Sprachwandel - Bedeutungswandel - Sascha Bechmann - E-Book

Sprachwandel - Bedeutungswandel E-Book

Sascha Bechmann

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  • Herausgeber: UTB GmbH
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Eine Einführung für Studienanfänger zum Sprach- und Bedeutungswandel. Der Band erläutert die Grundbegriffe und -prinzipien des Sprach- und Bedeutungswandels und vermittelt wissenschaftlich fundiertes Grundlagenwissen zum Thema. Er eignet sich sehr gut als Basis für ein einsemestriges Grundseminar. Das Buch bietet Studienanfängern eine verständlich geschriebene Einführung mit "Warming-up-Fragen", Leitsätzen und Übungsaufgaben.

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Seitenzahl: 532

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Sascha Bechmann

Sprachwandel – Bedeutungswandel

Eine Einführung

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8463-4536-8

Inhalt

VorwortHinweise zur LektüreI Sprachwandel1 Was ist Sprache — und woher kommt sie?1.1 Brauchen wir Sprache und wenn ja, wozu?1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? — Eine sprachhistorische Spurensuche1.3 Weiterführende und vertiefende Literatur2 Was ist das Wesen der Sprache?2.1 Welche Sprachauffassungen gibt es?2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige?2.3 Ist Sprache das Ergebnis menschlicher Planung?2.4 Weiterführende und vertiefende Literatur3 Was ist Wandel?3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt?3.2 Was ist Sprachwandel?3.3 Weiterführende und vertiefende Literatur4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels?4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen?4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze?4.3 Weiterführende und vertiefende Literatur5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels?5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen?5.2 Weiterführende und vertiefende Literatur6 Was sind die Folgen des Sprachwandels?6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute6.2 Führt Sprachwandel zum Sprachverfall?6.3 Kann man Sprachwandel vorhersagen oder aufhalten?6.4 Weiterführende und vertiefende Literatur7 Noch Fragen? — Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben7.2 Arbeitshilfe für Dozierende I: Fragenpool für Modulprüfungen7.3 Arbeitshilfe für Dozierende II: SeminararbeitsthemenII Bedeutungswandel8 Was ist die Bedeutung eines Wortes?8.1 Was ist das Besondere am Bedeutungswandel?8.2 Ist die Bedeutung eines Wortes ein Ding in der Welt?8.3 Ist die Bedeutung eines Wortes eine Vorstellung?8.4 Ist die Bedeutung eines Wortes eine (Gebrauchs-)Regel?8.5 Weiterführende und vertiefende Literatur9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels?9.1 Was sind Gebrauchsregeln?9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln?9.3 Weiterführende und vertiefende Literatur10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels?10.1 Bedeutungswandel und technischer Fortschritt — beste Freunde oder nur Bekannte?10.2 Mega geil oder erschreckend scharf? — die Mechanismen des Bedeutungswandels10.3 Weiterführende und vertiefende Literatur11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene?11.1 Vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan — werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel?11.2 Von Asterix zu Obelix — verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel?11.3 Ist Abstrahierung ein universeller Effekt des Bedeutungswandels?11.4 Weiterführende und vertiefende Literatur12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene?12.1 Führt Bedeutungswandel zu Mehrdeutigkeit?12.2 Verändert Bedeutungswandel das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten?12.3 Verändert Bedeutungswandel die Grammatik einer Sprache?12.4 Weiterführende und vertiefende Literatur13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise?13.1 Frame-Semantik — was sind Frames und wie bestimmen sie die Bedeutung eines Wortes?13.2 Wie verändern sich Frames?13.3 Lassen sich die Frame-Semantik und die Gebrauchstheorie der Bedeutung miteinander verknüpfen?13.4 Weiterführende und vertiefende Literatur14 Noch Fragen? — Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben14.2 Arbeitshilfe für Dozierende III: Fragenpool für Modulprüfungen14.3 Arbeitshilfe für Dozierende IV: SeminararbeitsthemenAbbildungsverzeichnisTabellenverzeichnisLiteraturverzeichnis(Grundlagen-)Literatur zur VertiefungGlossarSachregister

Vorwort

Nichts ist so beständig wie der Wandel.

HERAKLIT VON EPHESOS (etwa 520–460 v. Chr.)

Der gegenwärtige Zustand unserer Sprache gibt Anlass zu vielfältigen Betrachtungen, bisweilen ist er auch Auslöser solcher Ängste und Sorgen, die deutsche Sprache könne an Schönheit und Wohlklang verlieren. Mehr noch: Manche Menschen glauben, die Sprache werde durch uns Sprecher dem Verfall anheimgegeben, weil wir schändlich mit ihr umgingen. Nun, stimmt das? Verfällt unsere Sprache mehr und mehr zu etwas, was KomplexitätKomplexität und Schärfe verloren hat und in Zukunft nur noch basale Bruchstücke von alter sprachlicher Eleganz und Würde aufweist?

Sprache ist nicht statisch, sie ist dynamisch – ohne dass sie selbst aber in irgendeiner Weise lebendig wäre. Hier irren die Sprachpuristen, denn sie gehen von einem organischen Bild der Sprache aus, so wie es im 19. Jahrhundert populär wurde. Begriffe wie „SprachverfallSprachverfall“ oder auch „Wortschöpfung“ zeugen noch heute davon. „Lebendig“ ist eine Sprache im Grunde nur so lange, wie die Sprecher einer Sprache lebendig sind. Das Leben, also das Werden, Wachsen, Schrumpfen und Vergehen einer Sprache, ist stets gekoppelt an das Sein der Sprecher. So verwundert es kaum, dass auch der Wandel irgendwie an die Sprecher gebunden sein muss. Aber wie? Auf diese Frage sucht und findet diese Einführung Antworten.

Wenn Sie wissen wollen, wie das Sein und das Werden der Sprachen funktionieren, dann lesen Sie dieses Buch. Sie werden sehen, dass es eine lohnenswerte Reise ist durch die Welten der Sprachwissenschaft, bei der wir immer auch andere Wissenschaften streifen werden. So ist Sprachwandel durchaus auch ein Phänomen, das z.B. Soziologen ebenso interessiert wie Politologen und Kulturwissenschaftler, denn Sprachwandel findet auf allen Ebenen der Sprache und in allen Wirkungsbereichen statt. Kurzum, sprachliche Veränderungen lassen sich überall finden: im Internet, in sozialen Netzwerken, in der Literatur und in den Fachsprachen. Das Wesen des Wandels ist, dass er stetig und unaufhaltsam ist. Und es ist äußerst spannend, sich diesem Wesen Schritt für Schritt zu nähern. Dieses Buch soll Ihnen in Ihrem Studium Fahrplan und Kompass durch die oft undurchsichtigen (und wissenschaftsgeschichtlich alten) Fahrwasser der Sprachwandelforschung und der Historischen Linguistik sein.

Dieses Buch betrachtet Sprache als ein veränderliches System und es will zeigen, auf welche Weise Sprachen sich verändern und auf welchen Ebenen Wandel feststellbar ist. Aber: Dieses Buch ist keine Sprachgeschichte (des Deutschen oder einer anderen Sprache), sondern eine thematische Hinführung aus einer handlungstheoretischen Sichtweise.

Mit diesem Studienbuch wird eine Lücke geschlossen, die bislang in der Einführungsliteratur zu beklagen ist: Gegenwärtig existiert keine didaktisch auf die Erfordernisse der gestuften Studiengänge ausgerichtete Einführung in dieses klassische Themenfeld. Dies ist umso erstaunlicher, als dass Fragestellungen der historischen Linguistik noch immer zu den grundlegenden WissensbeständenWissensbestände in den linguistisch ausgerichteten Fächern zählen und in den Curricula fest verankert sind. Diachrone Betrachtungen von Sprache gehören ebenso wie neuere diskursanalytische Fragen auch heute noch zum Kernbestand der linguistischen Schule an allen deutschen Universitäten. Dabei stehen in der modernen Sprachwissenschaft nicht mehr in erster Linie die Prinzipien oder sprachlich universalen Gesetze des Sprachwandels im Fokus, dafür umso mehr Ansätze, die der neueren Pragmalinguistik zugeordnet werden können.

Zu den Hauptproblemen der Lehre in diesem Bereich zählt die Tatsache, dass die bislang zu diesem Thema verfügbare Literatur äußerst heterogen – und in vielen Fällen für das Selbststudium ungeeignet – ist. So stehen Studierende wie auch Lehrende vor dem Problem, Informationen aus unterschiedlichen Lehr- und Fachbüchern extrahieren und bündeln zu müssen. Die beiden Themengebiete Sprach- und Bedeutungswandel werden in zahlreichen sprachhistorischen Einführungen zwar aufgegriffen, geraten dort aber ins Hintertreffen; die Ausführungen sind oftmals verkürzt, was das Verständnis komplexer Sachverhalte erschwert. Auf der anderen Seite gibt es viele Fachbücher ohne didaktische Ausrichtung, die entweder auf einer hohen theoretischen Abstraktionsebene operieren oder das Thema in einer für Studienanfänger schwer überschaubaren Dichte und Breite behandeln. Sowohl theoretisch abstrakte als auch thematisch dichte Lehrbücher, wie etwa die hervorragende Sprachgeschichte des Deutschen von WEGERA und WALDENBERGER oder diejenige von NÜBLING et al., sind für das Bachelorstudium nur bedingt geeignet. Dasselbe lässt sich über diejenigen Bücher sagen, die lediglich Teilaspekte thematisieren. Auch sie taugen nur eingeschränkt für die Wissensvermittlung im Grundstudium.

Aus diesen Gründen ist dieses Studienbuch als leicht lesbare Einführung konzipiert, die sich sowohl für das Selbststudium eignet als auch als Grundlage für ein einsemestriges Grundseminar taugt.

