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»Wenn eine Unterschriftensammlung ignoriert wird, warum dann nicht auf einer Autobahn oder Brücke den Verkehr blockieren? Wenn die Beteiligung an einer Wahl keine Folgen hat oder ein Brief an öffentliche Amtsträger*innen sich als unwirksam erweist, warum nicht zu einem Aufruhr oder einem Generalstreik übergehen? Wie wäre es, einen Betrieb zum Stillstand zu bringen oder Widerstand gegen Polizei oder Gerichte zu leisten?« – Stephen D'Arcy In beeindruckender Ausführlichkeit widmet sich Stephen D’Arcy der Frage, ob und wann militante Aktionsformen gerechtfertigt sind. Was ist Militanz überhaupt? Gibt es verschiedenen Formen von Militanz, und was sind ihre jeweiligen Vorzüge und Nachteile? Welche dieser Formen sind wann und unter welchen Voraussetzungen angemessen und vertretbar? Der Autor ist davon überzeugt, dass Militanz die demokratische Selbstregierung der Menschen stärken kann. Dafür legt er nicht nur stichhaltige Argumente vor, sondern entwickelt darüber hinaus einen normativen Maßstab, anhand dessen AktivistInnen wie KritikerInnen eine klare Grenze zwischen gerechtfertigter und ungerechtfertigter Militanz ziehen können. Denn der ausschlaggebende Unterschied ist für D'Arcy nicht der zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit, sondern der zwischen Aktionen, die die demokratische Selbstbestimmung und Selbstregierung fördern – und solchen, die dies nicht tun.
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Seitenzahl: 361
Stephen D’Arcy
Sprachen der Ermächtigung
Warum militanter Protest die Demokratie stärkt
aus dem kanadischen Englisch von Michael Schiffmann
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Stephen D’Arcy:
Sprachen der Ermächtigung
1. Auflage, Oktober 2019
eBook UNRAST Verlag, Dezember 2021
ISBN 978-3-95405-072-7
Copyright der Originalausgabe:
Languages of the Unheard. Why Militant Protest is Good for Democracy
© Between the Lines, Toronto, 2013
www.btlbooks.com
© Titelfoto: Tim Wagner, http://www.ti-wag.de/
Übersetzt und gedruckt mit freundlicher Unterstützung
des Canada Council for the Arts.
Übersetzt mit freundlicher Unterstützung der
Ontario Book Publishers Organization und Ontario Creates
© UNRAST Verlag, Münster
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Umschlag: kv, Berlin
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Für meine Eltern
EinführungMilitanz als Bürgertugend
1. Die Berufung der Militanten
Die Bewegung der Plätze: Vom Arabischen Frühling zu Occupy und darüber hinaus
Die Schlacht von Seattle: »So sieht Demokratie aus!«
Eine Stimme für die Stimmlosen
Was ist Militanz?
Vier Stile der Militanz
Praktisch vertretbarer oder praktisch unvertretbarer Protest
2. Der liberale Einwand
Die Verteidigung der Ordnung
Eine Herausforderung von innen
Drei gängige Verteidigungen von Militanz
3. Der demokratische Maßstab
Ein Musterbeispiel angemessener Militanz
Prinzipien eines demokratischen Maßstabs für Angemessenheit
Widerlegung des liberalen Einwandes
4. Ziviler Ungehorsam
Der Salzmarsch
Die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz
Ziviler Ungehorsam und öffentliche Autonomie
5. Obstruktive direkte Aktion
Die Logik der Obstruktion
Obstruktion in der Praxis
Demokratie oder Erpressung?
6. Sabotage
Gezielte Zerstörung – Die Logik der Sabotage
Tree Spiking
Brandanschläge
Weitere Sabotageziele: Maschinen und Straßen
Ist Demokratie der richtige Maßstab?
Achtung vor Personen, nicht vor Eigentum
7. Der Schwarze Block
Was ist ein Schwarzer Block
Die Geschichte des Schwarzen Blocks
Kritik am Schwarzen Block
Drei Gesichter des Schwarzen Blocks
Leisten Schwarze Blöcke einen strategischen Beitrag?
8. Aufruhr, Unruhen und Rebellion
Aufruhr und aufrührerische Tätigkeiten
Was ist Aufruhr?
Eine Typologie von Aufruhr, Unruhen und Rebellion
Rebellion und Stimme
9. Bewaffneter Kampf
Pazifismus versus gängige Auffassung von Gewalt
Die gängige Auffassung und der defensive Einsatz von Gewalt
Systemische Gewalt und das Recht auf Rebellion
Einige Beispiele bewaffneter Militanz
Volksmilizen versus klandestine Zellen
Handlungsmacht und Waffengewalt
Insurrektionalismus oder Selbstemanzipation?
Danksagung
Anmerkungen
»Was wir begreifen müssen«, sagte Martin Luther King einmal, »ist, dass ein Aufruhr die Sprache der Ungehörten ist«.[1] Die Zuflucht zu Rebellion ist selten ein Hinweis auf Irrationalität oder eine Form von Mobpsychologie. Viel öfter handelt es sich dabei um einen Versuch an den Rand gedrängter Menschen, ihre Stimme zu finden, Gehör zu finden und auf ihrer Weigerung zu bestehen, sich zum Schweigen bringen zu lassen oder ignoriert zu werden.
Kings Bemerkung war ebenso umstritten wie erhellend, aber dennoch ging auch er nicht so weit, Ausschreitungen als vertretbares Vorgehen darzustellen. Er bestand lediglich darauf, dass sie verständlich seien – eine frustrierte Reaktion auf andauernde Ungerechtigkeit, die angesichts der langen Erfahrung mit unnachgiebigen Eliten und unzugänglichen Machtsystemen einen gewissen Sinn ergaben. Aber seine Wortwahl verweist auf die Möglichkeit einer stärkeren Interpretation, nämlich darauf, dass diese Ausbrüche von Rebellion manchmal vertretbar, ja sogar bewundernswert sein könnten, weil sie es unmöglich machen, die Nöte der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu missachten.
Was wäre, wenn wir uns heute diese Interpretation von Ausschreitungen zu eigen machen würden? Wie könnte dieser Gedanke unser Verständnis und unsere Bewertung dieser spontanen Revolten verändern? Und könnte dieses Verständnis auf andere Formen konfrontativen Protests und konfrontativer Rebellion ausgeweitet werden: auf Generalstreiks, Sit-ins, Straßenblockaden und Besetzungen, auf Industriesaboteur*innen, Straßenkämpfer*innen des Schwarzen Blocks oder sogar bewaffnete Aufständische? Könnten diese Formen der Militanz genauso als Sprachen der Ungehörten verstanden werden?
Für die Behandlung dieser Fragen kann es keinen besseren Wegweiser geben als King selbst, dessen Reden und Schriften wieder und wieder begeistert auf das Bezug nehmen, was er »die wunderbare neue Militanz« der 1960er nannte.[2] Das vorliegende Buch bedient sich freizügig der Terminologie, die er verwendet, wenn er über konfrontativen Protest spricht. Kernthemen besonders in den ersten Kapiteln ergeben sich direkt aus der Auseinandersetzung mit seinem Werk, so etwa eine Charakterisierung der Berufung von Militanten als Arbeit daran, den Stimmlosen eine Stimme zu geben, eine Definition von Militanz als durch Missstände motivierte, kämpferische und konfrontative gemeinsame Aktion, eine Typologie von Auflehnung, Obstruktion, Destruktion und bewaffneter Gewalt als vier verschiedene Stile der Militanz und schließlich das Bestehen auf der Unterscheidung zwischen vertretbarer und unvertretbarer Militanz, auch wenn ich mit seiner Art, diese Unterscheidung zu treffen, nicht übereinstimme.
