Sprachbildung in Maßnahmen der beruflichen Integration - Hilke Lindner-Matthiesen - E-Book

Sprachbildung in Maßnahmen der beruflichen Integration E-Book

Hilke Lindner-Matthiesen

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Beschreibung

Migrantinnen und Migranten, die sich in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen auf einen Berufseinstieg vorbereiten, werden dort auch sprachlich gefördert. Trotz ihres hohen Umfangs erfährt diese integrierte berufsqualifizierende Sprachbildung als eigenes Format bisher wenig Aufmerksamkeit. Vor dem Hintergrund, dass die berufliche Integration von Zugewanderten häufig durch unzureichende berufssprachliche Kompetenzen verzögert wird oder sogar daran scheitert, werden in diesem Band Formate und Rahmenbedingungen des berufsqualifizierenden DaZ-Unterrichts evaluiert. Nicht nur Methoden der Sprachlehrforschung, sondern auch die Perspektiven der Forschung zum Erwachsenenbildungsbereich und zur Wirksamkeit von Weiterbildung werden berücksichtigt. Zu geringe Finanzierung, individuelle Konzepte der Bildungsträger und Unterricht durch Quereinsteiger erweisen sich als Schalthebel für die Qualität der Sprachförderung. Daraus abgeleitete praxisorientierte Qualitätsstandards und Konzepte der Weiterbildung für DaZ-Lehrpersonen wurden erprobt und evaluiert.

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2025

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[1]Sprachbildung in Maßnahmen der beruflichen Integration

[2]KOMMUNIZIEREN IM BERUF BAND 5

Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven

Herausgegeben von:

Christian Efing (Aachen)

Thorsten Roelcke (Berlin)

Kirsten Schindler (Wuppertal)

Wissenschaftlicher Beirat:

Sambor Grucza (Warschau)

Stephan Habscheid (Siegen)

Carmen Heine (Aarhus)

Eva-Maria Jakobs (Aachen)

Nina Janich (Darmstadt)

Franz Kaiser (Rostock)

Liana Konstantinidou (Winterthur)

Constanze Niederhaus (Paderborn)

Britta Thörle (Siegen)

Aline Willems (Köln)

Hilke Lindner-Matthiesen

[3]Sprachbildung in Maßnahmen der beruflichen Integration

Praxisorientierte Qualitätsstandards und Weiterbildungskonzepte für die berufsqualifizierende Sprachförderung

[4]Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381123827

© 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

Druck: Elanders Waiblingen GmbH

ISSN 2699-3252ISBN 978-3-381-12381-0 (Print)ISBN 978-3-381-12382-7 (ePDF)ISBN 978-3-381-12383-4 (ePub)

[5]Inhalt

1

Einleitung und Fragestellung

2

Wissenschaftlicher Hintergrund

2.1

Forschungsbereich 1: Sprachlehrforschung

2.1.1

Sprachbildung und Sprachförderung in der Berufsqualifizierung von Zugewanderten

2.1.1.1

Systematik

2.1.1.2

Formate

2.1.1.3

Einsatzfelder für berufsbezogenen Sprachunterricht

2.1.2

Didaktik des berufsbezogenen Sprachunterrichts

2.1.2.1

Definitionen

2.1.2.2

Didaktische Konzepte im berufsbezogenen Sprachunterricht

2.1.2.3

Reformpädagogik und Konstruktivismus

2.1.2.4

Das Unterrichtsprinzip „Berufssprache Deutsch“

2.1.2.5

Weitere didaktische Ansätze im Fach- und Berufssprachunterricht

2.1.3

Befunde aus der Sprachlehrforschung

2.2

Forschungsbereich 2: Empirische Bildungsforschung zur Erwachsenenbildung

2.2.1

Historische Entwicklung der Erwachsenenbildung in Deutschland

2.2.2

Arbeitsmarktpolitik als Element der Bildungspolitik

2.2.3

Qualifizierung und Weiterbildung im Erwachsenenbildungsbereich

2.2.4

Weiterbildung von DaF-/DaZ-Lehrkräften im quartären Bildungsbereich

2.2.5

Einflüsse auf die Qualität von Lehr-Lern-Prozessen

2.2.6

Befunde aus Studien der empirischen Bildungsforschung

2.3

Forschungsbereich 3: Lehrerforschung und Forschung zur Wirksamkeit von Weiterbildung

2.3.1

Grundlagen der Forschung zur Lehrerbildung

2.3.2

Historische Entwicklung der Paradigmen der Lehrerforschung

2.3.3

Anknüpfungspunkte für ein DaZ-Weiterbildungsmodell

2.3.4

Modelle und Studien zur Wirksamkeit der Weiterbildung für Lehrkräfte

2.3.5

Befunde aus der Lehrer- und Weiterbildungsforschung

2.4

Zwischenfazit und Hypothesen

3

Forschungsdesign und methodisches Konzept

3.1

Qualitative Inhaltsanalyse

3.1.1

Korpus 1: Schriftliche Anträge hessischer Bildungsträger

3.1.2

Auswertungsverfahren Korpus 1

3.1.3

Korpus 2: Schriftliche Ausarbeitungen für Lernszenarien

3.1.4

Auswertungsverfahren Korpus 2

3.2

Online-Befragung: Bildungsträger der Förderlinien IdeA, AQB und QuB

3.3

Experteninterview

3.4

Leitfadeninterviews

3.4.1

Befragung von DaZ-Lehrpersonen in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen

3.4.2

Berufsbiografien der teilnehmenden Lehrerinnen

3.5

Empirische Studie: Erprobung der entwickelten Instrumente

3.5.1

Erprobung Instrument 1: Beratung der Bildungsträger

3.5.1.1

Beratung im Pilotprojekt 1 (BP)

3.5.1.2

Beratung im Pilotprojekt 2 (BF)

3.5.1.3

Beratung im Pilotprojekt 3 (JK)

3.5.2

Erprobung Instrument 2: Schulung von DaZ- und Fachlehrpersonen

3.5.2.1

Schulung im Pilotprojekt 1 (BP)

3.5.2.2

Schulung im Pilotprojekt 2 (BF)

3.5.2.3

Schulung im Pilotprojekt 3 (JK)

3.5.3

Erprobung Instrument 3: Coaching der DaZ-Lehrpersonen durch App everskill

3.6

Hospitationen

4

Studie zur Sprachförderung in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen

4.1

Arbeitsmarktförderung für Migranten im Bundesland Hessen

4.1.1

Ausgewählte Förderprogramme

4.2

Ergebnisse der Studie

4.2.1

Ergebnisse der Online-Befragung

4.2.2

Ergebnisse der Analyse von Antragstexten

4.2.3

Ergebnisse Experteninterview

4.2.4

Ergebnisse der Unterrichtshospitationen

4.3

Auswertung der Ergebnisse der Datenerhebungen aus Abschnitt 4.2

4.3.1

Konzepte und Formate

4.3.2

Einflüsse auf die Entstehung der DaZ-Konzepte

4.3.3

Einflüsse auf die Qualität der berufsqualifizierenden Sprachförderung

4.4

Analyse der Ergebnisse

4.4.1

Bewertung der Hypothesen

4.4.2

DaZ-Lehrpersonen

4.4.3

Modell für eine Gruppenbildung der DaZ-Lehrpersonen

4.4.4

Gruppenzuordnung der im Projektkontext geschulten Lehrerinnen

4.5

Zwischenfazit

5

Entwicklung von Qualitätsstandards und Weiterbildungskonzept

5.1

Ableitung von Qualitätsstandards und von Kriterien für ein Weiterbildungskonzept

5.1.1

Ergebnisse aus der Bestandsaufnahme zur DaZ-Sprachförderung

5.1.2

Ergebnisse aus der Bildungsforschung zur Arbeitsmarktförderung

5.1.3

Ergebnisse aus der Sprachlehrforschung

5.1.4

Ergebnisse aus der Lehrer- und Wirksamkeitsforschung

5.2

Kategorisierung der Qualitätsstandards

5.3

Instrumente des Weiterbildungskonzepts zur Umsetzung der Qualitätsstandards

5.3.1

Instrument 1: Beratungsinstrument für Bildungsträger

5.3.2

Instrument 2: Weiterbildungskonzept für DaZ-Lehrpersonen

5.3.2.1

Eckpunkte des Weiterbildungskonzepts

5.3.2.2

Begründung struktureller und didaktischer Merkmale der Weiterbildung

5.3.2.3

Fortbildungsdidaktischer Aufbau der Weiterbildung

5.3.3

Instrument 3: Coaching der Lehrpersonen

5.4

Zwischenfazit

6

Ergebnisse der Pilotprojekte

6.1

Ergebnisse der Beratung des Leitungspersonals mit dem „DaZ-Entwickler“

6.2

Ergebnisse der Schulungen

6.2.1

Schulung im Pilotprojekt 1 (BP)

6.2.2

Schulung im Pilotprojekt 2 (BF)

6.2.3

Schulung im Pilotprojekt 3 (JK)

6.3

Analyse der Schulungsergebnisse

6.3.1

Bewertung der Leistungen bei der Szenarienentwicklung

6.3.2

Aspekte der Komplexität der Szenarienentwicklung

6.3.3

Bewertung der strukturellen und didaktischen Merkmale

6.4

Ergebnisse des Coachings als ergänzendes Element der Schulung

6.5

Weiterentwicklung der Instrumente

6.5.1

Weiterentwicklung des DaZ-Entwicklers

6.5.2

Weiterentwicklung des Schulungskonzepts

6.5.3

Weiterentwicklung des Coachings der Lehrpersonen

6.6

Bewertung der Hypothesen 5 und 6

7

Diskussion

7.1

Forschungsfragen

7.2

Methodisches Vorgehen und Forschungssetting

7.3

Stand der Forschung – Befunde

7.4

Ergebnisse der Studien

7.5

Bedeutung der Befunde und der Hypothesen für den Forschungsstand

8

Fazit und Ausblick

8.1

Multiperspektivischer Ansatz

8.1.1

Die Perspektive der Sprachlehrforschung

8.1.2

Die Perspektive der Bildungsforschung

8.1.3

Die Perspektive der Forschung zur Lehrerbildung

8.2

Empirische Studie zur Sprachförderung in der Arbeitsmarktförderung

8.3

Ergebnis

8.4

Ausblick

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungen

9

Literatur

10

Anhang

10.1

Online-Befragung Bildungsträger in Hessen – Fragenliste

10.2

Matrix als Planungshilfe zum Erstellen von Lernszenarien im berufsqualifizierenden Sprach- und Fachunterricht