Dabei wurde eine inhaltliche Zweiteilung des Buches umgesetzt, die sich bereits im Titel widerspiegelt: Die Bereiche Sprachwandel und Bedeutungswandel werden getrennt betrachtet, auch wenn der Bedeutungswandel als Spezialfall des Sprachwandels zu klassifizieren ist. Zum einen soll damit dem Umstand Rechnung getragen werden, dass in der akademischen Lehre das Thema Bedeutungswandel häufig isoliert betrachtet wird; zahlreiche Seminare befassen sich ausschließlich mit historisch-semantischen Fragestellungen. Zum anderen ist diese Zweiteilung sinnvoll, weil es sehr spezielle Erklärungsmodelle (insbesondere moderne gebrauchstheoretische Ansätze) gibt, die dem Bedeutungswandel einen eigenen Status zuweisen. Zwar kann der Bedeutungswandel im Speziellen nicht isoliert von einer Theorie sprachlichen Wandels im Allgemeinen gedacht werden, so dass die Kenntnis solcher Theorien für das Verständnis des Bedeutungswandels notwendig ist. Aufgrund der KomplexitätKomplexität semantischer Veränderungen und der dahinter stehenden Prozesse ist sie aber allein nicht hinreichend.

Zum Schluss erlauben Sie mir ein paar persönliche Worte. Mein großer Dank gilt Anke Peters aus der Germanistischen Mediävistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, deren geschultes Auge mir geholfen hat, das Manuskript zu diesem Buch möglichst frei von Tippfehlern an den Verlag geben zu können. Manche Sätze in diesem Buch sind erst durch sie in eine lesbare Form geschliffen worden. Zudem war mir ihr sprachhistorisches Wissen an vielen Stellen eine Hilfe.

Dieses Buch ist zudem der Ausdruck meiner eigenen wissenschaftlichen Prägung, für die ich meinem Lehrer und Doktorvater Rudi Keller dankbar bin. Er war es, der im Studium mein Interesse für linguistische Fragestellungen geweckt und später stets gefördert hat. Besonders seine Theorie zum allgemeinen Sprachwandel und seine Gedanken zum Bedeutungswandel bei deutschen Adjektiven haben mich früh in ihren Bann gezogen. Wenn man mich heute fragt, wie und warum ich Sprachwissenschaftler geworden bin, dann ist die Antwort leicht: Weil ich mich irgendwann dafür zu interessieren begann, wie das alles funktioniert. Das mit dem Wandel der Sprachen. Heute weiß ich: Sprache ist Gewordenes aus Gewesenem und so wird es auch in Zukunft sein. Als Sprecher befinden wir uns heute auf einer schmalen Entwicklungsstufe unserer Sprache. Wir stehen dabei in einer direkten Traditionslinie mit unseren Vorfahren. Und wir formen die Sprache durch unser Handeln zu dem, was sie einmal sein wird. Das finde ich unheimlich spannend. Sie auch? Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre.

 

Düsseldorf, im August 2016    Sascha Bechmann

Hinweise zur Lektüre

Bevor wir uns dem eigentlichen Kern des Sprach- und Bedeutungswandels zuwenden können, möchte ich noch einige Informationen zur Lektüre und zum richtigen Umgang mit diesem Buch voranschicken.

Dieses Studienbuch versteht sich als Arbeitsbuch und ist in erster Linie für das Selbststudium geschrieben. Ich habe versucht, Komplexes einfach darzustellen. Das bleibt nicht ohne Folgen. Wissenschaftliche Unschärfe hier und da mögen mir meine Fachkolleginnen und -kollegen nachsehen. Denn: Für diese Leserschaft ist dieses Buch nicht geschrieben worden. Der Anspruch an dieses Buch lautet: Es kann weitestgehend ohne Vorwissen gelesen werden. Dass eine diesem Anspruch verpflichtete Einführung nicht möglich ist, ohne das ein oder andere zu verkürzen und zu simplifizieren, ist klar – und eher eine Stärke als eine Schwäche dieses Buches.

Selbstgesteuertes Lernen soll dazu dienen, einen möglichst nachhaltigen Lernerfolg zu erzielen. Die Leser werden dazu befähigt, sich die wesentlichen Inhalte selbstständig anzueignen. Dazu werden die Inhalte anschaulich und unter weitgehendem Verzicht auf (für das Verständnis unnötige) Fachterminologie vermittelt. Die hohe Kunst der fachsprachlichen Reduktion gerät bei basalen WissensbeständenWissensbestände unseres Faches aber an ihre Grenzen. Ich empfehle daher, vor der Lektüre eine Einführungsveranstaltung in die Sprachwissenschaft zu besuchen.

Als begleitendes Nachschlagewerk zu dieser Einführung empfehle ich Ihnen das „Lexikon der Sprachwissenschaft“ von HADUMOD BUSSMANN. Darin lassen sich alle nicht vermeidbaren Fachwörter nachlesen – es ist zudem ein unabdingbarer Begleiter durch Ihr sprachwissenschaftliches Studium. Dieses Lexikon ist nicht nur deshalb von unschätzbarem Wert, weil darin die wesentlichen Begriffe der Sprachwissenschaft präzise erklärt werden, sondern auch, weil sich eine reichhaltige Fülle an Literaturempfehlungen zu jedem Einzelaspekt finden lässt. Alternativ kann ich Ihnen das hervorragende linguistische Wörterbuch von THEODOR LEWANDOWSKI aus dem Jahr 1994 ans Herz legen, das aber leider nur noch antiquarisch zu beziehen ist. Wesentliche Begriffe, die heute zum Wissensbestand der Sprachwissenschaft zählen, fehlen zwar darin, dennoch ist es ein wertvolles Hilfsmittel.

Die vorliegende Einführung soll Ihnen als Kompass und als Richtschnur dienen, damit Sie erste (eigene) Wege durch das spannende und weite Feld des Sprach- und Bedeutungswandels finden können. Dafür benötigt es eine sinnvolle Struktur. Wie ein roter Faden ziehen sich deshalb einige Aspekte durch dieses Buch, die helfen sollen, sich zurecht zu finden. Dies sind im Wesentlichen folgende Elemente und Strukturen:

Wichtige Grundbegriffe sind im Text durch Fettdruck hervorgehoben. Die linguistischen Theorien und Modelle in diesem Buch sind an der konkreten sprachlichen WirklichkeitWirklichkeitsprachliche ausgerichtet. Anschauliche Beispielsätze und historisches Datenmaterial werden das Verständnis erleichtern. Zudem werden wissenschaftstheoretische Kernthesen in diesem Buch optisch hervorgehoben. An manchen Stellen werden Ihnen zudem bedeutende Vertreter einer Theorie oder eines Faches in einem kurzen Who is who vorgestellt.

Kernthesen und präzise Merksätze, die das Verständnis erleichtern, werden durch Textboxen optisch hervorgehoben. Die Boxen sind durch dieses SymbolSymbol markiert: .

Alle Kapitel beginnen mit dem Abschnitt „Ziele und Warm-up“. Hier finden Sie eine kurze Erläuterung des Gegenstands des jeweiligen Kapitels sowie die avisierten Lernziele. Unter dem Aspekt Warm-up sollen intuitiv zu beantwortende Impulsfragen zum ersten Nachdenken über die dann folgende Thematik anregen. Sie erkennen das Warm-up an diesem SymbolSymbol: .

Hinweise zu weiterführender Literatur zum Inhalt des vorangestellten Lehrstoffs runden jedes Kapitel ab. Dabei handelt es sich um eine Auswahl, die weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Exklusivität erhebt. In aller Regel werden hier nur diejenigen Werke empfohlen, die in einem unmittelbaren Bezug zu den Inhalten des Kapitels stehen. Erkennbar sind diese Literaturhinweise an diesem SymbolSymbol: .

Beiden Teilen dieses Buchs ist mit Kapitel 7 und Kapitel 14 jeweils ein eigener Wiederholungs- und Übungsteil gewidmet (Repetitorium). Dort finden Sie kurze und prägnante Zusammenfassungen der Kapitel. Sie können die Repetitorien im Ganzen durcharbeiten – oder jeweils im Anschluss an die einzelnen Kapitel. Sie selbst bestimmen, wann und wie Sie Ihr Wissen festigen. Übungsaufgaben dienen der Selbstüberprüfung des Wissens und lassen sich ohne weitere Hilfsmittel in angemessener Zeit beantworten. Auf Lösungen kann und soll bewusst verzichtet werden, da Standardlösungen und -antworten nicht gewünscht sind. Vielmehr sollen die Fragen der Beschäftigung mit dem vermittelten Stoff dienen und sind so konzipiert, dass sie eindeutig zu beantworten sind. Sie erkennen die Übungsaufgaben an diesem SymbolSymbol:

Kapitel 7 und 14 bieten zudem Arbeitshilfen für Dozierende wie mögliche Klausurfragen zur zielgerichteten Überprüfung der Lernziele oder Vorschläge für Hausarbeitsthemen. Hinweise für Dozierende finden sich auch an anderen Stellen des Buchs und sollen Anregungen für die akademische Lehre liefern, sofern diese Einführung in der universitären Lehre verwendet wird.

Dem Textteil ist ein ausführliches Literaturverzeichnis angefügt. Es bildet die Beiträge zum Forschungsfeld in weiten Teilen ab, erhebt aber ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zusätzlich gibt es ein hilfreiches Verzeichnis mit Grundlagenliteratur zum Sprachwandel.

Das Studienbuch enthält im Anhang ein Sachwortverzeichnis, das den Zugriff auf wichtige Begriffe vereinfacht. Ein Glossar mit wichtigen linguistischen Grundbegriffen rundet den Band ab.

Hinweis für Dozierende:

Die Gliederung des Studienbuches in 14 Kapitel ermöglicht es Lehrenden, das Buch zur Grundlage eines einsemestrigen Seminars zu machen. Dabei kann jedes Kapitel Inhalt einer Sitzung sein und z.B. durch historisches Datenmaterial, Übungstexte, Originalarbeiten o.Ä. ergänzt werden. Hier empfehlen sich beispielsweise das umfangreiche Textkorpus zum Frühneuhochdeutschen (Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus; online verfügbar unter www.korpora.org/fnhd) oder das Korpus zur mittelhochdeutschen Sprach- und Literaturgeschichte der Universität Trier (Digitales mittelhochdeutsches Textarchiv; online verfügbar unter http://mhgta.uni-trier.de).

