett – eine personifizierte »Schranke«. Die Nachhaltigkeit ihrer Grenze und die Aussichtslosigkeit seines Wunsches provozierten vermutlich über Ohnmachtserleben einen heftigen Wutanfall in dem Jungen. Er blieb liegen, schrie aber: »Hilfe, Hilfe, meine Mutter ist eine Hexe! Hilfe, sie hat ein langes Messer in der Hand! Hilfe, meine Mutter ist eine Mörderin!« Unter dem Druck der Situation und über projektive Mechanismen war die enttäuschend erlebte Mutter für ihn zur Hexe geworden, zur »Anti-Mutter« sozusagen. Er schrie immer wieder und aus Leibeskräften. Mit Rückgriff auf ein gutes Repertoire in seiner Vorstellungswelt veräußerte er voller Vertrauen kathartisch seine ganze Enttäuschungswut und gab ihr gleichzeitig projektiv Gestalt. Die Mutter war total überrascht und völlig aufgewühlt, wie heftig Ohnmacht und Verzweiflung ihren Sohn mitnahmen. Glücklicherweise musste sie infolge ihrer Einfühlung in die kindliche Befindlichkeit nicht reaktiv real zur »Hexe« werden.

Heftige Impulse und intensive, vor allem aggressive Gefühle sind aber nicht nur schwer auszuhalten, sie bedrohen auch Beziehung und Spiel. Die Art und Weise, wie sich der Junge im Beispiel in einen heftigen affektiven Zustand hineinwagte, spricht für ein Fundament emotionaler und sozialer Sicherheit, das heute mit »guter Bindung« oder »sicherem Ort« umschrieben wird. Und er verfügte über Vorstellungen in seiner Fantasie, in die er seine Affekte kleiden konnte.

2.1.3     Inszenierung und Szenisches Verstehen

Szene ist ursprünglich kein psychologisches Konzept. Im Schauspiel ist die Inszenierung die kreative Reproduktion einer Vorlage. Die Gestaltung einer Szene geschieht in der Regel im Rollenspiel, wo etwas in Szene gesetzt wird. Goffman hat soziales Handeln überhaupt als »Theater«, als Selbstpräsentation und Selbstinszenierung, analysiert (Goffman, 1959/2003). Therapeutisch wurde das Rollenspiel von Moreno (1959) als »Psychodrama« in die Psychotherapie eingeführt3. Die von Hermann Argelander und Alfred Lorenzer auf dem Boden hermeneutisch-kommunikationstheoretischer Orientierung eingeführten Begriffe »Szene« und »Szenisches Verstehen« dagegen konzeptualisieren die lebensgeschichtlich internalisierten Beziehungserfahrungen und ihre Wiederauflage im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen im Rahmen der psychotherapeutischen Begegnung. Indem sie davon ausgehen, dass die (spielerische) Begegnung durch das Kind nach dem Muster und als Reproduktion früherer und/oder traumatisch bedingter Vor- oder Realerfahrungen gestaltet wird, betonten sie die Bedeutung der Intersubjektivität in der Psychoanalyse. Es geht in ihrem Konzept also um die Übertragung intrapsychischer Kommunikationsmuster oder Interaktionsformen, die situativ unbewusst aktiviert werden vermittels der »szenischen Funktion des Ichs« (Argelander, 1970). Folgt man diesem Ansatz, dann übertragen Kinder ihre Gefühle, Erlebnisse, Wünsche und Bewertungen auf Spielfiguren im Außen und arrangieren sie unter Zuhilfenahme ihrer Fantasie und dramaturgisch gehalten in Szenen. Dieser Prozess kann mal mehr kreativ problemlösenden, mal mehr konfliktabwehrenden Charakter haben. In jedem Fall verweist eine Szene – wie das Symbol – immer auf ein anderes Geschehen und wirkt neben der manifesten Kommunikation wie ein zweiter Dialog – Argelander spricht von einem »Geisterdialog«.

