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Das Studienbuch gibt einen innovativen Einblick in eine in Deutschland erst junge Forschungsrichtung. Die Spracherhaltsforschung erfordert eine Auseinandersetzung mit dem internationalen Forschungsstand, ebenfalls jedoch eine Spezifikation der Situation migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in Deutschland, die im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe nicht nur auf die Mehrheitssprache fokussiert sein sollte. Viele Sprachen erfreuen sich einer starken Vitalität und werden weitergegeben, obwohl gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen den Spracherhalt erschweren. Es gilt, die Entwicklung dieser Sprachen im Individuum, die außersprachlichen Faktoren, die diese beeinflussen, sowie die institutionellen Voraussetzungen für den Spracherhalt zu beschreiben. Auch werden formale und non-formale Angebote sowie die organisatorische und methodisch-didaktische Umsetzung im Unterricht betrachtet.
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Seitenzahl: 386
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Katja F. Cantone / Helena Olfert / Laura Di Venanzio / Patrick Wolf-Farré / Tobias Schroedler / Erkan Gürsoy
Spracherhalt und Mehrsprachigkeit
Eine Einführung
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381105823
© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 0941-8105
ISBN 978-3-381-10581-6 (Print)
ISBN 978-3-381-10583-0 (ePub)
Aus der Sprachenlern- und Sprachenerwerbsforschung kommend ging ich mit bestimmten Erwartungen an die ersten Kapitel dieses Buches. Für mich war bis dahin Sprach(en)erhalt primär der kognitive und zeitliche Aufwand, den ein Individuum betreibt und betreiben muss, um eine einmal gelernte oder erworbene Sprache zu erhalten. Wir wissen alle, das Nichtbenutzen einer Sprache, egal ob produktiv oder rezeptiv, leider allzu oft dazu führt, dass wir sie vergessen bzw. bei dann doch unerwartet auftauchendem Bedarf nicht so umstandslos über sie verfügen, als wenn wir sie kontinuierlich gebrauchen (vgl. z. B. Schmidt/Köpke 2013). Mehrsprachenerwerbsmodelle gehen zwar, wie der Name sagt, auf die Mechanismen des Erwerbs bzw. des Lernens von mehr als zwei Sprachen ein; explizit mit dem Erhalt einer Sprache oder von Sprachen und dem damit verbundenen Aufwand beschäftigt sich allerdings bislang alleine das Dynamische Modell für Mehrsprachigkeit (erstmals in Herdina/Jessner 2002, 93-106).
Dies ist allerdings nicht der Fokus dieses Buches, sondern der Erhalt einer Herkunfts- bzw. einer Familiensprache. Das ist stets ein Gemeinschaftsunternehmen und keines allein eines Individuums. Es bedarf einer Familie bzw. eines gemeinschaftlichen Hintergrunds, in dessen Rahmen die Sprache benutzt und verwendet wird bzw. die Sprachen benutzt und verwendet werden. Inzwischen geht es in vielen familiären Zusammenhängen nicht nur um eine zu erhaltende Sprache, sondern um zwei oder mehr Sprachen, und es bedarf des Interesses, der Bereitschaft und der Fähigkeit auf allen Seiten, an dieser Benutzung teilzuhaben.
Die Familiensprache(n), die keineswegs tatsächlich auch stets die Herkunfts- oder gar die Erstsprache(n) ist/sind, entwickelt/n in jedem einzelnen Gruppenzusammenhang eigene Merkmale und eine eigene Dynamik, der sich u. a. in Neologismen, familiären Idiosynkrasien oder spezifischen Sprachenwechseln zeigen kann. Hierzu finden sich zahlreiche spannende Beispiele in diesem Buch, welches dazu beiträgt, die Sprachenerhaltsforschung in Deutschland nicht nur weiter zu etablieren, sondern auch multiperspektivischer werden zu lassen. Die Beitragenden wollen untersuchen, „[w]ie diese Sprachen genau bezeichnet werden, mit welchen Normen und Zielvorstellungen sich die Sprecher*innen auseinandersetzen müssen, welche linguistischen und außerlinguistischen Faktoren ihre Weitergabe und ihren Erwerb bedingen, welchen Beitrag Schule zum Spracherhalt leisten könnte und schließlich welche gesellschaftlichen Aspekte Entscheidungen und Einstellungen zu diesen Sprachen prägen können“ (aus dem Vorwort). Das schließt die Einführung von neuen Begrifflichkeiten wie ‚Spracherhaltsdidaktik‘, ‚kindlicher Spracherhalt‘, ‚Heritage-Sprache‘ und ‚Herkunftssprachensprecher*innen‘ ein.
Ich persönlich verbinde mit dem Terminus heritage language, den ich während meiner Tätigkeit an der University of Alberta in Edmonton/Alberta, Kanada, kennenlernte, etwas ganz spezifisch Kanadisches, was nicht deckungsgleich mit dem hierzulande verwendeten Terminus Heritage-Sprache ist. In Kanada – einem Einwanderungsland par excellence – verbindet man zweifelsohne zwar auch den Erhalt oder auch das Neulernen der heritage language, das hatte und hat aber keineswegs den Stellenwert wie in Deutschland. Insbesondere kurz nach dem 2. Weltkrieg legten Einwanderer Wert darauf, eben kein Deutsch mehr zu sprechen, sondern ausschließlich die neue Umgebungssprache zu verwenden (vgl. u. a. Prokop 2004 und auch die Bibliografie in Prokop 2023). Ein nennenswerter Anteil meiner Studierenden der Germanistik in den 1990er Jahren hatte das Fach Germanistik an der University of Alberta, Edmonton, AB, gewählt, um die Sprache und den Hintergrund der Eltern näher kennenzulernen. Bis vor wenigen Jahren gehörte es insgesamt keineswegs dazu, dass immer die heritage languages von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden oder dass überhaupt das Lernen oder Verwenden der heritage language als notwendige Bedingung zum Konzept von heritage gehört. Strukturiert übernehmen die Lehre der heritage languages beispielsweise die Sonnabendschulen/Saturday schools oder Play Schools durch die German-Canadian Cultural Association (https://www.gcaa.ca/) oder öffentliche Schulen im Rahmen bilingualer Programme (z. B. https://epsb.ca/programs/language/germanbilingual/). Sicher könnte man – aus der Perspektive aus Deutschland – anmerken, dass der Begriff heritage oft bis heute auch folkloristisch aufgeladen ist, wie man an deutschen Clubs wie The Bavarian Schuhplattlers of Edmonton oder The Hofbräuhaus News (http://www.thehbhnews.ca/WebPages/Home.html) erkennen kann. Heritage im englischsprachigen Teil Kanadas wird aber auch verbunden mit dem ausgelassenen und regelmäßigen Feiern des kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt, beispielsweise dem jährlich stattfindenden Edmonton Heritage Festival. The world’s largest three day celebration of multiculturalism (https://www.heritagefest.ca/).
In dieser kurz skizzierten Tradition war auch die Forschung weniger auf den Erhalt der Sprache ausgerichtet, sondern eher auf Aspekte wie teilweise sehr lustige und fröhliche Interferenzen (vgl. beispielsweise Hufeisen 1995) oder auf die überraschende und spontane Wiederkehr der jahrzehntelang nicht mehr verwendeten heritage language Deutsch, beispielsweise nach Schlaganfällen (Beispiele dazu z. B. Schmidt et al 2019, passim). Zwar konnte man mit dieser Forschung wichtige und interessante neurolinguistische Einsichten in Sprachenverarbeitung und vor allem -speicherung gewinnen, aber die in diesem neuen vorliegenden Band fokussierte Forschung in die Bedingungen, Voraussetzungen, Konsequenzen, Möglichkeiten und Chancen des Sprachenerhalts stellen eine sehr viel optimistischere und offenere Haltung dar. Ich wünsche daher diesem inhaltsreichen und spannenden Werk viele interessierte und aufmerksame Lesende, sowohl professionell Beteiligte als auch familiär Agierende, und hoffe, dass die Impulse, die von ihm ausgehen, zu weiterer wichtiger Forschung anregen.