Die Inhalte der einzelnen Kapitel können im Hochschulunterricht in teilnehmerorientierten Sozialformen (Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Partnerarbeit, offene Moderation) gewinnbringend und aktivierend erarbeitet werden. Da Kapitel 7 und 14 der Wiederholung dienen, wäre es anzudenken, die Sitzungen 7 und 14 für Zwischen- und Abschlussprüfungen zu nutzen.

Der besseren Lesbarkeit halber werden Personenbezeichnungen in diesem Buch in der maskulinen Form genannt. Verstehen Sie dies bitte einzig unter dem Aspekt der sprachlichen ÖkonomieÖkonomie – die im Übrigen eine wichtige Bedingung für Sprachwandel ist. Auf einer Waage, die zwischen sprachlicher political correctness einerseits und guter Lesbarkeit von Texten andererseits pendelt, bevorzuge ich stets den Ausschlag zugunsten der Prägnanz.

ISprachwandel

Sprachen sind bei Weitem das wichtigste Vehikel

kultureller Entfaltung und zugleich das wichtigste Element

nationaler, übrigens auch persönlicher, Identität.

Helmut Schmidt (1918–2015)

1Was ist Sprache — und woher kommt sie?

Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiss nichts von seiner eigenen.

JOHANN WOLFGANG GOETHE (1749–1832)

Ziele und Warm-up

Der Begriff Sprachwandel begegnet uns nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im Alltag (z.B. in den Medien). Besonders im Zusammenhang mit Stil und „gutem Ausdruck“ wird oft intensiv diskutiert, in welchem Zustand sich unsere Sprache befindet. Sprachwandel wird immer dann zum Thema, wenn Veränderungen auffällig werden. Solche Veränderungen werden gerne als Fehler oder zumindest als Abweichungen von der sprachlichen Norm interpretiert. Vor allem im Vergleich zu früheren Sprachzuständen werden diese Abweichungen als Wandel offensichtlich. Aber was ist das eigentlich, was sich da wandelt?

Ebenso, wie man nur verstehen kann, was ein Regenschirm oder eine Taschenuhr ist, wenn man weiß, was Regen, Schirm, Tasche und Uhr sind, kann man nur begreifen, was Sprachwandel bedeutet, wenn man weiß, was Sprache und Wandel eigentlich sind. Deshalb sehen wir uns in einem ersten Schritt den eigentlichen Gegenstand einmal genauer an, mit dem sich dieses Buch beschäftigt. Wir müssen uns zum Einstieg nämlich die Fragen stellen: Was ist Sprache? Und wozu haben wir sie eigentlich?

In diesem ersten Kapitel werden wir zunächst gemeinsam überlegen, welcher Gegenstand überhaupt zu betrachten ist, wenn vom Wandel in der Sprache die Rede ist. Diese Überlegungen werden wir dann im zweiten Kapitel mit der Frage verknüpfen, wie Sprache und Wandel miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Wir nähern uns also über die nachfolgenden Definitionen der Grundbegriffe dem Phänomen des allgemeinen Sprachwandels, das in diesem ersten Teil der Einführung im Fokus stehen soll. Zudem dienen die Ausführungen dazu, das spezielle Phänomen des Bedeutungswandels im zweiten Teil dieses Buches besser verstehen zu können.

Dazu kreisen wir in diesem Kapitel zunächst den Begriff Sprache ein. Beantworten Sie bitte zum Einstieg die folgenden Fragen und machen Sie sich gerne auch stichwortartige Notizen dazu:

Was ist eine Sprache? Schlagen Sie die Definition in einem Lexikon nach!

Wie viele Verwendungsweisen des Wortes Sprache fallen Ihnen ein? Gibt es eigentlich so etwas wie die Sprache?

Können Sie denken, ohne zu sprechen?

Sprechen Sie eine Fremdsprache? Was ist ähnlich und was ist völlig anders, als Sie es aus Ihrer Muttersprache kennen?

1.1Brauchen wir Sprache und wenn ja, wozu?

Was Sprache ist, lässt sich eigentlich ganz leicht beantworten: Sprache ist all das, was übrigbleibt, wenn man weiß, was Sprache alles nicht ist. Sprache müssen wir uns also nur einmal wegdenken, dann sehen wir, was noch da ist und dann wissen wir, was Sprache ist. Klingt das plausibel? Nun, dann überlegen Sie doch einmal, was alles keine Sprache ist. Denken Sie sich die Sprache dabei einfach weg aus der Welt.

Vielleicht denken Sie jetzt an einen Baum oder an ein Fahrrad oder an viel abstraktere Dinge wie Ihren letzten Urlaub. Sie haben recht: All das ist keine Sprache. Aber Sie haben einen Fehler gemacht: Sie haben sich die Sprache nicht weggedacht, als Sie darüber nachgedacht haben, was alles keine Sprache ist. Aber das ist nicht Ihr Fehler, denn ich habe Sie vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Sprache lässt sich nämlich nicht wegdenken, denn zum Denken selbst brauchen Sie die Sprache. Ohne Sprache wären Sie nämlich gar nicht in der Lage, an einen Baum zu denken. Zumindest wüssten Sie nicht, dass man ihn Baum nennt. Dass man Dinge überhaupt benennt, wüssten Sie nicht. Sie wüssten noch nicht einmal, was Sie überhaupt wüssten. Denn: Sprache und Denken hängen untrennbar miteinander zusammen.

Unsere Denkweise prägt die Art und Weise, wie wir sprechen. Komplexe Gedanken erfordern komplexe sprachliche Ausdrucksmittel. Der Einfluss wirkt aber auch in der Gegenrichtung: Bringt man Menschen etwa neue Farbwörter bei, verändert das ihre Fähigkeit, Farben voneinander zu unterscheiden. Lehrt man sie, auf eine neue Weise über Zeit zu sprechen, so beginnen sie, auch anders darüber zu denken.

Man kann sich der Frage auch anhand von Menschen nähern, die zwei Sprachen fließend sprechen. Nachweislich ändern bilinguale Personen ihre Weltsicht je nachdem, welche Sprache sie gerade verwenden. Ein anderes Beispiel: Für Europäer, die von links nach rechts zu schreiben gewohnt sind, liegt früher links von später; Araber ordnen die Zeit hingegen von rechts nach links; für Aborigines liegt früher im Osten (vgl. BORODITSKY2012).

Die Menschen sprechen in den vielen Ländern dieser Welt auf mannigfaltige Weise miteinander, und jede Sprache verlangt von ihren Benutzern ganz unterschiedliche kognitive Anstrengungen. Die kognitive Linguistin LERA BORODITSKY beschreibt das so:

Angenommen, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich Anton Tschechows Drama „Onkel Wanja“ auf einer Bühne in der 42. Straße New Yorks gesehen habe. Auf Mian, das in Papua-Neuguinea gesprochen wird, würde das Verb aussagen, ob das Stück soeben, gestern oder vor langer Zeit gespielt wurde. Das Indonesische dagegen gibt damit nicht einmal preis, ob die Aufführung bereits stattfand oder noch bevorsteht. Auf Russisch enthüllt das Verb mein Geschlecht. Wenn ich Mandarin verwende, muss ich wissen, ob Onkel Wanja ein Bruder der Mutter oder des Vaters ist und ob er blutsverwandt oder angeheiratet ist, denn für jeden dieser Fälle gibt es einen speziellen Ausdruck. (BORODITSKY2012)

Was wir also Denken nennen, ist offenbar in WirklichkeitWirklichkeit eine komplexe Verschaltung linguistischer und nichtlinguistischer Prozesse. Demnach dürfte es wohl kaum Denkprozesse geben, bei denen die Sprache keine Rolle spielt. Ein Grundzug menschlicher Intelligenz ist ihre Anpassungsfähigkeit – die Gabe, Konzepte über die Welt zu erfinden und so abzuändern, dass sie zu wechselnden Zielen und Umgebungen passen. Sie sehen also:

Alles Denken ist Sprache und nichts ist ohne Sprache denkbar. Denn: „Ohne Sprache gibt es kein Denken!“ (DÖRNER1998: 41) Und ohne Denken gibt es keine Sprache.

Dieser Gedanke ist auch für das Thema unseres Buches interessant. Veränderte Sprachmuster führen demnach auch zu veränderten Denkmustern und umgekehrt. Diesen Umstand bezeichnet man als LinguistischenDeterminismusDeterminismus. Etwas salopp formuliert ließe sich sagen:

Sprachwandel führt zu Denkwandel und Denkwandel führt zu Sprachwandel.

Aber beantwortet das bereits die Frage, was Sprache genau ist? Wenn wir darauf Antworten bekommen wollen, müssen wir uns ansehen, wie die Sprache in den Wissenschaften betrachtet wird. Wir müssen schauen, welche Auffassungen von der Struktur und Funktion von Sprache vorherrschen. Und wir müssen überlegen, wie die Verschiedenheit der Sprachen zu erklären ist. Diese letzte Frage können wir am ehesten mit einem Blick in die Sprachgeschichte klären.

Exkurs: Die Sapir-Whorf-Hypothese — oder: Wie bestimmt die Sprache unser Denken (und Handeln)?

 

Wenn man davon ausgeht, dass unser Denken über sprachliche WissensbeständeWissensbeständesprachliche in unserem Gehirn organisiert ist und wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass wir uns mit unserem Denken in einem ständigen Austausch mit unserer Umwelt befinden, dann ist es plausibel anzunehmen, dass hier Wechselwirkungen bestehen zwischen dem Denken und der Sprache auf der einen und der Welt um uns herum auf der anderen Seite.

Die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese besagt, dass die Art und Weise, wie wir denken, durch die Bedingungen unserer Sprache, also durch die lexikalische und grammatische Struktur unseres Sprachsystems, determiniert wird. Nach dieser Auffassung ist es prinzipiell unmöglich, dass wir uns mit einem Menschen, der eine andere Sprache als wir spricht, so verständigen können, dass wir uns verstehen. Die Hypothese geht davon aus, dass es bestimmte Gedanken einer einzelnen Person in einer Sprache gibt, die von jemandem, der eine andere Sprache spricht, nicht verstanden werden können.

