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Wüsten zählen nicht nur zu den extremsten Orten der Welt, sie sind auch seit je her ein Ort der Selbsterfahrung, Neuorientierung und Gottesbegegnung. Auch Andreas Knapp ist schon viele Male in die Wüsten der Welt aufgebrochen um sich den Extremen auszusetzen und Gott in der Stille und Einsamkeit neu zu erfahren. So wie ihn, faszinieren Wüstenreisen immer mehr Menschen. Sie treibt nicht nur Abenteuerlust, sondern auch der Hunger nach spiritueller Erfahrung an. Andreas Knapps Buch ist ein spiritueller Reisebegleiter: 18 Einheiten mit inspirierenden Texten, Lyrik und Bibelimpulsen beschäftigen sich mit Themen wie Stille, Freiheit, Einsamkeit, aber auch Gastfreundschaft und Wunder des Lebens. Ab in die Wüste!
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Seitenzahl: 98
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Andreas Knapp
Spirituelle Auszeit in der Wüste
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Covergestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv: © pixalot/iStock.com
Vignetten im Innenteil: © Danussa/shutterstock.com
Die Bibeltexte sind entnommen aus:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
ebook-Konvertierung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
ISBN Print 978-3-451-37713-6
ISBN E-Book 978-3-451-81427-3
Andreas Knapp
Spirituelle Auszeit
in der Wüste
Impulse zum Auftanken
Inhalt
Ab in die Wüste!
Aufbrechen
Staunen
Sich aussetzen
Wahrnehmen
Neu Ausrichten
Zum Schluss: Gönn dir einen Wüstentag!
Literatur (Auswahl)
Quellenverweise
Ab in die Wüste!
»Zu einer Oasenfahrt würde ich mitkommen, aber zu einer Wüstentour?« So reagierte ein Freund, als ich ihm erzählte, dass ich mit dem bekannten Wüstenabenteurer Gisbert Greshake zu einer fünfwöchigen Sahara-Fahrt aufbrechen werde.
In der Tat, warum soll man sich das antun, warum abgestandenes, warmes Wasser trinken, wenn man doch anderswo eisgekühlte Getränke genießen könnte? Warum verstaubt und verschwitzt in verdreckter Kleidung umherlaufen, anstatt seine Ferien in einer gepflegten Wellness-Oase zu verbringen? Warum Hitze, Sandstürme und eintönige Landschaften aushalten, statt sich bei gemütlichen Wanderungen durch grüne Wälder und Wiesen zu erholen? Warum also in die karge Wüste ziehen, wenn man es sich doch in den Urlaubsparadiesen mit Pool und überreichem Buffet gemütlich machen könnte?
Ein bisschen hirnverbrannt muss man schon sein, um in ein Land der verbrannten Erde zu ziehen ...
Und dennoch: Die Wüste lockt! Seit ich als Student der Theologie eine Woche lang in der Sinai-Wüste unterwegs war, hat mich die Magie dieser Landschaft immer wieder verzaubert. Denn in der Wüste prallen die Gegensätze hart aufeinander: Hitze und Kälte, Unfruchtbarkeit und Leben, wasserlose Zonen und blühende Oasen. Viele Male war ich im Sinai, im Negev, in der Wüste Juda; ich habe die Sahara durchquert, 40 Tage als Einsiedler in Algerien und später in einer Halbwüste Spaniens gelebt, bin mit dem Fahrrad durch die Wüste von Syrien und Jordanien gestrampelt. Manches ist heute nicht möglich, weil Kriege und Unruhen das verbieten. Doch der Durst vieler Menschen nach Wüste ist ungebrochen groß und viele Reiseunternehmen bieten Wüstentouren an: zu Fuß, auf Reitkamelen oder mit dem Landcruiser. Reisen zu den großen Kulturdenkmälern Ägyptens werden mit Wüsten-Expeditionen verbunden. Und selbst in China werden Touristen in die große Wüste Taklamakan geführt.