[11]1Einleitung und Fragestellung

Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) für Migrantinnen und Migranten erfolgt überwiegend in Form der öffentlich intensiv wahrgenommenen Integrationskurse (Schuller et al. 2011; Rother 2021; Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022). Die berufsqualifizierende Fortführung dieses alltagsorientierten Basisunterrichts findet daneben auch im Verborgenen eines bislang weniger beachteten Segments statt: als Sprachförderung in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen des quartären Bildungsbereichs. Obwohl berufsbezogener Sprachunterricht umfangreich erforscht wird (Efing 2015c; Efing und Kiefer 2018; Roche et al. 2018; Roche und Hochleitner 2020; Roche 2021), findet seine Realisierung als eigenes Format im System der Arbeitsmarktförderung weniger Aufmerksamkeit. Vor dem Hintergrund, dass die berufliche Integration von Zugewanderten häufig durch unzureichende Sprachkenntnisse verzögert wird oder sogar daran scheitert (Brussig et al. 2022), wird in dieser Arbeit ermittelt, wie und unter welchen Bedingungen der berufsbezogene DaZ-Unterricht in diesen Maßnahmen stattfindet und wie seine Qualität weiterentwickelt werden kann.

Damit Lernende erfolgreich berufssprachliche Kompetenzen erwerben, muss nicht nur ein zielführendes didaktisches Konzept berücksichtigt werden. Entscheidend sind auch Lehrpersonen, die dafür qualifiziert sind, ein solches Konzept adäquat im Unterricht umzusetzen, außerdem Rahmenbedingungen, die die Umsetzung ermöglichen (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Voraussetzungen für eine gelingende berufsqualifizierende Sprachförderung

[12]Im Sinne eines Change-Managements (Führing 2021, S. 74–93) ist zunächst ein Verständnis für Akteure und Prozesse im System der Arbeitsmarktförderung erforderlich. System wird hier in einer allgemeinen Definition als ein Modell verstanden, mit dem ausgewählte Merkmale der Akteure und Elemente der Arbeitsmarktförderung und ihre Interaktionen gedanklich abgebildet werden (Ropohl 2012, S. 52–56). Daher werden in dieser Arbeit zusätzlich zu der zentralen Perspektive der Sprachlehr- und -lernforschung Modelle der empirischen Bildungsforschung zum Erwachsenenbildungsbereich und Ergebnisse der Forschung zur Wirksamkeit der Weiterbildung von Lehrenden einbezogen. An der Schnittstelle dieser Ansätze sollen Erkenntnisse zur Entwicklung und Implementierung von Qualitätsstandards und zu einem Weiterbildungskonzept für DaZ-Lehrpersonen in der Arbeitsmarktförderung führen.

Berufsqualifizierende Sprachförderung im quartären Bildungsbereich

Mit 320.000 ausländischen Teilnehmenden allein im Jahr 2020 (Bundesagentur für Arbeit (BA) 2020) sind Bildungsmaßnahmen des quartären Bildungsbereichs nicht nur an der beruflichen, sondern auch an der berufssprachlichen Integration von Migranten umfangreich beteiligt. Der Ausdruck „quartärer Bildungsbereich“ (hier synonym verwendet mit „Erwachsenenbildungsbereich“) entstand im Zusammenhang mit der Bildungsreform der 1970-er Jahre, mit ihm sollte eine Gleichwertigkeit mit dem öffentlichen Bildungsbereich manifestiert werden (Faulstich et al. 1991, S. 18, S. 486; Nuissl 2018; Schrader 2018, S. 43). Die dort erfolgende berufsqualifizierende Sprachbildung und Sprachförderung erfüllt neben den Integrations- und DeuFöV-Kursen im Prozess der beruflichen Integration eine wichtige Funktion (Daase 2012, S. 20–21; Baumann und Becker-Mrotzek 2014; Beckmann-Schulz und Laxczkowiak 2018, S. 53–58).

Arbeitsmarktfördernde Maßnahmen als Instrumente der Arbeitsmarktpolitik bereiten Langzeitarbeitslose und Menschen mit Unterstützungsbedarf (Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) 2021) auf ihre Rückkehr oder den Eintritt in das Erwerbsleben vor. Diese Maßnahmen werden von Bildungsträgern, vielfach auf der Basis öffentlicher Ausschreibungen, individuell gestaltet. Nehmen Migrantinnen und Migranten daran teil, entsteht der Bedarf einer integrierten Sprachförderung. Die durchführenden Einrichtungen, Bildungsträger des quartären Bildungsbereichs, sind traditionell im Schwerpunkt Experten für Berufs- und Sozialpädagogik (Riedl 2017, S. 17–19; Schrader 2018, S. 35), nicht aber für Sprachbildung. Mit Zugewanderten als wachsender Zielgruppe in ihren Bildungsmaßnahmen sind sie mit einer anspruchsvollen Aufgabe konfrontiert. Nicht nur müssen Menschen geschult werden, die durch [13]entfernte Bildungs- und Ausbildungssysteme geprägt sind und zum Teil wenig oder gar keine Schulbildung mitbringen (Brussig et al. 2022). Diese müssen überdies (berufs-)sprachlich gefördert und im Prozess ihrer sozialen wie auch kulturellen Integration unterstützt werden. Die Feststellung der „Expertise im Auftrag des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration für das Jahresgutachten 2017“ gilt damit auch für die berufsqualifizierende Sprachförderung:

„Die Zuwanderung jugendlicher Flüchtlinge seit 2014 war in ihrer Größenordnung zu unvorhersehbar, als dass ihr Bedarf an beruflicher Integration einfach en passant in den vorhandenen Ausbildungsvorbereitungseinrichtungen hätte gedeckt werden können. Die Ausbildungs-, vor allem aber die Ausbildungsvorbereitungsinstitutionen waren gefordert, Angebote für die spezifischen Bedürfnisse von Schutz- und Asylsuchenden in beträchtlichem Umfang mehr oder weniger aus dem Boden zu stampfen“ (Baethge und Seeber 2016; siehe auch Efing 2015a).

Ausbau des berufsbezogenen Sprachunterrichts

Impulse für den Ausbau eines spezifisch berufsbezogenen Sprachunterrichts neben der Sprachbildung für alltagsorientierte Kompetenzen gingen von der steigenden Migration und der Flüchtlingszuwanderung seit Ende der 1990-er Jahre aus. Gleichzeitig wuchsen Fachkräftemangel und der daraus entstehende Bedarf an Sprachbildung und Sprachförderung. Heute finden sich neben einem umfangreichen Unterrichtsangebot auch Programme der Bundesländer für die Schulung von Lehrkräften in Schulen (Roche und Terrasi-Haufe 2017; Terrasi-Haufe und Börsel 2017) sowie eine zunehmend breite Palette an Sprachlehrwerken für berufssprachlichen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Die große Anzahl zugewanderter Jugendlicher stellte außerdem die Berufsschulen vor die Aufgabe einer verstärkten berufssprachlichen Förderung (Efing 2015a; Roche und Terrasi-Haufe 2016). Im Schuljahr 2019/2020 besuchten allein in Bayern mehr als 40.000 zugewanderte Jugendliche eine bayerische Berufsschule (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2020, S. 9).

Qualifizierung der DaZ-Lehrpersonen

Mit der starken Zunahme alltagsorientierter sowie berufsbezogener und berufsqualifizierender Sprachbildung und Sprachförderung geht ein entsprechend hoher Bedarf an Lehrpersonen für Deutsch als Zweitsprache einher (Terrasi-Haufe und Börsel 2017; Riemer 2018). Da dieser Bedarf allein mit ausgebildeten DaZ-Fachkräften nicht gedeckt werden kann, kommen in den Sprachkursen des quartären Bildungsbereichs in großer Zahl Quereinsteiger mit unterschiedlichen Qualifizierungen zum Einsatz (Riemer 2018, S. 139).

[14]Da von den fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen der DaZ-Lehrkräfte der Lernerfolg in entscheidendem Maß abhängt (ebd.; Roche 2020, S. 13–35), kommt ihrer passgenauen und wirksamen Weiterbildung eine wichtige Funktion zu. Dabei haben sich traditionell seminardidaktisch gestaltete Formate der Lehrerfortbildung häufig als nicht wirksam im Hinblick auf den Transfer gelernter Inhalte erwiesen (Renkl 1996; Hascher 2014; Lipowsky und Rzejak 2018). Forschung zur Wirksamkeit der Weiterbildung von Lehrkräften findet international in der Regel mit ausgebildeten Lehrkräften öffentlicher Schulsysteme statt. Mit Blick auf Erfolgsfaktoren zeigen Studien mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen ermutigende Trends hinsichtlich der Wirksamkeit der untersuchten Fortbildungen (Hattie 2013; Lipowsky 2014). Die vorliegende Arbeit präsentiert eine entsprechende Studie mit Lehrpersonen außerhalb des öffentlichen Schulsystems.