Zudem ist es nicht möglich, etwas zu denken, für das wir den Begriff nicht kennen — was wir nicht sprachlich konzeptualisieren können, können wir schlicht und einfach auch nicht denken.

So definiert bedingt die Fähigkeit, Sprache benutzen zu können, unsere Fähigkeit, denken und die Welt wahrnehmen zu können. Die Sapir-Whorf-Hypothese geht also davon aus, dass die semantische Struktur einer Sprache die Möglichkeiten der Begriffsbildung von der Welt entweder determiniert oder limitiert.

Wenn man diese Hypothese weiterdenkt, bewirken bewusste Eingriffe von außen (z.B. durch das ideologische Besetzen bestimmter Begriffe durch die Politik) eine Veränderung der Denkstrukturen, wodurch Sprachveränderungen (= geplanter Sprachwandel) über Denkveränderungen unmittelbare Auswirkungen auf die außersprachliche WirklichkeitWirklichkeit haben können. Viele Begriffe der Nazi-Ideologiesprache beispielsweise haben dazu geführt, dass Denkmuster durch z.B. EuphemismenEuphemismus so gesteuert wurden, dass das Denken zu konkretem Handeln führen konnte.

Gelenktes kollektives Sprachhandeln spiegelt sich demnach über den Prozess der Veränderung des Denkens bisweilen auch in konkretem Handeln wider.

 

Diese kontrovers diskutierte Annahme wurde von BENJAMIN WHORF aufgestellt, der sich auf den Sprachwissenschaftler EDWARD SAPIR berief und die Hypothese gemeinsam mit ihm vertrat. Ansätze zu einer Theorie des linguistischen Relativismus finden sich schon weit früher bei WILHELM VON HUMBOLDT. Die Sapir-Whorf-Hypothese führt neben den genannten Aspekten auch zu der Annahme von der grundsätzlichen Unübersetzbarkeit fremdsprachlicher Texte.

BENJAMIN LEE WHORF (1879—1941)

war zunächst Chemieingenieur und Experte für Brandschutz, bevor er amerikanische und indianische Linguistik mit dem besonderen Interesse für uto-amerikanische Sprachen bei EDWARD SAPIR studierte.

WHORF wurde (posthum) bekannt für seine Arbeiten zur Sprache der Hopi und für das nach ihm und seinem Lehrer SAPIR benannte linguistische Relativitätsprinzip (Sapir-Whorf-Hypothese).

Aus seinen Forschungen zur Hopi-Sprache leitete er ab, dass die Sprache, die ein Mensch spricht, den Weg seines Denkens maßgeblich beeinflusst: Die Struktur der Sprache beeinflusse die Wahrnehmung der Welt (s. Exkurs).

Auch wenn nach seinem Tod seine Darstellung der relevanten Aspekte der Hopi-Grammatik und andere Vorstellungen zu semantischen Aspekten der Hopi-Sprache widerlegt worden sind, blieben seine Gedanken zum Verhältnis von Sprache und Denken bis heute einflussreich — und werden in der Gegenwart kontrovers diskutiert.

1.2Warum sprechen wir so und nicht anders? — Eine sprachhistorische Spurensuche

Derzeit werden auf der Welt etwa 6500 bis 7000 Sprachen gesprochen, wobei diese Festlegung nur annäherungsweise stimmt (vgl. SCHLOBINSKI2014: 31). Sie ist deswegen vage, weil nicht ganz klar ist, was man eigentlich zu den Sprachen als eigenständige Form hinzuzählen darf und was nicht. So gibt es beispielsweise sprachliche VariantenVariante wie etwa das Schweizerdeutsch, bei denen man uneins ist, ob es sich nun um eine eigene Sprache handelt oder ob diese Sprachform lediglich als Ableger einer anderen Sprache betrachtet werden darf.

Am ehesten ist eine Grenzziehung dann möglich, wenn man den Aspekt der kulturellen oder gesellschaftlichen Identifikation durch Sprache ins Feld führt und diesen von den Ähnlichkeiten zu anderen Sprachen abgrenzt.1VariationSondersprache So ist das Deutsche ebenso wie das Spanische oder das Italienische ein kulturell und gesellschaftlich determinierendes Sprachsystem. Das bedeutet: Alle Sprecher dieser Sprache sind kulturell und gesellschaftlich miteinander verbunden. Insofern kennzeichnet Sprachen immer auch das Prinzip der Ausschließlichkeit. Das kennen Sie sicher auch: Menschen, die eine andere als unsere eigene Sprache sprechen, sind uns oft fremd, wohingegen wir uns häufig im Ausland freuen, auf Menschen zu treffen, die dieselbe Sprache sprechen wie wir. Man kann sagen: Gemeinsame Sprachen verbinden, weil sie auf gemeinsame Normen, Werte und Erfahrungen schließen lassen. Oder anders:

Gemeinsame sprachlicheWissensbeständeWissensbeständesprachliche sind kognitiv und emotional verwoben mit gemeinsamen außersprachlichenWissensbeständenWissensbeständeaußersprachliche wie gemeinsame Werte, Normen und kollektive Erfahrungswelten. Daher wirken Sprachen identitätsstiftend, gruppenstabilisierend und zugleich ausschließend.

Da die Schweizer, um bei unserem Beispiel zu bleiben, eine eigene gesellschaftliche Identität (z.B. durch eigene Gesetze etc.) besitzen, wäre es nicht falsch, das Schweizerdeutsch als eigene Sprache zu bewerten. Nicht falsch, aber eben auch umstritten, weil die sprachsystematischen Eigenschaften des Schweizerdeutschen nahezu identisch sind mit denen des Deutschen. Hier sind es dann die Unterschiede, die dem Schweizerdeutschen einen Status als eigene Sprache zuweisen können.

Problematisch wird die Festlegung anhand kultureller und gesellschaftlicher Identifikation auch dann, wenn eine Sprache in zwei oder mehr kulturell völlig verschiedenen Gesellschaften gesprochen wird. Für das Französische ist das etwa der Fall, da es nicht nur in Frankreich, sondern auch in den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika, in Westafrika oder auch auf Haiti gesprochen wird. Hier ist die gemeinsame Identifikation über die Sprache auf den ersten Blick kein Kriterium, das definitorisch das Französische als Sprache verorten könnte. Doch der Schein trügt. Für Amtssprachen gilt: Sie sind nicht die Sprachen, die von den Bevölkerungen primär gesprochen werden – und es gibt häufig Unterschiede in der Sprachverwendung (z.B. phonetische). Zudem kommt es häufig zur Ausbildung eigener Sprachen durch Vermischungen von Muttersprache und Amtssprache, die man als Pidgin-Sprache bezeichnet. Solche Sprachen sind vereinfachte Behelfssprachen zur Verständigung zwischen Menschen, die unterschiedliche Muttersprachen sprechen (sogenannte lingua franca).

Eine andere Blickrichtung ergibt sich, wenn man allein die Unterschiede im Sprachsystem als Maßstab nimmt. Andere Sprachen besitzen andere Wortschätze, andere Grammatikregeln und teilweise andere Schriftsysteme. Aber auch hier gibt es oft mehr Gemeinsamkeiten, als man zunächst vermutet – besonders dann, wenn verschiedene Sprachen sich aus derselben Wurzel entwickelt haben. Das können wir leicht erkennen, wenn wir einen Blick auf das Englische werfen, das dem Deutschen zunächst nicht sehr ähnlich zu sein scheint, aber wie Deutsch, Niederländisch oder Schwedisch zu den germanischen Sprachen gehört. Dass das Englische als westgermanischer Zweig der indogermanischen Sprachen (s. Tabelle 1) dem Deutschen sehr nahe ist, können Sie erkennen, wenn Sie sich das deutsche und das englische Wort ansehen, das wir in beiden Sprachen verwenden, wenn etwas reichlich vorhanden ist. Im Deutschen sagen wir in solchen Fällen gerne, wir hätten genug von etwas. Im Englischen spricht man davon, dass etwas enough ist, beispielsweise enough to eat. Wenn man das englische Wort enough so ausspricht, wie es der deutschen KonventionKonvention entspricht und sich damit von der bekannten englischen Aussprachekonvention löst, liest man das Wort wie [əˈnuːk]. Setzt man nun vor das englische Wort ein g-, entsteht morphologisch das Wort genough, das lautlich als [ɡəˈnuːk] realisiert wird. Lautlich, semantisch und auch beinahe orthografisch entspricht dieses Wort unserem deutschen Lexem genug. Sie erkennen daran:

Die morphologische, lautliche, grammatische und/oder semantische Ausdifferenzierung von Sprachen ist und war immer das Resultat eines Sprachwandels.

Sehen wir uns ein anderes Beispiel für Sprachwandel im Deutschen an, das auf einer Sprachverwandtschaft beruht. Manchmal ist es so, dass Familienmitglieder sich etwas leihen. Wenn Sie Geschwister haben, kennen Sie das. Bei Sprachen ist das oft nicht anders, auch hier werden Elemente verliehen und wie bei Geschwistern oder Freunden leiht man sich etwas, was man selbst gut gebrauchen kann. Das deutsche Wort Keks ist ein gutes Beispiel für eine solche Leihgabe aus dem verwandten Englischen. Wie Sie wissen, gibt es im Englischen das ähnliche Wort cake, das Engländer und Amerikaner dazu verwenden, um auf einen Kuchen zu referieren. Unser deutsches Wort Keks ist etymologisch eine Übernahme des Wortes cake aus dem Englischen, wobei wir den Begriff interessanterweise im Singular in der Pluralform der Muttersprache verwenden. Weil uns das gar nicht bewusst ist – und weil die Pluralendung -s in unserem grammatischen System seltener vorkommt –, hängen wir an die Pluralendung -s noch unsere verbreitete Pluralendung -e an (ein Keks / zwei Kekse), wenn wir davon sprechen, dass wir mehr als ein Stück Gebäck auf unserem Teller haben.