Die Motive für Wüstenreisen sind vielfältig: Abenteuerlust, Interesse an fremden Kulturen, ein einfaches Leben fernab unserer überzivilisierten Welt, Sehnsucht nach Stille. Die Wüste wird beschrieben als »Ort, der dich bei dir selbst ankommen lässt«. In der Wüste kann man die Sinne wie Hören oder Schmecken feiner erleben. Hier kann sich jeder selbst neu erfahren. Es geht darum, die Komfortzone zu verlassen, um sich selbst intensiver zu spüren. Und immer wieder: der Hunger nach spirituellen Erfahrungen.
Der vorliegende Reisebegleiter will dazu anregen, vor allem die spirituellen Dimensionen der Wüste besser wahrzunehmen. Den hier vorgeschlagenen Themen müssen Sie sich nicht unbedingt in der angegebenen Reihenfolge zuwenden. Wählen Sie je nach Länge und Gestaltung der Wüstenreise und entsprechend Ihren persönlichen Fragen jeweils ein Tagesthema. Und wenn Sie nicht in die »wirkliche Wüste« reisen können, so halten auch Gebirgstouren oder Pilgerwege manche Aspekte einer Wüstenfahrt bereit. Noch ein kleiner Tipp. Auch wenn Sie sonst nie Tagebuch schreiben: In der Wüste kann diese Übung helfen, sich selbst und Ihre Umgebung wacher und aufmerksamer wahrzunehmen. Und in der Nachlese kann man oft einen roten Faden entdecken, der etwas von der Richtung, vom Sinn des Lebens erahnen lässt.
Ich wünsche Ihnen, dass die hier angebotenen Impulse helfen, alle Sinne zu öffnen, um den Reichtum zu entdecken, den die Wüste für Sie bereit hält.
Ihr Andreas Knapp
Leipzig im April 2018
Aufbrechen
Lust auf Abenteuer
Meine erste Begegnung mit der Wüste war rein phantastisch: Als Jugendlicher ließ ich mich von Karl Mays »Durch die Wüste« zu Phantasiereisen in den Orient entführen. Diese Lektüre beflügelte meine Träume von Wildnis und Weite. Doch neugierig war ich im Prinzip von früher Kindheit an, denn von Anfang an ist der Mensch ein Neugier-Wesen: Schon das kleine Kind erkundet seine Umgebung. Es will sämtliche Schubladen und Türen öffnen, um zu erfahren, was sich in und hinter ihnen verbirgt. Der Drang, Neues zu erfahren und in fremde Lebensräume vorzudringen, ist tief in uns verankert.
Zugleich kennen wir das Bedürfnis, uns schön einzurichten und unser Leben abzupolstern. Wie mächtig dieses Bedürfnis nach Sicherheit in uns steckt, wird an den ungezählten Versicherungsgesellschaften deutlich, deren Angebote alle Lebensbereiche umfassen. Ähnlich wie die Banken errichten sie ihre imposanten Kathedralen, um das Sicherheitsbedürfnis der Menschen – kostenpflichtig – zu verwalten. Wer etwa auf Reisen geht, kann sich mit einem »Rundum-sorglos-Paket« gegen alle Eventualitäten abfedern.
Doch diese überversicherte Art, durchs Leben zu gleiten, wird irgendwann reizlos. Denn der Mensch sucht ja auch das Reizvolle, die Herausforderung, das Abenteuer. In einer Gesellschaft, in der jedes Risiko vermieden wird, kommen zugleich Risiko-Sportarten in Mode: Viele wollen ausbrechen und den Kitzel des Extremen verspüren.
Die Wüste lockt durch einen besonderen Reiz: Sie verblüfft uns Mitteleuropäer durch ihre Andersartigkeit. Als Gegenlandschaft zur vertrauten Heimatumgebung fordert die Wüste die Abenteuerlust heraus: Dort wartet das Fremde, Unbekannte, Gefährliche. Die Sehnsucht nach Urtümlichkeit und einfachem Leben bricht sich Bahn. Das Bedrohliche provoziert geradezu, die gesicherte und damit auch langweilige Umgebung zu verlassen und sich selbst neu auszuprobieren.