Aber nicht jede*r wird sich meiner Zustimmung zu Kings Urteil, dass »militante Organisierung für unseren Kampf« für Demokratie und soziale Gerechtigkeit »unentbehrlich« ist,[3] anschließen. Tatsächlich hat Militanz viele Kritiker*innen. Einige von ihnen kann man recht einfach abtun, wie zum Beispiel die verbohrten Verfechter*innen eines Durchgreifens für Recht und Ordnung, die King selbst so gut als Leute, denen »›Ordnung‹ mehr bedeutet als Gerechtigkeit«, beschrieben hat.[4] Ihre fehlende Wertschätzung der Bedeutung sozialer Gerechtigkeit und öffentlicher Autonomie ist für sie Grund genug, die Hände zu ringen, wenn sie Zeug*innen kühnen Vorgehens gegen Rassismus oder Armut oder Kolonialismus oder Sexismus werden. Andere Kritiker*innen von Militanz hingegen sind authentisch an der Beseitigung eklatanter Missstände interessiert. Ihre Einwände bezüglich der Anwendung konfrontativer Mittel für dieses Ziel erfordern daher eine ernsthafte Antwort. Es gibt sehr viele liberale Verfechter*innen sozialer Gerechtigkeit, die sich Vorstellungen wie Gleichheit und Demokratie aufrichtig verpflichtet fühlen und bereitwillig an vielen großen Demonstrationen und Organisationen der gesellschaftlichen Bewegung beteiligen.
Ihre Kritik – die ich als den liberalen Einwand bezeichne – besagt, dass militante Teilnehmer*innen an Protesten durch ihren Rückgriff auf gewaltsamen Druck statt auf Konsensbildung und vernunftgeleitete öffentliche Diskussion im Endeffekt auf Zwang statt auf Dialog setzen und auf diese Weise gegen das demokratische Ideal verstoßen. Können Militante hierauf eine prinzipiengeleitete Antwort geben oder müssen sie jenen Verfechter*innen von Militanz (wie zum Beispiel dem anarchistischen Autor Peter Gelderloos)[5] folgen, die ohnehin mit Demokratie nicht viel zu tun haben wollen und damit den wichtigsten Punkt der Liberalen zuzugestehen scheinen?
Ich bin der Meinung, dass militant Protestierende eine prinzipiengeleitete und überzeugende Widerlegung des liberalen Einwandes liefern können. Und das ist es, was ich in diesem Buch zu begründen versuche: einen normativen Maßstab, mittels dessen gezeigt werden kann, wann und auf welcher Basis Militanz demokratische Normen unterstützt, statt eine Gefahr für sie darzustellen.
In der Antwort, die ich hier vorschlage, breche ich an einem entscheidenden Punkt mit King. Anders als er bin ich nicht von einem der populärsten Maßstäbe für die Legitimität militanten Widerstands überzeugt, nämlich der Fixierung auf den Unterschied zwischen ›Gewalt‹ und ›Gewaltlosigkeit‹. Man hört ja wieder und wieder, Protestierende seien zu weit gegangen, indem sie zu Gewalt gegriffen hätten, oder dass Leute, die Gewalt anwenden, nicht wirklich Teil von Bewegungen für soziale und Umweltgerechtigkeit oder für politische und wirtschaftliche Demokratie seien. Es heißt, diese gewalttätigen Protestierenden seien Teil des Problems, nicht der Lösung. Der Maßstab, den ich vorschlage, zieht die Trennlinie zwischen gerechtfertigter und ungerechtfertigter Militanz an einem anderen Punkt: Der entscheidende Gegensatz ist der zwischen demokratisch und undemokratisch, nicht der zwischen gewaltsam und gewaltlos.
Die Unterscheidung zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit kann nicht die Basis für die Unterscheidung zwischen gerechtfertigtem und ungerechtfertigtem Protest sein, weil schon die bloße Idee von ›Gewalt‹ immer ein gewisses Maß an Unentschuldbarkeit impliziert. Wenn ich einen Mann zu Boden stoße, um ihn daran zu hindern, ein Kind mit dem Messer anzugreifen, wende ich physischen Zwang an. Aber begehe ich damit auch einen Akt der Gewalt? Den meisten von uns würde es wohl widerstreben, das Wort in diesem Sinn zu verwenden. Nehmen wir aber einmal an, dass ich denselben Mann zu Boden stoße, um ihm den Weg zu einem Gebäude zu versperren, vor dem ich während eines Generalstreiks Streikposten stehe. Hier wären viele nur allzu schnell bereit, von ›Gewalt‹ zu reden, während andere immer noch zögern würden. Betrachten wir nun einen dritten Fall: Was wäre, wenn ich denselben Mann niederschlage, um damit meine Abneigung gegen seine Religion zum Ausdruck zu bringen? In diesem Fall wäre vielleicht jede*r der Meinung, dass es sich hier um einen Gewaltakt handelt. Und doch begehe ich in allen drei Fällen die gleiche Art von Handlung: Ich stoße einen Mann zu Boden. Warum bezeichnen wir dann nicht alle diese Handlungen, oder keine davon, als gewalttätig? Die Antwort ist klar: Es widerstrebt uns, eine Handlung als gewalttätig zu bezeichnen, wenn wir sie als wünschenswert und moralisch vertretbar betrachten. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir so selten Leute von ›gewaltsamer Selbstverteidigung‹ reden hören. ›Selbstverteidigung‹ wird als moralisch akzeptabel angesehen und daher weigern wir uns, sie als gewaltsam zu charakterisieren.
Die Implikationen dieser Beobachtung sind sowohl offensichtlich als auch bedeutsam. Schon die Frage »Ist Gewalt akzeptabel?« führt in die Irre. Tatsächlich läuft sie darauf hinaus zu fragen: »Ist inakzeptable Anwendung von Gewalt akzeptabel?« Stattdessen sollten wir Fragen stellen, die weit weniger aufgeladen und aus genau diesem Grund viel interessanter sind: Ist es in Ordnung, sich an einem Aufruhr zu beteiligen? Wann, wenn überhaupt, ist es vertretbar, zu bewaffneter Gewalt zu greifen oder damit zu drohen? Was ist mit Brandanschlägen auf menschenleere Gebäude? Können Straßenkampftaktiken nach Art des Schwarzen Blocks je gerechtfertigt sein, und wenn ja, unter welchen Umständen?
Diese Fragen sind schwieriger zu beantworten. Es ist leicht, sich selbstzufrieden zurückzulehnen und zu verkünden, jegliche Gewalt sei inakzeptabel. Aber solange das nur eine andere Art ist zu sagen, dass es nicht akzeptabel ist, inakzeptable Gewalt anzuwenden, ist diese Aussage inhaltsleer. Wenn jemand sagen würde, es sei falsch, einen Mann zu Boden stoßen, um ihn daran zu hindern, auf ein Kind einzustechen, könnte das wenigstens als klarer Standpunkt zu einer umstrittenen Frage gelten. Andererseits würde es die Wichtigkeit des Schutzes von Kindern vor physischen Angriffen auf ziemlich schockierende Art unterbewerten. In der Praxis würden aber fast alle, die behaupten, unter allen Umständen gegen Gewalt zu sein, hier die Anwendung physischer Gewalt billigen, um den Angreifer unschädlich zu machen. Wir sollten daher pauschale Verurteilungen jeglicher Gewalt mit einem gewissen Argwohn betrachten. Solche Proklamationen stellen zum größten Teil den Versuch dar, die schwierigen Fragen hinter einem Deckmantel oberflächlicher moralischer Gewissheit zu verbergen. In diesem Buch versuche ich, auf die tatsächlichen Fragen direkte, wenn auch manchmal kontroverse Antworten zu geben, die auf einer prinzipiengeleiteten Position dazu basieren, was konfrontativen Protest in sehr vielen Fällen als einen Akt der Unterstützung von Demokratie vertretbar macht.