Didaktische Konzepte für berufsbezogenen Sprachunterricht

Ziel des berufssprachlichen Unterrichts ist die Bewältigung von Anforderungen der verschiedenen Ebenen von Fachsprachen (Göpferich 1995, S. 124; Drumm 2018b), also sprachlicher Kompetenzen, die in Ausbildung und Beruf benötigt werden (Roche 2017; Terrasi-Haufe und Börsel 2017). Als richtungsweisend hat sich dafür das wissenschaftlich fundierte und evaluierte didaktische Konzept „Berufssprache Deutsch“ erwiesen (Roche und Hochleitner 2020; Roche und Finkbohner 2021). Es ermöglicht mit einem handlungsorientierten Ansatz die Integration beruflicher und sprachlicher Kompetenzen und ist damit auch als didaktischer Paradigmenwechsel (Roche 2012) gegenüber instruktionistischen oder beliebig zusammengestellten Methoden zu bezeichnen (Szerszén 2015, S. 55; Beckmann-Schulz und Laxczkowiak 2018, S. 57).

In den Berufsschulen in Bayern wurde „Berufssprache Deutsch“ deshalb bereits seit 2010 als Unterrichtsprinzip erprobt, später intensiviert mit dem steigenden Bedarf durch die Flüchtlingskrise, um die „berufssprachlich-kommunikativen Kompetenzen zielorientiert im fachlichen sowie allgemeinbildenden Unterricht [zu fördern]“ (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB) 2022). In diesem Zusammenhang entstanden in einem Gemeinschaftsangebot der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und der Technischen Universität München (TUM) der Studiengang „Sprache-Kommunikation-Deutsch“ (SKD) für Studierende und Lehrkräfte der Berufsschulen und die Lehrbuchserie „Berufsdeutsch“ im Cornelsen-Verlag (www.cornelsen.de).

[15]Ziel der Arbeit

Die wichtige Funktion der Sprachförderung in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen für Vermittlungsquoten in Ausbildung und Arbeit veranlasste das Hessische Ministerium für Soziales und Integration (HMSI), Qualitätsstandards für landes- und/oder ESF-geförderte Maßnahmen entwickeln zu lassen. Im Rahmen des daraufhin vom Institut für Deutsch als Fremdsprache der LMU durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsprojekts „Entwicklung hessischer Qualitätsstandards für berufsqualifizierende Sprachförderung“ (QSH) (2019–2022) entstand diese Dissertation. Dass mit dem Projekt QSH eine fruchtbare Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft gelungen ist, ist der umfangreichen und vertrauensvollen Förderung und Kooperation mit dem HMSI, der Initiative und der fachlichen Expertise von Prof. Dr. Jörg Roche und der guten Zusammenarbeit im Team zu danken.

Die vorliegende Arbeit verfolgt drei Ziele:

Ermittlung der Rahmenbedingungen, der Qualifikation der eingesetzten DaZ-Lehrpersonen und der Formate des DaZ-Unterrichts in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen

Entwicklung von Qualitätskriterien für Sprachbildung und Sprachförderung in diesem Bereich

Entwicklung und Erprobung eines Weiterbildungskonzepts für Lehrkräfte, das diese befähigt, in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen Sprachförderung und DaZ-Unterricht nach dem Unterrichtsprinzip „Berufssprache Deutsch“ durchzuführen.

Datengrundlage sind empirische Erhebungen in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen in Hessen.

Kapitel 2 analysiert den Forschungsstand zum berufsbezogenen und berufsqualifizierenden DaZ-Unterricht multiperspektivisch an der Schnittstelle folgender Forschungsbereiche: Ausgangspunkt ist der aktuelle Stand der Sprachlehrforschung zum berufsbezogenen Sprachunterricht. Forschungsansätze und -ergebnisse der empirischen Bildungsforschung erhellen die Rahmenbedingungen für Sprachunterricht im quartären Bildungsbereich. Um Ansatzpunkte für ein zielführendes Weiterbildungskonzept für DaZ-Lehrpersonen zu ermitteln, werden Ergebnisse der Forschung zur Wirksamkeit der Weiterbildung von Lehrpersonen diskutiert.

[16]Kapitel 3 zeigt das Forschungsdesign und das methodische Vorgehen, weiterhin eine empirische Studie zur Erprobung des entwickelten Weiterbildungskonzepts.

Kapitel 4 erarbeitet als Mikrostudie die Parameter der Sprachförderung in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen. Mit der Studie werden typische Formen der Sprachförderung und die Bedingungen des Entstehens dieser Formate und ihrer Konzepte innerhalb der Rahmenbedingungen des quartären Bildungsbereichs ermittelt. Voraussetzungen und Kompetenzen der eingesetzten DaZ-Lehrpersonen werden aufgezeigt. Die Parameter fließen in die Gestaltung eines Weiterbildungskonzepts in Kapitel 5 ein.

Kapitel 5 leitet Qualitätsstandards und Eckpunkte eines Weiterbildungskonzepts aus wissenschaftlichen Grundlagen des Kapitels 2 und den Ergebnissen der Studie aus Kapitel 4 ab.

In Kapitel 6 werden die Ergebnisse der empirischen Studie ausgewertet.

Kapitel 7 diskutiert die Ergebnisse vor dem Hintergrund des Forschungsstands.

Kapitel 8 liefert ein Fazit und gibt einen Ausblick auf die weitere Entwicklung und auf Forschungsdesiderata.

[17]2Wissenschaftlicher Hintergrund

Qualitätsstandards für Sprachförderung richten sich im Kern auf qualitativ hochwertigen Sprachunterricht. Im ausbildungs- und berufsvorbereitenden Kontext der Arbeitsmarktförderung sind dabei methodisch-didaktische Verfahren gefragt, die sprachliche und berufliche Kompetenzen integrierend vermitteln. „Berufssprache Deutsch“ soll daher für die Gegebenheiten im Rahmen arbeitsmarktfördernder Maßnahmen adaptiert werden. Zum Stand der Forschung zur berufsbezogenen und berufsqualifizierenden Sprachförderung werden in Abschnitt 2.1 dazu folgende Themen erörtert:

Entwicklung, Systematik und Einsatzfelder der berufsbezogenen und berufsqualifizierenden Sprachförderung

Entwicklung und Diskussion der didaktischen Ansätze zur handlungsorientierten berufsqualifizierenden Sprachbildung und Sprachförderung.

Als weitere Aufgabe ergibt sich die Schulung der Lehrpersonen für Deutsch als Zweitsprache (DaZ), die ihren Unterricht auf entsprechende Verfahren ausrichten sollen. Damit die Schulung auf ein für sie neues Format des Unterrichtens gelingt, ist nicht nur ein adäquater und wissenschaftlich begründeter didaktischer Inhalt, sondern auch ein zielführendes Konzept für ihre Weiterbildung erforderlich. Die Arbeit folgt daher einem mehrperspektivischen Ansatz (siehe Abb. 2). Ergebnisse folgender Forschungsgebiete erweitern die [18]Perspektive der Sprachlehrforschung: Da der Lehr-Lern-Prozess der berufsqualifizierenden Sprachförderung im Umfeld des quartären Bildungsbereichs stattfindet, ergeben sich Ansätze der Forschung zum Erwachsenenbildungsbereich als erste Schnittstelle. Damit sollen etwaige Einflüsse auf die Qualität der Sprachförderung erkannt und berücksichtigt werden. Die zweite Schnittstelle liegt bei der Frage nach dem Erfolg eines Weiterbildungskonzepts. Ergebnisse der Forschung zur Wirksamkeit der Weiterbildung von Lehrpersonen tragen dazu bei, den Transfer von Schulungsinhalten zu erhöhen. Ihre Berücksichtigung soll das Gelingen der Weiterbildung unterstützen. Abb. 2 visualisiert diese Schnittstellen.

Abb. 2: Visualisierung der Schnittstellen einschlägiger Forschungsbereiche. Die Pfeile symbolisieren unterstützende Einflüsse.

Die Abschnitte 2.1 bis 2.3 bieten eine Übersicht über aktuelle Fragestellungen und Methoden der Forschungsbereiche und entwickeln daraus Forschungsfragen und Hypothesen.

2.1Forschungsbereich 1: Sprachlehrforschung

Berufsbezogene Sprachbildung und Sprachförderung haben in Deutschland an Bedeutung zugenommen, seitdem hier in zunehmendem Umfang Zugewanderte auf ein Berufsleben vorbereitet werden (Efing und Kiefer 2018, S. 167; Roche und Hochleitner 2020; Brussig et al. 2022). Der OECD-Bericht „Sprachförderung für erwachsene Zugewanderte“ (Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) 2021, S. 44) weist aus, dass Deutschland unter den OECD-Ländern im „letztverfügbaren Jahr“ mit etwa 1 Mrd. € mit weitem Abstand die höchste Summe in die Sprachförderung von Migrantinnen und Migranten investiert hat, hier bezogen auf Integrationskurse und berufsbezogene DeuFöV-Sprachkurse (DeuFöV, Verordnung über die berufsbezogene Deutschsprachförderung; Bundesamt für Justiz und Verbraucherschutz 04.05.2016).