HERDINA, Philip/JESSNER, Ulrike (2002), A Dynamic Model of Multilingualism. Perspectives of Change in Psycholinguistics. Clevedon, UK, Multilingual Matters.
HUFEISEN, Britta (1995), Englisch bei deutschsprachigen Immigranten in Kanada. Muttersprache 3, 243-251.
PROKOP, Manfred (2004), zusammen mit Gerhard Bassler, German Language Maintenance across Canada. A Handbook. Edmonton.
PROKOP, Manfred (2023), Annotated bibliography of the cultural history of the german-speaking community in Alberta, vol. 2 2000-2018. Deutsche digitale Bibliothek (https://d-nb.info/1179300432/04).
SCHMID, Monika S./KÖPKE, Barbara (2013), First Language Attrition, Use and Maintenance. The case of German Jews in Anglophone Countries. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company (Benjamins Current Topics, 48).
SCHMID, Monika/KÖPKE, Barbara/ CHERCIOV, Mirela/ KARAYAYLA, Tuğba/KEIJZER, Merel/DE LEEUW, Esther et al. (2019) (Hg.): The Oxford Handbook of Language Attrition. Oxford, New York, NY: Oxford University Press (Oxford handbooks in linguistics).
Britta Hufeisen, Technische Universität Darmstadtim Sommer 2024
Das vorliegende Studienbuch möchte einen Beitrag zu einer neuen Forschungsrichtung – der Spracherhaltsforschung – leisten. Diese Forschungsrichtung befasst sich mit der Weitergabe und dem Erhalt von Sprachen, mit denen Individuen hauptsächlich im familiären, lebensweltlichen Kontext vom Kleinkindalter an in Kontakt gekommen sind und die im Alltagsleben außerhalb dieses Kontexts selten eine Rolle spielen – den sogenannten Herkunftssprachen. Die Spracherhaltsforschung ist im deutschsprachigen Raum deshalb als eine neue Disziplin zu bezeichnen, weil der Fokus von Studien im Kontext von Mehrsprachigkeit überwiegend auf dem Erwerb des Deutschen lag und liegt, alle anderen Sprachen jedoch verhältnismäßig selten in den Mittelpunkt gestellt werden. Wie diese Sprachen genau bezeichnet werden, mit welchen NormNormen und Zielvorstellungen sich die Sprecher*innen auseinandersetzen müssen, welche linguistischen und außerlinguistischen Faktoren ihre Weitergabe und ihren Erwerb bedingen, welchen Beitrag SchuleSchule zum Spracherhalt leisten könnte und schließlich welche gesellschaftlichen Aspekte Entscheidungen und Einstellungen zu diesen Sprachen prägen können, soll hier behandelt werden. Wir streben an, das Thema Spracherhalt und Mehrsprachigkeit innovativ und multiperspektivisch vor dem Hintergund einer klar definierten, in der Forschung bislang nicht immer so deutlich abgegrenzten Zielgruppe anzugehen. Damit gemeint sind Personen, die im Laufe ihres Lebens in Kontakt zu einer im Land, in dem sie leben, wenig gesprochenen und institutionell geförderten Sprache/Varietät kommen, die auf verschiedene Arten und Weisen im Kontext von Weitergabe und Erhalt steht. Die Formulierung bleibt deswegen zunächst vage, weil es zu klären gilt, welche Personen und Sprachen im spezifischen deutschen Kontext, welche Form von Kontakt (z. B. auf einem Kontinuum zwischen selten vs. häufig) und welche Arten von „Ergebnissen“ dieses Kontakts (aktive vs. rezeptive Mehrsprachigkeit) gemeint sind. Dabei werden bisher genutzte Forschungsmethoden mit Blick auf diese Zielgruppe hinterfragt und offene Fragen und Forschungslücken in ihren diziplinübergreifenden Facetten formuliert.
Das Buch beginnt mit einer Positionierung bzgl. der Begriffe Mehrsprachigkeit und Spracherhalt (Kapitel 1). Es wird nachgezeichnet, warum Mehrsprachigkeit in Deutschland kein neues Phänomen ist und welche Interessen die einzelnen Disziplinen an der Erforschung von Mehrsprachigkeit haben. Schließlich wird vorgestellt, welche innovative Perspektive dieses Studienbuch einnimmt.
Kapitel 2 beleuchtet den individuellen frühkindlichen Erhalt von Sprachen, die in der Regel wenig in der unmittelbaren Umgebung des Kindes vorkommen. Dazu ist es zum einen notwendig zu klären, wie diese Sprachen definiert und bezeichnet werden, zum anderen werden wichtige Dimensionen vorgestellt, die beim Erhalt im Kleinkindalter von Relevanz sind. Hierzu werden Studien herangezogen.
Kapitel 3 widmet sich dem Spracherhalt im familiären Kontext, insbesondere der Rolle des elterlichen Sprachverhaltens, aber auch dem Einfluss von Großeltern und Medien. Im Fokus stehen exemplarische (inter-)nationale Studien, die mit verschiedenen Methoden untersuchen, welche Strategien und Maßnahmen den meisten Erfolg versprechen. Neuere Forschungsrichtungen wie die SprachweitergabeSprachweitergabe bilingualer Eltern oder heritage language anxiety werden ebenfalls angerissen.
In Kapitel 4 wird Spracherhalt im Kontext des gesamten Lebens einer mehrsprachigen Person in den Blick genommen. Damit ergänzt es bisherige Ausführungen zur Familie um Perspektiven aus weiteren außerfamiliären Bereichen, in denen Mehrsprachige sich im Laufe ihres Lebens bewegen. Angefangen bei der frühesten Kindheit über bilinguale Kindertagesstätten, schulische und außerschulische Angebote zum Herkunftssprachlichen Unterricht bis zum tertiären Bildungssektor behandelt das Kapitel die Frage danach, welche Institutionen auf welche Weise zu Spracherhalt beitragen (oder nicht).
Kapitel 5 setzt sich mit dem NormNormkonzept im Zusammenhang mit dem Erwerb und Erhalt von Herkunftssprachen auseinander. Nach einer einleitenden Diskussion des NormNormbegriffs im Spannungsfeld zwischen Usus und Kodex wird unter Rückgriff auf empirische Studien die Anwendung von NormNorm- und StandardStandardvorstellungen auf sprachliche Fähigkeiten mehrsprachiger Personen diskutiert. Dabei wird kritisch betrachtet, welche Sprecher*innen als Vergleichsbasis für die erreichten Kompetenzen dienen, und damit zusammenhängend, welche Erwartungen an die sprachlichen Kenntnisse von Herkunftssprachensprecher*innen in der Forschung gestellt werden.
Kapitel 6 beleuchtet sprachliche Variationsprachliche Variationen und SprachwandelSprachwandel in Herkunftssprachen und ihre Bedeutung für den Erhalt dieser Sprachen. Neben einer Beschreibung relevanter sprachlicher Prozesse, die zu strukturellen Veränderungen führen können, werden anhand ausgewählter Forschungsarbeiten exemplarisch SprachvariationSprachvariationen für verschiedene Sprachstrukturen und Herkunftssprachen skizziert.
Kapitel 7 befasst sich mit der Frage, welche außersprachlichen Faktoren die intergenerationale SprachweitergabeSprachweitergabe und den Spracherhalt auf Makro-, Meso- und Mikroebene positiv wie negativ beeinflussen. Unter Rückgriff auf diverse Studien werden sowohl Faktoren diskutiert, die sich auf die gesamte Sprachgruppe beziehen, als auch Faktoren, die das Individuum betreffen.
