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Das Buch beschäftigt sich mit den entscheidenden Weichenstellungen bei der Ausbildung des Sprachheilwesens der letzten 50 Jahre in Deutschland. Dabei werden die wichtigsten Impulse, Etappen und Diskursstränge deutlich, die zur heutigen Konstellation der Sprachheilpädagogik, Logopädie und akademischen Sprachtherapie geführt haben. Am Beispiel ausgewählter Persönlichkeiten werden die wegweisenden Entscheidungen für nachhaltige Veränderungen dargestellt, sodass die zentralen Themen, die den Fachdiskurs der hier beteiligten Disziplinen und Professionen und ihrer Fachverbände bestimmten, erkennbar werden. Das Buch ist aus der persönlichen Perspektive eines wichtigen Protagonisten in Wissenschaft, Ausbildung und im fachlichen Verbandswesen geschrieben.
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Seitenzahl: 144
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Der Autor
Prof. Dr. Manfred Grohnfeldt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber (Ordinarius) für Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Davor war er von 1987 bis 2000 Universitätsprofessor an der Universität zu Köln, seit 1991 zusätzlich Leiter des Forschungsinstituts für Sprachtherapie und Rehabilitation (FSR) sowie von 1977 bis 1987 Professor in Reutlingen/Tübingen. Ebenso war er in Schulen, Beratungsstellen und als Sprachtherapeut tätig. Darüber hinaus nahm er Gastprofessuren im Ausland und Lehraufträge an mehreren Universitäten wahr.
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1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-035252-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-035253-7
epub: ISBN 978-3-17-035254-4
mobi: ISBN 978-3-17-035255-1
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»Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.«Nabokov 1999, 19
Als ich am 3. August 1970 als junger Lehrer im Alter von 21 Jahren meinen Weg zu der Schule an der Marcusallee in Bremen ging, da ahnte ich noch nicht, was vor mir lag – beruflich wie privat. Und eigentlich ist dies auch gut so, da es sonst das Hoffen unterbindet und die Schimäre der Planbarkeit des Lebens entstehen lässt.
Heute, nahezu ein halbes Jahrhundert danach, blicke ich nach beruflichen Stationen in Bremen und Hamburg und über 40 Jahren als Professor in Reutlingen/Tübingen, Köln und München zurück und sehe, wie die Sprachheilpädagogik in Deutschland entstand, sich geradezu sprunghaft entwickelte und sich dann in einer langen Phase der Metamorphose immer mehr veränderte. Ist dies zu beklagen? Ja und nein! Ja, weil jahrzehntelang erworbenes Wissen droht, verloren zu gehen. Nein, weil sprachheilpädagogisches Denken heute in einem ganz anderen Kontext des Sprachheilwesens in Deutschland feste Fundamente hat, die sich zum Wohle der betroffenen Menschen auswirken. Nichts bleibt wie es ist. Veränderung ist unser Leben. Und so ist der Blick zurück im Rückspiegel auch gleichzeitig ein Blick nach vorne, da er uns hilft, uns besser zu verstehen und die Zukunft zu meistern.
Im Folgenden sollen zunächst einmal die Wege und Irrwege der Sprachheilpädagogik in Deutschland der letzten 50 Jahre nachvollzogen werden. Da der Verfasser als Wegbegleiter diese Zeit nahezu in vollem Umfang in seinen beruflichen Stationen und als Entscheidungsträger miterlebt hat, werden neben der sachlichen Darstellung von Fakten auch Hintergründe der persönlichen Begegnung mit wichtigen Zeitgenossen aufgezeigt, um das Geschehen unmittelbar und geradezu kurzweilig nachzuvollziehen.
Wenn man jetzt den Blick nicht zurück, sondern nach vorne wendet, dann stellt man sich wenig überraschend die gleiche Frage: »Sprachheilpädagogik, wo bist du?« Hilft nun die Beschäftigung mit der Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu verstehen und weitreichender in die Zukunft zu blicken? Zunächst einmal nur bedingt, da man zwar manchmal den Eindruck gewinnt, dass alles schon einmal dagewesen ist, letztlich aber nichts in gleicher Art erneut passiert. Doch indirekt zuweilen schon, da man Hintergründe durchschauen gelernt hat. Und zumindest hat man auch dann, wenn man die ›richtige‹, d. h. subjektiv passende Lösung noch nicht kennt, mitunter einen gewissen Vorteil, aus der Erfahrung die ›richtigen‹, im Sinne von weiterführenden Fragen zu stellen.