Erst seit dem Jahr 2005 besteht in Deutschland nach dem Zuwanderungsgesetz für Ausländer die Verpflichtung, durch einen Integrationskurs Deutsch zu lernen, zunächst mit alltagsorientierter Ausrichtung (Bundesministerium des Innern (BMI) 05.08.2004). Für die berufsbezogene Sprachbildung lassen sich als „Vorreiter“ im außerschulischen Bereich die Fachsprachenkurse der Carl-Duisberg-Gesellschaft sowie auch des Herder-Instituts in den 1970-er Jahren ansehen (Roche 2022). Erst 2007 starteten die ESF-BAMF berufsbezogenen Sprachkurse (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2013, 2019a), die bundesweit durchgeführt wurden (Deeke 2018), seit 2016 ersetzt durch die Berufssprachkurse der DeuFöV. Heute finden sich neben einem umfangreichen [19]berufssprachlichen Unterrichtsangebot unterschiedlicher Anbieter (siehe Abschnitt 2.2.4) auch Programme der Bundesländer für die Schulung von Lehrkräften in Berufsschulen (Roche und Terrasi-Haufe 2017; Terrasi-Haufe und Börsel 2017; Bonin et al. 2020) sowie eine zunehmend breite Palette an Sprachlehrwerken für berufssprachlichen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Zu nennen sind die Lehrwerke „Berufsdeutsch“ (Dirschedl 2012), FOKUS Deutsch – Erfolgreich in Pflegeberufen (Tadrowski und Welzel 2016), Menschen im Beruf Tourismus A1 (Schümann et al. 2015), DaF im Unternehmen A1 (Farmache et al. 2015), Einstieg Beruf, Berufsfeld Altenpflege A1 (Albert 2018), telc-Unterrichtsmaterial: Deutsch Pflege (www.telc.net) sowie Lehrmaterialien zu dem Unterrichtsprinzip „Berufssprache Deutsch“ des Bayerischen Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) (http://www.isb.bayern.de/schulartspezifisches/materialien/berufssprache-deutsch/ Unterrichtsmaterialien). Mit Blick auf die Entwicklung von Qualitätskriterien und Schulungskonzepten für berufsqualifizierenden DaZ-Unterricht in der Arbeitsmarktförderung werden im folgenden Abschnitt die Situation der berufsbezogenen Sprachbildung und ihre Didaktik diskutiert.

2.1.1Sprachbildung und Sprachförderung in der Berufsqualifizierung von Zugewanderten

Definition: Berufsbezogener und berufsqualifizierender Sprachunterricht im Erwachsenenbildungsbereich

Hierbei handelt es sich um außerschulischen Sprachunterricht, der im Unterschied zu alltagsorientiertem Sprachunterricht berufliche und berufssprachliche, fachliche und fachsprachliche Inhalte vermittelt. Der Begriff „berufsbezogen“ wird in diesem Text als Oberbegriff und allgemeinere Verwendung für alle Formen des Unterrichts mit berufssprachlichen Inhalten verwendet. „Berufsqualifizierend“ steht für Unterricht in Maßnahmen, die eine konkrete Ausbildungs- oder Berufsvorbereitung zum Ziel haben und damit spezifischere und oft höhere Anforderungen an fach- und sprachintegrierte Formate stellen.

Auf dem Weg in Ausbildung oder Beruf erfolgen Schulung und Integration von Zugewanderten in einem vielschichtigen Geflecht aus nationalen und regionalen Maßnahmen (siehe Abschnitte 2.1.1.1 und 2.1.1.2). Sprachbildung findet zum größten Teil in den bundesweiten Integrations-Sprachkursen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) statt, daneben in Programmen der Länder, in ehrenamtlichen Initiativen sowie auch in Firmen und Betrieben. Die Sprachförderung innerhalb von Firmen und Betrieben ist laut OECD-Bericht (Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) 2021, S. 44) [20]in Deutschland noch wenig verbreitet, während einige andere der an der Studie beteiligten Länder gute Erfahrungen mit entsprechenden Angeboten machen, z.B. mit „Finnisch am Arbeitsplatz“. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die Systematik der Angebote und zeigt die unterschiedlichen Formate der Sprachbildung und Sprachförderung.

2.1.1.1Systematik

Die Sprachbildung von Migranten hat im ersten Schritt immer das Ziel, mit Grundkenntnissen eine sprachliche Basishandlungsfähigkeit und eine Orientierungskompetenz im Alltag zu erreichen (siehe Abb. 3). Dies geschieht regelhaft in Integrationskursen, aber auch in niedrigschwelligen Sprachkursangeboten (öffentlich gefördert oder ehrenamtlich organisiert). Lernende, die einen Integrationskurs erfolgreich abgeschlossen haben, können seit 2016 einen darauf aufbauenden berufssprachlichen DeuFöV-Kurs besuchen (Bundesamt für Justiz und Verbraucherschutz 04.05.2016), was allerdings oft mit Wartezeiten verbunden ist (Brussig et al. 2022). Weitere Maßnahmen zur beruflichen und sprachlichen Integrationsvorbereitung sind nicht modular aufeinander abgestimmt und werden von Migrantinnen und Migranten, die sich auf einen Berufseinstieg oder eine Ausbildung vorbereiten, in zufälliger [21]Auswahl oder durch Zuweisung der Jobcenter oder der Arbeitsagentur wahrgenommen. Die Vermittlung in eine Ausbildung oder in eine berufliche Tätigkeit wird mit Erreichen der Stufen B1/B2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER), häufig aber auch mit geringeren Sprachkenntnissen, angestrebt. Die in Abb. 3 als aufeinanderfolgende Stufen dargestellten Förderangebote finden sich in der Realität nicht als modular aufeinander abgestimmtes System.

Abb. 3: Mögliche Stufen der Sprachbildung und der Sprachförderung für Zugewanderte von Alltagskompetenzen zu berufsqualifzierender Sprachbildung(Lindner-Matthiesen 2019)

2.1.1.2Formate

Sprachbildung und Sprachförderung in Form von Unterricht in der Klasse oder in anderen Vermittlungsformen (zum Beispiel Sprachförderung in der Werkstatt) haben stets sprachliche und inhaltliche Anteile (alltagsorientiert oder fachlich). Im Format eines allgemeinen Sprachkurses ist definitionsgemäß die Sprachvermittlung Ziel und tragendes Element, Alltagswissen wird eingebettet. Im berufsbezogenen Sprachkurs steht ebenfalls die Sprachvermittlung selbst im Mittelpunkt, allerdings liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf fachlichen und beruflichen Themen. Umgekehrt ist es, wenn die Sprachförderung Teil einer beruflichen Aus- und Weiterbildung ist (z.B. im sprachsensiblen Fachunterricht). Hier bestimmen, in der Regel mit einem berufspädagogischen Lehransatz (Riedl 2011), die Inhalte der Berufsbildung das Kursformat. Die Förderung in Deutsch als Zweitsprache wird integriert. Abb. 4 zeigt die Gewichtung der Komponenten Sprache und Inhalt in den verschiedenen Formaten in der Sprachförderung.

Abb. 4: Unterschiedliche Gewichtung sprachlicher und inhaltlicher Komponenten in Sprachkursen und in Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung

Erkennbar ist weiterhin ein Nebeneinander unterschiedlicher Formate und unterschiedlicher Zuständigkeiten. Während Integrations- und DeuFöV-Kurse im quartären Bildungsbereich angesiedelt sind, findet die berufsbezogene oder [22]berufsqualifizierende Sprachförderung sowohl im quartären Bildungsbereich als auch im öffentlichen Schulsystem, in den Berufsschulen, statt (siehe Abb. 5). Nicht-öffentliche Bildungsträger übernehmen einen umfangreichen Zuständigkeitsbereich, sowohl bei Sprachkursen als auch bei der integrierten Sprachförderung.

Abb. 5: Übersicht über Schulungsformate und inhaltliche Ausrichtung der Sprachförderung für Migrantinnen und Migranten mit ihrer Zugehörigkeit zu Bildungsbereichen. Sprachkurse und integrierte Sprachförderung bilden unterschiedliche Formate. Die gestrichelte Linie hebt das in dieser Arbeit behandelte Format hervor (Lindner-Matthiesen 2021).

2.1.1.3Einsatzfelder für berufsbezogenen Sprachunterricht

Der folgende Abschnitt skizziert die Einsatzfelder fach- und berufsbezogener Sprachbildung und Sprachförderung und ihre jeweiligen Besonderheiten.

[23]Berufsbezogene Sprachkurse des quartären Bildungsbereichs

ESF-BAMF berufsbezogene Sprachkurse wurden im Auftrag des BAMF in den Jahren 2009 bis 2017 durchgeführt. In etwa 4000 Kursen, bestehend aus jeweils 270 Unterrichtseinheiten (UE) Sprachunterricht sowie EDV- und Bewerbungstraining, Betriebsbesichtigungen, Fachunterricht und Praktika wurden insgesamt 84.000 Teilnehmende unterrichtet (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2019). Die seit 2016 angebotenen berufssprachlichen Kurse der DeuFöV (Bundesamt für Justiz und Verbraucherschutz) bauen auf den Integrationskursen auf und setzen damit ein Mindestsprachniveau von B1 nach dem GER voraus. Ziel ist das Erreichen der jeweils nächsthöheren Sprachstufe. Ein DeuFöV-Sprachkurs umfasst als Basiskurs 400 UE, als Spezialberufssprachkurs mit erweiterten Inhalten bis zu 600 UE. Die Kurse schließen mit Zertifikatsprüfungen ab. Eine Besonderheit der DeuFöV-Sprachkurse besteht in der Möglichkeit der Kombination mit einer arbeitsmarktfördernden Maßnahme. In den Maßnahmen, die im Rahmen des Projekts „Entwicklung hessischer Qualitätsstandards für berufsqualifizierende Sprachförderung“ evaluiert wurden, kam diese Kombination allerdings in keinem Fall vor. Die DeuFöV-Sprachkurse werden mit einem Projektauftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) derzeit evaluiert (Forschungsinstitut Betriebliche Bildung f-bb 2020–2023). Ein Angebot allgemein oder speziell berufssprachlich ausgerichteter Sprachkurse an Sprachschulen, Volkshochschulen und bei gemeinnützigen Bildungsträgern richtet sich eher an andere Zielgruppen.

Ergänzt wird das wachsende Gesamtangebot an berufssprachlichen Schulungstypen um eine zunehmend großen Palette an Lehrbüchern und Lehrwerken für diesen Unterricht.