In Kapitel 8 wird der Themenkomplex „IdentitätIdentität und Spracherhalt“ beleuchtet. Dabei stehen besonders sprachliche „IdentitätIdentitätsakte“ im Vordergrund: Der Text behandelt die Fragen, warum manche (Herkunfts-)Sprachen erhalten werden, andere dafür nicht, und wieso gerade bei jungen Sprecher*innen die familiäre Herkunft oft überhaupt nicht in Verbindung mit dem tatsächlich verwendeten Sprachenrepertoire steht.
Kapitel 9 thematisiert Theorien und Erkenntnisse zu ökonomischen und sozialen Wertvorstellungen von Herkunftssprachen in der mehrsprachigen Gesellschaft. Es wird dargestellt, dass Ideen und Konzepte von Wertigkeit von Sprachen einen zentralen Einfluss auf deren Erhalt haben (können).
Während die meisten Kapitel den Erhalt und Erwerb anderer Herkunftssprachen in Deutschland behandeln, nimmt Kapitel 10 die umgekehrte Perspektive ein: Hier werden Situationen beschrieben, in denen Deutsch eine Minderheiten- bzw. Herkunftssprache ist. Anhand von Beispielen aus Australien und Chile wird aufgezeigt, wie die deutsche Sprache als heritage language weitergegeben wird, inwiefern sie erhalten bleibt und welche sprachplanerischen und sozialen Prozesse hierbei von Bedeutung sind.
Auf Grundlage der vorherigen Kapitel und unter Berücksichtigung von internationalen Perspektiven auf die heritage language education und ihre Ziele setzt Kapitel 11 den Fokus auf einen Paradigmenwechsel von einer sogenannten HerkunftssprachendidaktikHerkunftssprachendidaktik zu einer SpracherhaltsdidaktikSpracherhaltsdidaktik: Hierbei soll Spracherhalt – jenseits von Herkunft – nicht allein auf den Herkunftssprachlichen Unterricht reduziert, sondern als gesamtschulische und -gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden und nicht zuletzt die institutionellen Bedingungen des Spracherhalts auf Unterrichts- und SchuleSchulentwicklungsebene progressiv weiterdenken.
Alle Kapitel beginnen mit einem einleitenden Abschnitt, der die Ziele formuliert und zusammenfasst. In jedem Kapitel findet sich zudem ein Übungsteil mit Aufgaben. Die Gliederung ermöglicht es Lehrenden, das Buch zur Grundlage eines einsemestrigen Seminars zu machen. Alle Kapitel können aber auch einzeln gelesen werden.
Das Studienbuch richtet sich an Fach- und Lehramtsstudierende, Referendar*innen, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende. Es kann u. a. in den Fächern Germanistik, DaZ/DaF, Anglistik, Romanistik, Slawistik und Turkistik eingesetzt werden.
Diese Einführung ist eine gemeinschaftliche Arbeit von sechs Autorinnen und Autoren, wobei jede Person unterschiedliche Schwerpunkte abdeckt und dadurch verschiedene Kapitel (mit-)verantwortet. Alle haben alle Kapitel gelesen und sind für die gesamte Einführung verantwortlich.
Wir danken Jördis Beulich, Luca Marie Biesenbender, Lea Bonhoff, Gizem Evin Dağ, Marlene David, Esther Domke, Hannah Koch, Claudia Laaber, Coralie Nicolei, Heike Roll, Katrin Schmitz und Emine Yesilöz-Astürk, die einzelne Kapitel kritisch gelesen und hilfreich kommentiert haben. Dank geht auch an Caroline Böning, Romina Krechter und Laura Seidel für die Unterstützung der Literaturformatierung. Ein besonderer Dank gilt Amani Haridy für wertvolle Kommentare aus Studierendensicht und vor allem für die Hilfe bei der Formatierung des Buches.
Im Sinne einer diversitätssensiblen Sprache bemüht sich dieses Studienbuch, möglichst genderneutrale Begriffe zu verwenden. Wo dies nicht möglich ist, wird der Gender-Stern genutzt.1
Essen, Osnabrück und Wien im Juli 2024, die Autorinnen und Autoren
Deutschland ist ein mehrsprachiges Land. Menschen wachsen mit verschiedenen Sprachen auf, sie kommen als Kinder damit in Kontakt oder erlernen sie gesteuert in der SchuleSchule. Andere Menschen wiederum ziehen nach Deutschland und bringen verschiedene Sprachen mit, die sie bewahren und an ihre Kinder weitergeben wollen. Können wir all diese Möglichkeiten, mehrsprachig zu sein, mit der gleichen Definition abdecken? Werden alle Sprachen dabei gleich gesehen/bewertet/behandelt? In diesem Kapitel werden wichtige Definitionen und Forschungsthemen im Rahmen von Spracherhalt und Mehrsprachigkeit vorgestellt, die für das gesamte Buch grundlegend sind (1.2). Wieso und inwiefern Deutschland ein mehrsprachiges Land ist, wird in 1.3 erläutert. Darüber hinaus ist es wichtig, zu klären, in welchen Disziplinen zu Mehrsprachigkeit in Deutschland geforscht wurde und wird (1.4). Das Kapitel schließt mit offenen Fragen (1.5) sowie Aufgaben zum Themenfeld (1.6).
Um über die Thematik des Studienbuches sprechen zu können, stellt sich zunächst die Frage, was unter Mehrsprachigkeit zu verstehen ist. Dieser Begriff impliziert das Vorhandensein oder die Begegnung von mehreren Sprachen1 in einer Gruppe oder in einem Individuum. Doch wie ist die Gruppe oder das Individuum überhaupt in Kontakt mit mehreren Sprachen gekommen?
Menschen werden mehrsprachig, wenn sie in einer Gegend aufwachsen, in der zwei (oder mehr) Sprachen im Gebrauch zu finden sind (= gesellschaftliche Mehrsprachigkeit, RIEHL 2014: 63–64, KOCH & RIEHL 2024: Kap. 3). Das ist in zweisprachigen Gebieten der Fall (wie z. B. in der kanadischen Provinz Québec), oder aber in einem Stadtviertel, in dem viele Menschen leben, die neben der MehrheitsspracheMehrheitssprache auch eine (oder mehrere) weitere Sprache(n) verwenden (z. B. in Berlin). Darunter ist die Sprache zu verstehen, die von der Mehrheit der Menschen in einem Land oder Gebiet gesprochen wird.
Individuen können aber auch mehrsprachig aufwachsen, obwohl ihre Umgebung einsprachig ist (= individuelle Mehrsprachigkeit). Das bedeutet, dass sie eine weitere Sprache neben der MehrheitsspracheMehrheitssprache erwerben. Diese Sprache wird nicht von allen Menschen in der Umgebung gesprochen und kann in diesem Kontext als MinderheitenspracheMinderheitensprache bezeichnet werden.
Eine Unterscheidung, die selten in der Literatur vorgenommen wird, ist die zwischen dem Begriffspaar mehrsprachig und bilingual (oder auch zweisprachig). Die Begriffe werden normalerweise synonym verwendet, so auch in diesem Studienbuch, weil Kinder mit mehr als zwei Sprachen aufwachsen können und sie heutzutage alle früh in Kontakt mit dem Englischen kommen (CANTONE & DI VENANZIO 2015: 36). Bei Bilingualität wird in der SpracherwerbSpracherwerbsforschung davon ausgegangen, dass ein Kind ab Geburt auf natürliche Art und Weise gleichzeitig Kontakt zu einer weiteren Sprache hat (MÜLLER ET AL. 2023: 1–2, vgl. Kap. 2). Dieser ungesteuerte kindliche Erwerb wird auch mehrsprachiger Erwerb genannt, obwohl in der Regel nur zwei Sprachen involviert sind.
