Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten - Jens Kleinert - E-Book

Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten E-Book

Jens Kleinert

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Beschreibung

Das Buch beschreibt den aktuellen Stand zum Thema Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten, darunter Definitionen, Prävalenz, Entstehungsbedingungen, Diagnostik und Therapie. Es behandelt sowohl das Auftreten von Sportsucht in spezifischen Bereichen wie Ausdauersport und Fitnesssport als auch die Zusammenhänge mit anderen Störungsbildern wie etwa den Essstörungen oder der Muskeldysmorphie. Neben Entstehungsmodellen werden psychische und psychopathologische Hintergründe, diagnostische Möglichkeiten (z. B. Fragebögen) sowie präventive und therapeutische Ansätze aufgezeigt.

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Autorinnen und Autoren

 

Jens Kleinert

Prof. Dr. Jens Kleinert, Dipl.-Sportlehrer; approb. Arzt; Leiter der Abteilung Gesundheit & Sozialpsychologie des Psychologischen Instituts der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS); Arbeitsschwerpunkte Motivation, Emotion, Psychische Gesundheit, Stress, Gruppe/Beziehung; 2004–2006 Professur für Sport und Gesundheit am Institut für Sportwissenschaft der Universität Würzburg; seit 2006 Professur für Sport- und Gesundheitspsychologie an der DSHS Köln; seit 2014 und bis 2024 Prorektor für Studium und Lehre der DSHS Köln.

 

Almut Zeeck

Prof. Dr. Almut Zeeck, FÄ für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie, Zusatzbez. Psychoanalyse, ist stellvertretende ärztl. Direktorin an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg; Koordinatorin der Arbeitsgruppe Anorexia Nervosa für die S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen, Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS); Forschungsschwerpunkte: Essstörungen, Essstörungen und Sport, Psychotherapieforschung, Versorgungsforschung.

 

Heiko Ziemainz

PD Dr. Heiko Ziemainz, Akademischer Direktor am Department für Sportwissenschaft und Sport an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, u.a. verantwortlich für den Bereich Sportpsychologie, Schwimmen und Triathlon; Forschungsschwerpunkte: Sportsucht, Lauftherapie, Sportpsychologische Trainingsverfahren, Wohlbefinden und Sport.

 

Unter Mitarbeit von

 

Hanna Raven und Anna Wasserkampf, beide Psychologisches Institut der Deutschen Sporthochschule Köln.

 

 

 

Jens KleinertAlmut ZeeckHeiko Ziemainz

Sportsucht und pathologisches Bewegungsverhalten

 

 

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-035637-5

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-035638-2

epub:     ISBN 978-3-17-035639-9

mobi:     ISBN 978-3-17-035640-5

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

 

Während einzelne Berichte über suchtartige Verhaltensweisen im Kontext von Bewegung und Sport (Anorexia nervosa, Marathonläufer, Gewichtheber etc.) schon seit vielen Jahren kursieren, ist die systematische empirische Erarbeitung dieses für die Gesellschaft zunehmend wichtigen Feldes erst in den letzten Jahren gelungen.

Durch die Konzeptualisierung der Verhaltenssüchte ist es möglich, typische suchtartige Handlungsweisen und Erlebensweisen bei Menschen mit intensiver oder exzessiver Sportausübung und Bewegungsdrang zu beschreiben und einer Therapie zugänglich zu machen. Es ist dem interdisziplinären Autorenteam zu verdanken, nicht nur die psychologischen sondern auch die sportsoziologischen und die den einzelnen Bewegungs- und Sportarten immanenten besonderen Mechanismen darzustellen. Selbstverständlich ist auch bei diesen Störungen sehr auf die Komorbidität und deren Behandlung zu achten, allerdings erklärt diese Komorbidität vor allem bei schweren Fällen nicht die gesamte Varianz und es sind auch Konzepte der Verhaltenssüchte anzuwenden, um den Klienten zu helfen.

Entscheidend ist hierbei die Kenntnis und Wachsamkeit von Psychotherapeuten und Psychiatern aber auch anderen Berufsgruppen, exzessives Sport- und Bewegungsverhalten nicht nur als kuriose Normvariante oder modische Welle abzutun, sondern den Leidensdruck und die dahinterliegenden Motivationen und Mechanismen beim Patienten zu erkennen.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Luzern