Viel Freude beim Lesen!
München, im März 2018Manfred Grohnfeldt
Manfred Grohnfeldt im Jahr 1968
Manfred Grohnfeldt im Jahr 2018
Persönliches Vorwort
1 Einleitung
2 Phasen der Entwicklung und Veränderung
2.1 Die Vorgeschichte
2.2 Sprachheilschulen über alles (1968–1994)
2.3 Konfusion und Diversifikation (1994–2011)
2.4 Das Leitbild der Inklusion (ab 2011)
3 Das Verhältnis zu anderen Fachdisziplinen und Berufsgruppen: Auswirkungen auf die Identität
3.1 Interdisziplinarität
3.2 Unterschiedliche Berufsgruppen im sprachtherapeutischen Handlungsfeld
3.3 Internationaler Vergleich
4 Zugrundeliegende Menschenbilder und ihre Auswirkungen: Jahrtausende alt und immer wieder neu
4.1 Was versteht man unter einem Menschenbild?
4.2 Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik
4.3 Unterschiede in der Sprachheilpädagogik und akademischen Sprachtherapie/Logopädie
4.4 Menschenbilder in der Sprachheilpädagogik und Inklusion
5 Weichenstellungen und ihre Hintergründe: Ein Blick hinter die Kulissen.
5.1 Die Bedeutung der Verbände
5.2 Personen und Persönlichkeiten
6 … und die neuen Bundesländer? Gewinner und Verlierer
7 Der Blick über den Rückspiegel nach vorne: Wer weiß, woher er kommt, der entscheidet bewusster, wohin er geht
8 Epilog
Anhang
Kurzbiografie
Lehre und Forschung im Wandel der Zeit
Kommentar zur Publikationsliste
Literatur
Die Zeit seit der Proklamation der »Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik« im Jahr 1968 auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e. V. in München bis heute dokumentiert die wechselvolle Geschichte dieser Fachdisziplin mit allen ihren Höhen und Tiefen. Sie lässt sich in unterschiedliche Phasen des Aufstiegs, der Konsolidierung und Konfusion, Diversifikation und Entstehung anderer Fachdisziplinen wie die der Logopädie und akademischen Sprachtherapie mit den dadurch bedingten Schwerpunktverlagerungen in einem sich verändernden System einteilen. Aktuell erleben die Fachdisziplinen mit dem Leitbild der Inklusion ganz neue Anforderungen.
Gleichzeitig zeigt sich, wie eng die Entwicklung der Sprachheilpädagogik – damals wie heute – mit den sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammenhängt. Im Zusammenhang damit stehen unterschiedliche Menschenbilder, die einen nachhaltigen, häufig unbewussten Einfluss auf das Selbstverständnis der Fachdisziplinen und der handelnden Personen nehmen. Ebenso von Bedeutung ist das Verhältnis zu anderen Fachdisziplinen und Berufsgruppen, das sich nicht nur im Hinblick auf die theoretische Standortbestimmung auswirkt, sondern auch von praktischem Interesse ist. Ein Vergleich mit der Situation im Ausland zeigt, dass in Deutschland eine Konstellation des Sprachheilwesens entstanden ist, die weltweit einzigartig ist. Zuweilen hilft es, sich mit ›den Augen der Anderen‹ zu sehen, um sich selbst besser verstehen zu können.
Weiterhin wird deutlich, welchen nachhaltigen Einfluss die Verbände sowie bestimmte Personen und Persönlichkeiten hatten, die durch ihr Handeln und weitreichende Entscheidungen geradezu Weichenstellungen der weiteren Entwicklung ausgelöst haben. Dies ist auch heute der Fall. Der passende Zeitgeist, ein günstiges gesellschaftliches Umfeld und Personen, die die Gunst der Stunde nutzen, müssen für dauerhafte Veränderungen des sprachheilpädagogischen Selbstverständnisses zusammenkommen. In besonderem Maße erkennt man die Bedeutung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an der Situation in den neuen Bundesländern, die heute im Vergleich zu dem einheitlichen System in der ehemaligen DDR in den einzelnen Regionen mit völlig unterschiedlichen Bedingungen konfrontiert sind.
Dies alles erweist sich als übergreifendes Prinzip bei der Weiterentwicklung einer Fachdisziplin. So haben Probleme und Anforderungen der Gegenwart ihre Wurzeln in zuweilen lang zurückliegenden und vergessenen Weichenstellungen in der Vergangenheit. Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Beschäftigung mit historischen Themen kann dabei helfen, bestimmte Strukturen zu erkennen, dadurch die aktuelle Situation besser zu verstehen und in der Zukunft mit allen ihren Unwägbarkeiten bewusster handeln zu können. Aktuell gilt dies in besonderem Maße für das Leitbild der Inklusion, durch die die Sprachheilpädagogik vor neue Anforderungen gestellt wird, wobei die Umsetzung an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden ist.