Daheim ist das vollklimatisierte Auto mit Navi selbstverständlich geworden. Nun bricht man auf in die Wüste und setzt sich dort freiwillig einem extremen Klima aus, Hitze und Kälte, Sandsturm und Trockenheit. Man hat die Kochsendungen im Fernsehen satt und ist der exklusiven Delikatessen überdrüssig. In der Wüste freut man sich über das einfache Essen, auf Wasser und Brot. Hier kann man auf dem Boden schlafen, abends am Feuer sitzen, sich an den Sternen orientieren. Und die Landschaft ist so merkwürdig bizarr, erschreckend leer, ungewohnt verformt: Sie nimmt uns gefangen, bannt uns durch ihren Zauber, legt aber auch einen leisen Schauder auf uns. Wenn wir nach Abenteuer dürsten, dann sind wir hier richtig.
Biblischer Impuls
Die Wüste ist eine biblische Urlandschaft. Viele der großen Erzählungen aus der Bibel spielen in der Wüste. So zum Beispiel die Geschichte von Mose, der mit seiner Herde immer weiter in die Steppe hinauszieht. Schließlich wird Mose in der Wüste Sinai auf eine ungewöhnliche Erscheinung aufmerksam:
Da erschien ihm der Engel des Herrn in einer Feuerflamme, mitten aus einem Dornbusch heraus. Als er hinsah, nahm er wahr, dass der Dornbusch wohl brannte, aber vom Feuer nicht verzehrt wurde. Da dachte Mose: Ich will doch hingehen und dieses seltsame Schauspiel betrachten, warum der Dornbusch nicht verbrennt. Als der Herr sah, dass er herantrat, um nachzusehen, rief Gott ihm aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose! Dieser antwortete: Hier bin ich! Da sprach er: Tritt nicht näher heran! Zieh deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden!
(Ex 3,1–5)
Zum Wahrnehmen und Bewähren
Um in dieser neuen und so fremden Landschaft gut anzukommen, empfehle ich eine kleine Übung für die Sinne: Ich nehme mir etwa eine Stunde Zeit für einen Wahrnehmungsspaziergang. Dabei ist es wichtig, sehr langsam und aufmerksam zu gehen. Denn wer schnell geht, geht an vielem vorbei.
Daher versuche ich, zunächst einmal sehr bewusst zu schauen. Ich kann öfter stehen bleiben, um etwas näher zu betrachten: eine Spur, einen Stein, einen Grashalm.
Dann stelle ich mich an einen Platz, von dem aus ich eine gute Übersicht habe, und schaue in die Landschaft hinaus. Dabei konzentriere ich mich auf einen bestimmten Ausschnitt und lasse auf mich wirken, was ich sehe: Formen, Farben, Strukturen …
Ich ziehe die Schuhe aus und mache mir bewusst, dass ich auf »heiligem Boden« stehe. Denn an jedem Ort dieser Erde können wir Göttliches erfahren, wenn wir achtsam sind.
Ich schließe die Augen. Einige Minuten lang versuche ich, ganz bewusst zu hören: den Wind, Geräusche aus der Ferne, die Stille …
Nun wende ich mich den Dingen meiner Umgebung zu, um sie zu ertasten: Wie fühlt sich ein bestimmter Stein an, der Sand, ein Grashalm? … Danach gehe ich barfuß ein paar Schritte weiter und spüre den Kitzel des feinen Sandes.
Ich kann auch meinen Geruchssinn betätigen: Wie riecht die Wüste − die Erde, der Sand, eine Pflanze?
Vielleicht finde ich schließlich noch etwas, das ich schmecken kann, zum Beispiel eine Dattel oder einen Schluck Wasser aus meiner Trinkflasche.
Mit einer Geste der Ehrfurcht, etwa einer Verneigung, schließe ich diese Übung ab. Ich gehe langsam und gesammelt wieder zurück.
Denkanstöße
Wer in die Wüste geht und wiederkehrt, ist nicht mehr derselbe.