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeber

1          Einführung

Jens Kleinert, Almut Zeeck und Heiko Ziemainz

2          Bestimmungsmerkmale und Kriterien der Sportsucht

Jens Kleinert

2.1       Bestimmungsmerkmale der Sportsucht

2.1.1   Exzessives Sporttreiben

2.1.2   Maladaptivität

2.1.3   Leidensdruck und Krankheitseinsicht

2.1.4   Zwangserleben

2.2       Kriterien der Sportsucht

2.2.1   Toleranzentwicklung

2.2.2   Entzugssymptome

2.2.3   Non-Intentionalität

2.2.4   Kontrollverlust

2.2.5   Aufwand

2.2.6   Soziale Vernachlässigung und Konflikt

2.2.7   Maladaptive Kontinuität

2.3       Bedeutung von Suchtkriterien für die Sportsucht

3          Epidemiologie der Sportsucht

Jens Kleinert

3.1       Zur Methodik im Rahmen der Epidemiologie der Sportsucht

3.2       Prävalenz der Sportsucht bei Sporttreibenden

3.3       Prävalenz der Sportsucht in der Gesamtbevölkerung

3.4       Primäre und sekundäre Sportsucht

4          Verhaltensspezifika

4.1       Formen, Typisierung und Komorbidität der Sportsucht

Jens Kleinert

4.1.1   Drei-Achsen-Typisierung der Sportsucht

4.1.2   Ätiologische Typisierung: Primäre vs. sekundäre Sportsucht

4.1.3   Verhaltensregulative Typisierung: egosyntone vs. egodystone Sportsucht

4.1.4   Aktivitätsgebundene Typisierung: Ausdauer-, Ästhetik- und Erlebnistyp

4.1.5   Komorbidität

4.2       Sportsucht und Ausdauersport

Heiko Ziemainz

4.2.1   Ausdauer

4.2.2   Prävalenz

4.2.3   Sportsucht und Ausdauersportart

4.2.4   Sportsucht und Geschlecht

4.2.5   Sportsucht und Alter

4.2.6   Sportsucht und Trainingsalter/Belastungsnormative im Ausdauersport

4.2.7   Probleme

4.3       Essstörungen und Sportsucht

Almut Zeeck

4.3.1   Symptomatik

4.3.2   Sportsucht bei Essstörungen: Risikofaktoren und Ätiologie

4.3.3   Häufigkeit

4.3.4   Klinische Bedeutung

4.4       Muskeldysmorphie und Sportsucht

Almut Zeeck

4.4.1   Muskeldysmorphie: Symptomatik und diagnostische Kriterien

4.4.2   Der Drang nach Muskularität – ein männliches Problem? Risikofaktoren und Ätiologie

4.4.3   Häufigkeit

4.4.4   Muskeldysmorphie und Sportsucht

4.5       Self-Tracking und Sportsucht

Jens Kleinert, Hanna Raven und Anna Wasserkampf

4.5.1   Zum Phänomen des Self-Tracking

4.5.2   Motivation zum Self-Tracking

4.5.3   Self-Tracking und Sportsucht

4.5.4   Fazit

4.6       Sportsucht im Fitness- und Kraftsport

Heiko Ziemainz

4.6.1   Begriffsklärung

4.6.2   Untersuchungen im Bereich Sportsucht und Kraftsport

4.6.3   Probleme

5          Atiologische und psychosoziale Aspekte der Sportsucht

5.1       Modelle und Erklärungsansätze von Sportsucht

Heiko Ziemainz

5.1.1   Physiologisch-orientierte Erklärungsansätze

5.1.2   Psychologisch orientierte Erklärungsansätze

5.1.3   Multidimensionale prozessorientierte Modelle

5.2       Sportsucht und Leidenschaft

Jens Kleinert

5.2.1   Harmonische und obsessive Leidenschaft

5.2.2   Zusammenhänge von Sportleidenschaft und Sportsucht

5.2.3   Fazit

5.3       Selbstideal, Körpererleben und Sport

Almut Zeeck

5.3.1   Einfluss sozialer Normen auf Selbstideal und Körpererleben

5.3.2   Selbstideal und Sportsucht

6          Diagnostik der Sportsucht

6.1       Fragebögen zur Erfassung der Sportsucht

Jens Kleinert

6.1.1   Übersicht zu bestehenden Instrumenten

6.1.2   Güte von Sportsuchtfragebögen

6.1.3   Sportsuchtfragebögen in der klinischen Diagnostik

6.2       Klinische Diagnostik der Sportsucht

Jens Kleinert, Almut Zeeck und Heiko Ziemainz

6.2.1   Meta-Kriterien der klinischen Diagnose

6.2.2   Methoden der klinischen Diagnostik

6.2.3   Differentialdiagnostik

7          Therapie und Prävention

7.1       Therapeutische Ansätze bei Sportsucht

Almut Zeeck

7.1.1   Ziele der Therapie

7.1.2   Behandlungskomponenten

7.1.3   Sportsucht bei Essstörungen

7.1.4   Beispiele für ambulante Programme

7.1.5   Beispiele für stationäre Programme

7.1.6   Muskeldysmorphie

7.2       Prävention der Sportsucht

Jens Kleinert

7.2.1   Formen der Prävention

7.2.2   Zielbereiche von Gesundheitsförderung und Prävention der Sportsucht

7.2.3   Psychosoziale, gesundheitsförderliche Ziele von Sport

7.2.4   Prävention der Sportsucht

7.2.5   Früherkennung

7.2.6   Maßnahmenebenen und Fazit

8          Ausblick

Jens Kleinert, Almut Zeeck und Heiko Ziemainz

Literatur

Stichwortregister

1

Einführung

Jens Kleinert, Almut Zeeck und Heiko Ziemainz

Herr W. (24) wird an eine psychosomatische Ambulanz verwiesen. Seine körperliche Verfassung ist bedenklich. Auffallend sind schlechte Stoffwechselwerte, seine Fußsohlen sind teilweise blutig, sein Puls ist kritisch niedrig (< 30 Schläge/Min.), sein Körpergewicht liegt bei einem BMI von 19 kg/m2.

