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Umfassend und verständlich führt dieser Band in die faszinierende Geschichte des Staates ein. Thomas Mergel zeigt, wie der Staat als ein historisches Phänomen zu verstehen ist, wie er entstanden ist, sich gewandelt hat und welche Perspektiven wir heute, im 21. Jahrhundert auf ihn haben können. Zudem klärt er zentrale Begriffe und führt in die Forschungsgeschichte ein.
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Seitenzahl: 552
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Thomas Mergel
Vandenhoeck & Ruprecht
Dr. Thomas Mergel ist Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leviathan_by_Thomas_Hobbes.jpg
Korrektorat: Dore Wilken, FreiburgUmschlaggestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage |www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
UTB-Band-Nr. 5829ISBN 978-3-8463-5829-0
Einführung
1.Staat als Problem der Moderne
2.Was bedeutet „Staat“?
3.Der Staat als europäisches und okzidentales Phänomen
4.Moderne Staatlichkeit und moderne Gesellschaft
5.Der Staat der Historiker: Bemerkungen zur Forschungsgeschichte
6.Zu diesem Buch
1.Antike Staatlichkeit und Entstaatlichung im Mittelalter
1.1Die griechische Polis
1.2Das römische Imperium
1.3Entstaatlichung im Mittelalter
1.4Anfänge des modernen Staats im Spätmittelalter
2.Krieg und Staatsbildung in der Frühen Neuzeit
2.1Die Bellizität der Epoche
2.2Kriegführung und frühe Staatlichkeit
2.3Krieg, Staatsbildung und europäische Expansion
2.4Zonen verdichteter Bellizität
a.Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648)
b.Die Bürgerkriege in Großbritannien (1642–1689)
c.Die „Türkenkriege“
2.5Die Geburt der modernen Staatstheorie aus dem Geist des Kriegs
3.„Absolutismus“ und Staatsbildung
3.1Der Begriff und sein Problem
3.2Die absolute Monarchie und ihre Grenzen unter besonderer Berücksichtigung Ludwigs XIV.
3.3Die aufgeklärte Kritik am Absolutismus und der Aufgeklärte Absolutismus
4.Moderne Revolutionen als Staatsbildungsprozesse
4.1Krieg – Schulden – Revolution
4.2Revolution und Staatsgründung: Die USA
4.3Revolution und Utopie: Frankreich
4.4Export der Revolution als Export von Staatlichkeit: Napoleon
4.5Außereuropäische Wirkungen: Lateinamerika
4.6Kontinuitäten und Brüche im „Zeitalter der Revolution“
5.Staatlichkeit zwischen Nation und Imperium
5.1Nationalismus und Nationalstaat
5.2Europäische Empires
5.3Kolonialreiche und kolonialer Staat
6.Staat nach innen, Staat nach außen. Internationale Beziehungen und Innere Staatsbildung
6.1Diplomatie und Staatensystem
6.2Momente der Inneren Staatsbildung
a.Verfassung und Recht
b.Verwaltung
c.Steuern und Schulden
d.Polizei
e.Militär und Wehrpflicht
f.Staat und Kirche
g.Bildung
h.Beobachtung der Gesellschaft
i.Wohlfahrt
6.3Top-down oder Bottom-up?
7.Staat und politische Partizipation
7.1Staatsformen und politische Partizipation
7.2Parlamente: Partizipation als Repräsentation
7.3Wählen
7.4Soziale Bewegungen: außerinstitutionelle politische Partizipation
8.Staat, Volk und Krieg im 20. Jahrhundert: Erster Weltkrieg, Bolschewismus und Nationalsozialismus
8.1Wandlungen des Staates im und durch den Ersten Weltkrieg
8.2Staat als Klassenherrschaft: der Bolschewismus
8.3Staat als Ausdruck der Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus
8.4Fließende Übergänge
9.Die Steuerung der Gesellschaft im Interventionsstaat
9.1Krieg, Sozialismus, Krisenpolitik
9.2Der Staat als steuernder Akteur
9.3Der Wohlfahrtsstaat
9.4Staatliches Wissen über die Bürger
9.5Kritik und Krisen
10.Supranationale Staatlichkeit als neues Modell? Das Beispiel der europäischen Integration
10.1Vorgeschichten der europäischen Einigung
10.2Ausgangsmotive: Deutschland kontrollieren, Kalter Krieg, wirtschaftliche Zusammenarbeit
10.3Dynamik der Intensivierung
10.4Dynamik der Erweiterung
10.5Grenzen der Verstaatlichung Europas
10.6Nach Hobbes?
