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Muss man wirklich „Bürgerinnen und Bürger“ sagen? Macht „Denglisch“ die deutsche Sprache kaputt? Sind neue Ausdrücke wie „Rudelgucken“ sinnvoll? Beherrscht in den Zeiten des Internets niemand mehr Rechtschreibung und Grammatik? Sind „selber“ und „selbst“ gleichbedeutend? Eine Sammlung von Artikeln und Glossen zu sprachlichen Themen, mal eher wissenschaftlich, mal unterhaltsam, mal praktisch. Die Texte sind in sich geschlossen und lassen sich je nach Interesse selektiv lesen. Der Autor studierte Sprachwissenschaft und ist als Journalist und Lektor tätig.
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Was wir mit der Sprache machen und was sie mit uns macht
Artikel und Glossen
Dirk Müller
Cover unter Verwendung eines Bildes von Glyn Lowe Photoworks
Liebe Leserinnen und Leser,
wussten Sie es? Das war gerade eine geschlechtergerechte Anrede unter Verwendung des „Ladies-first-Prinzips“.
Was ist das? Und ist das nicht ein Widerspruch in sich, „geschlechtergerechte“ Sprache und ein Prinzip aus der galanten Zeit der Männerherrschaft?
Fangen wir von vorne an. Ich hätte auch beginnen können: „Liebe Leser“ oder „Lieber Leser“. Blättert man in älteren Büchern, findet man diese Anredeformen häufiger, und zwar auch in Texten, von denen man weiß, dass sie mindestens ebenso häufig von Frauen wie Männern gelesen wurden.
Wollten die damaligen Autoren – und Autorinnen – weibliche Leser ausschließen? Wohl kaum, wer verzichtet freiwillig auf die Hälfte (oder mehr) der Leserschaft?
Dennoch stieß diese Form der Anrede, das sogenannte „generische Maskulinum“, zunehmend auf Kritik einer feministisch orientierten Sprachwissenschaft (mit dieser Formulierung habe ich gerade die Frage umgangen, ob es anfänglich ausschließlich weibliche Kritiker waren).
Im Deutschen ist grundsätzlich zwischen natürlichem und grammatischem Geschlecht zu unterscheiden. Oft fallen beide zusammen (der Mann, die Frau), manchmal nicht (das Mädchen, das Männchen, die Koryphäe, die Geisel (wenn es ein Mann ist), das Genie usw.
Vor allem Befürworter (jedoch nicht nur!) des generischen Maskulinums argumentieren, dass bei „der Leser“ eine solche Differenz von natürlichem und grammatischem Geschlecht vorliege, genauer: „der Leser“ ist – sofern ihm nicht ausdrücklich eine Leserin gegenübergestellt wird – grammatisch maskulin, während über das natürliche Geschlecht keine Aussage gemacht wird, es können Männer ebenso wie Frauen gemeint sein.
Hier nun setzt der feministische Verdacht ein: Mit dem generischen Maskulinum, so wird argumentiert, werden Frauen quasi unsichtbar. Frauen mögen zwar „mitgemeint“ sein, aber gerade dieses „mitgemeint“ bedeute eine Diskriminierung. Es sei etwa, wie wenn ein Gastgeber bestimmte Leute ausdrücklich einlädt, anderen jedoch erst, wenn sie nachfragen, sagt: „Ihr könnt natürlich auch kommen.“
Gestützt wird diese These durch eine linguistische Beobachtung.
In vieler Hinsicht versucht unsere Sprache, effizient zu sein. Das führt dazu, dass bei Gegensatzpaaren oft nur der eine Pol genannt wird: Man fragt: „Wie groß bist du?“, nicht, „Wie groß oder klein bist du?“ und selten nur „Wie klein bist du?“.
Beim „generischen Maskulinum“ liegt eine solches Phänomen ebenfalls vor, man nennt es eine Neutralisierung – das ist natürlich sprachlich, nicht biologisch gemeint.