In Abgrenzung zum logischen Verstehen des inhaltlich-sachlichen Gehalts von Kommunikation und Interaktion (Verstehen des Gesprochenen), und in Abgrenzung vom psychologischen Verstehen des emotionalen Beziehungsgehalts (Verstehen des Sprechens), erfordert das szenische Verstehen eine Einstellungsveränderung. Nun geht es um das Verstehen von Szenen, die sich in Interaktionsprozessen organisieren, und das Augenmerk ist auf die Situation und das Symbolische, nicht unmittelbar Reale ausgerichtet. Analog zur Traumarbeit wird das Wirken von affektiv-kognitiven Bearbeitungsmechanismen wie Verschiebung und Verdichtung angenommen, und es werden dynamisch unbewusste Strukturen und Prozesse unterstellt. Hermeneutisches Ziel eines direkten oder spielerischen Dialogs ist dann eine Annäherung an diese unbewussten, verinnerlichten dynamischen Interaktionsvorgänge (Drews, 2000). Man spricht von tiefenhermeneutischem Verstehen der in Szenen verborgenen Lust, Wünsche, und Abwehrvorgänge. Dabei steht »der Analytiker […] nicht in beschaulicher Distanz zum Patienten, um sich – wie aus einer Theaterloge – dessen Drama anzusehen. Er muss sich aufs Spiel mit dem Patienten einlassen, und das heißt, er muss selbst die Bühne betreten. Er nimmt real am Spiel teil« (Lorenzer, 1974, S. 138), wird zum Mitspieler, vielleicht auch mal Regisseur. Methodologisch geschieht dies immer auf der Grundlage seiner psychodynamischen Kompetenz, einer spezifischen professionellen, klinisch vermittelten Kunstfertigkeit zum Verstehen und entwicklungsfördernden Beeinflussen unbewusster Strukturen und Prozesse (Fürstenau, 1992).

2.2       Freies Spielen

Piaget (1949) weist darauf hin, dass alles, was wir Kinder lehren, oder wo wir sie hinführen, sie nicht mehr selbst entdecken können. Hüther und Quarch (2016) fordern, diese Einsicht auch im psychotherapeutischen Spielprozess zu berücksichtigen, das Spiel nicht zu instrumentalisieren und das Kind nicht zum bloßen Objekt therapeutischer Beeinflussung werden zu lassen.

2.2.1     Zentrum eigener Aktivität

Spielen schafft ein Wohlgefühl, weil das Kind etwas bewegt, weil es etwas bewirkt und weil es etwas kann. Nirgends strengen sich Kinder mehr und ausdauernder an, um ein eigenes Ziel zu erreichen, als beim spontanen und freien Spiel. Karl Bühler hob in seinem Konzept der Funktionslust4 den psychischen Profit solchen Bewegens und Gestaltens im Spiel als ein zentrales Motiv kindlichen Spielens hervor, und benannte neben der Wirkmächtigkeit vor allem die kindliche Freude am Ausprobieren (Bühler, 1930).

»Was Kinder beim Spielen erzeugen und gestalten, das ist ihre Wirklichkeit, in der Subjektivität und Objektivität der inneren und äußeren Tatsachen zu einer Einheit verschmelzen: dem kindlichen Spiel« (Mogel, 1991, S. 10).

In vielen Wiederholungen, manchmal auch Ritualisierungen überprüfen und variieren Kinder ihre Erkundungsfahrt in die Wirklichkeit. So kommt das Neue ins Spiel:

»Nirgendwo sonst als im Spiel kann das Kind sich so eigenständig, aktiv und selbstgewählt überraschen« (Mogel, 1991, S. 16).

Gelingt es ihm, das Unvermutete, das Neugewonnene in seinen Erfahrungsschatz zu integrieren, ermöglicht das damit einhergehende Wohlgefühl zunehmend auch einen zuversichtlichen Blick auf die eigene Person und stärkt das Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten. Im negativen Fall von Ent-Täuschung seiner selbstgesetzten Spielerwartungen hat das Kind die Chance, sich gegebenenfalls mit seiner Fehleinschätzung oder Selbstüberforderung zu konfrontieren und flankiert vom Beistand der Erwachsenen zu lernen, sein Anspruchsniveau angemessener einzuspielen: Das heißt vielleicht eher »kleinere Brötchen zu backen«. Einen solchen Part kann auch der Behandler bekommen. Oder er kann das Kind zurückhaltend und einfühlsam bei seinen beständigen Wiederholungen begleiten, die Hoffnung nicht aufzugeben, und es immer wieder zu versuchen, bis es klappt (Aufbau eines Spannungsbogens). Oder er kann als Hilfs-Ich in haltender Funktion mithelfen, Gefühle des Missgeschicks und die damit einhergehende Enttäuschung auszuhalten, das Unglücklichsein konstruktiv zu überwinden, sodass sich das Kind auch mit solcherart psychischen Herausforderungen vertraut machen kann. Anna Freud beschreibt mit der »Identifikation mit dem Aggressor«5 eine weitere Möglichkeit von Kindern, sich dem Bedrohlichen anzunähern: Kinder übernehmen identifikatorisch die Merkmale des bedrohlichen Gegenübers, oder verschieben sie im Spiel vielleicht auf eine Puppe oder ein Spieltier, das nun bewundert, geliebt, verehrt, oder aber gefürchtet wird, aber nicht mehr tatsächlich von außen gefährlich werden kann6.