In der Anamnese zeigt sich, dass Herr W. ein Lauftraining von durchschnittlich 100 km pro Woche durchführt. Als er wegen einer Ermüdungsfraktur das Lauftraining unterbrechen musste, kam es zu einer depressiven Krise. In dieser Zeit hatte er Angst zuzunehmen, und sein BMI sank auf 17,0 kg/m2.

Freunde habe er eigentlich nie gehabt, vermisse sie auch nicht. Das Laufen sei für ihn der einzige Weg, mit Konflikten und Anspannung umzugehen. Die Sorgen der Ärzte verstehe er nicht wirklich. Eigentlich ginge es ihm soweit gut. Er wolle weiter trainieren. Das Laufen sei das einzige, was er habe.

Vieles in diesem Fallbeispiel wirkt zweifellos »unnormal« oder »krankhaft«. Sporttreiben ist für Herrn W. offensichtlich etwas Zwanghaftes, nicht Kontrollierbares. Er treibt Sport, obwohl er sich selbst hierdurch Schaden zufügt – körperlich, psychisch und vermutlich auch sozial. Dieses Zusammentreffen von Selbstschädigung, exzessivem Ausmaß von Sportaktivität und fehlender Kontrolle des eigenen Verhaltens legen den Verdacht auf eine Sportsucht nahe.

Das Phänomen Sportsucht geht geschichtlich auf eine Studie aus dem Jahr 1970 zurück: Baekeland (1970) beobachtete im Rahmen einer eigenen Untersuchung, dass einzelne Probanden selbst durch Geld nicht dazu zu bewegen waren, ihr Sporttreiben für eine bestimmte Zeit aufzuhören. Er vermutete einen suchtartigen Hintergrund. Seitdem wurden eine Vielzahl von Studien durchgeführt, die Sportsucht näher beschrieben haben und ihre Bedingungen analysierten (s. die Übersichtsarbeiten von Adams und Kirkby 2002, Adams et al. 2003, Allegre et al. 2006, Breuer und Kleinert 2009, De Coverley Veale 1987, Hausenblas und Symons Downs 2002a, Kleinert 2014).

Anfangs haben sich Untersuchungen zur Sportsucht auf extreme Ausdaueraktivitäten (z. B. Laufen, Schwimmen, Radfahren) beschränkt. Suchtartiges Verhalten kann jedoch im Grunde bei jeder Form von Bewegungsaktivität entstehen, beispielsweise im Fitnesstraining oder Erlebnisbereich, weswegen wir in diesem Buch neben Sportsucht auch von suchtartigem Bewegungsverhalten sprechen.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir den aktuellen Stand zum Thema Sportsucht aufbereiten. Dies betrifft insbesondere begriffliche Fragen (z. B. Definitionen;  Kap. 2), aber auch Fragen der Häufigkeit des Auftretens ( Kap. 3). Weiterhin werden typische Felder für das Auftreten von Sportsucht (z. B. Ausdauersport, Fitnesssport) sowie Zusammenhänge mit anderen Störungsbildern (z. B. Essstörungen, Muskeldysmorphie) erläutert ( Kap. 4). Nach einer Darstellung von pathogenetischen Modellen und Entstehungsbedingungen ( Kap. 5) werden abschließend diagnostische ( Kap. 6) und präventive sowie therapeutische Ansätze ( Kap. 7) besprochen.

Dieses Buch soll aber auch verdeutlichen, in welcher Form sich Sportsucht oder suchtartiges Bewegungsverhalten von einer gesunden, für die persönliche Entwicklung positiven Bewegungs- und Sportaktivität unterscheidet. Denn unter dem Strich bleiben Sport und Bewegung etwas, was entscheidende und positive Effekte für die psychische Gesundheit (Biddle und Asare 2011), für die Therapie und Rehabilitation körperlicher Erkrankungen (Rost 2005) und auch im Falle von psychischen Erkrankungen (Hölter 2011) hat.

2

Bestimmungsmerkmale und Kriterien der Sportsucht

Jens Kleinert

In mindestens dreierlei Hinsicht ist die Definition der Sportsucht schwierig. Erstens ist es – wie auch bei anderen Verhaltenssüchten – schwer einzuschätzen, ab wann Sporttreiben tatsächlich als eine Sucht im krankhaften Sinne bezeichnet werden kann. Zweitens sind die Erscheinungsformen und Ausprägungen so vielfältig und unterschiedlich, dass es problematisch erscheint, die bzw. eine Sportsucht zu beschreiben. Und drittens ist auffälliges Sport- und Bewegungsverhalten in den meisten Fällen eng verbunden mit anderen psychischen Auffälligkeiten oder Störungen, weshalb es häufig nicht einfach ist, Sportsucht von anderen psychischen Erkrankungen klar abzugrenzen.