GROSJEAN (2022: 7) merkt an, dass mehrere Aspekte die Antwort auf die Frage beeinflussen können, ob man sich selbst als bilingual/mehrsprachig bezeichnet: ob man beide Sprachen flüssig spricht (fluency), ab wann man die Sprachen erworben hat sowie ob man beide Sprachen gleich gut beherrscht (in Wort und/oder Schrift).
Schließlich kommen Menschen aufgrund von Curricula und sprachpolitischen Vorschriften während des Besuchs allgemeinbildender SchuleSchulen in Kontakt mit mindestens einer, oftmals mit zwei sog. FremdsprachenFremdsprachen. Das sind Sprachen, die ohne vorherige Kenntnisse an SchuleSchulen gelernt werden (= curriculare Mehrsprachigkeit, die meist nur additiv, also in einer Aneinanderreihung, konzipiert ist, vgl. KRUMM 2004). In Deutschland ist vorgesehen, dass alle Menschen durch schulische Angebote weitere Sprachen erlernen.
Es kann also festgehalten werden, dass es mehrere Konstellationen gibt, weshalb Menschen in Kontakt mit mehr als einer Sprache kommen und diese auch gebrauchen. Im Falle gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit kommt man kaum umhin, Kenntnisse in den Sprachen zu erwerben, die in der Gegend gesprochen werden, in der man aufwächst. Im Falle individueller Mehrsprachigkeit kann es hingegen dazu kommen, dass die MinderheitenspracheMinderheitensprache nicht erworben wird (vgl. Kap. 3). Im Falle curricularer Mehrsprachigkeit lernt man in der SchuleSchule FremdsprachenFremdsprachen, die gesetzlich festgelegt worden sind.
Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
Individuelle
Mehrsprachigkeit
Curriculare
Mehrsprachigkeit
Alle sprechen dieselben Sprachen
Alle sprechen Mehrheitssprache
Einzelne sprechen weitere Sprache(n)
Alle sprechen Mehrheitssprache
Einzelne sprechen weitere Sprache(n)
Festlegung Angebot weiterer Sprachen
Umgebung mehrsprachig
Umgebung einsprachig
Umgebung einsprachig
Gleich anerkannte (Mehrheits-)Sprachen
Mehrheitssprache und Minderheitssprache(n)
Fremdsprachen
Erwerb von Anbeginn
Erwerb von Anbeginn
Gesteuertes Lernen in Institution
Konstellationen mehrsprachigen Seins
Widmet man sich dem Konzept des Spracherhalts, muss zunächst geklärt werden, was dieser Begriff im internationalen Kontext bedeutet und wofür er seit Jahrzehnten verwendet wird. Spracherhalt, eng. language maintenance, wird zusammen mit Sprachwechsel, engl. language shift, seit über 70 Jahren beforscht (PAUWELS 2016: 9–10). Ausgangslage ist, dass Personen nach einer Veränderung nicht mehr in dem Land leben, wo die eigene Sprache als MehrheitsspracheMehrheitssprache gesprochen wird. Hierzu werden Prozesse untersucht, die dazu führen können, dass die Sprache zugunsten der neuen Mehrheitssprache aufgegeben wird. Der Fokus der ersten Studien in diesem Feld lag vornehmlich auf der Beschreibung von (soziolinguistischen) Aspekten des Sprachkontakts zwischen einer Minderheiten- und einer Mehrheitssprache (PAUWELS 2016: 10–13). In bestimmten Kontexten territorialer Randgruppen kann eine Sprache sogar davon bedroht sein, vollständig auszusterben (ebd.: 24). PAUWELS grenzt language maintenance (LM) von language shift (LS) in ihrem Buch wie folgt ab:
If LS is defined as the process in which a language is gradually replaced by another language, often labelled L2, dominant language or majority language, in all spheres of usage, then LM is best described as the continued use or retention of an L1, a minority or heritage language in one or more spheres of language use. (PAUWELS 2016: 20)
PAUWELS (2016: 20) definiert language maintenance also als ein ununterbrochenes Beibehalten einer MinderheitenspracheMinderheitensprache in einer oder mehreren SprachgebrauchSprachgebrauchsdomänen. Dieser Begriffsbestimmung wird im vorliegenden Studienbuch gefolgt.
Spracherhalt im Kontext von Migration beschreibt den Vorgang, wenn Personen ihre Sprache beibehalten, obwohl sie durch eine Lebensveränderung an einem Ort leben, wo diese Sprache nicht von der Mehrheit gesprochen wird. Dem Erhalt geht die Intention voraus, die Sprache weiter nutzen zu wollen (SprachgebrauchSprachgebrauch) und an die nächste Generation vermitteln zu wollen (SprachweitergabeSprachweitergabe).
PAUWELS (2016: 17) versteht LM und LS als Subdisziplinen der Sprachkontaktforschung. In diesem Sinne hat die Spracherhaltsforschung lange den Fokus auf soziolinguistische Aspekte von Gruppen gelegt. Mit dem Spracherhalt in einzelnen Familien (wenn also in Zusammenhang mit Migration die in der Familie gesprochene Sprache plötzlich zur MinderheitenspracheMinderheitensprache wird) beschäftigt sich die Wissenschaft seit relativ kurzer Zeit (vgl. Kap. 3). Im englischsprachigen Kontext wird diese Form von Spracherhalt präzisiert, indem von home language maintenance gesprochen wird (vgl. z. B. die Beiträge im Handbuch von SCHALLEY & EISENSCHLAS 2020). Im deutschsprachigen Raum behandeln Studien im Kontext von Mehrsprachigkeit in der Regel Erhalt und Erwerb einer Sprache neben der MehrheitsspracheMehrheitssprache Deutsch eher aus linguistischer Perspektive. Beispielsweise geben DI VENANZIO & CANTONE (2016) einen Überblick über Studien zwischen Anfang der 1970er- bis Mitte der 2010er-Jahre mit Fokus auf das Ruhrgebiet und Umgebung.
Untersuchungen betrachten insbesondere den intergenerational shift, d. h., ob es eine oder mehr Generation(en) nach der obengenannten Veränderung zu einem Sprachwechsel bzw. zu einer Umstellung1 innerhalb der Familie zugunsten der MehrheitsspracheMehrheitssprache gekommen ist und welche Faktoren diesen Wechsel bedingt haben. Studien legen nahe, dass die Rolle der Familien für die SprachweitergabeSprachweitergabe existenziell ist (FISHMAN 1991, 2001), doch stellt sich die Frage, über wie viele GenerationenGenerationen die Weitergabe funktionieren kann (vgl. Kap. 2).
Spracherhalt und Mehrsprachigkeit hängen zusammen. Welche spracherhaltenden Maßnahmen führen dazu, dass ein Individuum/eine Familie/eine Gruppe mehrsprachig wird? Wächst eine Person einsprachig auf, steht außer Frage, dass sie diese Sprache aktiv verwendet und an ihre Kinder weitergibt. Wächst sie hingegen mit zwei Sprachen auf, wird sich zeigen, ob die Sprache, die nicht von der Mehrheit gesprochen wird, erhalten werden kann. Daraus ergibt sich, dass Spracherhalt notwendig ist, um eine individuelle Mehrsprachigkeit zu erlangen. Genauer genommen muss – bevor eine Sprache als erhalten angesehen werden kann – zunächst die Bedingung der SprachweitergabeSprachweitergabe erfüllt worden sein: Entscheidet sich ein Individuum/eine Familie/eine Gruppe gegen die Weitergabe einer Sprache und für die Umstellung/Verschiebung des SprachgebrauchSprachgebrauchs zugunsten der MehrheitsspracheMehrheitssprache, kommt es in der darauffolgenden Generation nicht mehr zum mehrsprachigen Erwerb (vgl. Kap. 2). Daher ist die Erforschung der Bedingungen, die dazu führen, dass eine Sprache weitergegeben wird, von großer Relevanz (vgl. OLFERT 2019, vgl. Kap. 2 und 7).