Fach- und berufsbezogene Sprachförderung im Sekundarbereich

Im Sekundarbereich allgemeinbildender Schulen findet Sprachförderung häufig im didaktischen Format eines sprachsensiblen Fachunterrichts statt (siehe Abschnitt 2.1.2.5). Die hohe Anzahl zugewanderter Jugendlicher stellt auch die Berufsschulen vor die Aufgabe einer verstärkten fach- und hier auch berufssprachlichen Förderung. Diese Herausforderung wurde anfangs vor allem durch Anlehnung an methodische Konzepte wie die des sprachsensiblen Fachunterrichts angegangen, ab 2015 verstärkt durch das szenariendidaktische „Bayerische Modell“, das inzwischen in den KMK-Richtlinien (Kultusministerkonferenz (KMK) 2019) bundesweit verankert ist (siehe Abschnitt 2.1.2.4).

[24]Berufsqualifizierende Sprachförderung in der Arbeitsmarktförderung

Im Zusammenhang mit arbeitsmarktfördernden Maßnahmen wird die Bezeichnung „berufsqualifizierend“ gewählt, da diese Maßnahmen auf eine konkrete Ausbildungs- oder Berufsvorbereitung zielen. Berufsbezogene und berufsqualifizierende Sprachbildung und Sprachförderung für erwachsene Migranten erfolgen in umfangreichem Ausmaß auf dem Feld der berufsorientierten Fördermaßnahmen des quartären Bildungsbereichs, maßgeblich in arbeitsmarktfördernden Maßnahmen (Efing 2015c; Efing und Kiefer 2017; Baumann und Becker-Mrotzek 2014; Beckmann-Schulz und Laxczkowiak 2018; Roche und Hochleitner 2020; Roche und Lindner-Matthiesen 2023). Damit sind Bildungsmaßnahmen des quartären Bildungsbereichs nicht nur an der beruflichen, sondern auch an der berufssprachlichen Integration von Migranten beteiligt. Dennoch findet die dort erfolgende Sprachbildung, meist als Sprachförderung, verglichen mit der vielbeachteten öffentlichen Diskussion über Qualität, Umfang und Ergebnisse der Integrations- und DeuFöV-Kurse (Schuller et al. 2011; Rother 2021), als eigenes Format bisher weniger Aufmerksamkeit.

Arbeitsmarktfördernde Maßnahmen stellen im Kontext der Sprachförderung von Migranten eine Sonderform bzw. ein eigenes Format dar. Nehmen Migrantinnen und Migranten an Maßnahmen teil, ist es für die meisten kaum möglich, die ausbildungs- oder berufsvorbereitenden Inhalte ohne zusätzliche Sprachförderung zu bewältigen. Diese wird individuell in die Schulungskonzepte integriert (siehe Kapitel 4). Im Unterschied zum Format eines Sprachkurses bilden Sprachbildung oder Sprachförderung damit in diesen Maßnahmen eine Zusatzkomponente (siehe Abb. 4). Sie werden aufgrund der gegenüber dem öffentlichen Schulsystem fehlenden curricularen Systematik im quartären Bildungsbereich als jeweils eigene Entwicklung der einzelnen Bildungsträger konzipiert und umgesetzt, was zu einem Nebeneinander unterschiedlicher Formate führt (Schelten 2010; Dollhausen 2014; Riedl 2017; Franz 2018, 2017; Roche und Lindner-Matthiesen 2023). Die bundesweiten Maßnahmen der Arbeitsagentur, PerF (Perspektiven für Flüchtlinge), PerjuF (Perspektiven für junge Flüchtlinge), KompAS (Kompetenzfeststellung, frühzeitige Aktivierung und Spracherwerb) und KomBer (Kombination berufsbezogener Sprachförderung mit Arbeitsförderung) machen genauere Vorgaben zu Aufbau und Inhalt einer Maßnahme und lassen weniger Spielraum für die eigene Gestaltung der Bildungsträger (Brussig et al. 2022).

[25]2.1.2Didaktik des berufsbezogenen Sprachunterrichts

Berufsbezogene und berufsqualifizierende Sprachbildung und Sprachförderung sind mit ihrer Zieldomäne, dem Beruf, nicht nur eng verbunden, ihre Inhalte sind als sprachliches Wissen und als sprachliche Kompetenzen Teil des jeweiligen Berufs (Efing 2017, S. 247; Roche 2017a). Der folgende Abschnitt zeigt für den Kontext der Arbeitsmarktförderung relevante Aspekte der Didaktik der berufsbezogenen und berufsqualifizierenden Sprachförderung und Sprachbildung.

2.1.2.1Definitionen

Sprachförderung und Sprachbildung: Unter Sprachbildung wird im vorliegenden Kontext Unterricht verstanden, der den Spracherwerb systematisch und gezielt aufbaut. Sprachförderung umfasst alle Schulungsformen, die diesen Prozess unterstützen oder erweitern, wie etwa Einzel-, Kleingruppen oder Nachhilfeunterricht, Fragestunden oder Coaching.

Kompetenzbegriff: Im Zusammenhang mit handlungsorientierten didaktischen Verfahren gewinnt der Kompetenzbegriff an Bedeutung, denn er impliziert individuelle Aktivitäten Lernender zum Erwerb spezifischer Kenntnisse und Fähigkeiten. In der Definition von Weinert (2003), hier zitiert nach Drumm (2018a, S. 137), werden Kompetenzen im deutschen Bildungssystem häufig definiert als

„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“

Forschungsergebnisse zeigen, dass das Erreichen beruflicher Qualifizierungen nicht nur von beruflich-inhaltlichen, sondern in hohem Maß auch von sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen abhängt (Roche 2021, S. 306), woraus die Forderung abgeleitet wird, „die Entwicklung einer ausbildungs- und berufsfeldbezogenen kommunikativen Kompetenz als eine zentrale Bildungsaufgabe zu begreifen“ (Werner et al. 2015, S. 86; Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) 2021). Die Diskussion der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs der „berufsbezogenen kommunikativen Kompetenz“ (Efing 2015b) wird hier nicht nachvollzogen.

„Berufssprache Deutsch“ als Sprachregister: Sprachliche Register bezeichnen eine Auswahl „typischer Kommunikationssituationen und -konstellatio[26]nen“ (Efing 2018, S. 232) aus dem Repertoire einer Sprache für bestimmte Situationen. Die korrekte Kommunikation in unterschiedlichen Registern wird durch sprachliches Handeln erworben. Im Hinblick auf soziale, aber auch auf berufliche Kontexte tragen Register unter anderem das Merkmal der Normierung, sodass Abweichungen eher nicht toleriert werden (Drumm 2018b, S. 46) oder, im fachlich-beruflichen Kontext, zu Missverständnissen und Fehlern führen. Für das Absolvieren von Schule und Studium ist die Kompetenz, das Register „Bildungssprache“ zu benutzen, erfolgsentscheidend. Deren linguistisch beschreibbare Merkmale (diskursiv, grammatisch und lexikalisch) werden als „Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen in Bildungsstandards und Lehrplänen“ bezeichnet (Lange 2020).

Deutsch als Berufssprache wird als Sprachregister unterschiedlich definiert (Efing 2015b, S. 35–40). Efing definiert Berufssprache als ein „berufs(feld)übergreifendes Register auf einem Kontinuum zwischen Standard- und Fachsprache […], welches fachübergreifende Sprachhandlungen [umfasst]“ (ebd., S. 38–40). Nach der grundlegenden Forschung zu Fachsprachen von Göpferich (1995, S. 124), die am Beispiel „schriftliche[r] Textsorten der Naturwissenschaften/Technik“ die Vielschichtigkeit der Fach- und Berufssprachen aufzeigt, greift Roche (2021, S. 306) in einer erweiterten Definition diese Vielschichtigkeit auf: „Berufssprache umfasst demnach alle funktionalen und pragmatischen Schichtungen der Fachsprache, die für den Erwerb und die Ausführung berufsbezogener Aufgaben relevant sind.“ Die Bedeutung von Kompetenzen im Register der Berufssprache wird hier als zentral angesehen:

„Für die berufliche Kommunikation spielen das Wissen über Fachinhalte und die Versprachlichung von Sachverhalten sowie die Bewältigung von betrieblichen Abläufen zusammen mit der Einschätzung der hierarchischen Position und den Aufgabengebieten von Sender und Empfänger eine ganz zentrale Rolle für den Kommunikationserfolg“ (Roche und Terrasi-Haufe 2019, S. 170).

Die Definition des Registers „Berufssprache“ als mehrschichtiges System unterschiedlicher sprachlicher Anforderungen ist für den kompetenzorientierten Ansatz der vorliegenden Arbeit als zielführend anzusehen, da sie alle beruflichen Ebenen erfasst, auf denen unterschiedliche sprachliche Kompetenzen zur Ausbildungs- und Berufsvorbereitung erworben werden müssen.

2.1.2.2Didaktische Konzepte im berufsbezogenen Sprachunterricht

Das Einbeziehen beruflicher Themen in den Sprachunterricht blickt nicht auf eine lange Tradition zurück, hat aber bereits einen Entwicklungsprozess durchlaufen. So konstatiert Efing (2015a, S. 7), dass vor 2015 in Bezug auf [27]berufssprachlichen Unterricht der Schwerpunkt der Forschung auf „Diagnose und Förderung der Lesekompetenz“ lag. Er nennt Perspektiven, in denen sich seitdem eine Weiterentwicklung zeigt. Für den Kontext der berufssprachlichen Förderung in der Arbeitsmarktförderung sind daraus folgende Aspekte relevant, die die Sprache als Teil des beruflichen Handelns wahrnehmen (ebd., S. 8):

1.