Illustrierend erzählt Anna Freud ein schönes Beispiel von einem kleinen Mädchen mit Dunkelangst. Als die Kleine es schließlich schafft, mit magischen Gebärden trotz aller Anfechtungen den gefürchteten Raum zu durchqueren, weiht sie gleich danach triumphierend ihren kleinen Bruder in das Geheimnis ihrer Angstbewältigung ein:

«Du musst nur spielen, dass du selber der Geist bist, der dir begegnen könnte« (Freud A., 1936/1984, S. 86).

Durch das Eins-Werden mit der angstauslösenden Person wechselt das Kind von der Opfer- oder Dulderrolle zur aktiven Initiatorrolle.

2.2.2     Schutzraum des Zweckfreien

In der psychodynamischen Arbeit ist der Kinderpsychotherapeut kein Spielleiter, der die Aufgabe hat, durch gezielte Auswahl oder Einsatz von Spielen zu »reparieren«, weshalb auch »Spieltherapie« kein zutreffender Begriff ist. Es geht dezidiert um »non-utilitaristisches« Spiel (Karl Bühler), was eine Instrumentalisierung und Zweckorientierung des Spiels ausschließt. Der Psychotherapeut stellt lediglich sich und den Spielraum bereit, und das Kind tritt in diesen ein und entfaltet im guten Fall sein Spiel so und auf der Ebene der Spielentwicklung, wo und wie ihm das möglich ist. Auch wenn sich das meiste im derart spontanen, selbstgewählten, freien Spiel › aus dem Stegreif‹ entwickelt, verfolgen Kinder in ihren Spielen immer bestimmte Ziele, und die sind, wie auch die Spielhandlungen selbst, immer auch auf das Hier und Jetzt, also die Begegnung in der Gegenwart bezogen. Dabei wechseln kindliche Spiele mehr oder weniger assoziativ: Handlung erfolgt um der Handlung willen, was keinesfalls heißt, dass Spielinhalt oder -geschehen gleichgültig oder austauschbar wären. Es besagt, dass, auch wenn das Spiel ein bestimmtes Thema hat (Autofahren, Mutter und Kind, Räuberspielen) und es aus dem aktuellen Wunsch oder dem Interesse des Kindes erwächst, es meist nicht oder nur zu Beginn überlegend geplant wird. Jede Bewegung kann den Blick des Kindes auf etwas Neues lenken, jede Spielhandlung kann sich mit einem neuen Gedanken verknüpfen – immer vorausgesetzt, dass Spielfähigkeit gegeben und Spielen möglich ist.

»Die Antriebe und Gedanken kommen ungewollt, wie Assoziationen, die an einer Kette laufen. Wie Traumphantasien im Schlaf oder bei Tagträumereien. Erlebnisse des täglichen Lebens bilden meist eine Grundlage des Spiels, Darstellung von Geschautem und Gehörtem« (Wolffheim, 1973, S. 155)

Spielen lebt mithin aus der Gegenwart heraus und ist gleichzeitig gelebte Gegenwart des spielenden Kindes. Das schließt aber keinesfalls aus, dass vergangenes Erleben und zukunftsbezogene Erwartungen und Wünsche spielerisch in den Spielverlauf eingearbeitet werden.

Wenn sich Spiel auf diese Weise entfalten soll, braucht es eine »Beschäftigung des Kindes, die ohne äußeres Ziel sich aus freien Einfällen schöpferisch fortschreitend entwickelt« (Wolffheim, 1973, S. 155). Gemeint ist ein fast vollständiger Verzicht auf Fremdeingriffe. Das Spiel bewegt sich allein aus der spontanen Eingebung in der gegebenen Situation außerhalb des Kindes und ist keinesfalls bloß intrapsychisch motiviert. Es ist aber auch nicht erstrangig der äußeren Welt zuzuordnen, obwohl das Kind die situativ gegebenen Anmutungen ins spielerische Tun einfließen lässt und die »Tücke des Objekts«, das heißt reale Gegebenheiten bedenken muss und zu spüren bekommt.