Das folgende fiktive Beispiel illustriert individuelle Aspekte von SprachweitergabeSprachweitergabe und Sprachaufgabe bei einer mehrsprachigen Familie. António und Lúcia ziehen Anfang der 1970er Jahre von Portugal nach Deutschland. Ihre Kinder Amália und Rui (beim Wegzug 2 Jahre und 6 Monate und 1 Jahr und 3 Monate alt) erwerben PortugiesischPortugiesisch weiterhin im familiären Kontext, gehen ab dem Alter von 5 Jahren in eine deutschsprachige VorschuleSchule und anschließend in die GrundschuleSchule. Beide besuchen das zusätzliche Unterrichtsangebot für die Sprache Portugiesisch. Während Amália auf der weiterführenden SchuleSchule den auf den Nachmittag gelegten Portugiesischunterricht an der NachbarschuleSchule bis zum Abitur besucht, konzentriert Rui sich auf seine Hobbys (Basketball und Gitarrespielen). Die Familie besucht regelmäßig den in portugiesischer Sprache gehaltenen Gottesdienst in ihrem Wohnort. Amália lernt in der SchuleSchule zudem EnglischEnglisch, Latein, SpanischSpanisch und RussischRussisch, später studiert sie Englisch und Spanisch und wird Übersetzerin; sie lebt mehrere Jahre im Ausland, heiratet den spanisch-deutschsprachigen Enrique und wohnt nun in der gleichen Stadt wie ihre Eltern. Rui zieht in eine größere Stadt in der Nähe, studiert Sport und Musik auf Lehramt und heiratet eine Kollegin, Marie, die einsprachig mit Deutsch aufgewachsen ist und zusätzlich Englisch, Spanisch und ein bisschen Portugiesisch kann.
Amália und Enrique bekommen einen Sohn, Manuel. Sie beschließen, dass er mit drei Sprachen aufwachsen soll: PortugiesischPortugiesisch, SpanischSpanisch und Deutsch. Da die Mutter zu Hause arbeitet, hört Manuel in den ersten 3 Lebensjahren überwiegend die portugiesische Sprache, zumal Großmutter Lúcia oft die Kinderbetreuung übernimmt und Portugiesisch mit Manuel spricht. Enrique ist selten allein mit Manuel, doch macht er Unternehmungen mit ihm und seinem Neffen Álvaro, der in Manuels Alter ist und seit seiner Geburt Kontakt zu Spanisch hat. Ab 3 Jahren besucht Manuel eine deutschsprachige Kindertageseinrichtung. Er spricht zu diesem Zeitpunkt alle drei Sprachen.
Rui hat entschieden, mit seiner Tochter Clara Deutsch zu sprechen. Er freut sich, wenn Großmutter Lúcia ihr bei Besuchen Lieder auf PortugiesischPortugiesisch vorsingt, ihm ist es aber wichtiger, dass sie früh EnglischEnglisch erwirbt. Marie (eine Englisch- und Sportlehrkraft) teilt seine Meinung. Clara besucht eine englischsprachige Kindertageseinrichtung und soll später in eine bilinguale GrundschuleSchule. Sie spricht Deutsch und kann viel auf Englisch verstehen.
Im vorliegenden Studienbuch nehmen wir folgende Perspektive ein: Wir beschreiben, wie durch SprachweitergabeSprachweitergabe Mehrsprachigkeit bei einem Individuum erlangt und in einer Familie – also zwischen GenerationenGenerationen – beibehalten werden kann.
Perspektive auf Spracherhalt im Kind
Wir betrachten verschiedene Ebenen, auf denen der Spracherhalt stattfinden kann: die familiäre (insb. Kap. 3), die individuelle (insb. Kap. 8), die sprachliche (insb. Kap. 6), die außersprachliche (insb. Kap. 7), die gesellschaftliche (insb. Kap. 9) sowie die schulische (insb. Kap. 11) Ebene.
Relevant für die vorliegende Beschäftigung mit den anderen Sprachen neben der MehrheitsspracheMehrheitssprache sind u. a. die folgenden Fragen:
Unter welchen Umständen kann man bilingual/mehrsprachig werden (Kap. 3 und 7)?
Welcher Grad von Erwerb und Beherrschung wird vorausgesetzt, um von bilingualen/mehrsprachigen Personen zu sprechen (Kap. 2, 5 und 6)?
Nehmen Individuen sich selbst als bilingual/mehrsprachig wahr und werden sie von anderen so wahrgenommen (Kap. 8, 9 und 10)?
Wie können Bildungsinstutionen oder andere Gruppen Weitergabe und Erhalt von Sprachen unterstützen (Kap. 4 und 11)?
Während die Migrationslinguistik „sprachliche Aspekte der Migration interdisziplinär betrachtet“ und sich dabei mit „Fragen, die sich mit SprachwandelSprachwandelprozessen, SpracherwerbSpracherwerbsformen, Spracherhalt und SprachverlustSprachverlust sowie sprachsystematischen Aspekten“ sowie den „sprachlichen Auswirkungen von Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland und somit Immigrationsprozesse[n] sowie Binnenmigration in größeren räumlichen Zusammenhängen“ befasst (KOCH & RIEHL 2024:15), untersucht die Spracherhaltsforschung ähnliche Aspekte, jedoch nicht unter der Prämisse der Auswirkung von Migration auf Deutsch als „Ausgangspunkt der Untersuchung“ (ebd.). Sie betrachtet vielmehr linguistische und außerlinguistische Faktoren, die Weitergabe und Erhalt begünstigen, wobei sie sprachliche Vielfalt und SprachminderheitenSprachminderheiten fokussiert.2
In Deutschland werden aktuell viele Sprachen gesprochen (vgl. MEDIENDIENST INTEGRATION 2024). Deutsch gilt zwar als Amtssprache, dieser Umstand ist jedoch nicht im Grundgesetz verankert (MARTEN 2012: 145). Gleichwohl sorgen verschiedene Regelungen (Deutsch ist Amts- und Gerichtssprache, Kennzeichnungen u. a. auf Lebens- oder Arzneimitteln müssen auf Deutsch sein) dafür, dass Deutsch als dominierende Sprache wahrgenommen wird (ebd.: 146–147).
Gemeinhin unterscheidet man zwischen autochthonen und allochthonen SprachminderheitenSprachminderheiten, die neben Deutsch zusätzliche Sprachen gebrauchen.
Autochthone SprachminderheitenSprachminderheiten sind aus historischen und politischen Gründen entstanden (vgl. MCMONAGLE 2020, KOCH & RIEHL 2024: Kap. 3).
In Deutschland finden sich vier gesetzlich anerkannte Minderheiten, denen aufgrund bestimmter Kriterien z. B. mit Blick auf den Spracherhalt eine besondere Förderung zuteil wird: die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, die deutschen Sinti*zze und Roma*nja sowie die sorbische Minderheit (vgl. BUNDESMINISTERIUM DES INNERN, FÜR BAU UND HEIMAT 2020).
Als allochthone SprachminderheitenSprachminderheiten werden diejenigen Gruppen bezeichnet, die nicht den oben erwähnten Kriterien der Bundesregierung entsprechen und in jüngerer Zeit durch Zuwanderung „hinzugekommen“ sind. BEYER & PLEWNIA (2020: 9) sprechen von „migrationsinduzierten allochthonen oder „neuen“ Minderheiten“. Diese Sprecher*innen stehen im Fokus des vorliegenden Studienbuchs.