Ich bezeichne meine Formulierung dieser Position als den ›demokratischen Maßstab‹. Ziel dabei ist die Untermauerung des Standpunktes, dass militanter Protest zum größten Teil gut für die Demokratie ist. Der demokratische Maßstab besteht aus zwei Teilen. Erstens liefert er eine Interpretation des demokratischen Ideals, die Demokratie als öffentliche Autonomie, das heißt, als Selbstregierung von Menschen durch inklusive, vernunftgeleitete öffentliche Diskussion versteht. Zweitens schlägt er vier Prinzipien für Angemessenheit vor, die gemeinsam ausbuchstabieren, wann und auf welcher Basis es mit dem demokratischen Ideal vereinbar ist, den Diskussionsprozess zu unterbrechen und durch konfliktorientierten, konfrontativen Protest energischen Druck auszuüben.
Bei der Entwicklung dieses Maßstabs habe ich zwei Stränge meines eigenen biografischen Hintergrunds zusammengebracht. Einerseits bin ich seit vielen Jahren sozialer Aktivist und durch meine Teilnahme an gesellschaftlichen Basisbewegungen geprägt, darunter die Occupy-Bewegung und andere Erfahrungen mit breitem Widerstand. Diese Erfahrungen haben mir geholfen, die Bedeutung von Versammlungsdemokratie und des Aufbaus sozialer Basismacht außerhalb von und oft in direktem Gegensatz zu den Institutionen des offiziellen politischen Prozesses zu würdigen. Auf der anderen Seite bin ich akademischer politischer Philosoph mit dem Spezialgebiet normative Demokratietheorie. Die Konzeption von Demokratie, die ich in diesem Buch vorschlage und die ich als autonome Demokratie bezeichne, stellt die antikapitalistische Radikalisierung einer Auffassung dar, die heute unter Demokratietheoretiker*innen viel Akzeptanz gewonnen hat, nämlich der der ›deliberativen Demokratie‹. Diese Auffassung besagt, dass demokratische Legitimität nicht so sehr eine Funktion von Wahlen (oder generell der Zählung von Präferenzen) ist, sondern von ›Stimme‹, der Fähigkeit, die eigenen Belange in einem öffentlichen Forum vorzubringen und dafür zu sorgen, dass diesen Belangen durch einen deliberativen Prozess nachgegangen wird, der sich auf einen Konsens zubewegt.[6]
Die Versammlungsdemokratie der Aktivist*innen und die deliberative Demokratie der Philosoph*innen treffen sich in der Auffassung, dass eine politische Gemeinschaft oder soziale Struktur in dem Maß als demokratisch anerkannt werden sollte, in dem sie auf der Basis der Selbstregierung der Menschen durch inklusive Prozesse vernunftgeleiteter Diskussion agiert. In meiner Variante dieses Konzepts von Demokratie ist es besonders wichtig, dass die Autorität über diese Diskussionsprozesse weder von Eliten, die keiner Rechenschaft unterliegen, usurpiert, noch von Machtinstitutionen oder -systemen zunichte gemacht wird. Wenn unnachgiebige Eliten oder unzugängliche Institutionen die Entscheidungen, die aus solchen Diskussionen hervorgehen, missachten und damit zahlreichen Menschen die Stimme verweigern, versetzt das der Demokratie den Todesstoß. Dieser Ansicht zufolge ist Demokratie ein Prozess der Anhörung der Beteiligten und der Lösung von Konflikten durch inklusive und ermächtigende Prozesse kollektiver Entscheidungsfindung.
Dennoch wird die Realität Erwartungen, die von dieser idealisierten Konzeption geweckt werden, regelmäßig enttäuschen. In der Praxis können wir uns ziemlich sicher sein, dass unnachgiebige Eliten und unzugängliche Institutionen einer auf Dialog gegründeten Demokratie immer wieder im Weg stehen werden. Politiker*innen werden die öffentliche Meinung immer wieder dreist missachten und erklären, es gebe keine Alternative zur Durchsetzung einer unpopulären, aber unternehmerfreundlichen Steuerpolitik. Konzerne werden oft in schamloser Gleichgültigkeit gegenüber dem öffentlichen Interesse handeln und sich dabei auf die höhere Autorität der Marktkräfte berufen, als sei das eine ausreichende Rechtfertigung für ihre Missachtung sozialer Gerechtigkeit.
Und genau aus diesem Grund braucht die Demokratietheorie einen Maßstab, um zu bestimmen, wann Militanz angemessen ist. Wann ist es, und zwar gerade aus Respekt für das Ideal der Selbstregierung, gerechtfertigt, auf einer anderen Grundlage zur Aktion zu schreiten: nicht als Partner*innen in einem deliberativen Prozess, der auf einen Konsens zustrebt, sondern als Gegner*innen, die um den Sieg über einen Konzern, der sich von der Kraft des besseren Arguments nicht überzeugen lässt, oder über Politiker*innen kämpfen, die sich weigern, auf die Stimme der Vernunft zu hören? Mit der Entwicklung des demokratischen Maßstabs verfolge ich den Zweck, Richtlinien im Hinblick auf die Frage zu liefern, wann und auf welcher Basis Menschen manchmal das Recht oder sogar die Pflicht haben können, einen Kurs militanten Widerstands einzuschlagen, wenn vernunftgeleitete Diskussion allein sich gegenüber der Unvernunft der Macht als ohnmächtig erweist.
Im Herzen des demokratischen Maßstabs finden sich vier Prinzipien. Diese Kriterien können genutzt werden, um zu bestimmen, wann Militanz mit Demokratie vereinbar ist und für welche Arten von Militanz dies in spezifischen Kontexten gilt. Die Prinzipien werden im Einzelnen in Kapitel drei dargelegt, aber für den Augenblick werde ich sie hier einfach unkommentiert auflisten:
Das Prinzip der maximierten Möglichkeiten
: Militanz sollte neue Möglichkeiten schaffen, gravierende und drängende Missstände zu beseitigen, wenn Versuche, dies durch vernunftgeleitete öffentliche Diskussion zu tun, von unnachgiebigen Eliten oder unzugänglichen Institutionen vereitelt werden.
Das Prinzip der Handlungsmacht:
Militanz sollte die am unmittelbarsten betroffenen Menschen ermutigen, beim Prozess der Beseitigung der entsprechenden Missstände die Führung zu übernehmen.
Das Autonomieprinzip:
Militanz sollte die Fähigkeit der Menschen, sich durch inklusive, vernunftgeleitete öffentliche Diskussion selbst zu regieren, erhöhen.
Das Rechenschaftsprinzip:
Militanz sollte sich auf Handlungen beschränken, die öffentlich, plausibel und aufrichtig als förderlich für demokratische Werte wie allgemeiner Anstand und Gemeinwohl verteidigt werden können.