Moreno7 schildert ein Spielbeispiel aus der eigenen Kinderzeit 1894. Er ist damals viereinhalb Jahre alt, und hatte sich eines Sonntags mit einigen Nachbarkindern getroffen:

»Beim Versuch, ein Spiel auszudenken, kam ich auf die Idee: ›Lasst uns Gott und seine Engel spielen!‹ ›Aber wer soll Gott spielen?‹ ›Ich bin Gott und ihr seid meine Engel‹, erwiderte ich. Die anderen Kinder stimmten zu. ›Wir müssen zuerst die Himmel bauen‹, erklärte eins der Kinder.«

Sie schleppten Stühle aus dem ganzen Haus in den Keller, und türmten sie wie eine Pyramide,

»bis wir die Decke erreichten. Dann halfen mir alle Kinder, auf den obersten Stuhl zu klettern, wo ich einigermaßen sitzen konnte. Die Kinder gingen dann singend um den Tisch herum, wobei sie ihre Arme als Flügel benutzten. […] Plötzlich fragte mich eins der Kinder: ›Warum fliegst du nicht?‹ Ich breitete meine Arme aus und versuchte es. […] Einen Augenblick später fiel ich und fand mich mit gebrochenem rechten Arm auf dem Boden wieder« (Moreno, 1995, S. 21 f).

Dies ist ein gutes Beispiel für die Grenzen, die – von der Wirklichkeit gesetzt – im Spiel erfahrbar werden, anders als in der Fantasie, wo man sich eben nicht den Arm brechen kann. Dennoch ist das Spielen oft begleitet vom Hauch des Abenteuers, vom Reiz des Unbekannten, manchmal auch des Verbotenen – aber immer währt ein Spiel nur eine begrenzte Zeit und ist bezogen auf die jeweilige Situation.

2.2.3     Flow

Spielen kann von ganz unterschiedlicher Qualität sein. Spiele können explorativ, innovativ, improvisiert, aber auch getrieben oder leer und bedeutungslos sein, manchmal sind sie fahrig und oberflächlich. Ein Qualitätsmerkmal ist z. B. nach Herzog (1994) ihre Variabilität.

Ein Mädchen, das nach den langen Sommerferien gerade eingeschult worden war, spielt zu Beginn auffallend unstrukturiert und sprunghaft. Sie bemerkt selbst ihre raschen Spielwechsel: »Ich muss mich erst wieder einspielen bei dir!« sagt sie, ihre unsicher suchende Bewegung fast entschuldigend. Ich nicke und denke an das viele Neue, das sie gerade erlebt, und an die Verunsicherung und Angst, die der Schuleintritt schon vor den Ferien in ihr auslöste. Die Veränderung hat offensichtlich ihr grundlegendes biographisch begründetes Gefühl, nicht angemessen wahrgenommen und gehalten zu werden, wieder hochgespült, und damit ihren Konflikt um Gehalten- und Fallengelassen-werden aktualisiert, was sich über den ›zappenden‹ Spieleintritt mitteilt.

Dieses Mädchen hatte aber auch bereits erlebt, dass man in und über das Spiel in eine Art »Flow«8 kommen kann. Gemeint sind Spielphasen, in denen das Kind, aber auch der Psychotherapeut, über ein Sich-Vertiefen, Versinken9 oder gar Sich-Im-Spiel-Verlieren restlos in der Tätigkeit aufgehen, und Zeit und Raum entrücken. Es ist ein selbstvergessener und gleichzeitig hochkonzentrierter Zustand innerer Absorption, in dem das rationale Bewusstsein, das Sekundärprozesshafte ebenso wie das wertende Ich heruntergedimmt sind zugunsten eines eher völlig intuitiven Vertieft-Seins. Alles schwingt dann in einen eher langsamen Rhythmus, hin zu einem Zustand produktiver Harmonie. Solcherart selbstvergessenes und unbekümmertes Spiel steht historisch im Zentrum psychodynamischer Kindertherapie. Es entfaltet sich im guten Fall aus den nicht vorgegebenen, nicht geleiteten, sondern selbst gefundenen oder selbstgewählten Spielen der Kinder, sofern ihnen Zeit und Raum dafür gegeben sind und sie eine entsprechende innere Repräsentanz entwickeln konnten.

Im Folgenden sollen einige weitere wichtige Aspekte angesprochen werden, deren Entwicklung für das freie Spielen unverzichtbar sind.