Anders als in anderen von Migration geprägten Ländern wie beispielsweise Australien oder Kanada (vgl. u. a. LO BIANCO 2008, SABOURIN & BÉLANGER 2015) erfasst Deutschland nicht systematisch, wie viele Personen mit welchen Sprachen aufwachsen und welche Sprachen regelmäßig im Gebrauch sind. Was stattdessen erhoben wird, ist der Migrationshintergrund.1 Der MEDIENDIENST INTEGRATION gibt einen Überblick aus verschiedenen Quellen (unter anderem das Statistische Bundesamt) und erläutert, dass in Haushalten von sog. Personen mit Migrationshintergrund derzeit in ungefähr 45 % der Fälle nur oder überwiegend Deutsch gesprochen wird, während in Haushalten von Personen, die selbst oder deren beide Eltern zugewandert sind, in ca. 38 % der Fälle nur oder überwiegend Deutsch verwendet wird (MEDIENDIENST INTEGRATION 2024). Aus diesen Prozentangaben kann man folgern, dass viele dieser Familien mehrsprachig sind und eine (oder mehrere) andere Sprache(n) gebrauchen. Es lässt sich aber nicht systematisch abbilden, wie viele Personen mit welchen Sprachen aufwachsen und welche Sprachen regelmäßig im Gebrauch sind. Zudem kann ein sog. Migrationshintergrund mit Mehrsprachigkeit zusammenhängen, muss er aber nicht, wenn z. B. eine Sprache eben nicht in der Familie erhalten wurde (CANTONE & DI VENANZIO 2015: 38, vgl. CHLOSTA & OSTERMANN 2017).
Aufgrund besonderer Ereignisse wie Kriege und Flucht und ihrer starken medialen Präsenz mag mitunter der Eindruck entstehen, dass Mehrsprachigkeit mal stärker und mal schwächer in Deutschland vorhanden sei. Richtig ist aber, dass durch Migration und Sprachkontakt seit jeher Sprachen lokal aufeinandertreffen und dieser Umstand temporär oder von Dauerhaftigkeit geprägt ist. Der konstante Sprachkontakt zwischen Sprachen im Individuum/in Familien/in einer Gruppe führt also einerseits zu einer wechselseitigen Beeinflussung in den Sprachsystemen (RIEHL 2014: 12, vgl. Kap. 6), andererseits zur umfassenden Frage, inwieweit es gesellschaftlich, individuell und institutionell möglich ist, dass Minderheitensprachen über mehrere GenerationenGenerationen weitergegeben werden. Die Festellung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, bedeutet also nicht im Umkehrschluss, dass Deutschland dauerhaft ein Land mit migrationsbedingt mehrsprachigen Bewohner*innen bleiben wird.
Europa und Deutschland waren lange von Abwanderung sowie von Besetzungen durch die eigene Kolonialpolitik bestimmt. Zuwanderung nach Europa begann erst Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt nach dem zweiten Weltkrieg (OLTMER 2020: 326 sowie BOAS & WIESE 2023: 88–89). In der jüngeren Geschichte sind für Deutschland insbesondere die Anwerbung von Arbeitskräften (und ihren Familien) in den 1950er und 1960er Jahren, die Zuwanderung sog. Aussiedler*innen verstärkt in den 1990er Jahren sowie die Zuzüge aufgrund von Flucht seit den 1990ern Jahren (vgl. OLTMER & HANEWINKEL 2021) zu nennen.
Spracherhalt und Mehrsprachigkeit mit dem Fokus auf Migration zu betrachten, richtet den Blick auf Menschen, die in einem anderen Land geboren und mitunter aufgewachsen sind, und ihre nachfolgenden Familienmitglieder. Diese Menschen bringen ihre Sprachkenntnisse in das neue Land mit und wollen sie in der Regel auch erhalten. Entsprechend entsteht im individuell-familiären Rahmen eine gelebte Mehrsprachigkeit, auch lebensweltliche (vgl. GOGOLIN 2004), migrationsbedingte (vgl. HU 2003) migrationsgesellschaftliche (vgl. DIRIM & KHAKPOUR 2018) Mehrsprachigkeit oder Migrationsmehrsprachigkeit (vgl. RÖSCH 2021) genannt.
Wie ersichtlich wurde, können Mehrsprachigkeit und Spracherhalt aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Es bietet sich an, dabei inter- und transdiziplinär offen zu denken, da beide Phänomene erstens miteinander verflochten und zweitens nicht monokausal sind. In diesem Studienbuch werden Forschungen und Konzepte der Spracherhaltsforschung vorgestellt und diskutiert. Der Fokus ist dabei primär linguistisch. Nun teilt sich die Linguistik in Unterdisziplinen auf, die auch hier zutage treten werden: So beschreiben und untersuchen wir im Folgenden Mehrsprachigkeit und Spracherhalt aus angewandt-linguistischer (vgl. KOCH & RIEHL 2024), sozio-linguistischer (vgl. NEULAND 2013) und spracherwerbSpracherwerbsforschender (vgl. KLANN-DELIUS 2016) Perspektive. Ebenso wird aus (sprach-)didaktischer Perspektive auf Mehrsprachigkeit und Spracherhalt im Kontext von Bildungsinstitutionen (vgl. NEULAND & PESCHEL 2013) geschaut. Der Fokus liegt sowohl auf theoretischen Grundlagen und auf aktuellen Forschungsergebnissen als auch auf linguistisch-sprachdidaktischen Ansätzen zum Erhalt von Minderheitensprachen.
Abschließend kann gesagt werden, dass das Thema Mehrsprachigkeit kein neues ist, da es in allen Epochen menschlichen Lebens sowohl Individuen gab, die sich mehrerer Sprachen bedienen konnten/mussten, und zugleich durch Wanderbewegungen auch stets kollektive Sprachkontaktsituationen entstanden sind. Gleichzeitig sind in der heutigen Zeit Phänomene zu berücksichtigen, die vor ca. 30 Jahren noch wenig bis keine Relevanz hatten. In Zusammenhang mit der Spracherhaltsforschung kann Mehrsprachigkeit zukünftig u. a. unter folgenden Gesichtspunkten untersucht werden:
der Medieneinsatz, der den weltweiten Kontakt zu Sprecher*innen der gleichen Sprache unkomplizierter und schnell zugänglich macht;
die Mobilität, die kostengünstigere und häufigere Reisen in das Herkunftsland ermöglicht;
eine gestiegene sprachliche Vielfalt durch Migration aus vielen Ländern;
die sich daraus ergebende größere Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Eltern haben, die (mehrere) verschiedene Sprachen sprechen und alle weitergeben könnten;
die Bedingungen, die zum Gelingen des Spracherhalts führen;
den Beitrag, den Bildungsinstitutionen dazu leisten können;
Aspekte, die es Familien leichter machen können, Sprachen weiterzugeben.
Informieren Sie sich auf der Seite des Mediendienst Integration über das Thema Mehrsprachigkeit (https://mediendienst-integration.de/integration/mehrsprachigkeit.html). Welche Erkenntnisse überraschen Sie?
Schauen Sie sich das Video „CeLM in Conversation: The Bilingual Brain“ vom Centre for Literacy and Multilingualism unter https://www.youtube.com/watch?v=T3rc9Lj8b5k an und diskutieren Sie anschließend darüber.
Setzen Sie in einer Gruppenarbeit den Begriff Mehrsprachigkeit und seine disziplinbezogenen Bedeutungen in Bezug zueinander.
Bilden Sie Gruppen und befragen Sie Studierende aus einem anderen Seminar danach, was diese unter Sprachwechsel verstehen. Sammeln Sie die Ergebnisse schriftlich. Diskutieren Sie anschließend.