Solche grammatischen Anpassungen von EntlehnungenEntlehnung an unser grammatisches System finden wir beispielsweise auch bei dem aus dem Italienischen kommenden Wort Scampi, die gerne fälschlicherweise als Scampis bezeichnet werden, wenn man nicht weiß, dass der Singular im Italienischen nicht Scampi, sondern Scampo lautet. Sie sehen: Einflüsse aus anderen Sprachen sind etwas völlig Normales und sie lassen sich durch Sprachverwandtschaften historisch oder geografisch fast immer erklären.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich die einzelnen Sprachen aus einer Sprachvielheit mit weit zurückliegenden gemeinsamen sprachlichen Wurzeln durch sogenannte kulturell bedingte KonvergenzenKonvergenz zu Einheitssprachen als Standardvarietäten2Differenzierung von Sprachengemeinschaften entwickelt haben und nicht etwa umgekehrt. Eine solche konvergente Entwicklung von Sprachen, die sich aufgrund wechselseitiger BeeinflussungenBeeinflussung gegenseitig formen, lässt sich für die Gegenwartssprache beispielsweise am Balkansprachbund ablesen. Kennzeichen eines solchen Sprachbundes, der sich in unserem Beispiel aus slawischen und romanischen Sprachen zusammensetzt und zusätzlich noch durch Albanisch sowie Neugriechisch geprägt ist, ist eine wechselseitige Beeinflussung geografisch benachbarter Sprachen durch das Phänomen des SprachkontaktsSprachkontakt.

Für das Deutsche ist eine sehr komplexe und nicht in allen Zügen bekannte historische Klassifikation belegt, die zeigt, dass das heutige Deutsch aus einer Vielzahl von Dialekten entstanden ist, von denen einige, wie das Hessische oder das Pfälzische, heute noch existieren, wohingegen andere, wie das Altniederfränkische etwa, nicht mehr bestehen. In einer solchen historischen Klassifikation ist das Deutsche als eigenständige westgermanische Sprache noch nicht angelegt, sondern ist nur in Form seiner Dialekte integrierbar.

Aus dem germanischen Zweig des Indogermanischen sind in der historischen Entwicklung die folgenden 15 Einzelsprachen entstanden, die bis heute mehr oder weniger offensichtlich erkennbar sprachliche Verwandtschaften aufzeigen:

Westgermanisch

Nordgermanisch

Ostgermanisch

Deutsch-Niederländisch

Deutsch

Deutsch

Jiddisch

Luxemburgisch

Pennsylvania Dutch

Niederdeutsch

Niederdeutsch

Niederdeutsch

Plautdietsch

Niederländisch

Niederländisch

Afrikaans

Anglo-Friesisch

Friesisch

Englisch

Skandinavisch

Dänisch

Schwedisch

Norwegisch

Isländisch-Färöisch

Isländisch

Färöisch

Gotisch

Vandalisch

Burgundisch

 

(keine Sprachen erhalten)

Tabelle 1

Klassifikation der heutigen germanischen Sprachen (nach ROBINSON1992)

Dass es heute in vielen Sprachen Verwandtschaften gibt, die durch eine gemeinsame Entwicklung bedingt sind, lässt sich gut durch einen Vergleich der Wortschätze geografisch benachbarter Sprachen erkennen. In der folgenden Übersicht über einige basale Wörter in germanischen Sprachen sind Begriffe aus dem Bereich der Verwandtschaftsbezeichnungen sowie einige Alltagsbegriffe zusammengestellt, die deutlich Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Dabei genügt schon ein rascher Blick, um den hohen Grad der Verwandtschaft der germanischen Sprachen insgesamt zu erkennen. Sie werden feststellen, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen diesen Grundbegriffen gibt. Die heutigen Unterschiede zwischen den verwandten Sprachen lassen sich dadurch erklären, dass viele Wörter erst nach der sprachhistorischen Ausdifferenzierung zu den heutigen germanischen Sprachen hinzugekommen sind. Diejenigen Begriffe aber, die zu den basalen sprachlichen WissensbeständenWissensbeständesprachliche gezählt werden können (wie etwa diejenigen in der nachfolgenden Übersicht), weisen bis heute signifikante Gemeinsamkeiten auf:3

Deutsch

Althochdeutsch

Luxemburgisch

Niederländisch

Afrikaans

Altsächsisch

Altenglisch

Englisch

Altnordisch

Gotisch

Germanisch

Indogerm. Grundsprache

Vater

fater

-

vader

vader

fadar

fæder

father

faðir

fadar

fađer

pətér

Mutter

muoter

-

moeder

moeder

modar

modor

mother

móðir

-

mōđer

mater

Bruder

bruoder

Brudder

broe(de)r

broer

brođar

brođor

brother

bróðir

broþar

brōþer

bhrater

Schwester

swester

Schwëster

zus(ter)

suster

swestar

sweostor

sister

systir

swistar

swester

suesor

Tochter

tohter

Duechter

dochter

dogter

dohtar

dohtar

daughter

dóttir

dauhtar

duχter

dhugə-ter

Sohn

sunu

-

zoon

seun

sunu

sunu

son

sunr

sunus

sunuz

suənu

essen

ezzan

iessen, eessen

eten

eet

etan

etan

eat

eta

itan

etaną

ed

Hund

hunt

Hond

hond

hond

hund

hund

hound

hundr

hunds

χundaz

kuon

Wasser

wazzar

Waasser

water

water

watar

wæter

water

vatn

vato

watōr

wódr̥

Feuer

fiur

Feier

vuur

vuur

fiur

fȳr

fire

fúrr

 

fōr, fuïr

Péh2ur

eins

ein

een(t)

één

een

en

an

one

einn

ains

aina

oino

zwei

zwa/ zwo/ zwei

zwee

twee

twee

twa/ two/ twe

twa/ tu

two

tveir/ tvær

twai/ twos

twajina

dwou

tragen

beran

droen

baren

 

beran

beran

bear

bera

bairan

beraną

bher-

Tabelle 2

Germanische Lexeme im synchronensynchron und diachronendiachron Vergleich

Neben den Gemeinsamkeiten innerhalb der west- und nordgermanischen Sprachen zeigt diese exemplarische Auflistung auch anschaulich die Ähnlichkeit der westgermanischen und nordgermanischen Sprachen zueinander. Eine Abweichung dieser beiden Sprachfamilien vom Gotischen ist daneben ebenso deutlich sichtbar wie die Beziehung des Germanischen zum Indogermanischen, wobei hier die Abweichungen selbstverständlich insgesamt größer sind, dennoch aber Familienähnlichkeiten erkennbar bleiben. Warum ist das so? Nun, das ist wie in einer großen und sehr alten Familie: Die Ähnlichkeiten zwischen Geschwistern sind oft verblüffend, wohingegen man Verwandtschaften zu längst verstorbenen Urahnen möglicherweise nur noch an wenigen Merkmalen wie etwa an großen Ohren oder einer krummen Nase ablesen kann. Und auch in einer anderen Hinsicht gleicht die sprachhistorische Betrachtung der Ahnenforschung: Von Familienmitgliedern, die heute leben oder die im 20. Jahrhundert gelebt haben, gibt es Fotos, Videos und zahlreiche andere Dokumente. So kann man ein Foto des verstorbenen Großvaters nehmen und daran vergleichen, inwieweit man diesem Ahnen ähnlich sieht. Bei Urahnen, die vor 500 Jahren gelebt haben, ist das schon schwieriger oder – wenn man keinem Adelsgeschlecht angehört und es keine Portraits der Urahnen gibt – unmöglich. Bei Sprachen, von denen wir keine Zeugnisse haben, wie es für das Urindogermanische der Fall ist, fällt es der Wissenschaft aus demselben Grund schwer, Vergleiche zu ziehen. Um das Urindogermanische rekonstruieren zu können, muss man bis etwa 3400 v. Chr. und noch weiter zurückgehen, denn etwa zu diesem Zeitpunkt haben sich die germanischen Sprachen getrennt.

Die Übersicht in Tabelle 2 zeigt aber nicht nur Gemeinsamkeiten zwischen den germanischen Sprachen, sondern sie kann uns auch ein Beispiel für einen Sprachwandel zeigen, der am heutigen Deutsch ablesbar ist. Wenn Sie sich beispielsweise schon immer gefragt haben, worin der Unterschied zwischen einem Eimer und einem Zuber begründet ist, dann müssen Sie in Tabelle 2 die Wörter für eins und zwei sowie für tragen ansehen und diese neuhochdeutschen Wörter mit der althochdeutschen Entsprechung vergleichen. Fällt Ihnen etwas auf? Sowohl der Eimer als auch der Zuber sind Behältnisse, die zum Tragen geeignet und gedacht sind, deshalb besitzen sie Henkel oder Tragegriffe. Der Unterschied besteht nun in der Anzahl der Henkel: Ein Eimer (aus ahd. ein und einer Ableitung von ahd. beran zu ahd. eimbar) ist ein Behälter, der nur einen Henkel besitzt; ein Zuber hingegen ist ein Gefäß, das an beiden Seiten Griffe hat (aus ahd. zwo und einer Ableitung von ahd. beran zu ahd. zubar oder zwibar).4 Sowohl bei nhd. Eimer als auch bei nhd. Zuber hat ein Sprachwandelprozess zu den heutigen Wortbedeutungen geführt: Durch den Vorgang der AssimilationAssimilation ist aus zwei Wörtern im Laufe der Zeit ein Wort entstanden, dessen Bedeutung man nur noch verstehen kann, wenn man a) weiß, dass es sich um ein zusammengesetztes Wort handelt und b) die Bedeutungen der ursprünglichen Wörter kennt.5

Wenn man sich die Entwicklungslinie des Deutschen aus dem germanischen Zweig des Urindogermanischen ansieht, dann werden Verwandtschaften zu anderen germanischen Sprachen – wie wir in Tabelle 2 erkennen konnten – offenkundig. Nun ist der germanische Zweig nicht der einzige Entwicklungspfad, der sich ausgebildet hat. Das Griechische, das Indo-Iranische, das Romanische, das Balto-Slawische, das Albanische, das Keltische, das Armenische und das Tocharische sind Sprachen, die neben dem Germanischen aus einer indogermanischen Ursprache entstanden sind (vgl. MCMAHON1994: 3). Einige dieser Sprachen existieren nicht mehr, wie etwa das Tocharische, das ehemals im Tarimbecken (heutiges China) vom 5. bis ins 12. Jahrhundert gesprochen wurde. Andere Sprachen hingegen, wie die romanischen, werden noch heute gesprochen und es lassen sich Verwandtschaften nicht nur innerhalb der eigenen Sprachfamilie (z.B. zwischen dem Spanischen und dem Italienischen), sondern auch zwischen den Sprachfamilien (z.B. zwischen der germanischen und der romanischen Sprachfamilie) erkennen. Die folgende Übersicht zeigt Ihnen einige intra- und intersprachliche Gemeinsamkeiten (farblich hervorgehoben):