Das vorliegende Kapitel fokussiert insbesondere die erste Herausforderung, nämlich die Frage, ab wann Sportreiben oder körperliche Aktivität suchtartige Züge annehmen oder sogar als krankhaftes Verhalten bezeichnet werden müssen. Zur Beantwortung dieser Frage werden neben der vorliegenden Sportsucht-Literatur auch die grundsätzlichen Kriterien von Sucht und Abhängigkeit verwendet, wenn auch die Übertragung dieser Kriterien auf die Sportsucht mit Vorsicht vorgenommen werden muss.

2.1       Bestimmungsmerkmale der Sportsucht

Bereits die Vielzahl von Begrifflichkeiten, mit denen die Sportsucht umschrieben wird, zeigt die Uneindeutigkeit in ihrer Darstellung. Während im deutschsprachigen Raum zumeist von Sportsucht (»exercise addiction«) gesprochen wird, findet sich in der internationalen Literatur häufig auch der Begriff der Sportabhängigkeit (»exercise dependence«). Andere Umschreibungen bringen weitere Akzente ein, zum Beispiel die Zwanghaftigkeit des Verhaltens (»compulsive exercise«) oder die Verbindung mit Essstörungen (»running anorectics«). Schließlich zeigen frühere Wortschöpfungen, dass im Bereich des Laufsports die Anfänge der Sportsuchtforschung lagen (»obligatory runners«, »running addiction«). Im vorliegenden Buch werden wir der Einfachheit halber in der Regel den Begriff der Sportsucht verwenden, der alle Formen der bewegungsbezogenen Abhängigkeit miteinschließen soll. An Stellen, an denen der Begriff sehr weit gefasst gemeint ist, wird allgemeiner von »problematischem Sporttreiben« gesprochen.

2.1.1     Exzessives Sporttreiben

Das auf den ersten Blick zentrale Merkmal der Sportsucht ist sicherlich die Sport- und Bewegungsaktivität selbst. Daher ist ein auffallend hohes Ausmaß an körperlicher Aktivität trotz aller Schwierigkeiten, Sportsucht zu definieren, ein wichtiges Merkmal. Diese auch als »exzessives Sporttreiben« bezeichnete Auffälligkeit ist jedoch keinesfalls ausreichend, um Sportsucht im Sinne einer krankhaften Störung zu definieren. Der Sportumfang alleine ist somit kein hinreichendes wissenschaftliches oder klinisches Kriterium, was auch daran deutlich wird, dass hohe Sportumfänge im Leistungssport gang und gebe sind. So beschreiben Tucker und Collins (2012), dass zum Beispiel 1000 Trainingsstunden pro Jahr im Hochleistungsbereich vieler Sportarten eher die Regel als die Ausnahme sind. Solche wöchentlichen Trainingsumfänge von 20 oder mehr Stunden lassen sich sicherlich nicht abgrenzen vom Sportumfang eines Sportsüchtigen. Aufgrund dieser schweren Einschätzbarkeit exzessiver Sportaktivität als gut oder schlecht bzw. gesund oder krank wurde in der Vergangenheit grundsätzlich diskutiert, ob stark ausgeprägtes Sport- und Bewegungsverhalten problematisch ist oder behandelt werden muss. In diesen Diskussionen wurde auch häufig von einer »positiven« Sucht (»positive addiction«) gesprochen (Carmack und Martens 1979; Glasser 1976; De La Torre 1995), da ja umfangreicher Sport grundsätzlich auch zu positiven Konsequenzen führen kann (z. B. körperliche oder psychische Gesundheit). Der Begriff »positive Sucht« ist jedoch aus theoretischer und klinischer Sicht unangemessen, da bei einer Sucht laut Definition grundsätzlich die negativen Umstände die denkbaren positiven Aspekte des Verhaltens deutlich übersteigen. Mit dieser Lesart unterscheidet sich der wissenschaftliche Suchtbegriff von der manchmal im Alltag üblichen Art und Weise, das Wort »süchtig« zu verwenden (nämlich für etwas, was man besonders gern oder häufig macht).