Suchen Sie in Zweierteams nach drei Online-Zeitungsbeiträgen zu Spracherhalt. Welche Sprachen werden behandelt? Welche linguistischen Themen werden angeschnitten? Fassen Sie die Punkte zusammen, stellen Sie diese im Plenum vor und diskutieren Sie anschließend.
BEYER, Rahel, PLEWNIA, Albert (2020): „Einleitung“. In: Beyer, R., Plewnia, A. (Hrsg.): Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland. Tübingen, S. 7 – 16.
BUNDESMINISTERIUM DES INNERN, FÜR BAU UND HEIMAT (2020): Nationale Minderheiten, Minderheitensprachen und die Regionalsprache Niederdeutsch in Deutschland. (4. Auflage) (https://www.bmi.bund.de/Shared Docs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/nationale-minderheiten/minderheiten-und-regionalsprachen-vierte-auflage.pdf?__blob=publicationFile&v=10; Aufruf 21.09.2023).
BOAS, Hans C., WIESE, Heike (2023): „“Ein Land – eine Sprache?““. In: Freywald, U. et al. (Hrsg.):Deutsche Sprache der Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart. DOI: 10.1007/978-3-476-04921-6_3
CANTONE, Katja F., DI VENANZIO, Laura (2015): „Spracherwerb und Mehrsprachigkeit – Notwendiges Wissen in Bildungsinstitutionen“. In: Benholz, C. et al. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern: Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart, S. 35 – 49.
CHLOSTA, Christoph, OSTERMANN, Torsten (2017): „Grunddaten zur Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem“. In: Ahrenholz, B., Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. (4. Auflage). Baltmannsweiler, S. 21 – 40.
DESTATIS (2021): Auszug aus dem Datenreport 2021 – Kapitel 1: Bevölkerung und Demografie. (https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021-kap-1.html; Aufruf 21.09.2023).
DIRIM, İnci, KHAKPOUR, Natascha (2018): „Migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der Schule“. In: Dirim, İ., Mecheril, P. (Hrsg.): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Stuttgart, S. 201 – 222.
DI VENANZIO, Laura, CANTONE, Katja F. (2016): „Spracherwerb und Spracherhalt im Ruhrgebiet und Umgebung. Eine Bestandsaufnahme der hiesigen Forschung zur Mehrsprachigkeit“. In: Cantone, K. F., Moraitis, A. (Hrsg.): Vielfältig und doch individuell. Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet. UNIKATE 49. Berichte aus Forschung und Lehre. Essen, S. 24 – 31.
FISHMAN, Joshua A. (1991): Reversing language shift: Theoretical and empirical foundations of assistance to threatened languages. Clevedon, UK.
FISHMAN, Joshua A. (2001): Can threatened languages be saved? Reversing language shift, revisited: A 21st century perspective. Clevedon, UK.
GOGOLIN, Ingrid (2004): „Lebensweltliche Mehrsprachigkeit“. In: Bausch, K.-R. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen, S. 55 – 61.
GROSJEAN, Franҫois (2022): „Who is Bilingual?“ In: Grosjean, F. (Hrsg.): The Mysteries of Bilingualism. Unresolved Issues. Chichester, UK. (https://www.wiley.com/en-us/The+Mysteries+of+Bilingualism%3A+Unresolved+Issues-p-9781119602378; Aufruf 10.06.2024).
HU, Adelheid (2003): Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Tübingen.
KLANN-DELIUS, Gisela (2016): Spracherwerb. Eine Einführung (3. Auflage). Stuttgart.
KOCH, Nikolas, RIEHL, Claudia Maria (2024): Migrationslinguistik. Eine Einführung. Tübingen.
KRUMM, Hans-Jürgen (2004): „Von der additiven zur curricularen Mehrsprachigkeit“. In: Bausch, K.-R. et al. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit im Fokus. Tübingen, S. 105 – 112.
LO BIANCO, Joseph (2008): „Language Policy and Education in Australia“. In: Hornberger, N. H. (Hrsg.): Encyclopedia of Language and Education. Boston, MA., S. 343 – 353. DOI: 10.1007/978-0-387-30424-3_25
MARTEN, Heiko (2012): Sprach(en)politik. Eine Einführung. Tübingen.
MCMONAGLE, Sarah (2020): „Autochthone Minderheiten und ihre Sprachen“. In: Gogolin, I. et al. (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden, S. 31 – 38.
MEDIENDIENST INTEGRATION (2024): Wie viele Menschen in Deutschland sind mehrsprachig? (https://mediendienst-integration.de/integration/mehrsprachigkeit.html; Aufruf 07.06.2024).
MÜLLER, Natascha, KUPISCH, Tanja, SCHMITZ, Katrin, CANTONE, Katja F., ARNAUS GIL, Laia (2023): Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung. (4. Auflage). Tübingen.
NEULAND, Eva (2023): Soziolinguistik der deutschen Sprache. Eine Einführung. Tübingen.
NEULAND, Eva, PESCHEL, Corinna (2013): Einführung in die Sprachdidaktik. Stuttgart.
OLFERT, Helena (2019): Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen. Eine Analyse begünstigender und hemmender Faktoren für Spracherhalt im Kontext von Migration. Tübingen.
OLTMER, Jochen (2020): „Globalisierung, Internationalisierung, Migration“. In: Gogolin, I. et al. (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden, S. 323 – 327.
OLTMER, Jochen, HANEWINKEL, Vera (2021): Geschichte der Migration nach und aus Deutschland. (https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/deutschland/341068/geschichte-der-migration-nach-und-aus-deutschland/; Aufruf 25.09.2023).
PAUWELS, Anne (2016): Language maintenance and shift. Cambridge, UK.
RIEHL, Claudia Maria (2014): Sprachkontaktforschung. Eine Einführung (3. Auflage). Tübingen.
RÖSCH, Heidi (2021): „Migrationsmehrsprachigkeit in der Lehrkräftebildung: Bildungsstandards und das DaZKom-Strukturmodell“. In: Rösch, H., Bachor-Pfeff, N. (Hrsg.): Mehrsprachliche Bildung im Lehramtsstudium. Baltmannsweiler, S. 13 – 42.
SABOURIN, Patrick, BÉLANGER, Alain (2015): La dynamique des substitutions linguistiques au Canada. Population 70(4), 771 – 803. DOI: 10.3917/popu. 1504.0771
SCHALLEY, Andrea C., EISENCHLAS, Susana A. (Hrsg.) (2020): Handbook of HomeLanguage Maintenance and Development: Social and Affective Factors. Berlin. DOI: 10.1515/9781501510175
Dieses Kapitel befasst sich mit dem kindlichen mehrsprachigen Erwerb im Rahmen von Spracherhalt. Wie in Kap. 1 gezeigt, wird angenommen, dass im Kindesalter der (Wille der Elterngeneration zum) Spracherhalt dem SpracherwerbSpracherwerb vorausgeht. Das wird insbesondere innerhalb von Familien deutlich, in denen vielleicht nur eine Person (in der Regel ein Elternteil) eine MinderheitenspracheMinderheitensprache weitergibt. Durch die SprachweitergabeSprachweitergabe durch diese Person erreicht das Kind eine individuelle Mehrsprachigkeit, die nicht selbstverständlich ist (vgl. Kap. 3). Die Bedingungen, unter denen der Erhalt stattfindet, sind außerdem andere, als wenn eine ganze Gruppe in einem Gebiet zweisprachig aufwächst. Die individuelle Form von SprachweitergabeSprachweitergabe steht hier im Fokus. Grundannahme ist dabei, dass jeder kindliche SpracherwerbSpracherwerb ein erfolgreicher ist (CHOMSKY 1965).