Englisch

Französisch

Deutsch

hand

main

Hand

milk

lait

Milch

son

fils

Sohn

book

livre

Buch

colour

couleur

Farbe

flower

fleur

Blume

knife

canif

Messer

river

rivière

Fluss

cat

chat

Katze

mother

mère

Mutter

three

trois

drei

night

nuit

Nacht

horse

cheval

Pferd

Child

enfant

Kind

black

noir

schwarz

cloud

nuage

Wolke

Tabelle 3

Intra- und intersprachliche lexikalische Gemeinsamkeiten und Unterschiede im englischen, französischen und deutschen Grundwortschatz (nach MCMAHON1994)

Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, welche Sichtweise die richtige sei, wenn man Einzelsprachen voneinander abgrenzen möchte, lässt sich sagen:

Die Ausdifferenzierung verwandter Sprachen zu eigenständigen Einzelsprachen und die Veränderungen ihrer Sprachsysteme sind kulturell bestimmte Prozesse. Dabei bleiben Ähnlichkeiten im Sprachsystem erhalten, die man durch eine sprachhistorische Brille erkennen kann — bei gleichzeitiger Entwicklung von sprachsystematischen Unterschieden.

Identifikation als gesellschaftliches Phänomen bewirkt eine kulturelle Einheit, die Auswirkungen auf das jeweilige Sprachsystem hat. Kulturelle Identifikation und Sprachsystem sind somit zwei Seiten einer Medaille. Differenzierte Einzelsprachen sind kulturell-gesellschaftliche und sprachsystematische Einheiten, bei denen ausdifferenzierte Wortschätze Resultat von kulturell-gesellschaftlichen Identifikationsprozessen sind. Mit anderen Worten: Das Schweizerdeutsch unterscheidet sich sprachsystematisch nur marginal vom Deutschen, aber die Unterschiede, die es z.B. im Wortschatz gibt, sind das Ergebnis einer kulturell-gesellschaftlichen Identifikation über einen Sprachwandelprozess.

Halten wir an dieser Stelle fest:

Sprachwandel findet nicht nur innerhalb von Einzelsprachen statt (systemimmanenter Sprachwandel); aus einer historischen Perspektive führte er auch unter bestimmten ökologischen Umständen (kulturelle RahmenbedingungenBedingungenRahmen-) zur Entstehung und Entwicklung von Einzelsprachen aus ursprünglich verbundenen Sprachfamilien (systemformender Sprachwandel).

1.3Weiterführende und vertiefende Literatur

Als Einführung in das Forschungsfeld Sprache im Allgemeinen eignen sich MÜLLER2009: 19ff. sowie 223ff. und SCHLOBINSKI2014: 31ff.

Wenn Sie sich intensiver mit der Frage nach dem Gegenstand der Sprachwissenschaft befassen möchten, lesen Sie VATER1999: 11–27 und ebenfalls MÜLLER2009: 33ff. oder SCHLOBINSKI2014: 15ff.

Für eine sprachhistorische Vertiefung empfehle ich Ihnen den sehr gut verständlichen und hervorragend illustrierten dtv-Atlas Deutsche Sprache (KÖNIG2011). Lesenswert ist zudem die Deutsche Sprachgeschichte von GERHART WOLFF. Zudem lohnt jederzeit ein Blick in die umfangreiche (3 Bände) Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart von PETER VON POLENZ. Interaktiv und damit zum Lernen gut gestaltet ist die CD-ROMInteraktive Einführung in die Historische Linguistik von DONHAUSER2007. Einen guten Überblick über die germanisch-deutsche Sprachgeschichte bekommt man bei SCHWEIKLE2002.

Wenn Sie sich näher mit der Etymologie von deutschen Wörtern beschäftigen möchten, sollten Sie über die Anschaffung des Etymologischen Wörterbuches der deutschen Sprache von KLUGE nachdenken.

Eine sehr detailreiche Überblicksdarstellung über die Entwicklung der deutschen Sprache liegt seit 2014 mit UTZ MAAS’ Buch Was ist Deutsch? vor. Ein Blick in dieses Buch ist äußerst lohnenswert.

2Was ist das Wesen der Sprache?

Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält. Schau’ alle Wirkenskraft und Samen, und thu’ nicht mehr in Worten kramen.

JOHANN WOLFGANG GOETHE (1749–1832)

Ziele und Warm-up

In diesem Kapitel wollen wir an unsere Überlegungen aus dem Eingangskapitel anknüpfen und uns noch ein wenig intensiver mit dem Wesen von Sprache befassen. Wir müssen zu einem angemessenen Sprachbegriff finden, damit wir verstehen können, auf welche Weise, also durch welche Prozesse und auf der Basis welcher Grundprinzipien, Sprachwandel abläuft.

Dazu ist es wichtig, dass wir uns mit SprachauffassungenSprachauffassung vertraut machen, die in der Forschung bekannt und akzeptiert sind. Sie werden sehen: Nicht jede Auffassung davon, was Sprache ist, taugt dazu, sprachliche Veränderungen zu erklären. Sie werden auch feststellen: Eine Sprachauffassung, die den Sprecher und dessen kommunikative Ziele mit in den Blick nimmt, kann auch sprachliche Veränderungen plausibel begründen. Deshalb sind die nachfolgenden Überlegungen nicht rein wissenschaftstheoretischer Natur, sondern sie helfen uns, Sprachwandel im Kern zu verstehen. Denn: Wenn wir wissen, wie etwas beschaffen ist, können wir auch leichter verstehen oder schlussfolgern, wie etwas funktioniert. Wie also ist die Sprache beschaffen und was ist sie? Darum geht es in diesem Kapitel.

Um in die Thematik einzusteigen, bitte ich Sie, die folgenden Fragen intuitiv zu beantworten:

Was unterscheidet Ihre Muttersprache von anderen Sprachen, die Sie kennen?

Haben Sie Haustiere? Können Ihre Tiere mit Ihnen sprechen?

Wie unterscheidet sich die Sprache der Menschen von den Lauten der Tiere?

Was ist die Funktion der menschlichen Sprache? Wozu verwenden Sie Ihre Sprache im Alltag?

Woher wissen Sie, was sprachlich richtiges Handeln ist? Wer schreibt uns vor, wie wir zu sprechen und zu schreiben haben?

Kann man auch ganz ohne Sprache kommunizieren? Finden Sie Beispiele.

2.1Welche SprachauffassungenSprachauffassung gibt es?

Sprache ist grob gesagt ein „auf kognitiven Prozessen basierendes, gesellschaftlich bedingtes“ (BUSSMANN2002: 616) Werkzeug, damit wir uns mit anderen Menschen, die dieselbe Sprache wie wir sprechen, verständigen können. Wie alle Werkzeuge unterliegt auch dieses im Laufe der Zeit historischen Entwicklungen. Es ist nie vollkommen und kann und wird sich im Laufe der Zeit verändern. Man geht davon aus, dass die Fähigkeit, Sprache in diesem Sinne als Werkzeug nutzen zu können, genetisch vorgegeben ist und auf neurophysiologischen Prozessen beruht. Sprache ist aber nicht einfach nur eine biologische Anlage, die wir Menschen haben und nutzen, sie ist zudem eine artspezifische Ausdrucksform, „die sich durch KreativitätKreativität, die Fähigkeit zu begrifflicher Abstraktion und die Fähigkeit zu metasprachlicher Reflexion von anderen Kommunikationssystemen unterscheidet“ (BUSSMANN2002: 616). Mit anderen Worten: Sprache ermöglicht es uns, unsere Gedanken mit anderen Menschen zu teilen und anderen unsere Perspektive auf die außersprachliche Welt zu vermitteln. Zudem können wir über (die eigene oder fremde) Sprache sprechen, unser eigenes Sprechen kritisch beleuchten und auch das sprachliche Verhalten anderer bewerten (metasprachliche Reflexion).

Mit dem eigentlichen Wesen der Sprache ist es aber nun so eine Sache, denn dass sie ein Mitteilungsmittel sei und kulturell determiniert wird, ist keine historische, sondern eine eher moderne Sichtweise. Seit der Antike fragen sich Philosophen, was Sprache eigentlich für ein Ding sei, ob wir sie uns angeeignet hätten oder ob sie uns von Gott gegeben sei, wie Sprache unser Denken beeinflusse und vieles andere mehr. Aus diesen philosophischen Überlegungen haben sich im 19. Jahrhundert die Sprachwissenschaften herausgebildet. Gegenwärtig ist die Sprache ein Gegenstand, der neben Linguisten aber auch Biologen, Neurowissenschaftler, Soziologen und Wissenschaftler noch weiterer Disziplinen umtreibt.

Wenn man die auf den ersten Blick so simpel klingenden Fragen formuliert, was Sprache sei und wozu wir sie hätten, dann wird man unterschiedliche Antworten bekommen, je nachdem, wen man fragt. Biologen oder evolutionäre Psychologen würden das Phänomen wohl am ehesten mit den angeborenen und im Zuge der EvolutionEvolution entwickelten kognitiven und anatomisch-physiologischen Anlagen erklären wollen. Soziologen hingegen würden Sprache im Kontext zu gesellschaftlichen Strukturen und Systemen verorten. Und auch Sprachwissenschaftler sind sich nicht immer einig, was denn der Gegenstand ihres Faches eigentlich ist. Für das 20. Jahrhundert lassen sich etwa 30SprachauffassungenSprachauffassung finden, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden (vgl. ECKARD2008). Diese Vielzahl an unterschiedlichen Herangehens- und Betrachtungsweisen liegt darin begründet, dass sie sich selbst durch Anlehnungen an zeitgemäße Theoriekonzepte anderer Disziplinen, wie etwa der Evolutionstheorie, legitimierten. ZEIGE (2001) weist darauf hin, dass es sich um Versuche handelte, „die nicht gegenständliche und darum schwer zu fassende Natur der Sprache in Anlehnung an andere Wissenschaften durch gegenständliche Analogien darzustellen“ (ZEIGE2008: X).