So besteht das übergreifende Ziel des Buches darin,
• zunächst die letzten 50 Jahre der Geschichte der Sprachheilpädagogik in ihren Stationen, Zusammenhängen und Querverbindungen erlebbar zu machen,
• die heutige Situation in ihrer historischen Bedingtheit zu verstehen und
• vor diesem Hintergrund gezielte Möglichkeiten der aktiven Weiterentwicklung aufzuzeigen.
Letztlich gilt es, nicht nur der nachwachsenden Generation Mut für bewusste Entscheidungen zu machen.
Die Sprachheilpädagogik in Deutschland kann auf eine über 100-jährige Geschichte zurückblicken. Als Ahnherr gilt Albert Gutzmann (1837–1910), ein Berliner Gehörlosenlehrer. Er beschäftigte sich neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit mit dem Stottern und schrieb das damals bahnbrechende Buch »Das Stottern und seine gründliche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren« (Gutzmann 1879). Zu der Zeit sank im Internat der Gehörlosenschule in Berlin die Zahl der gehörlosen und schwerhörigen Kinder, so dass Plätze für sprachbehinderte Kinder frei waren und mit ihnen besetzt wurden – eine Entscheidung von existentieller Bedeutung.
Zuweilen ist es geradezu eine Verquickung von nicht planbaren und unvorhersehbaren Ereignissen, die zu wegweisenden Weichenstellungen führt, wobei ihre langfristige Bedeutung in dem Augenblick noch nicht erkannt wird. Wenn günstige Rahmenbedingungen und das tatkräftige ›Zupacken‹ von Einzelnen zusammenkommen, können weitreichende Konsequenzen entstehen – eine Entscheidungskonstellation, die sich im weiteren Verlauf der Sprachheilpädagogik immer wieder zeigt.
Mit der Aufnahme von sprachbehinderten Kindern war der Weg in eine schulische Sprachheilpädagogik vorgezeichnet. Es folgte 1883 die Einrichtung von Sprachheilkursen, 1901 die erste Sprachheilklasse in Barmen und 1910 die erste Sprachheilschule in Halle (Saale). Langsam, noch sehr verhalten und auf keinen Fall flächendeckend begann sich ein System von Sprachheilschulen in Deutschland auszubreiten.
Neben dieser pädagogischen Richtung waren es Vertreter der Medizin, die sich zu der Zeit mit sprachgestörten Menschen beschäftigten. Eine besondere Bedeutung hatten dabei der Mediziner Hermann Gutzmann sen. (1865–1922), der Sohn von Albert Gutzmann, sowie der Wiener Spracharzt Emil Fröschels (1885–1972). Die anfänglich komplementäre Ergänzung von Medizin und Pädagogik entwickelte sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik zu eigenständigen Linien bei einem zunehmenden Führungsanspruch der Medizin. Natürlich hing dies von dem Auftreten bestimmter Personen ab. Man denke an die klare Positionierung der Medizin im Sinne einer Vormachtstellung durch Fröschels gegenüber dem angesehenen Hamburger Sprachheillehrer Karl Hansen auf der Tagung »Das sprachkranke Kind« 1929 in Halle (Saale).
Es war auch die Zeit der Verbandsgründungen in Deutschland. Im pädagogischen Bereich erfolgte 1927 die Gründung der »Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik in Deutschland« (AfS) durch Hamburger Sprachheillehrer. Durch ihre Initiative wurde 1928 der erste Studiengang für Sprachheilpädagogik an der Universität Hamburg eingeführt. Das war für die Etablierung des Faches Sprachheilpädagogik von wesentlicher Bedeutung. Ein Detail am Rande mag aber die Stellung und das Selbstverständnis verdeutlichen: Vorsitzender des Prüfungsausschusses war ein Spracharzt.