Verfechter des generischen Maskulinums argumentierten – grundsätzlich zu Recht –, es handle sich um ein effizientes System. Selbstverständlich ist „Leser“ kürzer als „Leserinnen und Leser“, etwas kürzer übrigens auch als die Ausweichform „Lesende“ (zu dieser später mehr). In längeren Texten kann das viel ausmachen, nicht nur zeitlich, je nach Geschmack auch stilistisch.
Die feministische Linguistik argumentierte, Effizienz könne nicht alles sein. Man (oder frau) wies darauf hin, dass die Neutralisierung stets zur Seite der Kategorie erfolge, die als wichtiger oder positiver angesehen werde. Es gibt bei Lebensmitteln Güteklassen, keine Schlechtigkeitsklassen. „Groß“ (siehe oben) ist nicht besser als klein, aber wichtiger, größer eben.
Entsprechend sei das generische Maskulinum eben sprachlicher Spiegel einer patriarchalischen, von Männern beherrschten Gesellschaft. Dieser Verdacht ist schwer zu beweisen, weil matriarchalische Gesellschaften als Objekt für die Gegenprobe Mangelware sind. Die Argumentation ist jedoch durchaus plausibel, schon, weil sich gesellschaftliche Phänomene immer wieder auch in der Sprache niederschlagen.
Die große, bis heute umstrittene Frage ist, was daraus folgt.
Natürlich kann man stets brav splitten, wie ich es in der Anrede getan habe. Und es gibt die schriftsprachlichen Alternativen LeserInnen und Leser_innen, die die geltende Rechtschreibung bewusst unterlaufen. Aber wollen wir das wirklich stets tun, stets lesen? Ist das nicht eine Zumutung? Soll es vielleicht sogar eine Zumutung sein, eine Art Demütigung der nicht progressiven, der nicht politisch korrekten „Sprecher“? Wieder ein Verdacht, der sich kaum beweisen lässt. Ob er vielleicht aber doch in manchen Fällen plausibel ist, möge „der Leser“, also der/die LeserIn, anhand der konkreten Situation entscheiden.
Schauen wir uns indessen noch einmal das Phänomen der Neutralisierung an. Bewusst noch nicht genannt hatte ich das Beispiel „Wie alt bist du?“
Auch hier liegt eine klassische Neutralisierung vor. Man spricht standardmäßig vom „Alter“ des Säuglings, aber nicht von der Jugend des Greises (wer das dennoch tut, will etwas Besonderes ausdrücken, zum Beispiel, dass der Alte im Geiste jung geblieben sei).
Die Neutralisierung geht also Richtung „alt“.
Aber ist „alt“ in unserer Gesellschaft wirklich besser, wichtiger als „jung“?
Nein – nicht mehr. Der Vorrang des Alters ist ein Erbe unserer Ahnen, das wir aus den meisten Bereichen der Gesellschaft konsequent verdrängt haben. Sicher, man darf mit 15 noch nicht wählen, mit 95 hingegen schon. Doch mit 18 hat der Mensch die vollen Rechte, und ist sicher angesichts der heutigen Lebenserwartung noch jung. Und er wird hofiert, dieser junge Mensch, von der Industrie und der Werbung. Denn er ist der Kunde. Mit 95 hingegen wird er, wenn er noch lebt, möglicherweise in einem Altersheim dahinvegetieren und froh sein, wenn ihn das Personal nicht prügelt und ihm genug zu trinken gibt.
Und diese Tendenz verstärkt sich noch.
Sicher, es gibt weiter Bereiche, in denen die Älteren mehr Macht haben als die Jüngeren, an der Schule zum Beispiel. Aber das unsere Gesellschaft vom Alter dominiert wird, kann man nicht mehr sagen. Eine gewisse Stärke der Alten resultiert eher daraus, dass es hierzulande zahlenmäßig mehr werden. Das ist jedoch eine Folge der Demographie, nicht der Macht des Alters.
Und wer hat bei gleicher Qualifikation die besseren Chancen eine Job zu bekommen: Eine 25- oder eine 55-Jährige?