Exzessives Sportreiben ist im Sinne der Sportsucht als maßloses Sporttreiben zu verstehen. Maßlos heißt hier, »dies in einer übersteigerten, übertriebenen oder ausufernden Form –letztlich also in ungewöhnlichem Umfang – zu tun; exzessiv bedeutet aber auch, Sport und Bewegung zügellos und unersättlich zu treiben, das heißt Grenzen sowie Zweck- oder Sinnbezüge zu missachten« (Kleinert et al. 2013). Es geht also bei der Beurteilung von »exzessiv« nicht oder weniger um die Einschätzung der Quantität, sondern vielmehr um die Einschätzung der Funktionalität und Sinnhaftigkeit. Daher sind hohe Sportumfänge im Leistungssport im Rahmen der beruflichen Sportkarriere als funktional (d. h. zweckmäßig) und meist auch sinnvoll einzustufen. Die Aspekte der Funktionalität und Sinnhaftigkeit berühren darüber hinaus die Frage des Kontrollverlustes, der als ein Grundkriterium von Verhaltenssüchten weiter unten ( Kap. 2) besprochen wird.

Auch in der Sportsuchtforschung finden sich Hinweise darauf, dass der bloße Umfang von Sport sich kaum als Kriterium für Sportsucht eignet (Bamber et al. 2003). So fanden Davis et al. (1993) heraus, dass zwischen Sportumfang und anderen Suchtsymptomen nur geringe Zusammenhänge bestehen. Andersherum stellt sich die Frage, ob eine Sportsucht auch bei einem geringen Umfang von Sport bzw. körperlicher Aktivität denkbar ist. Auch wenn hierzu bislang keine abschließende Antwort vorliegt, kann angenommen werden, dass (sehr) niedrige Sportumfänge das Vorliegen einer Sportsucht ausschließen (siehe aber besondere Aspekte des zwanghaften Sporttreibens bei Essstörungen,  Kap. 4.3). Die Erfassung von Sportumfängen könnte daher meist zwar als Ausschlusskriterium dienen, aber kaum als hinreichendes Kriterium für Sportsucht.

2.1.2     Maladaptivität

Neben dem Begriff des exzessiven Sporttreibens ist der Begriff der Maladaptivität in Definitionen der Sportsucht sehr häufig zu finden (De Coverley Veale 1987; Hausenblas und Symons Downs 2002a). So beschreiben Symons Downs, Hausenblas und Nigg Sportsucht als »maladaptive pattern of excessive exercise behavior that manifests in physiological, psychosocial, and cognitive symptoms« (Symons Downs et al. 2004, S. 185). Von Maladaptivität kann dann gesprochen werden, »wenn das Sport- und Bewegungsverhalten die persönliche Entwicklung des Betroffenen langfristig und maßgeblich beeinträchtigt, behindert oder unterdrückt« (Kleinert 2014, S. 169). Diese negative Auswirkung des exzessiven Sport- oder Bewegungsverhaltens auf die eigene Entwicklung kann daher auch als Leitkriterium für die klinische Relevanz der Sportsucht dienen (Kleinert et al. 2013).

Die Ausprägungen von Maladaptivität sind ebenso wie die Ausprägungen von Entwicklungsprozessen mehrdimensional (d. h. körperlich, psychisch und sozial). In körperlicher Hinsicht zeigt sich eine maladaptive Entwicklung beispielsweise in häufigen Verletzungen oder Erkrankungen, die sich daraus ergeben, dass die Betroffenen zu viel trainieren und sich körperlich überfordern oder schwächen (z. B. mit negativen Auswirkungen auf den Bewegungsapparat oder auch das Immunsystem). In psychologischer Hinsicht könnten sich maladaptive Entwicklungen darin zeigen, dass das Selbst- und Körperkonzept leidet (z. B. Abhängigkeit des Selbstwerts von sportlicher Aktivität, depressive Stimmungslage, wenn kein Sport getrieben werden kann); aus sozialer Sicht sind typische Anzeichen einer maladaptiven Entwicklung Probleme in der Familie, in der Ausbildung oder im Beruf (z. B. Konflikte in Beziehungen aufgrund der hohen Bedeutung des Sports, sozialer Rückzug oder Vernachlässigung der beruflichen Ausbildung).

Wenn Sporttreiben nicht nur nach seinem Umfang, sondern nach seiner Bedeutung im Rahmen der Entwicklung des Betroffenen beurteilt wird, ist eine Unterscheidung von »normalem« und »krankhaftem« Sport- und Bewegungsverhalten deutlich einfacher: »In light of this definition pathogenic exercisers could be distinguished from the other high-volume exercisers, like athletes, who maintain control over their training, have a fixed schedule of training to also meet other life-obligations, and encounter no harmful or negative consequences as a result of their intensive training« (Egorov und Szabo 2013, S. 200).

2.1.3     Leidensdruck und Krankheitseinsicht

Neben dem Merkmal der Maladaptivität wird im Zusammenhang mit Suchtverhalten auch der Leidensdruck der Betroffenen hervorgehoben. Der subjektive Leidensdruck beschreibt ein Gefühl der Betroffenen, dass das Verhalten ihnen schadet, ihr Wohlbefinden und ihre Entwicklung darunter leiden und dass sich etwas ändern muss. Diese Gefühlslage wird auch in einem 2016 veröffentlichten Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) als mitentscheidendes Kriterium zur Bestimmung einer krankhaften Verhaltenssucht (im Vergleich zum unproblematischen Verhalten) betont (DGPPN 2016). Andererseits ist gerade bei der Sportsucht nicht selten, dass ein (nach objektiven Kriterien) offensichtlich problematisches Sport- oder Bewegungsverhalten (anfänglich) ohne Leidensdruck besteht. Leidensdruck ist daher zwar ein sehr bedeutsames Merkmal, kann jedoch vermutlich nicht in jedem Stadium einer Sportsucht als zwingend notwendig (d. h. obligat) bezeichnet werden.