11.Staatlichkeit in der Krise?
11.1Grenzen der Steuerbarkeit
11.2Die Debatte um die Failed States
11.3Konkurrenz für den Staat: Transnationale Organisationen
11.4„Governance“
11.5Wiederaufstieg des Staats?
Abschließende Überlegungen
Literaturhinweise
Es geht im Folgenden um ein Phänomen, das alle immer und überall irgendwie betrifft, aber trotzdem – oder vielleicht deshalb – schwer benennbar ist. „Staat“ ist einer der Begriffe, die so alltäglich sind, dass man sie für naturgegeben zu halten geneigt ist: der römische Staat, der Staat der Maya, der Staat im Mittelalter. „Der Staat“ erscheint fast wie ein Individuum und manchmal benimmt er sich auch wie ein Mensch: Der Staat muss reagieren, er nimmt Steuern ein, er bedenkt bestimmte Gruppen (und meist ist „Vater Staat“ auch ein Mann – es geht eben um Herr-schaft1). Diese Anthropologisierung verweist nicht nur darauf, dass uns der Staat im Alltag sehr nah ist, sondern auch auf die Suggestion, er sei etwas Überzeitliches. Nun sind Historiker aber daran gewöhnt, dass die Dinge niemals so bleiben, wie sie sind, und dass alle Phänomene, die wir vor uns haben, historisch sind, sprich: dass sie irgendwann entstanden sind und deshalb auch irgendwann wieder enden werden. Unsere Wirtschafts- und Lebensformen sind historisch; das Verhältnis der Geschlechter ist wandelbar; sogar das Verhältnis zum eigenen Körper, Gefühle und Empfindungen haben eine Geschichte, wenn wir diese auch nicht leicht historisieren können.
Das ist beim Staat nicht anders. Auch er ist ein historisches Phänomen, das einen Anfang und vermutlich auch irgendwann ein Ende hat. Mit „Staat“ ist demgemäß nicht jede Art von politischer Herrschaft gemeint, sondern eine spezifische, zur Institution geronnene Ausprägung. Dieser Staat, so der Ausgangspunkt dieses Buches, ist eine Erscheinung der Moderne. Mit „Moderne“ ist dabei (sehr grob) die Epoche gemeint, die sich etwa in den letzten 500 Jahren entwickelte, die sich mit den atlantischen Revolutionen des späten 18. und den industriellen Revolutionen des 19. Jahrhunderts voll ausbildete (und seit ein paar Jahrzehnten womöglich an ein Ende kommt).2 Der Begriff bezieht sich, wie die Diskussionen der letzten Jahre heraus gestellt haben, vor allem auf den Westen, so dass man eigentlich von „westlicher Moderne“ sprechen müsste. Hier wurden viele politische, ökonomische, soziale Formen entwickelt, die – friedlich oder gewaltsam – über die Welt verbreitet wurden und dort passfähig waren oder nicht, die aber ihre Überwältigungskraft auch von der Suggestion ableiteten, als „moderne“ Institutionen seien sie „fortschrittlich“ und insofern besser als das Bisherige. Wenn wir von „modern“ sprechen, sprechen wir also zunächst nicht ohne Weiteres von der ganzen Welt, sondern von einer bestimmten Weltgegend und bestimmten Institutionen, die allerdings anderswo aufgenommen (oder aufgezwungen) wurden und die sich dort veränderten. Und wir sprechen von einer bestimmten Sicht auf die Welt und auf die eigene Gesellschaft. „Moderne“ ist auch eine Selbstbeschreibung, sich immer selbst als jeweils neu zu betrachten, der Vergangenheit und der Tradition den Status des „Vorbei“ zuzuweisen, sich ganz einer Gegenwart und einer Zukunft verpflichtet zu sehen.