Die Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) war für die Sprachheilpädagogik weniger eine Stagnation, wohl aber eine Isolation vom Ausland. Die »Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik in Deutschland« (AfS) trat am 6. Juni 1933 in den »Nationalsozialistischen Lehrerbund« (N.S.L.B.) ein. Dies erfolgte auf Beschluss des Vorstandes als aktiver Beitritt und nicht im Sinne einer Auflösung, wie dies lange Zeit behauptet wurde. Weiterhin wurden Sprachheilschulen gegründet, wobei eine vehemente Abgrenzung von der damaligen Hilfsschule erfolgte. Dieses Selbstverständnis reichte bis in die 1990er Jahre, indem nach außen signalisiert wurde, dass in Sprachheilschulen ausschließlich Kinder aufgenommen werden sollten, die ›nur‹ sprachbehindert und nicht hör- oder intelligenzgeschädigt sind. Insgesamt ist zu konstatieren, dass durch die Abkoppelung von der Entwicklung im Ausland nachhaltige Spätfolgen auftraten, die letztlich Grundlage für das heutige, weltweit einzigartige Sprachheilwesen in Deutschland sind.
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Erfordernisse einer Sicherung des Lebensnotwendigen im Vordergrund. Durch den Zusammenschluss der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone erfolgte die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) am 23. Mai 1949. Auf die Weiterentwicklung in der BRD soll im Folgenden eingegangen werden. Die Situation in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die sich am 7. Oktober aus der sowjetischen Besatzungszone entwickelte, ist bei Becker & Braun (2000) ausführlich dargestellt.
Für die weitere Entwicklung des Sprachheilwesens in der BRD spielte die erneute Gründung der »Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik in Deutschland« (AfS) am 4. März 1953 in Hamburg eine entscheidende Rolle. Wiederum ging die Initiative von Hamburger Sprachheillehrern aus, wobei Johannes Wulff (1902–1981) eine entscheidende Rolle spielte. Von ihm gingen wesentliche Impulse aus, die zur Gründung weiterer Landesgruppen in den übrigen Bundesländern der BRD führten. Er war es, der sich in einer heute wenig bekannten Kontroverse mit dem Direktor Steinig aus Westfalen-Lippe durchsetzte. Während Steinig für ein Nebeneinander von Sprachheilschulen und fürsorgerischer Pflichtaufgabe der Fürsorgeverbände plädierte (Steinig 1957), forderte Wulff ausschließlich schulische Organisationsformen: »Der weitere Auf- und Ausbau wird nach Hamburger Muster betrieben« (Wulff 1956, 59).
Nachträglich gesehen stand das gesamte Sprachheilwesen in Deutschland mit dem Primat der Sprachheilschulen auf der Kippe. Die spekulative Frage »Was wäre geschehen, wenn …?« (Demandt 1984) gewinnt hier eine aktuelle Bedeutung. Sie zeigt uns, dass schon früh in der Geschichte der Sprachheilpädagogik Machtkämpfe eine wesentliche Rolle gespielt haben, die die Standortbestimmung des Faches entscheidend beeinflusst haben.
In den 1960er Jahren stabilisierte sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des »Wirtschaftswunders« in der BRD die Situation des Sprachheilwesens in Deutschland. Das Fach gewann an Selbstbewusstsein. Fragen der wissenschaftstheoretischen Verortung der Sprachheilpädagogik im pädagogischen Sektor bei einer Abgrenzung zur Medizin gewannen an Bedeutung, aber auch rein praktische Erwägungen für die Begründung von Sprachheilschulen als strategische Aufgabe dürften eine Rolle gespielt haben. Die Zeit war reif, die Protagonisten standen bereit.
Vom 10.–12. Oktober 1968 fand in München im Hofbräuhaus die VIII. Arbeitstagung der »Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik in Deutschland« (AfS) statt. Es handelte sich um eine Tagung von wegweisender Bedeutung. Von den 780 Mitgliedern der AfS hatten sich nahezu 500 versammelt, also ca. 65% aller Mitglieder. Man kann von einem sehr hohen Identitätszusammenhalt der damaligen Mitglieder ausgehen.
Auf der Delegiertenversammlung wurde zunächst die Umbenennung des Verbandes in »Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e. V.« (dgs) beschlossen. Durch die Formulierung »Deutsche Gesellschaft« statt »Arbeitsgemeinschaft« sollte die Bedeutung des Verbandes nach außen signalisiert werden. Den Festvortrag zum Thema »Die Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik« hielt Prof. Dr. Werner Orthmann. Er stellte die Bedeutung der Pädagogik als Grundlagen- und Kernwissenschaft heraus und proklamierte die Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik als sonderpädagogische Disziplin bei einer erklärten Abgrenzung zur Oberhoheit der Medizin (Orthmann 1969). Der Vortrag war wissenschaftlich nicht unumstritten. Aber er kam genau zur rechten Zeit und wurde wegweisend für die spätere Sprachheilpädagogik.