Das Ausmaß des Leidensdrucks geht einher mit dem Ausmaß an negativem Affekt (d. h. negativer Gefühlslage), der mit dem Sport und der körperlichen Aktivität in Verbindung steht. Dieser negative Affekt kann sich auf den Sport selbst beziehen (z. B. ein Gefühl des Zwangs und des Sportreiben-Müssens) oder auch auf das Gefühl, durch den Sport wichtige Bedürfnisse nicht befriedigen zu können (z. B. Vernachlässigung von Familie und Freunden). Da zugleich bei Sportsüchtigen der Sport die hauptsächliche Möglichkeit ist, negative Affekte zu regulieren (also sich besser zu fühlen), entsteht ein innerer Konflikt zwischen dem Nicht-Wollen (weil Sport der Entwicklung nicht guttut) und dem Müssen (aufgrund des Zwangsgefühls). Dieser Konflikt geht mit einer starken Spannungslage einher (d. h. Dissonanz), die selbst wieder als unangenehm erlebt wird.

In den Fällen von Sportsucht, in denen Leidensdruck ausgeprägt ist, führt dieser dazu, dass zunehmend auch eine rationale Krankheitseinsicht entsteht. Das heißt, dass die Betroffenen nicht nur fühlen, sondern auch wissen, dass sich etwas ändern muss. Diese rationale Krankheitseinsicht führt in solchen Fällen dazu, dass eine Behandlung nicht nur akzeptiert, sondern oft auch gewünscht wird. Wie häufig und wie stark dieser Behandlungswunsch vorliegt, ist empirisch nicht gesichert – aus der klinischen Praxis werden häufig Fälle von Sportsucht ohne Leidensdruck geschildet.

2.1.4     Zwangserleben

Zwangserleben ist dadurch charakterisiert, dass die Betroffenen das Gefühl haben, nicht Herr über die eigene Entscheidung zum Sporttreiben zu sein. Stattdessen erleben die Betroffenen ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Mit anderen Worten: Die Betroffenen beherrschen nicht den Sport, sondern fühlen sich vom Sport beherrscht ( Kap. 2.2.3 zu Non-Intentionalität und  Kap. 2.2.5 zu Aufwand).

Die Rolle des Zwangs als Bestimmungsmerkmal der Sportsucht ist nicht eindeutig geklärt und wird in der Fachliteratur entsprechend unterschiedlich gesehen. Auf der einen Seite wird das Zwangserleben als bedeutsamer und wichtiger Bestandteil der Sportsucht beschrieben – so bereits in den frühen Veröffentlichungen von Morgan (1979). Auf der anderen Seite wird der Zwang vielfach nicht mehr als Kardinalsymptom bezeichnet und stattdessen in abgeschwächter Form von fehlender Absicht (intention effects) gesprochen (Symons Downs et al. 2004). Es lassen sich demnach zwei Lager beschreiben: Die einen Autoren sehen den erlebten Zwang zum Sporttreiben als ein notwendiges Kriterium an (De Coverley Veale 1987; Gulker et al. 2001; Taranis et al. 2011a), während andere verschiedene Formen der Sportsucht favorisieren, die mehr oder weniger mit dem Phänomen des Zwangs verbunden sind (Davis et al. 1993, S. 613; Freimuth et al. 2011, S. 4071; Kleinert et al. 2013; Kleinert und Wasserkampf 2016;  Kap. 4.1).

2.2       Kriterien der Sportsucht

Die Sportsucht besitzt keinen anerkannten, eigenständigen Eintrag in den gängigen Klassifikationssystemen für psychische Störungen (ICD-10 Dilling 2010 oder DSM-5 American Psychiatric Association 2013). Auch in der vorläufigen Fassung der ICD-11 (WHO 2019) ist Sportsucht nicht als eigenständiges Krankheitsbild aufgenommen. Allerdings wurde bereits 1979 für Sportsucht eine Symptom-Trias aus sozialen/beruflichen Konflikten, Entzugssymptomen und Zwanghaftigkeit vorgeschlagen (Morgan 1979). In den folgenden Jahren bezogen sich die meisten Autorengruppen in der Beschreibung der Suchtkomponenten von Sportsucht auf die generellen Merkmale bzw. Kriterien für Sucht (Davison et al. 2007; De Coverley Veale 1987; Hausenblas und Symons Downs 2002a). Mit dieser Entwicklung wird die Sportsucht als klassische Verhaltenssucht charakterisiert (Thalemann 2009; vgl. auch die Übersichtsarbeiten von Adams und Kirkby 2002; Adams et al. 2003; Allegre et al. 2006).