Zusammen mit dem zugrundeliegenden demokratischen Ideal, aus dem sie abgeleitet sind, bilden diese Prinzipien den demokratischen Maßstab, der in diesem Buch auf kontroverse Fälle von Militanz angewendet wird.
Wenn ein Akt militanten Protests die vom demokratischen Maßstab geforderten Tests besteht, kann man von ihm sagen, dass er dem Maßstab genügt, das heißt, vom Gesichtspunkt der Demokratie her als Fall vertretbarer Militanz gerechtfertigt ist. Ein Generalstreik zur Beseitigung ernsthafter Missstände, der in Reaktion auf die Gleichgültigkeit oder Unnachgiebigkeit vonseiten der Mächtigen ausgerufen wird, nachdem nicht-konfrontative Bemühungen gescheitert sind, ist vermutlich ein gutes Beispiel für das Prinzip der maximierten Möglichkeiten. Wenn er von den Menschen durchgeführt wird, die am meisten betroffen sind, öffentliche Versammlungen oder ähnliche Foren etabliert, auf denen die fraglichen Themen offen debattiert und Entscheidungen getroffen werden können, und wenn er Taktiken anwendet, die im Hinblick auf die Würde des Einzelnen (allgemeiner Anstand) und das Wohlergehen aller (Gemeinwohl) öffentlich verteidigt werden können, wird er wahrscheinlich auch den Prinzipien der Handlungsmacht, Autonomie und Rechenschaftspflicht Genüge tun.
Manche Fälle militanten Protests weichen dagegen von dem durch diese Prinzipien vorgezeichneten Weg ab. Es ist manchmal vorhersehbar, dass die fragliche militante Aktion die Beseitigung des Missstands nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher macht (so dass sie eine im Prinzip der maximierten Möglichkeiten implizite Erwartung nicht erfüllt). Oder vielleicht schwächt die Art der Durchführung der Aktion die Autonomie der Betroffenen und stärkt dafür die Kraft genau der Eliten oder Machtsysteme, die eine Ermächtigung der Bevölkerung blockieren (was mit einer Forderung des Autonomieprinzips in Konflikt steht). In diesen Fällen ermutigt uns der demokratische Maßstab zu einer skeptischen oder je nach dem Grad, in dem sie in Widerspruch zu unserem Maßstab steht, kritischen oder sogar offen ablehnenden Haltung zu dieser Aktion. Es bleibt zu hoffen, dass der Maßstab auch Leitlinien für eine Umorientierung der Aktion in Richtung auf eine bessere Übereinstimmung mit dem demokratischen Ideal anbieten kann.
Ich werde im Folgenden argumentieren, dass fast jede Form von Militanz, vom klassischen, gewaltlosen zivilen Ungehorsam bis zum bewaffneten Kampf, zumindest manchmal dem demokratischen Maßstab genügt und unsere Unterstützung verdient, aber dass keine Form von Militanz ihn immer erfüllt. Während ich also zeigen möchte, dass militanter Protest generell gut für die Demokratie ist, möchte ich damit nicht behaupten, dass Militanz immer auf diese Art begründbar ist. Stattdessen argumentiere ich, dass Militanz durch demokratische Erwägungen gerechtfertigt werden kann, solange der Kontext ihrer Anwendung und ihre Formen so gewählt werden, dass sie mit dem demokratischen Ideal vereinbar sind. Dann und nur dann können wir Militanz vorbehaltlos als eine Sprache der Ungehörten und als eine Manifestation von Bürgertugend akzeptieren.[7]
Diese normativen Prinzipien versuchen, einen Ausgleich zwischen zwei scheinbar in Widerspruch zueinander stehenden Imperativen zu finden. Einerseits sollten politische Aktionen vom demokratischen Ideal mit seiner Präferenz für vernunftgeleitete Diskussion und Konsensbildung inspiriert sein und sich an ihm orientieren. Aber andererseits sollte politisches Handeln auch realistisch genug sein, um auch dann noch effektiv zu bleiben, wenn Eliten oder Institutionen beständig versuchen, dieses Ideal zu untergraben. Die Prinzipien, die ich vorschlage, versuchen, beiden Imperativen zugleich gerecht zu werden: Sie ermutigen eine Bereitschaft zur Konfrontation, wenn Eliten und Machtsysteme sich gegenüber Gründen und Argumenten gleichgültig zeigen, aber sie richten das Augenmerk von Aktivist*innen auf Anlässe und Formen von Militanz, die sich an den demokratischen Ideen der Selbstregierung, der Ermächtigung der Bevölkerung und der öffentlichen Rechtfertigung des eigenen Tuns orientieren. Auf diese Art können militante Akteur*innen als Tribun*innen der Demokratie fungieren – als Verteidiger*innen der Selbstregierung der Menschen gegen Bedrohungen und Hindernisse für eine Demokratisierung vonseiten von Eliten und Systemen, die sich im Unterschied zu den Militanten nicht der öffentlichen Autonomie und der öffentlichen Vernunft verpflichtet fühlen.
In Teil I dieses Buches behandle ich vorwiegend allgemeine und grundlegende Fragen. Ich gebe eine allgemeine Charakterisierung von Militanz als Druckmittel für Demokratie und prinzipiengeleitete Antwort auf die Unnachgiebigkeit von Eliten und die Unempfänglichkeit von Institutionen für das öffentliche Interesse und ich entwickle ein Verständnis von Militanz als Bürgertugend und Beitrag zu demokratischer Politik. In Teil II wende ich dieses Verständnis begrüßenswerter Militanz auf ein großes Spektrum von Proteststilen an, das von dem von Gandhi und King verfochtenen, gewaltlosen zivilen Ungehorsam bis zum bewaffneten Kampf der deutschen Roten Armee Fraktion und anderer Stadtguerillagruppen reicht.
Das Bild militanten Protests, das sich daraus ergibt, ist letztlich recht differenziert. Es ermuntert zur Unterstützung vielfältiger Formen von Militanz als Beitrag zu demokratischer Politik. Aber es ermutigt auch das Festhalten an den Wurzeln der Militanz in den demokratischen Impulsen revoltierender Menschen anstelle einer Fetischisierung von Militanz als Allzweckwaffe für politische Aktion. Wenn Militanz gut für die Demokratie ist, dann wegen ihrer manchmal ausschlaggebenden Rolle bei der Förderung der Eigenaktivität und Selbstorganisierung sonst nicht zur Kenntnis genommener oder zum Schweigen gebrachter Menschen, die zurecht darauf bestehen, gehört zu werden.
»Hier herrscht das Volk und die Regierung gehorcht.« Diese Erklärung steht auf Hinweisschildern, die Gebiete in Teilen der ländlichen Region Chiapas in Mexiko kennzeichnen, die von der Zapatista-Bewegung der indigenen Rebellion kontrolliert werden.[8] In Chiapas, wo die von den Rebell*innen gehaltenen Gebiete von einem System basisdemokratisch und nach dem Prinzip der good governance organisierter Räte außerhalb der Kontrolle des mexikanischen Staates regiert werden, hat dieses Insistieren auf der Selbstregierung der Bevölkerung eine unmittelbar praktische Bedeutung. Aber für die meisten von uns bleibt das ein Ideal: das demokratische Ideal, nach dem die Menschen autonom sein und sich selbst regieren sollten.