In diesem Zusammenhang sei auf drei Phasen in der Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft hingewiesen, die richtungsweisend für heutige moderne Sprachbetrachtungen gewesen sind. Zum einen ist dies die Hinwendung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Linguistik im Besonderen zu den Methoden der objektiven und empirisch erfolgreichen Naturwissenschaften. Ebenso wie es in den Naturwissenschaften möglich war, Phänomene exakt zu bestimmen, wollte man nun auch sprachliche Entitäten präzise und mithilfe von realem Datenmaterial analysieren können. Sprache war in der Betrachtung zuvor eher etwas Transzendentes gewesen; es ging weniger um konkrete sprachliche Phänomene als beispielsweise um den Zusammenhang von Sprache und WirklichkeitWirklichkeit.

Damit nun exakte Analysen möglich werden konnten, musste man von einer rein epistemischen Sprachbetrachtung zu einer materialistischen Betrachtungsweise übergehen. Diese Entwicklung war Fluch und Segen zugleich. Ihr ist es nämlich zuzuschreiben, dass organistische MetaphernMetapher bis heute in der Sprachbetrachtung zu finden sind. So spricht man noch heute vom Sprachwachstum, vom Aussterben bestimmter Dialekte oder vom Verfall einer Sprache. Dass es lebendige und tote Sprachen geben soll, entstammt diesem Denken. Sprache wird in dieser Sichtweise als ein „Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften“ (KELLER2003: 25) eingestuft und dabei sowohl unangemessen verdinglicht als auch irreführend vitalisiert. Dass man zugleich begann, Sprache als System zu verstehen und einer medizinischen Sektion gleich die Einzelelemente genauer zu fokussieren, ist die positive Folge dieses Umdenkens, denn sie begünstigte die Erforschung sprachlicher Einzelphänomene.

Die zweite wichtige Zäsur in der Sprachbetrachtung wurde geprägt durch GUSTAV BERGMANN und wurde bekannt durch eine 1967 von RICHARD RORTYherausgegebene gleichnamige Anthologie mit dem Titel linguistic turn. Diese linguistische Wende in der Mitte des 20. Jahrhunderts bezeichnet Anstrengungen in der Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik, sprachliche Vermittlungsformen genauer zu untersuchen, also nicht mehr allein den Text als sprachliches Gebilde zu analysieren, sondern – und das ist die große Leistung – die sprachlichenBedingungenBedingungensprachliche dahinter zu erforschen. Diese Entwicklung geht also mit einer verstärkten Hinwendung zur Sprache selbst, das bedeutet zu den Bedingungen der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen, einher. Viele Vertreter des linguistic turn hatten das Ziel, nicht mehr die Dinge an sich zu untersuchen, sondern die Phänomene hinter den Dingen, wie etwa die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen Sprache entsteht und unter denen sie sich verändert. Auf diese Weise lässt sich auch Sprachwandel nicht mehr als Ding an sich betrachten, sondern Sprachwandel wird durch Prozesse des Sprachhandelns erklärbar. Die sogenannte linguistische Pragmatik als Lehre vom sprachlichen Handeln konnte sich erst im Zuge des linguistic turn entwickeln – sie kann uns heute wertvolle Hinweise darauf liefern, warum unser Sprachsystem so ist, wie es ist. Diese sprachpragmatische Arbeitsweise übernahmen zahlreiche Vertreter der linguistischen Fachgebiete, die Auswirkungen betrafen aber darüber hinaus auch die meisten anderen Geistes- und Sozialwissenschaften.

Die dritte Entwicklung, die für die heutige SprachauffassungSprachauffassung von Bedeutung ist, bezeichnet man häufig als die Etablierung der sogenannten Bindestrich-Linguistiken in der Folge des linguistic turn. Gemeint ist damit die Annäherung der Sprachwissenschaft an angrenzende Disziplinen und die Öffnung für Methoden aus anderen Wissenschaftsbereichen. So gibt es heute eine Vielzahl an sehr spezialisierten Teildisziplinen innerhalb der sprachwissenschaftlichen Forschung, wie etwa die SoziolinguistikLinguistikSozio-, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik oder die Textlinguistik. All diese Disziplinen kennzeichnen neue Dimensionen von Sprachbetrachtungsebenen, die konsequent von Theorien und Methoden ausgehen, die außerhalb der Sprachwissenschaft entstanden sind oder deren Techniken und Methoden größtenteils auf Nachbardisziplinen Bezug nehmen (vgl. WILDGEN2010: 160).

Diese Bezugnahme auf andere Forschungsfelder und auf deren Methoden ist auch für die Sprachwandelforschung von Bedeutung. So geht ZEIGE davon aus, dass beispielsweise „die Erkenntnisse der psycholinguistischen Forschung das Verstehen von Verarbeitungsmechanismen und der mental-kognitiven Seiten von Sprache“ (ZEIGE2011: XIX) erweitern können. Auch die SoziolinguistikLinguistikSozio- in der Tradition WILLIAM LABOVs kann Beiträge zu einem besseren Verständnis aus der Perspektive einer sozialen Strukturanalyse leisten, indem durch empirische Sozialforschung heute untersucht wird, wie Sprecher bestimmter sozialer Gruppen zu einer Veränderung des Sprachsystems beitragen. Gegenwärtige Untersuchungen zum sogenannten KiezdeutschKiezdeutsch oder zur Jugendsprache und damit verbunden Analysen zur Verbreitung und zur Wirkung dieser sozialen Varietäten auf das System der GemeinspracheGemeinsprache sind beispielsweise sehr aufschlussreich.

Was diese drei Phasen in der jüngeren Geschichte der Sprachwissenschaft so besonders macht, ist eine Hinwendung zur sprachlichenWirklichkeitWirklichkeitsprachliche und zu den Mechanismen sprachlichen Handelns. Wesentlich für die moderne Linguistik ist, dass der sprechende Mensch und die sprachlichen Funktionen in der Gesellschaft das Wesen der Sprache ausmachen. Seit dem Entstehen der modernen linguistischen Pragmatik wird der Tatsache, dass eine adäquate Sprachtheorie, die weder verkürzt noch hypostasiert, nur als sozialwissenschaftliche Theorie denkbar ist, in der Sprachwissenschaft sowie in den angrenzenden Wissenschaftsdisziplinen verstärkt Rechnung getragen.

Wir können also über das Wesen der Sprache im Allgemeinen mit einem ersten Blick auf deren Veränderungen und den damit verbundenen Prinzipien festhalten:

Die Bestimmung der sprachlichen Struktur (= Sprache) sowie des sprachlichen Strukturwandels (= Sprachwandel) sind untrennbar verbunden mit den HandlungsmaximenMaximeHandlungs- und Handlungsroutinen der Sprecher in einer Sprachgemeinschaft. Diese Handlungsmaximen sind immer zweckgerichtet.

Die historische Sprachwissenschaft, die versucht, Sprachwandel zu erklären, ist von der beschriebenen Vielfalt der Betrachtungsmöglichkeiten nicht unbeeinflusst. Wenn man das Wesen des Wandels aus dem Wesen der Sprache ableiten möchte, muss man zunächst festlegen, welche SprachauffassungSprachauffassung man vertritt. Dabei gilt:

Je nachdem, welcher sprachwissenschaftlichen Schule man angehört, ist Sprache entweder ein natürliches, ein strukturalistisches, ein technisch-funktionales oder ein handlungstheoretisches Phänomen.

Wie jede andere Wissenschaft auch findet die Sprachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich nicht einfach vor, sondern sie konstituiert ihn selbst. Diese Konstituierung geschieht aber nicht nach arbiträren, also nach willkürlichen Kriterien, sondern nach solchen, die in einer relevanten Hinsicht für Erkenntnisprozesse wesentlich sind. Vornehmlich sind es vier SprachauffassungenSprachauffassung, die Sprache als Gegenstandsbereich für die Wandelforschung konstituieren, wobei 2–4 sich als tauglich für Erklärungen erweisen, während 1 sich als untauglich erweist:

Sprache als Organismus

Sprache als komplexes Zeichensystem

Sprache als Werkzeug und Tätigkeit

Sprache als spontane OrdnungOrdnungspontane

Betrachten wir im Folgenden diese wesentlichen SprachauffassungenSprachauffassung einmal etwas genauer – das Verstehen des Gegenstandsbereichs ist wichtig, um nachvollziehen zu können, warum sich Sprachen wandeln. Denn: Wenn man nicht weiß, was sich wandelt, wird man auch nicht erkennen können, auf welche Weise das geschieht. Wir werden sehen, dass insbesondere die Festlegung von Sprache als spontane OrdnungOrdnungspontane uns dabei hilft, den Sprachwandel verstehen und erklären zu können. Lassen Sie uns also im Folgenden gemeinsam ein paar Fragen stellen und nach plausiblen Antworten suchen.

2.2Welche SprachauffassungSprachauffassung ist die richtige?

2.2.1Ist Sprache ein Organismus?