2.3       Spielfreude

Kinder leben und lernen, indem sie spielen. Spielen bedeutet für ein Kind Entspannung und Unterhaltung, Freude und Erholung, manchmal auch Refugium. Auch in der Psychotherapie ist es möglich, sich mit diesem mächtigen Antrieb zu verbünden, sodass die Spielfreude zu einem wesentlichen intrinsisch verstärkenden Faktor wird. Es wäre aber ein Missverständnis, Spielfreude bei jeder Spielart oder in jeder Spielsituation selbstverständlich zu erwarten. Eher kennzeichnet Ambivalenz das Spiel: Freude und Leid, Lust und Unlust, Vergnügen und Missvergnügen, die oft schnell wechselnd ein Kinderspiel begleiten. Ein Kind beispielsweise, das mit verschiedenen Klötzen einen Turm baut, ist glücklich, wenn sein selbstgesetztes Bauvorhaben gelingt; ein anderes reagiert beglückt, wenn es den Turm mit Getöse zusammenkrachen lassen kann, weil der selbsterzeugte Lärm seine Begeisterung entzündet. Dasselbe Kind ist enttäuscht, vielleicht auch zu Tode betrübt, wenn der Turm zusammenfällt, weil sich die Tücke des Objekts seiner Ambition widersetzt, und es hilflos dem Misslingen seines Projekts Turmbau gegenübersteht. In der Regel entscheidet sich am Zusammenwirken von Spielerfahrung, Spielmotiv, Spielziel und Spielergebnis, ob Kinder sich als kompetente Akteure erleben, die sich im Spiel selbst gestaltend mit der Umwelt auseinandersetzen können.

2.4       Neugier

Neugier ist die wichtigste Triebfeder im Prozess spielerischen Handelns, und die Lust am Entdecken ist allen Kindern angeboren. Vergegenwärtigt man sich die Ausgangssituation von Kindern, dann wird offensichtlich, dass für sie die Begegnung mit Neuem nicht die Ausnahme ist, sondern die Regel. Sie leben in einer Welt, in der Gewohnheiten und Routinen noch kaum existieren. Alles, ihr Körper, ihre Lebenswelt, muss erst einmal »erobert« werden, damit das Unbekannte zu Bekanntem und Vertrautem werden kann. Vor diesem Hintergrund kann man die Angst der Kinder vor dem Unbekannten nachvollziehen, die ihre Faszination begleitet. So erklärt sich auch, wie sehr Kinder Spielmöglichkeiten brauchen, die ihnen helfen, sich über Wiederholung und Ritualisierung immer wieder ihrer Affekte und Gefühle ebenso wie ihrer, wenn auch noch rudimentären Möglichkeiten zu vergewissern, und sich auf diese Weise zunehmend stabil und kundig zu machen in der Welt. »Living by learning und learning by doing«, sagt man und meint das eigene Lernen durch Versuch und Irrtum sowie das beharrliche Üben, aus dem sich schließlich das Fragen und Denken ergibt. Piaget sah vor allem im kindlichen Spiel einen Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit.

Das gilt natürlich insbesondere auch für die bedrohlichen, heftigen oder verstörenden Seiten des Daseins. Viele Erwachsene versuchen aber, Belastendes aus den Kinderleben herauszuhalten, sei es aus falsch verstandener Schonung oder als Ausdruck ideologischer Überzeugungen. In der Folge fehlt vielen Kindern die Chance genauso wie die zwischenmenschliche Unterstützung, mit dem Unangenehmen und Bedrohlichen einen spielerischen Umgang zu üben und ihm so seinen Schrecken zu nehmen. Dann kann es in einer Behandlung durchaus passieren, dass das Kind von seinen im freien Spiel freigesetzten unvertrauten vitalen Affekten nicht nur überrascht, sondern auch überrollt wird.

Ein Junge z. B., in einer machtvollen Rolle agierend und verstärkt mit einem Laserschwert, der mit seiner eigenen ihm bis dahin unbekannten heftigen inneren Welt auf der spielerischen Bühne konfrontiert wird, kann angesichts des Ausmaßes seiner nun offen-sichtlichen destruktiven Energie zutiefst erschrecken, und ist vielleicht außerstande, die Irritation seines Selbsterlebens zu verarbeiten.

2.5       Fantasie

Sigmund Freud begriff das Spiel als Umgestaltung der Realität mittels Fantasie. Wir alle haben ein reges Fantasieleben. Die Möglichkeit, Fantasien auszubilden ist ein Weg, mit der eigenen inneren und äußeren Welt umzugehen, und sich mit bislang unverstandener, schwer akzeptierbarer oder gar unerträglicher Realität über illusionäre Abfederung anzufreunden.