Die Realität, der wir gegenüberstehen, ist nur zu oft eine völlig andere. Eliten in Staat und Wirtschaft ignorieren beständig den Willen der Bevölkerung und üben ihre Macht oft unter dreister Missachtung des öffentlichen Interesses aus. Wenn Kritiker*innen Einwände erheben, reagieren sie mit der uns mittlerweile vertrauten Unnachgiebigkeit: Es gibt keine Alternative! Der unerbittliche Druck der neuen globalen Wirtschaft, sagen sie, erzwingt eine strikte Unterordnung der Gesetzgeber*innen und der Bevölkerung unter die Prioritäten der Konzerne, Banker*innen und Investor*innen. Wie es scheint, hat die Bevölkerung in dieser neuen Ordnung nichts zu bestimmen, sondern kann nur die Vorgaben anderer akzeptieren. Diese Situation ist inzwischen treffend als Beginn einer »postdemokratischen Herrschaftsausübung« beschrieben worden.[9]
Und doch gibt es Kräfte, die diese Reduzierung von Politik auf Gehorsam ablehnen. Statt auf die Forderung, sich zu fügen, mit widerwilligem oder resigniertem Gehorsam zu reagieren, antworten sie mit aufsässiger Ablehnung: mit zivilem Ungehorsam, Generalstreiks, Tumulten und anderen Formen konfliktorientierter Auseinandersetzung. So belagerten Ende 2011 Bauern und Bäuerinnen in der Provinz Guangdong in Südchina »im Lauf von Protesten […] gegen die Beschlagnahmung von Farmland staatliche Gebäude, griffen Polizeibeamte an und stürzten Fahrzeuge der SWAT-Teams um«.[10] Früher im selben Jahr strömten Tausende von Angestellten des öffentlichen Dienstes in Madison, Wisconsin, in das Gebäude des Regierungssitzes im State Capitol, um gegen ein gewerkschaftsfeindliches Gesetz zu protestieren, und danach weigerten sich viele von ihnen in »einer der größten Mobilisierungen in der Geschichte der USA während einer ganzen Generation« wochenlang, das Gebäude zu verlassen.[11] Anfang 2013 stießen »Hunderte von Frauen« in einer ländlichen Region in Indien während »eines heftigen Kampfs gegen die Staatsregierung« Odishas, die plante, die Dorfbewohner*innen zugunsten eines industriellen Bauprojekts umzusiedeln, »mit der Polizei zusammen«.[12] In all diesen Fällen ist die Botschaft der Protestierenden dieselbe: Hier regiert die Bevölkerung.
Einige Beobachter*innen sind sich sicher, dass wir diesen widerständigen Menschen Anerkennung zollen und in ihnen das erkennen sollten, was Martin Luther King in den Militanten seiner Zeit sah: »standhafte Kämpfer*innen für Demokratie«.[13] Diese wohlwollenden Betrachter*innen ziehen Inspiration aus dem Mut und der Entschlossenheit solcher Kämpfer*innen und wünschen sich, dass deren widerspenstige Formen des Engagements möglichst zahlreiche Nachahmer*innen finden. Andere kommen allerdings zum gegenteiligen Schluss: Sie betrachten die Rebell*innen mit Argwohn und monieren, diese weigerten sich doch nur, sich in das Unvermeidliche zu schicken. Ihre Militanz sei irrational, so die Klage dieser Kritiker*innen, da sie Widerstand leisten, obwohl die Expert*innen ihnen doch sagen, dass dies zwecklos sei. Untersuchen wir, bevor wir uns einer der beiden Meinungen anschließen, welche Rolle diese protestbewegten Militanten heute in den öffentlichen Angelegenheiten spielen.
Im vorliegenden Kapitel diskutiere ich zuerst zwei Fallstudien aus der jüngeren Geschichte der Militanz – die Bewegung der Plätze der letzten paar Jahre und die Bewegung für globale Gerechtigkeit um die Jahrtausendwende [geschrieben 2013; A.d.Ü.]. Ich untersuche die Sorgen und Impulse, die die Militanten von heute bewegen und unterstreiche die zentrale Rolle, die die Machtaneignung durch die Betroffenen selbst in ihren Zielen und Methoden spielt. Zweitens stütze ich mich auf das Denken Kings, um eine komplexe Analyse des Wesens der Militanz zu entwickeln. Ich hoffe, dass diese Analyse für alle Leser*innen unabhängig von ihrem jeweiligen Standort im politischen Spektrum im Großen und Ganzen akzeptabel ist. Dabei vermeide ich eine Konzeption von Militanz, die die kontroversen Fragen, die ich in späteren Kapiteln wiederaufnehme, schon im Vorhinein entscheidet, indem sie sich auf aufgeladene Definitionen oder propagandistische Begriffe wie ›Gewalt‹ und ›Terror‹ stützt. Stattdessen entwickle ich ein Vokabular zur Diskussion der verschiedenen Themen, das alle unabhängig der jeweiligen Standpunkte zu bestimmten umstrittenen Fragen akzeptieren können sollten. Damit verfolge ich die Absicht, die Debatten, die heute so ausgiebig um Militanz geführt werden, zu erhellen, statt sie unter der Hand schon von vornherein zu entscheiden.
Ende 2011 löste das Magazin Time einige Aufregung aus, als es ›den Protestler‹ zu seiner Person des Jahres ernannte.[14] Natürlich war das nicht als positives Urteil über die Verdienste von Protest und Rebellion gemeint. Es war schlicht die Anerkennung der Tatsache, dass es im vorausgegangenen Jahr den dramatischsten weltweiten Aufschwung von Volksrebellionen und militanten Straßenprotesten seit den 1960ern gegeben hatte.
Das ›Jahr des Protestlers‹ begann Anfang Januar, als Mohamed Bouazzi, ein Straßenhändler in Tunesien, sich durch Selbstverbrennung tötete, um seine Empörung über die Belästigungen und Erpressungen durch Beamte des tunesischen Staates zum Ausdruck zu bringen. Sein tragischer Akt erwies sich als Auslöser einer eskalierenden Welle von Straßenprotesten in Tunesien, die am Ende die Regierung stürzten und den abgesetzten Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali ins Exil trieben.[15] Das allein wäre schon eine historische Leistung ›des Protestlers‹. Aber die tunesische Revolution wirkte zudem als Beispiel für die Nachbarländer in Nordafrika und im Nahen Osten. Die seit Langem schwelende Unzufriedenheit in Ägypten verwandelte sich in eine offene Revolte, die von permanenten Massenprotesten, einer Streikwelle und der Forderung nach dem Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak begleitet war. Im Stadtzentrum Kairos kam es zu einem neuen Phänomen, das sich in den kommenden Monaten als entscheidend erweisen sollte: der Besetzung des Tahrir-Platzes im Zentrum der Stadt, wo täglich öffentliche Versammlungen abgehalten wurden, um zu debattieren, wie die Revolution vorangebracht werden konnte. Ein Journalist beschrieb, wie die Versammlungen funktionierten:
Auf dem Tahrir, dem Platz, der zum Sammelpunkt für den landesweiten Kampf gegen Mubaraks dreißigjährige Diktatur geworden ist, haben [kleine] Gruppen von Demonstrant*innen debattiert, wie genau ihre Ziele aussehen sollten. […] Delegierte aus diesen Mini-Versammlungen kommen dann zusammen, um die vorherrschende Stimmung zu diskutieren, bevor mögliche Forderungen über das improvisierte Lautsprechersystem des Platzes vorgelesen werden. Die Annahme jedes Vorschlags basiert auf dem Verhältnis zwischen Zustimmungs- und Buh-Rufen, die er von der versammelten Menge bekommt.[16]
Falls die ägyptischen Demonstrant*innen das Zustandekommen einer Diskussion oder eines Dialogs mit dem Mubarak-Regime erwartet hatten, sollten sie schnell erfahren, dass es dazu nicht kommen würde. Vom Staat zusammengetrommelte, mit Peitschen, Knüppeln und Schusswaffen bewaffnete Gangster auf Pferden und Kamelen attackierten den Tahrir-Protest, um die Menge zu zerstreuen. Im Lauf der ausgedehnten Straßenkämpfe, die diesen und anderen Angriffen folgten, wichen die Tahrir-Protestler*innen nicht von der Stelle und die Besetzung ging weiter. Während die Bewegung sich über das ganze Land ausbreitete und die Taktik der Besetzungen, Märsche und Streiks die Revolutionär*innen stärkte und die Macht Mubaraks schwächte, verloren Teile des Militärs das Vertrauen in die Fähigkeit des Präsidenten, den Protesten standzuhalten. Am 11. Februar folgte Mubarak dann dem Weg Ben Alis und musste schmachvoll zurücktreten.[17] Später wurde er verhaftet und vor Gericht gestellt, nur um nach dem Militärputsch im Juli 2013 wieder freigelassen zu werden. In den Jahren seit seinem Sturz haben Mubaraks zivile und militärische Nachfolger sich, vielleicht wenig überraschend, kaum williger als dieser gezeigt, den Menschen zu erlauben, sich selbst zu regieren.