Die Frage danach, ob die Sprache etwas Lebendiges wie ein Organismus sei, enthält eine populäre MetapherMetapher. Metaphern sind dazu da, komplexe Sachverhalte bildhaft darzustellen, damit man sie besser verstehen kann. Nur leider sind Metaphern selten präzise, denn sie verdinglichen (hypostasieren) zu sehr. Die Organismus-Metapher im Zusammenhang mit dem Wesen von Sprache ist uns bereits begegnet. Es handelt sich dabei um eine SprachauffassungSprachauffassung, die auf den Prinzipien der Naturwissenschaft beruht. Sie ist entstanden in dem Bemühen, auch abstrakte geisteswissenschaftliche Phänomene exakt beschreiben zu wollen. Bedeutender Vertreter einer solchen Sichtweise ist der Indogermanist AUGUST SCHLEICHER. Seine Vorstellung kann man als organizistisch einstufen: Unterstellt wird eine Eigendynamik der Sprache, die durch den Sprachgeist als einer jeder Sprache immanente natürliche Kraft erklärt wird:

Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen „Leben“ zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im ganzen und allgemeinen dieselbe wie die der übrigen Naturwissenschaften. (SCHLEICHER1863: 6f)

Was diese vitalistische MetapherMetapher vom lebendigen Organismus auf den ersten Blick zunächst einmal sinnvoll und richtig erscheinen lässt, ist der beobachtbare Umstand, dass sich Sprache ständig wandelt. Aus der Dynamik von Sprachen könnte man schlussfolgern, dass in ihnen eine vitale Kraft steckt, dass Sprachen also leben. Die Entwicklung von Sprachen könnte man dieser Sichtweise folgend als eine Art EvolutionEvolution bezeichnen, als einen Prozess also, der zu einer steten Weiterentwicklung der Sprache beiträgt. Ein Blick auf die zuvor im ersten Kapitel umrissene historische Entwicklung des Deutschen aus einer indogermanischen Ursprache würde diese These greifbar machen: Wie anhand eines Familienstammbaums lässt sich die Entwicklung der deutschen Sprache zurückverfolgen. Mehr noch: Wir erkennen auch Verwandtschaften und können sogar abstufen, mit welcher Sprache das Deutsche enger und mit welcher es entfernter verwandt ist.

Nun hat diese Theorie einen entscheidenden Haken, weshalb eine organizistische Sprachbetrachtung in der Linguistik zwar in den letzten 150 Jahren intensiv diskutiert wurde und bis heute außerhalb der Sprachwissenschaften im Alltagsverständnis vom Werden und Wandel der Sprachen noch weit verbreitet ist, zur Erklärung des Sprachwandels aber nicht taugt. Der Haken liegt darin, dass eine solche Einschätzung dessen, was Sprache ist, den Sprecher mit seinen Handlungsmöglichkeiten außen vor lässt: „Der Wandel wurde [und wird in einer solchen Konzeption] als ein ausschließlich naturgesetzliches Phänomen angesehen“ (KELLER/KIRSCHBAUM2003: 126). Vernachlässigt man nun aber die Sprachbenutzer, müssten Sprachen auch aus sich selbst heraus lebensfähig sein; schließlich ist ein Organismus ein in sich geschlossenes System. Dies trifft auf Sprachen jedoch nicht zu.

AUGUST SCHLEICHER (1821—1868)

war ein deutscher Sprachwissenschaftler. Er gilt als Begründer der Stammbaumtheorie in der vergleichenden Sprachforschung und als Mitbegründer der Indogermanistik.

SCHLEICHER ging davon aus, dass sich die Prinzipien der Evolutionsbiologie, die im 19. Jahrhundert populär wurden, auch auf die Entstehung und die Entwicklung von Sprachen übertragen ließen. In Form eines Stammbaums rekonstruierte SCHLEICHER die Sprachen der indogermanischen Sprachfamilie aus einer indogermanischen Ursprache.

Seine Sprachphilosophie gründet auf der Annahme, die Methodik der Sprachwissenschaft müsse derselben Methodik folgen, welche auch die Naturwissenschaften anwenden.

Die Stammbaumtheorie gilt als richtungsweisende Leistung SCHLEICHERs für die Indogermanistik und ist noch heute von sprachhistorischem Wert.

Die Vorstellung, dass Sprache ein lebendiger Organismus sei, wurde insbesondere im 19. Jahrhundert von der Mehrzahl der Sprachwissenschaftler vertreten. Erst WILLIAM DWIGHT WHITNEY lehnte ein solches Konzept ab und vertrat die wesentlich plausiblere These, dass Sprache kein NaturphänomenPhänomeneNatur-, sondern ein sozial bestimmtes Konstrukt sei. Nicht verborgene vitalistische Konzepte im Sinne naturwissenschaftlicher Festlegungen bestimmen das Wesen der Sprache. Sprachen werden vielmehr geprägt durch die Sprecher, die Sprachen zu ihren Zwecken verwenden.

Diese neue und bis heute akzeptierte Sichtweise wirft allerdings dann ein Problem auf, wenn man die Rolle des Sprechers überbewertet. Sie könnte nämlich dazu verleiten, den Sprecher gewissermaßen zum Konstrukteur oder Schöpfer der Sprache und aller sprachlichen Veränderungen zu überhöhen. Dieser Eindruck ist falsch, weil man in einer Dichotomie gefangen ist, die nur NaturphänomenePhänomeneNatur- auf der einen und ArtefakteArtefakt auf der anderen Seite kennt: Entweder ist etwas ein natürliches Phänomen oder es ist vom Menschen gemacht. Was ist daran falsch? Nun, Sprache ist vom Menschen ‚gemacht‘, aber auf eine andere Art und Weise als beispielsweise ein Uhrwerk vom Menschen gemacht ist. Während das Uhrwerk das Ergebnis menschlicher Planung ist, ist die Sprache ungeplantes Ergebnis menschlicher Handlungen. Ich komme weiter unten auf diesen zentralen Gedanken noch einmal zurück.

Halten wir zunächst fest:

Sprache ist weder ein natürlicher Organismus noch das Resultat menschlicher Planung. Sprache ist das Ergebnis menschlicher Sprachverwendung. Dasselbe gilt auch für den Sprachwandel.

Folglich ist eine SprachauffassungSprachauffassung, die den Sprecher nicht berücksichtigt und stattdessen von Naturgesetzen ausgeht, für die Erklärung des Wesens und der Veränderungen von Sprache nicht nützlich. Stattdessen lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, wie eine Sprache beschaffen ist, damit wir sie für unsere Zwecke nutzen können. Sehen wir uns also im Folgenden an, welche Eigenschaften es sind, die Wörter und Sätze zu geeigneten Mitteilungsmitteln für uns machen.

2.2.2Ist Sprache ein Zeichensystem?

Mit der Frage, aus welchen Elementen Sprachen bestehen, werfen wir einen strukturalistischen Blick auf unseren Gegenstandsbereich. Zugleich ist die Überlegung, wie etwas beschaffen ist, untrennbar verknüpft mit dem Nachdenken darüber, wozu etwas da ist. Wenn wir beispielsweise wissen, wie die Anatomie des Herz-Kreislauf-Systems aussieht, können wir leicht beantworten, wozu wir dieses System haben und was es in unserem Körper macht.

Grob gesagt dient uns Sprache dazu, uns in der Gesamtgesellschaft, in der wir leben, untereinander möglichst ohne Missverständnisse verständigen können. Dazu verfügen alle Sprecher in dieser Sprachgemeinschaft über dieselben Wörter und Zeichen, also über dasselbe Lexikon und dieselbe Grammatik. Als Sprachforscher würde man sagen: Alle Sprachbenutzer können auf denselben gemeinsamen Zeichenvorrat zurückgreifen und kennen die Regeln, nach denen diese Zeichen miteinander verbunden werden. Man nennt die gemeinsam gesprochene Sprache einer Sprachgemeinschaft GemeinspracheGemeinsprache und grenzt sie von SondersprachenSondersprache ab, die nur von einigen Sprechern gesprochen und verstanden werden (z.B. Fachsprachen).

Dass es in WirklichkeitWirklichkeit gar nicht so etwas wie die eine Sprache gibt, die wir alle gemeinsam sprechen, wissen Sie sicher aus Ihrer eigenen Lebenserfahrung. Sie werden mit Ihrem Automechaniker anders sprechen müssen, als Sie das möglicherweise an der Universität mit Professoren für nötig halten: Das Variieren mit den Mitteln aus Ihrem sprachlichen Repertoire dient situationsbezogen der einfacheren und besseren Verständigung oder es dient sozialen Zwecken (z.B. dem Imponieren oder dem Vermitteln eines bestimmten Eindrucks von Ihrer Person). Insofern gibt es Schnittmengen, aber es gibt kaum den Fall, dass zwei Sprecher über exakt denselben Zeichenvorrat verfügen. Das gilt auch für die Regeln, nach denen diese Zeichen zusammengesetzt werden. Auch hier sind die Kenntnis und die Beherrschung von grammatischen Regeln ungleich ausgeprägt.

Das Sprachvermögen und insbesondere der Wortschatz der Menschen unterscheiden sich dabei je nach sozialer oder regionaler Herkunft und Bildung. Schätzungen zufolge umfasst die deutsche Sprache zwischen 300000 und 500000 Wörter – und sie wandelt sich ständig. Fast täglich gelangen neue Wörter in unsere Sprache und genauso schnell und häufig verschwinden Wörter, weil wir sie nicht mehr verwenden. Modewörter oder moderne Wortneuschöpfungen wie z.B. das im Jahr 2014 gewählte „Unwort“ des Jahres Lügenpresse sind solche transitorischen, also vorübergehenden Erscheinungen. Unmöglich ist es, den gesamten Wortschatz der GemeinspracheGemeinsprache zu beherrschen. Auch wenn Sie noch so gebildet sind, werden Sie vermutlich nicht mehr als 100000 Wörter kennen, wobei Sie noch lange nicht alle diese Wörter tatsächlich benutzen. Die Sprachwissenschaft geht davon aus, dass ein durchschnittlicher Erwachsener zwischen 8000 und 16000 Wörter aktiv gebraucht; die große Mehrheit der Sprachbenutzer kommt wohl mit rund 5000 Wörtern aus.

Menschliche Sprache ist ein komplexes System sprachlicher Zeichen, die zueinander in syntagmatischen und/oder paradigmatischen Beziehungen stehen und durch konventionelle grammatische Regeln syntaktisch miteinander verbunden sind.1

Unser Zeichensystem besteht in erster Linie aus Wörtern, die bestimmte Bedeutungen tragen. So hat das Wort Regenschirm in unserem Wortschatz eine Bedeutung, die sich in etwa so ausdrücken lässt: Verwende das Wort „Regenschirm“, wenn Du von einem Gegenstand sprechen willst, den wir in unserem Kulturkreis verwenden, um draußen im Regen nicht nass zu werden.2