Die Epoche der 1968er-Generation mit ihren Studentendemonstrationen hat in der Bundesrepublik Deutschland einer ganzen Generation ihren Namen gegeben. Es wäre vermessen, die überwiegend ehrwürdigen, nahezu alle über 40-jährigen Standesvertreter der Sprachheilpädagogik als Revolutionäre anzusehen. Wahrscheinlich war das Gegenteil der Fall. Ihre Entscheidungen fielen jedoch in eine Aufbruchzeit, die sich gegen starre Strukturen der Vergangenheit wendete. Das begünstigte Veränderungen, die vorher unter anderen Rahmenbedingungen nicht möglich waren.
Vor allem war es eine Zeit, in der man im Gefolge des Sputnikschocks und der aufrüttelnden Veröffentlichung »Die deutsche Bildungskatastrophe« (Picht 1964) bereit war, sehr viel mehr als bisher in die Bildung zu investieren. So wurde in der Regierungszeit von Bundeskanzler Willi Brandt (1969–1975) der Anteil für Bildungsausgaben innerhalb des Bruttosozialprodukts mehr als verdoppelt. Letztlich war das eine unumgängliche Voraussetzung für den zu dieser Zeit einsetzenden Ausbau an Sprachheilschulen. Die Idee alleine reicht nicht. Die finanziellen Mittel müssen bereitgestellt werden.
Kurz gesagt: Die Zeit für Veränderungen im Kultusbereich war günstig!
Neben den günstigen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen war es das Zusammenspiel mehrerer Personen, die mit dem Rückhalt des Verbandes agierten. Vorbereitender Initiator war zunächst der o. g. Johannes Wulff, der als Vorsitzender des Verbandes AfS von 1958 bis 1968 mit viel organisatorischem Geschick tätig war. Werner Orthmann als Hochschullehrer und Mitglied des Verbandes war für die wissenschaftliche Fundierung zuständig. Hinzu kam der neue Vorsitzende Joachim Wiechmann, der von 1968 bis 1976 die Geschicke des Verbandes leitete.
Joachim Wiechmann war Oberschulrat in Hamburg. Er war damit gleichzeitig Mitglied der »Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland« (KMK). Es handelte sich hier um ein Gremien, das bereits kurz nach der Gründung der BRD im Oktober 1949 geschaffen wurde, um bei der föderalen Struktur und Kulturhoheit der elf Bundesländer eine Vergleichbarkeit für den Bereich der Schulorganisation zu gewährleisten. Die Beschlüsse der KMK haben keine staatsrechtliche Verbindlichkeit, sind aber als Leitlinie für die Entwicklung und Umsetzung in den einzelnen Bundesländern wegweisend.
Zweifelsfrei hat sich Joachim Wiechmann in seiner Funktion als Oberschulrat und Mitglied der KMK entscheidend dafür eingesetzt, dass die Sprachheilpädagogik als eigenständige sonderpädagogische Disziplin anerkannt wurde und an den Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens vom 16. März 1972 partizipierte.
Die KMK-Empfehlungen vom 16. März 1972 konkurrierten damals mit der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates. Während sich diese für eine Integration sonderpädagogischer Maßnahmen in das Regelschulsystem einsetzte, plädierten die KMK-Empfehlungen für einen Ausbau an Sonderschulen in den einzelnen sonderpädagogischen Sparten. Die KMK-Empfehlungen konnten sich auf Grund der CDU-regierten Bundesländer im Süden Deutschlands durchsetzen. Eine nachhaltige Entscheidung von wegweisender Bedeutung für viele Jahre.
Auf der Grundlage der KMK-Empfehlungen vom 16. März 1972 erfolgte der größte Ausbau des Sonderschulwesens in Deutschland. In allen Bundesländern Deutschlands wurden neue Sprachheilschulen in einheitlicher Konzeption gegründet. Allein in Baden-Württemberg stieg die Anzahl der Sprachheilschulen bis zum Jahr 1990 von zwei auf 40, in Nordrhein-Westfalen von fünf auf 64. Auf diese Weise vervielfachte sich übergreifend die Anzahl der Sprachheilschulen in Deutschland innerhalb von 15 Jahren (Abb. 1), so dass Dannenbauer (2009, 42) geradezu von einem »Goldrausch« sprach.
Abb. 1: Anzahl der Sprachheilschulen in der BRD von 1960 bis 1990 (modifiziert nach Grohnfeldt 2012a, 28)