Dennoch gab der Sturz Mubaraks in Ägypten der breiteren Bewegung des Arabischen Frühlings Auftrieb, was wiederum in der gesamten Region den Ausbruch von Volksrebellionen und im Jemen eine Revolution, in Libyen einen Bürgerkrieg und in mehreren Ländern, darunter Algerien, Jordanien, Marokko und Bahrain, eine Welle von Massenprotesten auslöste.
Es erwies sich bald, dass das Virus auch nicht auf Nordafrika und den Nahen Osten beschränkt werden konnte, denn es breitete sich bald über das Mittelmeer aus, wo Arbeiter*innen, Student*innen und Arbeitslose in Südeuropa sich den Kontinent im Süden zum Beispiel nahmen. In Griechenland und Spanien fingen Proteste gegen die Austeritätspolitik damit an, nicht nur die Massendemonstrationen, sondern auch die Taktik der Besetzung großer Plätze in den Städten zu imitieren. Wie ihre Vorbilder in Kairo nutzten die Menschen in Madrid, Barcelona, Athen und Thessaloniki, die sich selbst als ›Indignados‹ bezeichneten, die von ihnen besetzten Plätze als Vorstufen einer Selbstregierung der Bevölkerung; an jedem dieser Orte etablierten sie einen improvisierten, »auf Versammlungen und Konsensbildung basierenden« demokratischen Entscheidungsfindungsprozess.[18]
Da so der Arabische Frühling in den Sommer der Indignados überging, sah 2011 in der Tat stark nach einem ›Jahr des Protestlers‹ aus. Zu Ende des Sommers konnte man bereits die Umrisse einer transnationalen Bewegung von Massenversammlungen erkennen, die sich in einem wiedererwachten Interesse an partizipatorischer Demokratie und dem Entstehen von Networking-Websites wie takethesquare.net und peoplesassemblies.org widerspiegelte. Und in einer Entwicklung, die kaum jemand hatte kommen sehen, schwappte die Welle der Revolte über den Atlantik hinweg direkt ins Herz des Kapitalismus, wo ein weiterer Platz besetzt wurde, nämlich der Zucotti-Park in unmittelbarer Nähe der Wall Street im Finanzdistrikt Manhattans. Zu dieser Zeit wussten die Protestierenden schon genau, wie sie vorgehen mussten: Sie mussten sich öffentliche Räume nehmen, gegen die Herrschaft der Eliten antreten und eine Selbstregierung der Betroffenen durch demokratische Versammlungen einführen, und zwar sowohl als Mittel zur Koordinierung des Widerstands als auch als eine Art Vorversprechen, das anzeigen sollte, dass eine andere, demokratischere Welt tatsächlich möglich ist.
Der Occupy-Wall-Street-Protest gab der Bewegung weiteren Schwung und bald wurden Parks und Plätze in Hunderten von Städten auf der ganzen Welt durch Protestlager besetzt, die die wichtigsten Merkmale des Occupy-Modells reproduzierten: erstens, eine basisdemokratische Abkehr von der Warenwirtschaft, bei der Nahrung, Kleidung, Unterkunft und kulturelle Produkte dem Markt entzogen und auf der Basis der Bedürfnisse statt der Zahlungsfähigkeit frei geteilt wurden; zweitens, eine solidarische Mobilisierung, bei der alle Teilnehmer*innen zur Unterstützung der jeweils besonderen Forderungen und Kämpfe jeder der im Lager präsenten Bewegungen demonstrierten; und drittens, eine besondere Form von Rechtssystem, da die partizipatorischen Vollversammlungen jedes Lagers die Aufgaben eines wieder zurückgeforderten öffentlichen Raums übernahmen und Gesetz und Ordnung des kapitalistischen Staates, die nun explizit zurückgewiesen wurden, durch rudimentäre Elemente einer neuen Ordnung ersetzten, um so zu versuchen, neue Formen von Gleichheit und Solidarität zu erfinden.[19]
Im Laufe weniger Wochen war ein breites Netz basisdemokratischer, in der arbeitenden Bevölkerung wurzelnder öffentlicher Versammlungen geschaffen worden, das sich über mehrere Kontinente erstreckte und auf einer gemeinsamen Ablehnung einer Regierung durch Eliten und einem Insistieren darauf beruhte, dass hier und jetzt, und sei es nur in einem einzigen Park oder auf einem einzigen Platz, die Menschen selber regieren würden.
Der breitere Zyklus der mit der Bewegung der Plätze assoziierten Kämpfe ging aber noch über die genannten Beispiele hinaus. Die Besetzung des State Capitol in Wisconsin wurde im April 2011 von der Gründung einer Volksversammlung von Wisconsin gefolgt. Noch im selben Jahr organisierten Demonstrant*innen für Klimagerechtigkeit eine Welle zivilen Ungehorsams gegen die Pipeline-Infrastruktur von Ölsand, bei dem innerhalb von zwei Wochen über 1.200 Menschen vor dem Weißen Haus festgenommen wurden.[20] In der kanadischen Provinz Quebec begannen Hochschulstudent*innen einen »unbefristeten Studierendenstreik«, mit dem sie 2012 die Universitäten der gesamten Provinz zur Schließung zwangen und einen staatlichen Plan zur Erhöhung der Studiengebühren vereitelten.[21] Der Streik wurde durch wöchentliche Versammlungen auf dem jeweiligen Campus organisiert, die zunächst den Beschluss zum Streik fassten und sich dann weiterhin regelmäßig trafen, um seine Weiterführung zu bestätigen und den Sprecher*innen und Organisator*innen politische Richtlinien und Anweisungen zu geben.[22] Am Ende des Streiks hatten sich diese Versammlungen über die Universitäten hinaus zu Nachbarschaftsversammlungen ausgeweitet, durch die sich auch Nichtstudent*innen aktiv an der Bewegung beteiligen konnten.[23]
Bemerkenswerterweise stellte der Rückgriff auf Militanz immer eine direkte Reaktion auf die Erkenntnis dar, dass die Stimmen der betroffenen Menschen nicht gehört worden waren und dass der politische Prozess ›die 99 Prozent‹ einfach ignorierte und stattdessen nur ›dem einen Prozent‹ diente. In den meisten Beispielen spiegelte sich dieser Anspruch, eine Stimme zu finden und sich Gehör zu verschaffen, nicht nur in einer Konfrontation mit den Autoritäten wider, sondern auch in der Schaffung radikaldemokratischer öffentlicher Versammlungen, auf denen im Prinzip jede*r aufstehen, sich zu Wort melden und sich dabei sicher sein konnte, dass endlich einmal jemand zuhören würde. Auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, auf dem Syntagma-Platz in Athen und im Zucotti-Park in New York sowie in Dutzenden von Universitäten und Stadtbezirken in der gesamten Provinz Quebec, um nur einige Beispiele zu nennen, wurden Massenversammlungen mit dem Mandat geschaffen, nun genau das zu sein, was der offizielle politische Prozess nicht war: ein Forum, wo alle gehört und ernstgenommen werden konnten und wo – zumindest in der Hoffnung vieler der Beteiligten – die einzige Macht, die ausgeübt wurde, die Macht sein würde, Gleichgesinnte durch Vernunftgründe und Diskussion zu überzeugen.