„die Erweiterung des Forschungs- und Förderfokus´ vom Lesen […] auch auf das Schreiben und Sprechen […]

2.

die Erweiterung der Förderkonzepte […] auf eine ganzheitliche, umfassende Förderung, die oft einhergeht mit einer Erweiterung der rein sprachlich-kommunikativen auf eine interkulturelle Perspektive […]

4.

die Ausweitung der Förderung vom Deutsch-/Sprachunterricht auf den sprachsensiblen, integrativen Fachunterricht […]

7.

die Umfokussierung von sprachlich-kommunikativen Kompetenzen und deren Diagnose zur Erhebung sprachlich-kommunikativer Anforderungen in Berufsschule und Betrieb […]

8.

die Umfokussierung von den basalen Sprachdimensionen Lesen, Schreiben, Sprechen, Zuhören auf berufsrelevante sprachliche Register […].“

Ein weiterer Aspekt betrifft die Frage, ob alltagsorientierter und berufsbezogener Spracherwerb nacheinander oder parallel erfolgen sollten. Die diesbezügliche Diskussion wird hier nicht nachvollzogen (Szerszén 2015). Berufssprachlicher Unterricht wird mit unterschiedlichen didaktischen Konzepten gestaltet, die nicht immer wissenschaftlich begründet werden (Roche 2017, S. 188), so wie es in der Formulierung von Szerszén (2015, S. 55) zum Ausdruck kommt:

„[…], dass es im fachsprachlichen Unterricht, so wie es für den gemeinsprachlichen Unterricht der Fall ist, keine einzige optimale Methode geben kann. Mit anderen Worten: die AutorInnen der meisten Ansätze und/oder Methoden schöpfen in der Regel aus bereits bestehenden Ideen/Erfahrungen von Didaktikern der Gemeinsprachen, indem sie entweder manche ihrer Elemente berücksichtigen oder beiseite lassen.“

Im Unterschied dazu bietet das handlungsorientierte didaktische Prinzip „Berufssprache Deutsch“ nach Roche und Terrasi-Haufe (2016) ein wissenschaftlich fundiertes und evaluiertes Konzept (Terrasi-Haufe et al. 2018; Roche 2021). Im Folgenden wird das Unterrichtsprinzip vor dem Hintergrund seiner reformpädagogischen Wurzeln und seiner wissenschaftlichen Fundierung dargestellt. Weitere Ansätze für den fach- und berufssprachlichen Unterricht werden kontrastierend diskutiert. Ziel des Unterrichts ist der Kompetenz[28]erwerb auf verschiedenen Ebenen von Fach- und Berufssprachen (Göpferich 1995; Roche und Drumm 2018), also sprachlicher Kompetenzen, die zur Bewältigung der Anforderungen in Ausbildung und Beruf benötigt werden (Roche 2017a; Terrasi-Haufe und Börsel 2017).

2.1.2.3Reformpädagogik und Konstruktivismus

Reformpädagogik in der Berufsausbildung

Die Einflüsse reformpädagogischer Modelle der Zeit zwischen 1890 und 1933 finden sich in handlungsorientierten Ansätzen der heutigen Berufspädagogik wieder (Riedl 2011, S. 58; Riedl und Schelten 2013, S. 227). Merkmale der Reformpädagogik sind unter anderem „das Prinzip der Eigenverantwortung“ und die „Betonung der Schüleraktivität“ (ebd., S. 228). Schelten (2010, S. 198 f.) nennt hier auch die „vorbereitete Umgebung“, die „Rolle der Lehrkraft“ und die „Atmosphäre“. Bedeutende Vertreter der Reformpädagogik waren Maria Montessori, Célestin Freinet, Georg Kerschensteiner und weitere, die individuell unterschiedliche, weltanschaulich und politisch geprägte Konzepte entwickelten. Gemeinsam ist ihnen eine „kritisch[e] [Auseinandersetzung] mit den damals existierenden Bildungs- und Schulformen“ (Riedl 2011, S. 59). Von der Reformpädagogik gingen Impulse zur Entwicklung „neuer erziehungswissenschaftlicher Theorien an den Hochschulen […] und der Pädagogik als eigene[r] Universitätsdisziplin [aus]“ (ebd., S. 60).

In einem konstruktionistisch-reformpädagogischen Ansatz zeigt Papert (1982), ein Schüler und Mitarbeiter des Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896–1980), wie handlungsorientiertes Lernen mit Computerprogrammen zu einem kindgemäßen Verstehen mathematischen Denkens führen kann. Papert nennt als Leitprinzip die Nachahmung, „wie Kinder sprechen lernen“, nämlich „mühelos, erfolgreich und ohne organisierten Unterricht“ (ebd., S. 30 f.). Papert setzt sich insbesondere mit Methoden des amerikanischen Schulunterrichts auseinander, den er als „eine künstliche und unproduktive Umgebung“ beschreibt.

Konstruktivismus und Moderater Konstruktivismus

Während neuere kognitionswissenschaftlich begründete Lehrverfahren psycholinguistisch ermittelte Prozesse der Verarbeitung von (Sprach)verstehen und (Sprach)produktion im Gehirn zum Ausgangspunkt nehmen (Renkl 2018, S. 926; Roche 2020), etwa bei der Wortschatzarbeit, beziehen konstruktivistische Verfahren weitere Ergebnisse der Gehirnforschung, der Linguistik und der Erkenntnistheorie ein (ebd., S. 23 f.; Riedl. 2011, S. 100 f.). Mit ihnen [29]erfahren didaktische Konzepte mit ähnlichen Merkmalen wie die der Reformpädagogik eine wissenschaftliche Begründung. Konstruktivistisch-didaktische Konzepte „interpretier[en] Lernen als eine persönliche Konstruktion von Bedeutungen“ (Riedl und Schelten 2013, S. 134) und berufen sich dabei auf das Phänomen der „Assimilation“, nach der

„Informationen nicht 1:1 im Gehirn abgebildet werden, sondern […] im Wechselspiel mit der Umwelt individuell erzeugt und mittels permanenter Erkennungs- und Organisationsprozesse in bestehende Wissensnetze eingebettet werden“ (Roche 2020, S. 23).

Im Format eines „moderaten Konstruktivismus“ (ebd., S. 27) wird eine unterstützende Umgebung gestaltet, sodass Lernende in ihrem Lernprozess eine Leitlinie erkennen können. Um einen „aktive[n] Prozess der Wissenskonstruktion“ (Schelten 2010, S. 179) in Gang zu setzen, sind selbstgesteuerte Lernphasen, in denen sich Lernende mit „lebens- und berufsnahe[n] […] Problembereichen“ aktiv auseinandersetzen (Riedl und Schelten 2013, S. 134), zentraler Aspekt des Unterrichts. Weitere Charakteristika sind eine authentische Aufgabenstellung, die kollektive Zusammenarbeit, ein konstruktiver Umgang mit Fehlern, die Lernerzentriertheit unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Lernenden sowie die Selbstevaluation (ebd., S. 134 f.). Diese Merkmale setzen eine Rolle der Lehrkraft als „Initiator und Berater des Lernens“ voraus, die „Eigenständigkeit und Eigeninitiative der Lernenden“ (ebd., S. 136) in einer „situierte[n] Lernumgebung“ (Schelten 2010, S. 179) unterstützt. Abhängig vom Wissensstand der Lernenden, umfasst ein moderat konstruktivistischer Unterricht in einer „theoretisch begründeten Mischform“ auch instruktionistische Elemente (Riedl 2011, S. 103; Roche 2020, S. 27). Schelten (2010, S. 193) weist darauf hin, dass für die Lehrkraft „die Entwicklung eines handlungsorientierten Unterrichts mit sehr hohem Aufwand verbunden“ ist. Dem stehe „eine entlastende Durchführung des Unterrichts in entspannter und konzentrierter Atmosphäre gegenüber“.

2.1.2.4Das Unterrichtsprinzip „Berufssprache Deutsch“

Hier knüpft das didaktische Konzept „Berufssprache Deutsch“ an, das einen moderat-konstruktivistischen Ansatz im berufssprachlichen Unterricht realisiert (Roche 2017a; Roche und Hochleitner 2020; Roche und Finkbohner 2021). Nach Vorarbeiten von Piepho, Hölscher und Roche (Hölscher et al. 2006) wird damit ein fachlich fundiertes Konzept vorgelegt und als durchgängiges Unterrichtsprinzip ausgearbeitet (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung ISB; Terrasi-Haufe et al. 2018). Mit einem handlungsorientierten Ansatz ermöglicht das Unterrichtsprinzip die Integration von beruflichen [30]und sprachlichen Kompetenzen und fällt damit gegenüber instruktionistischen Methoden oder einem beliebig kombinierten Methodenmix unter eine als „bewussten Paradigmenwechsel“ (Terrasi-Haufe und Baumann 2017, S. 58) zu bezeichnende Veränderung. Eine handlungsorientierte Didaktik, die fachliche und sprachliche Qualifizierung integriert, ermittelt auch der OECD-Bericht zur Sprachförderung von Zuwanderern in den 38 Mitgliedsländern als besonders effektiv (Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) 2021).

Intensiviert durch die Flüchtlingskrise, entstanden parallel zur Einführung dieses Unterrichtsprinzips an Bayerischen Berufsschulen der Weiterbildungs-Masterstudiengang „Sprache – Kommunikation – Deutsch“ (SKD, seit 2014) als erster Lehramtsstudiengang für Deutsch als Zweitsprache und die Lehrwerkserie „Berufsdeutsch“ bei dem Lehrbuchverlag Cornelsen. Da auch Berufsschülerinnen und Berufsschüler mit Erstsprache Deutsch sprachliche Defizite aufweisen, erreicht der integrierende Ansatz, der die Sprachförderung im Deutschunterricht und im sprachsensiblen Fachunterricht verknüpft, alle Lernenden (Roche 2017, S. 191 f.). „Berufssprache Deutsch“ realisiert methodisch eine Ausprägung der Szenariendidaktik, die aus der Berufspädagogik das Modell der „vollständigen Handlung“, dort umgesetzt in der „Leittextmethode“ (Riedl 2011, S. 193, S. 244; Schelten 2010, S. 228 f.), aufnimmt und damit an eine verwandte Praxis der Berufspädagogik anknüpft (Roche 2017, S. 187). Damit ruht das Konzept, das die Förderung zugleich der fachlichen und der berufssprachlichen Handlungskompetenz zum Ziel hat (ebd., S. 188), fachlich auf vier Säulen, die sich gegenseitig bestätigen. Die Bezugswissenschaften werden im Folgenden vorgestellt.