Arabisches Sprichwort
Die Leidenschaft, die der Nomade für seine Wüste empfindet, ist, so glaube ich, auch der Schimmer des Göttlichen im Menschen. Die Wüste ist wie ein Spiegel; jeder kann sie in der Tiefe seines Wesens tragen.
Mohamed Aoutchiki, Touareg
Die Wüste ist heilig, weil sie ein vergessener Ort ist, der es uns erlaubt, uns wieder an das Heilige zu erinnern. Vielleicht ist deshalb auch jede Pilgerreise in die Wüste eine Pilgerfahrt zu sich selbst. Es gibt keinen Platz, um sich zu verstecken, – und so werden wir gefunden.
Nach Terry Tempest Williams
beduine
was bedeuten dir grenzen
dein ist die erde
so weit wie der himmel
die sesshaften
aus ackerlehm geformt
du aber windhauchgezeugt
fußunter kein fester grund
nur der bewegliche sand
ihr wandert gemeinsam
vom sturm getrieben
der von nirgends her weht
und überall hin
Ein Hauch von Freiheit
Wer in die Wüste zieht, geht ins Freie. Er oder sie schläft nicht mehr in geschlossenen Räumen, sondern unter freiem Himmel im 1000-Sterne-Hotel. Natürlich braucht der durchschnittliche Mitteleuropäer – schon rein aus klimatischen Gründen – ein festes Dach über dem Kopf. Und um sich vor ungebetenen Gästen zu schützen, muss man sich einschließen. Bewegungsmelder und Alarmanlagen errichten elektronische Barrikaden. Doch wer die Tür hinter sich verschließt, setzt sich selbst gefangen.
Auch die Arbeitswelt wird oft als Diktat erlebt: Am Arbeitsplatz muss man funktionieren. Leistungen werden kontrolliert und evaluiert. Der Terminkalender unterwirft uns einem immer schneller werdenden Takt. Haben wir noch echte Frei-Zeit? Und wirkliche Frei-Räume?
In der Wüste herrscht ein anderes Zeitmaß, ein entgrenztes Raumgefühl. Wir müssen nicht auf unsere Außenwirkung achten, auf die Arbeitsvorschriften, nicht einmal mehr auf die Verkehrsregeln, weil diese in der Wüste ihren Sinn verlieren.Die Abläufe unseres normalen Lebens sind oft bis ins Detail festgelegt. Überall sind Grenzen gesetzt, bis hin zum Gartenzaun, der uns vom Nachbarn trennt. In der unermesslichen Weite der Landschaft verändern sich die gewohnten Maßstäbe. Wer eine (fast) unberührte Landschaft betritt, verlässt die eng gestrickten Muster der menschlichen Gesellschaft, in der das Räderwerk von Arbeit und Konsum uns ständig am Laufen hält. In der Wüste sind wir frei von beruflichen und sozialen Verpflichtungen und stehen nicht unter dem Erwartungsdruck der Gesellschaft. Hier gibt es keine Zäune und Begrenzungen: Das Land liegt offen vor uns, weit und frei. Wir müssen keinen Wegweisern und Fahrspuren folgen, auch wenn dies manchmal zu empfehlen ist. Prinzipiell aber steht das Land in allen Richtungen grenzenlos offen, und wir können entscheiden, wohin wir gehen oder fahren wollen.
Aber wohin will ich? Karl Valentin hielt Passanten auf der Straße an und fragte sie: »Können Sie mir bitte sagen, wo ich hinwill?« Ja, was will ich eigentlich? Wir sehnen uns danach, uns von den äußeren Zwängen und Erwartungen zu befreien. Aber wenn ich dann ganz auf mich gestellt bin, ist es oft gar nicht so einfach zu spüren, was ich selber will. Viel zu lang und viel zu mächtig sind wir verfangen im Erwartungsnetz der anderen. Wir haben gelernt, intuitiv zu spüren, was andere von uns wollen und wie sie wollen, dass wir sind. Wir haben uns angepasst an ihre Wünsche, eingepasst in die Rahmenbedingungen unserer Arbeit. Und haben uns dabei manchmal sogar selber verpasst.