Die derzeit neueste Systematik zur Bestimmung von Süchten und Verhaltenssüchten ist das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« in seiner fünften Fassung (DSM-5; American Psychiatric Association 2013). Der DSM-5 dient der Systematisierung und Klassifizierung von psychischen Störungen inklusive der Festlegung verschiedener Schweregrade. In Hinsicht auf Süchte wurden im DSM-5 grundlegende Veränderungen vorgenommen. Beispielsweise wurde die frühere Kategorie »substanzbezogene Störungen« in »Sucht und verwandte Störungen« umbenannt, was die strikte Trennung von substanzbezogenen Süchten (z. B. Alkohol, Drogen) und verhaltensbezogenen Süchten (z. B. Kaufsucht, Spielsucht) zumindest teilweise auflöst. Weiterhin wurden die zuvor getrennten Diagnosen von »Missbrauch« und »Abhängigkeit« zusammengeführt.

Unverändert im DSM-5 ist jedoch, dass die Sportsucht keine eigenständige Beschreibung oder Definition erfährt. Stattdessen muss oder sollte sich die Sportsucht in ihren Bestimmungsmerkmalen an den übergeordneten, das heißt grundsätzlichen Kriterien von suchtartigem Verhalten orientieren. Diese Kriterien sind dem DSM-5 nach in elf Facetten beschreibbar. Von diesen elf Facetten sind sieben im Vergleich zur bisherigen Literatur zur Sportsucht (Adams und Kirkby 2002; Allegre et al. 2006; Hausenblas und Symons Downs 2002a) konstant geblieben ( Tab. 2.1). Diese sieben sind die Kriterien Toleranz, Entzugssymptome, Non-Intentionalität, Kontrollverlust, Zeitaufwand, (Sozialer) Konflikt und Beharren/Zwang.

Tab. 2.1: Gegenüberstellung üblicherweise genannter Sportsuchtkriterien (linke Spalte; z. B. Hausenblas und Symons Downs 2002a) und Abhängigkeitskriterien nach DSM-5 (mittlere Spalte).

Anmerkungen: Nach Hausenblas und Symons Downs (2002a) muss bei Vorliegen von drei oder mehr der in der linken Spalte genannten Kriterien eine Sportsucht angenommen werden; in der Neufassung des DSM-5 wird eine Einteilung der Symptomatik in »mild« (2–3 Kriterien), »moderat« (4–5 Kriterien) und »schwer« (mindestens 6 Kriterien) vorgenommen.

2.2.1     Toleranzentwicklung

Im Zusammenhang mit Sportsucht wird Toleranzentwicklung damit beschrieben, dass ein zunehmender Umfang an Sport notwendig wird, um gewünschte Effekte zu erreichen oder dass bei gleichbleibendem Umfang Effekte niedriger ausfallen (Hausenblas und Symons Downs 2002a). Der hiermit beschriebene suchtrelevante Mechanismus der »Toleranzentwicklung« ist jedoch bezogen auf den Sport ein normaler Prozess der Leistungsentwicklung. Mit anderen Worten: Ohne eine stetige Steigerung von Trainingsumfängen ist im Sport (insbesondere im Wettkampf- und Leistungssport) eine Steigerung von konditionellen Komponenten (z. B. Kraft, Ausdauerleistung, Beweglichkeit) oder von technisch-taktischen Kompetenzen nicht möglich. Die Steigerung von Trainingsumfängen und/oder Trainingsintensitäten ist daher in normaler und notwendiger Prozess, um neue Trainingsreize zu schaffen und hierdurch Anpassungsprozesse auszulösen (Hottenrott und Neumann 2017). Das Kriterium »Toleranzentwicklung« besitzt daher im Falle der Sportsucht einen zweifelhaften, doppeldeutigen Wert.

Allerdings wäre das Suchtkriterium »Toleranzentwicklung« dann angebracht, wenn der Effekt einer Dosissteigerung (mehr oder intensiverer Sport) nicht an einem Trainings- oder Leistungsziel ausgerichtet ist, sondern auf die Affektregulation (d. h. die Regulation von Spannungszuständen oder einer emotionalen Balance). Das bedeutet, eine suchtrelevante Toleranzentwicklung besteht nur dann, wenn Intensitäten und Umfänge ausschließlich aus Gründen der Psychoregulation gesteigert werden. Toleranzentwicklung dürfte demnach nicht allein an der Steigerung des zeitlichen Aufwands für Sport gemessen werden, sondern an der hiermit verbunden Zwecksetzung.