Wissenschaftliche Fundierung der Szenariendidaktik im Unterrichtsprinzip „Berufssprache Deutsch“

Die Szenariendidaktik nach Roche und Terrasi-Haufe ist fachlich in der Sprachlehr- und -lernforschung verankert. Sie bezieht sich außerdem auf berufspädagogische, linguistische und kognitionswissenschaftliche Grundsätze.

1) Bezugswissenschaft Pädagogik/Berufspädagogik

Die fachliche Fundierung in der Bezugswissenschaft Pädagogik/Berufspädagogik betrifft die konstruktivistische Begründung der Handlungsorientierung (siehe Abschnitt 2.1.2.3), weiterhin die in dem Abschnitt „Lernszenarien“ dargestellte vollständige Handlung, die in der Berufspädagogik entwickelt wurde.

[31]2) Bezugswissenschaft Linguistik

Pragmalinguistisch bezieht sich die Handlungsorientierung, die in der berufsbezogenen Szenariendidaktik realisiert wird, auf das Organon-Modell Karl Bühlers (1934) (Roche 2020, S. 251). Bühler beschreibt und visualisiert mit seinem Kommunikationsmodell die Bedingungen für authentische Kommunikation zwischen Gesprächspartnern. Sprache wird hier als „Werkzeug“ (griechisch: organon) für die Kommunikation angesehen. Danach werden in der Kommunikation zwischen „Sender“ (Sprecher) und „Empfänger“ (Kommunikationspartner) sprachliche „Zeichen“ (zum Beispiel Wörter) benutzt, die mehrere Funktionen übernehmen. Zunächst hat das Zeichen eine Appellfunktion vom Sender an den Empfänger („Signal“). Gleichzeitig steht es als „Symbol“ für einen Inhalt (ein Objekt oder einen Sachverhalt). Schließlich benutzt Bühler den Ausdruck „Symptom“, um darzustellen, dass mit einem Inhalt aus der subjektiven Perspektive des Sprechers auch eine persönliche Botschaft oder ein Zustand des „Senders“ verbunden ist, der sich mitteilt. In der mündlichen Kommunikation wechseln die Rollen von Sender und Empfänger. Kommunikation ist dann authentisch, wenn alle drei Bezüge nach Bühlers Modell realisiert sind (Roche und Terrasi-Haufe 2016). Betrachtet man vor diesem Hintergrund typische Kommunikationsübungen in Sprachlehrwerken, etwa kontextfreie Satzmuster, so ist festzustellen, dass auf diese Weise keine authentische Kommunikation eingeübt wird. Lernende sehen sich vielmehr genötigt, linguistisch „sinnlose“ Sätze zu produzieren, die sie kaum auf Anforderungen in echten Kommunikationssituationen übertragen können. Das gilt auch und gerade für die Kommunikation in beruflichen Kontexten. Die handlungsorientierte Sprachdidaktik der Szenariendidaktik greift diese linguistischen Grundsätze auf, indem sie einen Rahmen schafft, in dem alle Parameter für eine „echte“ Kommunikation gegeben sind. Mit authentischen Handlungssituationen berufsrelevanter Situationen ermöglicht das Konzept „Berufssprache Deutsch“ ein Einüben realistischer Kommunikationsanlässe und Kommunikationsformen (Roche und Terrasi-Haufe 2016). Im beruflichen Kontext betrifft dies Gesprächssituationen auf allen beruflichen Hierarchieebenen und den Umgang mit unterschiedlichen Textsorten, die durch jeweils unterschiedliche allgemein- und fachsprachliche Anforderungen sowie grammatische Merkmale gekennzeichnet sind (Roche 2017, S. 193). Hervorzuheben ist außerdem die Integration des sprachlichen und des fachlich-beruflichen Lernens:

„Für die berufliche Kommunikation spielen demnach das Wissen über Fachinhalte und die Versprachlichung von Sachverhalten sowie die Bewältigung von betrieblichen Abläufen zusammen mit der Einschätzung der hierarchischen Position und den Aufgabengebieten von Sender und Empfänger eine ganz zentrale Rolle für den Kommunikationserfolg. Die Möglichkeit, Erfahrungen in solchen Situationen zu [32]sammeln, fördert wiederum das Wissen über Fachinhalte, Sachverhalte und betriebliche Abläufe und sensibilisiert für angemessenes sprachliches Handeln mit unterschiedlichen Gesprächspartnern“ (Roche und Terrasi-Haufe 2016, S. 16).

3) Bezugswissenschaft Kognitionswissenschaften

Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften belegen, dass Sprachlernen nicht nur durch selbstständiges und problemlösendes Handeln, wie es in der Szenariendidaktik elementar ist, unterstützt wird (Roche und Suñer 2017, S. 17–29). Auch das Berücksichtigen weiterer Faktoren der kognitiven Linguistik, wie etwa Metaphern, Visualisierungen, Animationen und Medieneinsatz sowie ein reichhaltiges und binnendifferenziertes Materialangebot tragen zum nachhaltigen Lernen und zum Entwickeln von Lernstrategien bei (Langacker 2017, S. 88–132; Roche 2017, S. 194). Hierbei spielt auch die Transferdifferenz, also die Herausforderung, Bedeutungsunterschiede in unterschiedlichen Sprachen zu erkennen und zu bewältigen, eine wichtige Rolle. Sie ermöglicht gleichzeitig den Aufbau interkultureller Kompetenzen (Roche 2019).

4) Bezugswissenschaft Fremdsprachendidaktik/Sprachlehrforschung

Die oben dargestellten Grundlagen moderat konstruktivistischer Didaktik wurden auch in der Sprachlehrforschung verarbeitet. Wie in Abschnitt 2.1.2.3 gezeigt, ist die Handlungsorientierung darin ein wesentliches Element. Auf ihre Wirksamkeit weist Roche (2017, S. 197 f.) hin:

„Der Sprachzuwachs entwickelt sich […] beim konkreten (Sprach-)Handeln mit dem spezifischen Kommunikationszweck. Das Behalten der vermittelten Strukturen wird so, in der Verzahnung von Handlungsbezug, Vermittlung sprachlicher Mittel und aktiver Sprachanwendung und der daraus entstehenden Rückmeldung wesentlich erleichtert und optimiert“.

In der Berufsschuldidaktik spielt das handlungsorientierte Lernen seit den 1980-er Jahren eine wichtige Rolle „als angemessene Reaktion auf veränderte Anforderungen in der Arbeitswelt“ (Riedl und Schelten 2013, S. 101). Ist der Unterricht professionell gestaltet, zeigen sich gute Lernerfolge, allerdings weisen die Autoren auf eine nicht durchgängige Akzeptanz konstruktivistischer Lehrkonzepte aufgrund ihrer hohen Ansprüche an Lernende und Lehrende hin (ebd., S. 104).

Lernszenarien

Die Szenariendidaktik nach Roche und Terrasi-Haufe (2016) bietet Lehrkräften ein didaktisches Modell, nach dem sie Unterricht in Form eines „Szenarios“ planen und durchführen können. Lernende werden mit einer authentischen [33]Problem- oder Aufgabenstellung konfrontiert, die so auch im beruflichen Alltag vorkommen kann. Vergleichbar dem Projektmanagement, bearbeiten sie die Aufgabenstellung in definierten Schritten (siehe Tabelle 1; Terrasi-Haufe et al. 2018, S. 170–174). Die Lehrperson gestaltet eine sorgfältig vorbereitete und reichhaltige Lernumgebung, in der sie, abgestimmt auf die unterschiedlichen Leistungsniveaus einer Lerngruppe, alle Informationen und Materialien bereitstellt, die diese Teilnehmenden zum Bearbeiten der Aufgabe und zur Erstellung eines sprachlichen „Produkts“ benötigen. Das Produkt kann in einem Lernszenario mit sprachlichem Schwerpunkt ein Rollenspiel sein, ein Plakat, eine E-Mail oder ein Eintrag in das Berichtsheft. In einem Lernszenario mit beruflichem Schwerpunkt kann das Produkt berufsbezogen etwa ein Möbelstück sein, ein Bau- oder Schaltplan oder eine zubereitete Speise. Abb. 6 zeigt, dass der Übergang von rein sprachlich zu überwiegend berufsinhaltlich ausgerichteten Lernszenarien fließend ist, das heißt, dass der Anteil sprachlicher Inhalte flexibel gestaltet werden kann.

Abb. 6: Im didaktischen Format eines beruflich ausgerichteten Lernszenarios kann der Anteil der integrierten Sprachförderung variabel gestaltet und gesteigert werden.

Im Unterricht übernimmt die Lehrperson überwiegend eine moderierende Rolle. Der Umgang mit handlungsorientierten Lernszenarien verlangt sowohl von ihr als auch von den Lernenden einen Umgewöhnungsprozess, da ihr Ausgangspunkt häufig „neo-behavioristisch motivierte […] Inputhypothesen […] [sind, die] primär die Steuerung der Lernenden verfolgen“ (Roche 2017, S. 188).