Die Proteste des Arabischen Frühlings, der Indignados und von Occupy trugen bei Millionen von Menschen viel zur Vertiefung und Transformierung des Verständnisses demokratischer Politik bei. In dieser Hinsicht erinnerte die Bewegung der Plätze an einen früheren Ausbruch beglückender und transnational ansteckender Militanz. Der Protest gegen die World Trade Organization (WTO) in Seattle im US-Bundesstaat Washington im November 1999 war damals für nordamerikanische Radikale ein entscheidender Wendepunkt. Zusammen mit einer Reihe prominenter Proteste auf weltweiten Gerechtigkeitsgipfeln, die im Lauf der nächsten zwei Jahre folgten, änderte er ihr Bild davon, wie Demokratie aussieht, auf grundlegende Weise.
Am Morgen des 30. November 1999 strömten Zehntausende von Demonstrant*innen auf die Straßen Seattles. Sie verfolgten das erklärte Ziel, das Unaufhaltsame aufzuhalten, das Unumkehrbare umzukehren und eine Alternative zu genau dem globalisierten Kapitalismus einzufordern, zu dem angeblich keine Alternative möglich war. Sie waren vermutlich sogar selbst überrascht, als es ihnen gelang, in dieser epischen Schlacht von Seattle, wie die Auseinandersetzung bald genannt wurde, den unangefochtenen Sieg zu erringen. Doch tatsächlich taten sie genau das, was sie vorher angekündigt hatten. Indem sie die Straßen füllten, Kreuzungen blockierten und sich gegen die brutale, gesetzlose Gewalt der Polizei zur Wehr setzten, verhinderten die Kämpfer*innen von Seattle die Ministertreffen der WTO und brachten einen Monate im Voraus geplanten Verhandlungsprozess der Eliten zum Scheitern. Indem sie das taten, sendeten sie die Botschaft, dass die entstehende Bewegung für globale Gerechtigkeit in der Lage war, eine echte politische Herausforderung für die neoliberale Agenda der Globalisierung der Konzerne auf die Beine zu stellen, obwohl es in keinem der wohlhabenden Länder irgendeine nennenswerte politische Unterstützung seitens der größeren politischen Parteien gab. In Nordamerika ebenso wie in Westeuropa hatten die politischen Eliten sich schon längst auf die gemeinsame Agenda einer wirtschaftsfreundlichen, am ›freien Markt‹ orientierten Globalisierung geeinigt – ein politisches Rahmenwerk, das von der WTO vorangetrieben und in die Tat umgesetzt werden sollte.
In Seattle fügten die Demonstrant*innen den Reichen und Mächtigen eine demütigende taktische Niederlage zu. Und das gelang ihnen nicht trotz, sondern wegen ihrer Militanz und ihrer fehlenden Verpflichtungen gegenüber den Politiker*innen, Bürokrat*innen und Wirtschaftsführer*innen, die gemeinsam die WTO leiten. So zeigten sie, dass das, was die indigenen Menschen in Mexiko 1994 getan hatten,[24] was streikende Militante der Gewerkschaften 1997 in Südkorea getan hatten,[25] und was die Arbeiter*innen und Student*innen 1995 in Frankreich getan hatten,[26] auch in den Vereinigten Staaten von Amerika getan werden konnte: Militante Kämpfe, die Tausende von Teilnehmer*innen anzogen, konnten genügend soziale Macht erzeugen, um Regierungen und Konzerne zum Rückzug zu zwingen. Aber konnten vielleicht andere diesen Beispielen folgend die Dinge noch weitertreiben und nicht nur eine Schlacht, sondern den ganzen Krieg gegen gesellschaftliches und ökologisches Unrecht, gegen politische und wirtschaftliche Plutokratie gewinnen? Konnten Aktivist*innen tatsächlich die Art von globaler Alternative zum Konzernkapitalismus erkämpfen, die doch angeblich so unvorstellbar war?
Die elektrisierende Anziehungskraft dieses Gedankens gab Seattle vor allem für nordamerikanische Radikale um die Jahrtausendwende eine besondere Bedeutung. Seattle bedeutete, dass öffentlicher Massenprotest auf eine Weise wirksam sein konnte, wie es sich Aktivist*innen der neoliberalen Ära kaum je vorgestellt hatten. Sicher, Protest konnte eine symbolische Wirkung haben und bestimmte Inhalte publik machen. Aber jetzt gab es Anzeichen dafür – als ob hier eine längst vergessene Lektion wieder durchschiene –, dass Widerstand auch tatsächlich zu Veränderungen führen konnte. Seine Wirkungsmacht konnte es mit der der Konzerne und Staaten aufnehmen; er konnte den Lauf der Geschichte verändern.