Dieses Kapitel legt den Fokus auf Kinder (Alter null bis sechs Jahre) und will etwas provokant die Position einnehmen, dass ab Beginn des Kontakts mit einer MinderheitenspracheMinderheitensprache – also während des Erwerbs dieser – parallel von Spracherhalt gesprochen werden sollte (vgl. Kap. 1). Man könnte genau andersherum entgegnen, dass es zuerst einen kindlichen SpracherwerbSpracherwerb geben muss, bevor man von einem Spracherhalt beim Kind sprechen würde. Ist die Annahme, dass Erhalt erst ab abgeschlossenem Erwerb gilt?
Internationale und nationale Forschung sind sich nicht einig, welche Bezeichnungen die erworbenen Sprachsysteme erhalten sollten (2.2.1), die in der heritage language-Forschung betrachtet werden. Genannter Forschungszweig untersucht seit ca. 40 Jahren den Erhalt von Sprachen im Kontext von Migration. Ebenfalls besteht Uneinigkeit darüber, ab wann von Spracherhalt gesprochen werden kann (2.2.2), also ab welchem Grad der Sprachkenntnisse oder der -produktion. Darüber hinaus fokussieren Studien zum frühen mehrsprachigen Erwerb unterschiedliche Aspekte, je nachdem, aus welcher Perspektive/Disziplin auf das Phänomen geschaut wird. Bislang lag der Fokus der SpracherwerbSpracherwerbsforschung darauf, zu belegen, dass Kinder in der Lage sind, zwei- und mehrsprachig aufzuwachsen. Dabei legt die Komplexität des Vorgangs nahe, dass multiperspektivisch und -methodisch vorgegangen werden müsste und nicht nur betrachtet werden sollte, „ob“ Kinder in der Lage sind, zweisprachig aufzuwachsen, sondern auch „wie“ sie in die Lage kommen, eine MinderheitenspracheMinderheitensprache zu erwerben.
Zunächst geht es darum, wie die Sprachen Mehrsprachiger in der Forschung genannt werden (2.2.1), sodann wird betrachtet, ab wann eine Person als mehrsprachig bezeichnet wird, d. h., ab wann der Spracherhalt als erfolgreich eingestuft wird (2.2.2). Anschließend werden Studien präsentiert, die sprachbiografische und spracherwerbSpracherwerbsrelevante Aspekte im Rahmen von Spracherhalt untersuchen (2.3).
In der Forschung zum Erwerb von Mehrsprachigkeit wird davon ausgegangen, dass die Erstsprache (L1 für language one/first language) diejenige ist, die ein Kind von Geburt an hört.1 In der Konsequenz wird eine Sprache, die danach erworben wird, Zweitsprache (L2 für language two/second language) genannt.2 Werden zwei Sprachen simultan (gleichzeitig) von Anfang an erworben, nennt man beide L1 (in der Summe also 2L1). Den natürlichen Erwerb zweier (oder mehrerer) Sprachen vor dem dritten Lebensjahr bezeichnet man als doppelten ErstspracherwerbSpracherwerb oder bilingualen SpracherwerbSpracherwerb (2L1, MÜLLER ET AL. 2023: 13–14, ROTHWEILER 2008: 115, TRACY 2015: 300,). Dabei spielt es zunächst keine Rolle, wer mit dem Kleinkind diese Sprachen verwendet. Ein weiteres wesentliches Merkmal ist, dass man im Kindesalter von einem ungesteuerten Erwerb ausgeht (MÜLLER ET AL. 2023: 13), was bedeutet, dass die L1 nicht durch Instruktion vermittelt wird, sondern in einer natürlichen Interaktion. Entsprechend ist es von großer Bedeutung, wie viel das Kind mit der Sprache in Kontakt kommt, d. h. zum einen, wie viel Input von Erwachsenenseite bereitgestellt wird, zum anderen ist es ebenfalls wichtig zu überprüfen, ob das Kind die Sprache ebenfalls verwendet (vgl. 2.2).
Interessant ist die Frage, warum der Begriff Erstsprache, der im Gegensatz zu Muttersprache neutral ist, nicht durchgängig in Forschung und Gesellschaft verwendet wird. Neutral ist er deswegen, weil er nicht betont, wer eine Sprache für das Kind bereitstellt, sondern nur ab wann. Hinzu kommt, dass im Falle von zweisprachig aufwachsenden Kindern nicht von zwei Muttersprachen die Rede sein kann (zumindest nicht, wenn ein Vater dabei ist). Die Bezeichnung Erstsprachen, die beide als erste vom Kind erworben werden, ist demnach objektiv.
Die Auffassung, dass der ErstspracherwerbSpracherwerb immer erfolgreich ist, geht auf den Linguisten CHOMSKY zurück, der von folgender Annahme ausgeht: Der ideale native speaker „knows his language perfectly“ (CHOMSKY 1965: 3). Diese Ansicht ist nicht unumstritten, weil sie im Grunde ausschließt, dass ein Erwerb, der nicht von Geburt an verläuft, erfolgreich sein kann. In jüngster Zeit versucht man, dem Idealbild des native speaker in mehrfacher Hinsicht pragmatisch zu begegnen: 1) Studien bezweifeln, dass im ZweitspracherwerbSpracherwerb keine Erfolge erzielt werden, die Sprecher*innen als native speakers ausweisen (vgl. u. a. SINGLETON &LEŚNIEWSKA 2021); 2) Variationen werden nicht nur zwischen Erst- und ZweitspracherwerbSpracherwerb beobachtet, sondern auch innerhalb der Gruppen von Einsprachigen (vgl. WIESE ET AL. 2022 sowie die vertiefte Diskussion in Kap. 5); und 3) neurolinguistische Studien konnten nachweisen, dass keine strukturellen Unterschiede in der Hirnstruktur zwischen Ein- und Mehrsprachigen vorliegen (vgl. VULCHANOVA ET AL. 2022). So schlug der angewandte Linguist COOK schon vor längerem vor (zuletzt 2022), von multikompetenten Sprecher*innen zu sprechen, die all ihre erworbenenen und erlernten Einzelsysteme in einem größeren, holistischen System (oder Repertoire) gespeichert haben.
Widmen wir uns nun der Bezeichnung der Sprachsysteme, die erworben werden. Als erstes zu nennen ist der Begriff Herkunftssprache (HS). Dieser bedeutet nicht das gleiche wie das englische heritage language. Die Übersetzung „Erbsprache“ hat sich in Deutschland nicht durchgesetzt (GAGARINA 2011: 21), während HS verwendet wird. BOAS & WIESE (2023: 89) nutzen den Begriff Heritage-Sprache. Annahme ist, dass die gemeinte Sprache in der Familie eine wichtige Rolle spielt und von dieser weitergegeben wird. Auch die Bezeichnung Familiensprache suggeriert, dass es sich um die in der Familie weitergegebene Sprache handelt. Die MehrheitsspracheMehrheitssprache im Land, aus dem eine Familie kommt, muss nicht zwingend die Familiensprache sein (LÜTTENBERG 2010: 306, 309). Eine weitere Möglichkeit, die gemeinte Sprache zu benennen, ist MinderheitenspracheMinderheitensprache. Damit wird verdeutlicht, dass die zu erwerbende Sprache nicht von der Mehrheit einer Gruppe/einer Gegend/eines Landes gesprochen wird. Die an sich neutrale Benennung wird vermutlich deswegen im Kontext von allochthonen Sprachen kaum verwendet, weil sie seit vielen Jahren für autochthone Sprachen benutzt wird (vgl. 1.3). EXTRA & YAĞMUR (2008: 139) erweitern den Begriff entsprechend um immigrant minority language, was im Deutschen am besten in migrationsbedingte Minderheitensprache seine Entsprechung findet.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass verschiedene Bezeichnungen verwendet werden, um die Sprache von individuell zweisprachig aufwachsenden oder aufgewachsenen Personen zu benennen, die nicht die Umgebungs- oder MehrheitsspracheMehrheitssprache