Das konstruktivistisch basierte Lehr- und Lernverfahren eines Lernszenarios ist funktionsorientiert, das heißt, Grammatik wird durch einen funktionalen Gebrauch in der praktischen Sprachanwendung vermittelt und erworben. Für Lernende bietet ein solches Lehr-Lern-Setting folgende Vorteile (Roche 2020):

Motivation durch kommunikative Relevanz und Situativität der Aufgabenstellung, die zugleich eine authentische Kommunikation ermöglicht

Aktivierung durch Lernerzentriertheit in einer vorbereiteten Umgebung, die aktives und erprobendes Handeln im selbstgesteuerten Lernen provoziert

[34]Verstärkung der Nachhaltigkeit des Lernens durch „Fehler als Lernanstoß“ (ebd., S. 280). Die so unterstützte Angstfreiheit in Bezug auf Fehler ermöglicht eine individuelle sprachliche Entwicklung.

Tabelle 1 zeigt das Didaktisierungsmodell für authentische Handlungssituationen nach dem Prinzip der „vollständigen Handlung“ nach Roche und Terrasi-Haufe (2016, S. 17). Deren Ablauf in sieben definierten Schritten folgt Prinzipien der Handlungsregulationstheorie, wonach dem Handeln immer ein Planen vorausgeht (Riedl 2011, S. 193). In der Darstellung von Roche und Terrasi-Haufe wurde das Grundmodell zunächst für den Einsatz in Berufsschulen und für die Integration der Sprachförderung adaptiert.

Lernphase

Aktivitäten

1. Orientieren

Das Vorwissen der Schüler und Schülerinnen wird aktiviert. Was ist zu tun? Was wissen wir schon darüber?

Wo finden wir zusätzliche Informationen?

2. Informieren

Die Schüler und Schülerinnen informieren sich anhand verschiedener Materialien bezüglich der zu bearbeitenden Aufgabe und Inhalte.

3. Planen und analysieren

Für ein Anliegen oder Problem gibt es immer verschiedene Lösungen und verschiedene Wege, die zur Lösung führen.

Was könnten wir machen? Wer hat so etwas schon mal gemacht? Wer kann das am besten?

Aufgaben sind zu bestimmen und zu verteilen, Arbeitsabläufe zu planen. Hilfsmittel sind auszuwählen, relevante Vorlagen zu analysieren.

4. Durchführen

Nun wird am Produkt gearbeitet, das umfasst mehrere Abstimmungs-, Arbeits- und Optimierungsdurchläufe.

5. Präsentieren

Auf die Phase der Erarbeitung folgt die Vorstellung des Arbeitsvorhabens. Davor wird alles nochmals sorgfältig überprüft und erprobt. Jeder ist schließlich stolz auf seine Arbeit.

6. Bewerten

Anhand gemeinsam festgelegter Kriterien werden die erarbeiteten Produkte konstruktiv bewertet.

7. Reflektieren

Eine Phase der abschließenden Reflexion schließt das Szenario ab: Was ist gut gelungen? Was könnte man auch in anderen Situationen anwenden? Was würde man wann anders machen?

Tabelle 1: Prinzip der vollständigen Handlung zur Didaktisierung von Handlungssituationen nach Roche und Terrasi-Haufe (2016, S. 29)

Mit der Maxime „Focus on Handlung“ in dem Projekt „Kinder-Akademie“ mit Grundschülern konnten Roche et al. (2012) eindrucksvoll nachweisen, dass im [35]Unterschied zu Verfahren des formbasierten und inputgesteuerten Unterrichts Lernende durch eigenverantwortliches Arbeiten im aufgabenbasierten Handlungslernen mit Produktion und Präsentation von Ergebnissen messbare und nachhaltige Kompetenzen im sprachlichen und im sozialen Bereich erwerben.

2.1.2.5Weitere didaktische Ansätze im Fach- und Berufssprachunterricht

Sprachsensibler Fachunterricht

Wer in einer noch nicht gut beherrschten Zweitsprache Fachunterricht bewältigen muss, steht vor dem Problem, fachliche Inhalte nicht nur sprachlich und inhaltlich verstehen zu müssen, sondern auch Aufgaben dazu mündlich oder schriftlich zu lösen. Um Lernende auf diesem Feld zu unterstützen, entstand der „sprachsensible Fachunterricht“, der in unterschiedlichen sprachdidaktischen Ausprägungen Methoden beschreibt, die Fachlehrkräfte in ihren Fachunterricht integrieren können. Auch als „Sprachförderung im Fachunterricht“ bezeichnet (Beese und Benholz 2013), wird er in erster Linie für naturwissenschaftliche Fächer und Mathematik an Schulen diskutiert (Röttger 2019). An Berufsschulen, wo sprachsensibler Unterricht ebenfalls erforderlich ist, betrifft der Fachunterricht im Unterschied zu allgemeinbildenden Schulen „den fachtheoretischen Unterricht […], welcher die Fachpraxis in der Ausbildung ergänzt“ (Wunram und Miesera 2018, S. 21).

Ursprünglich wurde das Konzept „sprachsensibler Fachunterricht“ in den 1990-er Jahren für den Unterricht an deutschen Auslandsschulen von dem Mathematik- und Physikfachlehrer Josef Leisen entwickelt (Leisen 2011). Hier werden sprachlich zu bewältigende „Standardsituationen“ des schulischen Fachunterrichts in naturwissenschaftlichen Fächern und Mathematik ermittelt und „Methoden-Werkzeuge“ empfohlen, mit denen Fachlehrkräfte ihre Bewältigung im Unterricht einüben können (ebd., S. 18–21). Leisen bezeichnet zwar das „sprachliche Handeln“ als eine der Bedingungen für das „Sprachlernen im Fach“ (Leisen 2015, S. 45), stellt allerdings einen Unterricht vor, der neben handlungsorientierten Schritten weitgehend durch die Lehrkraft gesteuert werden soll (ebd., S. 50 f.), sodass ein überwiegend instruktionistisches Vorgehen beschrieben wird. Die vorgestellten „sprachlichen Kompetenzbereiche“ (ebd., S. 48 f.) werden im Modell der Unterrichtsplanung nicht berücksichtigt.

Beese und Benholz (2013, S. 50) untersuchen unter dem Oberbegriff „Sprachförderung im Fachunterricht“ Konzepte in Projekten, wo Unterrichtsmethoden wie das „Scaffolding“, „sprachliche Routinen“, Mehrsprachigkeitskonzepte und handlungsorientierte Ansätze erprobt wurden. Ihr Fazit zeigt die wichtige [36]Funktion der „Lehrerbildung als Schlüssel zur Realisierung […] fachlicher Sprachförderung“ und allgemein gute Ergebnisse, wenn überhaupt gefördert wird. Dabei sehen sie eine differenzierte Eignung der Ansätze für unterschiedliche Lernkontexte (ebd., S. 50). Dieses Ergebnis bestärkt Röttger (2019, S. 90–96), der bei einigen der in Schulen angewandten Konzepte des sprachsensiblen Fachunterrichts eine fehlende DaZ-Expertise konstatiert und eine Zusammenarbeit von Fach- und DaZ-Lehrkräften empfiehlt. Hier setzen Projekte der Bundesländer an, die nicht nur auf didaktische Modelle, sondern verstärkt auch auf die Lehrerbildung zielen.

Das Konzept des sprachsensiblen Fachunterrichts wurde in mehreren Modellprojekten modifiziert und erprobt, zum Beispiel in dem Projekt FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund 2004–2009). Dessen Modell der „durchgängigen Sprachbildung“ (Gogolin 2020) zielt mit Materialien, sprachdiagnostischen Instrumenten und Qualifizierungsangeboten für Lehrkräfte auf eine zusammenhängende sprachliche Förderung im gesamten vorschulischen und schulischen Bildungsprozess (ebd., S. 166 f.). Grundlegend ist die Berücksichtigung von Konzepten der Mehrsprachigkeit (ebd., S. 170–172). Eine Evaluation der Projektergebnisse, die Gogolin et al. (2011) vorstellten, ergab grundsätzlich positive Ergebnisse hinsichtlich entwickelter Diagnose- und Qualifizierungsinstrumente (ebd., S. 243–245). Roche (2017, S. 189) weist allerdings darauf hin, dass dessen „‘sprachbewusste[r]‘ Ansatz“ des Unterrichts „Merkmale der […] Formorientierung“ aufweist, welche empirisch geringere nachhaltige Wirkungen auf das Sprachlernen gezeigt haben als handlungsorientierte Verfahren (ebd.). Insgesamt stellte sich nach Abschluss des FörMig-Projekts, obwohl „die Bilanz positiv aus[fällt]“ (Gogolin 2011, S. 242), eine systematische Veränderung in den beteiligten Bundesländern nicht ein (ebd.). Mit dem FörMiG-Institut der Universität Hamburg existiert eine Weiterführung des Projekts. Der erkennbare Unterschied zwischen positiven Projektergebnissen und stagnierender Umsetzung nach Projektende könnte auf eine grundsätzliche Schwierigkeit von Projekten mit Veränderungsziel hindeuten: Die Implementierung neu entwickelter Verfahren oder Strukturen kann sich als zäh erweisen und erfordert im Change-Management auch die Begleitung der Veränderungsprozesse (Brandl 2021, S. 63–68). Gogolin et al. (2011, S. 246) sehen hier „Hindernisse [in der] traditionell stark versäulte[n] deutsche[n] Bildungslandschaft.“ Da die Einführung von Qualitätsstandards in der Sprachförderung in Hessen ebenfalls ein Veränderungsziel anstrebt, gilt es, diesen Aspekt zu beachten.

[37]Das Projekt „Bildungssprache Deutsch für Berufliche Schulen“ des Instituts für Deutsch als Fremdsprache der LMU (2014–2017) und der Technischen Universität München (TUM) wurde durch das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache gefördert (https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/de/). Hier entstand über den sprachsensiblen Fachunterricht hinaus ein „integratives Konzept“ für „eine fundierte Sprachbildung in allen Fächern“ (Roche 2017, S. 192; s. dazu Abschnitt 2.1.2.4).