Genauso wichtig war das, was Seattle viele Tausende von Aktivist*innen über Demokratie lehrte: dass es bei Demokratie nicht vor allem und vielleicht auch gar nicht darum geht, dass Bürger*innen bei Wahlen für bestimmte Kandidat*innen stimmen oder dass Politiker*innen in Parlamenten irgendwelche Dinge verabschieden. Der immer wiederkehrende Sprechchor der Demonstrant*innen von Seattle – »This is what democracy looks like«/»So sieht Demokratie aus!« – wurde von vielen radikalen Aktivist*innen ganz wörtlich genommen. Die Ministertreffen der WTO mit ihren Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, ihr Ausschluss aller Betroffenen außer Topmanager*innen, Wirtschaftslobbyist*innen und Regierungsbeamt*innen sowie ihre Abschottung durch Metallzäune und eine brutale Bereitschaftspolizei verkörperten alles, was an der Globalisierung der Konzerne undemokratisch, ja sogar antidemokratisch war. Und indem die Protestierenden durch eine globale Massenrevolte von unten die Niederlage dieser antidemokratischen Kraft erreichten, fiel ihnen der Nimbus von Volkstribun*innen zu: von Verfechter*innen der tiefsten Bedeutung und des höchsten Potenzials von Demokratie. Die Demonstrant*innen selbst hatten sich im Geist einer radikal-demokratischen Inklusivität in einem System von Sprecher*innenräten organisiert, das versuchte, allen an der Aktion beteiligten selbstorganisierten Bezugsgruppen eine Stimme zu geben.[27]
Das Beispiel von Seattle wurde bald von Millionen von Aktivist*innen auf der ganzen Welt nachgeahmt oder nach ähnlich begeisternden Erfolgen andernorts unabhängig entdeckt. Die Bewegung gewann an Schwung, was zu weiteren Massenprotesten führte, so im April 2000 in Washington, DC, gegen den Internationalen Währungsfonds IWF, danach im September 2000 in Melbourne gegen das World Economic Forum, im selben Monat in Prag gegen IWF und Weltbank, im April 2001 in Quebec City gegen einen Gipfel zur Aushandlung einer Freihandelszone auf dem amerikanischen Kontinent, im Juli 2001 in Genua gegen ein Treffen der Regierungschef*innen der G8 und viele andere mehr.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verlor die Bewegung stark an Schwung und verwandelte sich dann allmählich in eine Antikriegsbewegung, die weltweit Millionen von Menschen auf die Straße brachte und einige Regierungen davon abhielt, sich dem allgemeinen Kriegssog anzuschließen, es aber nicht schaffte, den Krieg überhaupt zu verhindern. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte bereits ein entscheidender Lernprozess stattgefunden. Die Lektion aus Seattle und den anderen weltweiten Protesten für Gerechtigkeit – dass Demokratie nicht gleichbedeutend mit Wahlpolitik ist, sondern stattdessen in einem fundamentaleren Sinn die Macht der Bevölkerung selbst repräsentiert –, hatte dazu geführt, dass die Bewegung die Analyse und den Horizont einer ganzen Generation von Aktivist*innen vertieft und verbreitert hatte.[28]
Die beiden obigen Fallstudien verknüpfen einige der Schlüsselereignisse der jüngeren Geschichte der Militanz. Ausbrüche von Konfrontation wie der Arabische Frühling und die Schlacht von Seattle zeigen uns weniger, wie Militanz normalerweise aussieht, als das, was sie sein möchte und im besten Fall tatsächlich ist. Vor allem unterstreichen diese Fallstudien die besondere Bedeutung von Demokratie im Selbstverständnis militanter Exponent*innen von Widerstand. Mit Maximen wie »Hier regiert das Volk« und »So sieht Demokratie aus!« und Praktiken wie den Massenversammlungen auf dem Tahir-Platz oder im Zucotti-Park und den Sprecher*innenräten des Protests in Seattle liefern uns die Höhepunkte der Militanz Fingerzeige auf das, was ich die Berufung oder die eigentliche Funktion der Militanten nenne. Sie zeigen uns, was Militante zu tun, oder besser noch, zu sein versuchen.
Martin Luther King hat vielleicht die lebendigste und konziseste Beschreibung dieser Berufung gegeben, als er meinte, es gehe den Militanten darum, »den Stimmlosen eine Stimme zu geben«.[29] Aber ob man den Stimmlosen eine Stimme gibt oder ob man die Stimme der Stimmlosen ist, ist ein wichtiger Unterschied. Angemessen praktiziert, usurpiert Militanz nicht die Stimme oder die Handlungsmacht derer, die zum Schweigen gebracht wurden und ignoriert werden. Sie behauptet nicht, anstelle von anderen zu sprechen. Im Gegenteil, Militanz bringt die Ungehörten mitten auf die Bühne und bietet ihnen eine Sprache, ein Medium, um sich Gehör zu verschaffen. Militanz ist eine Form des Engagements, die den Ungehörten ermöglicht, dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr ignoriert werden können.
Für Militante geht es bei Demokratie nicht um die unbehelligte Herrschaft gewählter Politiker*innen. So würden Polizeibeamt*innen Demokratie sehen: Demokratie als die Durchsetzung von Befehlen, die von den Gesetzgeber*innen gegeben werden. Militante Organisator*innen von Protesten sind, wie King sagte, »standhafte Kämpfer*innen für Demokratie«, aber die meisten ihrer Kämpfe werden gegen Regierungen und gewählte Amtsträger*innen geführt. Oft kann der Kampf für Demokratie nur geführt werden, indem man sich weigert, dem Gesetz zu gehorchen, indem man versucht, »den Betriebsablauf einer Stadt durcheinander zu bringen«,[30] und indem man ganz allgemein die Konfrontation mit den Mächtigen sucht.
Militanz entsteht normalerweise als Reaktion auf durchgängige Muster von Unempfindlichkeit gegenüber den Belangen bestimmter Klassen und Kategorien von Menschen – der Ausgebeuteten, der Ausgeschlossenen, der Unterdrückten. Da ihnen der Zugang zu Positionen von Macht und Status oder dem Reichtum und Einfluss, die nötig sind, um gesellschaftliche Strukturen zu ihrem eigenen Vorteil zu gestalten, fehlt, werden von diesen Gruppen kommende Unmutsäußerungen fast immer missachtet. Sie können auf die konventionelle, offiziell genehmigte Art protestieren, aber solche Gesten bleiben allzu oft fruchtlos. Sie können Briefe an öffentliche Amtsträger*innen schreiben, eine Petition unterzeichnen oder gesittet in den Straßen marschieren, um die Beseitigung wichtiger und akuter Missstände zu verlangen. Aber für die Mächtigen ist es nur zu leicht, diese Stimmen ohnmächtigen Protests zu ignorieren. Hier ist es die ureigenste Aufgabe der Militanten, über die durch den offiziellen politischen Prozess gesetzten Grenzen hinauszuweisen. Wenn eine Unterschriftensammlung ignoriert wird, warum dann nicht auf einer Autobahn oder Brücke den Verkehr blockieren? Wenn die Beteiligung an einer Wahl keine Folgen hat oder ein Brief an öffentliche Amtsträger*innen sich als unwirksam erweist, warum nicht zu einem Aufruhr oder einem Generalstreik übergehen? Wie wäre es, einen Betrieb zum Stillstand zu bringen oder Widerstand gegen Polizei oder Gerichte zu leisten? Das könnte die Art von nachdrücklichem und renitentem zivilem Engagement sein, die die Mächtigen nicht ignorieren können. Tatsächlich sind Renitenz und konfrontatives Handeln vonseiten marginalisierter Gruppen oft sogar innerhalb sozialer Bewegungen nötig, um sicherzustellen, dass ihre Kämpfe tatsächlich inklusiv geführt werden und um dafür zu sorgen, dass die Stimmen aller Teilnehmer*innen Gehör finden und ihre Autonomie respektiert wird.
Kings Wortwahl weist uns auch die Richtung zu einem umfassenderen Verständnis des demokratischen Ideals. In dieser Konzeption ist Demokratie nicht in erster Linie eine Frage von Wahlen oder der Ausdruck öffentlicher Entscheidungen durch die Auszählung von Präferenzen. Stattdessen ist sie hauptsächlich eine Frage der Stimme oder der Ermächtigung von Menschen, sich durch inklusive, vernunftgeleitete öffentliche Diskussion selbst zu regieren. Diese Konzeption von Stimme hat der deutsch-amerikanische Ökonom Albert O. Hirschman in seinem einflussreichen Buch Abwanderung und Widerspruch am systematischsten und klarsten dargelegt.[31] Ich werde mich in Kapitel acht näher mit Hirschmans Werk befassen. An dieser Stelle möchte ich nur sagen, dass ich wie Hirschman der Auffassung bin, dass Stimme Zugang zu Möglichkeiten, sich innerhalb einer Organisation oder einer Vereinigung Gehör zu verschaffen, und die damit einhergehende Fähigkeit bedeutet, Entscheidungen und Endresultate zu beeinflussen, indem man einen Input dazu gibt, der ernstgenommen und als wichtig betrachtet wird.[32] Was Militanz zu überwinden versucht, ist gerade die Verweigerung einer solchen Stimme.