Unter Berücksichtigung des Zusatzkriteriums »Zwecksetzung« können jedoch Veränderungen von Sportumfängen durchaus wichtige Anzeichen für ein problematisches, vielleicht klinisch relevantes Verhalten sein. Allerdings müssen solche Beobachtungen fachgerecht (d. h. sportwissenschaftlich) interpretiert werden und in den psychosozialen Gesamtkontext des Betroffenen eingeordnet werden. Die fachgerechte Beurteilung betrifft gleichermaßen die Trainingssituation (z. B. extreme muskuläre Veränderungen bei exzessivem Bodybuilding oder extreme Verlängerung von Laufstrecken) als auch die hiermit verknüpften Einstellungs- und Motivstrukturen der Betroffenen (vgl. Bamber et al. 2003).

2.2.2     Entzugssymptome

Entzugssymptome werden in allen Übersichtsarbeiten zur Sportsucht als wichtiges Kriterium beschrieben (Hausenblas und Symons Downs 2002a). Sie treten üblicherweise in sportfreien Intervallen auf (z. B. nach 1–2 Tagen; Sachs und Pargman 1984). Formen von Entzugssymptomen sind psychischer Natur (z. B. Unruhe), körperlicher Art (z. B. Veränderung des Ruhepulses) und können auch das Verhalten betreffen (z. B. vermehrte Aggressivität).

Im Vordergrund und für den Betroffenen am meisten belastend sind psychische Entzugssymptome. Die Patienten fühlen sich ruhelos, angespannt, gereizt, nervös, erschöpft oder ängstlich. Neben diesen affektiv-emotionalen Symptomen sind auch Aufmerksamkeitsprobleme oder Konzentrationsschwäche (d. h. kognitive Symptome) denkbar, aber angesichts der fehlenden Nennung in der Literatur offensichtlich selten.

In körperlicher Hinsicht werden im Zusammenhang mit Sportsucht ein erhöhter Hautwiderstand, Anzeichen muskulärer Erschöpfung oder Magen-Darm-Störungen berichtet (Pierce 1994). Auch Schlafstörungen treten bei Sportentzug auf, vermutlich als Zeichen einer neurovegetativen Störung (vgl. Grüsser-Sinopoli et al. 2006). Besonders sollte beachtet werden, wenn Sport primär dazu eingesetzt wird, Entzugssymptome zu lindern (d. h. relief craving), da in diesen Fällen eine Sportsucht besonders naheliegt, denn: Je stärker Entzugssymptome und Toleranzentwicklung ausgeprägt sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass dem Verhalten (auch) eine körperliche Abhängigkeit zu Grunde liegt (Hausenblas und Symons Downs 2002a), was den Suchtprozess intensiviert. Grundsätzlich sollten bei starken körperlichen Symptomen Alternativerklärungen differentialdignostisch abgeklärt werden ( Kap. 6.2).

2.2.3     Non-Intentionalität

Nach Hausenblas und Symons Downs (2002a) umschreiben »intention effects« die Tatsache, dass die Betroffenen länger, umfangreicher oder intensiver Sport treiben, als sie dies eigentlich beabsichtigten (d. h. »intendierten«). Offensichtlich fehlt Sportsüchtigen die Fähigkeit, ihr Verhalten willentlich zu steuern (Freimuth et al. 2011). Oder anders: Die Steuerung des Verhaltens ist stattdessen gefühlsbetont (»Affektregulation«). Ziel dieser Verhaltenssteuerung ist es somit, positiven Affekt zu erlangen (reward craving), also zum Beispiel eine euphorisierende Wirkung zu erreichen (was häufig mit subjektiv »Kick« oder »Adrenalinschub« bezeichnet wird). Um derartige Gefühle zu erlangen, können die Aktivitäten weit über das hinausgehen, was eigentlich geplant war. Ebenso gefühlsbetont und ähnlich non-intentional ist es, wenn die Betroffenen durch die körperliche Aktivität negative Affekte (bzw. Entzugssymptome) lindern (s. oben »relief craving«) oder das Auftreten von negativem Affekt »prophylaktisch« verhindern wollen.

2.2.4     Kontrollverlust

Kontrollverlust beschreibt den starken Wunsch oder die erfolgslosen Versuche, den Umfang oder die Intensität des Sporttreibens zu reduzieren (Hausenblas und Symons Downs 2002a). Erfolglose Versuche, Sport oder Bewegung einzugrenzen, können darin bestehen, dass Sportabstinenz gar nicht oder nur für kurze Zeit bzw. innerhalb eines gewissen Zeitraums möglich war. Bislang liegen keine ausreichenden oder konsistenten Erfahrungen darüber vor, wie sehr Kontrollverlust bei Sportsüchtigen ausgeprägt ist und wie relevant dieses Kriterium bei der Beurteilung von Sportsucht ist. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass das Sporttreiben bei Sportsüchtigen nicht als Kontrollverlust, sondern als Kontrollgewinn erlebt wird, da durch die körperliche Aktivität ein Gefühl der Kontrolle über den eigenen Körper erlebt und angestrebt wird (s. hierzu auch Hinweise zum Kontrollverlust im Kapitel 4.3 zu Essstörungen).

2.2.5     Aufwand