Dass dieser moderne Westen von vielen, und zwar nicht nur von den „Modernen“ selbst, als vorbildhaft, als positive oder negative Folie gesehen wurde, ändert gleichwohl nichts daran, dass man sich vernünftigerweise, wenn man von „Moderne“ spricht, zunächst auf die Regionen bezieht, die sich selbst als „modern“ in diesem Sinne begriffen. Das waren Europa, sodann die transatlantischen, vor allem die nordamerikanischen Regionen, die sich seit der Frühen Neuzeit als eng mit Europa verbunden begriffen. Diese Zusammengehörigkeit war auch von den Zeitgenossen so empfunden worden, insbesondere im Zusammenhang mit der Amerikanischen Revolution, die als ein Fanal und Vorbild für das nun plötzlich „zurückgebliebene“ Europa erschien. Europäische politische Philosophen haben besonders dann intensiv nach den USA geschaut, wenn es um die Begründung und das Verstehen politischer Reformen, des Neuen generell ging.3
Die Form von politischer Herrschaft, die sich seither in diesen Regionen, ausgehend von Europa, entwickelte, unterscheidet sich in seiner gesamten Erscheinung – also nicht in einzelnen Momenten – ganz grundsätzlich von den Formen, die es davor und anderswo gab. Erst in der Moderne entstanden politische Gebilde, die, das ist zentral, auf Dauer gestellt waren, unabhängig davon, welche Person gerade herrschte; Gebilde, die ein klares, umgrenztes großes Territorium umfassten und hier für alle Bürger in gleichem Maße relevant zu sein beanspruchten, weniger romantisch ausgedrückt: die über alle gleichermaßen Herrschaft ausüben konnten. Gebilde, die in der Lage waren, die Ressourcen dieser Gesellschaften in solchem Umfang zu mobilisieren, dass sie lange Massenkriege führen konnten; die ihre Untertanen (die man zunehmend „Staatsbürger“ nannte) so weit disziplinieren konnten, dass diese dem Staat zum Zwecke der öffentlichen Sicherheit das Recht zur legitimen Gewaltausübung zuerkannten (jedenfalls im Prinzip), die Steuern zahlten (wenn auch viele dabei betrogen); die alle zur Schule gingen (jedenfalls die meisten) oder Wehrdienst ableisteten (zumindest die diensttauglichen jungen Männer); Menschen, die sich im Rahmen eines Rechts bewegten, das der Staat gesetzt hatte (wenn sie auch vielleicht der Meinung waren, dass „Gerechtigkeit“ auf einem ganz anderen Blatt stand als „Recht“).
Erst der Staat der Moderne konnte ökonomische Ressourcen entwickeln und steuern (ob in der liberalen, der sozialen Marktwirtschaft oder im Sozialismus), die so viel abwarfen, dass der Staat für diejenigen sorgte, die nicht selbst für sich sorgen konnten, dass er sich für die allgemeine Daseinsvorsorge zuständig erklärte und sich deshalb „Sozial-“ oder „Wohlfahrtsstaat“ nannte. Und erst im Staat der Moderne entwickelte sich auf großer Fläche eine Form der politischen Partizipation, die – historisch unerhört – im Prinzip allen (erwachsenen) Menschen Mitsprache bei der Steuerung des Gemeinwesens zuerkannte. Und das gilt nicht nur für westliche Demokratien oder sozialistische Konzepte, sondern auch für Diktaturen, die sich seit dem 19. Jahrhundert auf einen (wie auch immer unterstellten) Volkswillen berufen mussten, um Legitimität zu erlangen. Und auch die Monarchen waren mit der konstitutionellen Monarchie nicht mehr die absoluten Herrscher, die sie einmal waren. Selbst sie mussten zumindest reklamieren, für einen Volkswillen einzustehen und unter der Herrschaft einer Verfassung zu stehen.
Mit der Berufung auf einen Gesamtwillen fiel aber auch die Möglichkeit weg, den Staat in irgendeiner Weise religiös zu legitimieren. Die Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht, die sich seit dem Hochmittelalter konfliktreich entwickelte, führte mit dem 19. Jahrhundert zu einem säkularisierten Staat. Der moderne Staat ist, in den apokryphen Worten des Kirchenrechtlers Rudolf Sohm, „ein geborener Heide“.4 (Jedenfalls gilt das im Prinzip und wurde unterschiedlich weitgehend umgesetzt). Er beschnitt die religiösen Gemeinschaften in ihrem Einfluss auf das Leben der Menschen empfindlich und übernahm Bereiche wie die Schule oder die Dokumentationsleistungen für den Personenstand (Geburtsurkunde, Eheschließung usw.), die vorher weithin in kirchlicher Hand waren, in seine eigene Regie. Andererseits konnte und wollte der Staat (jedenfalls im Prinzip) den Menschen nicht mehr vorschreiben, an was sie zu glauben hatten: Die Glaubensfreiheit gehört unabdingbar zum modernen Staat; und sie war eine wichtige Wurzel der Gedanken-, also der Meinungsfreiheit.
Erst der Staat der Moderne war aber auch ökonomisch und militärisch in der Lage, systematisch andere Teile der Welt zu erkunden, zu erobern, Jahrzehnte oder Jahrhunderte unter Kontrolle zu halten und dabei so zu durchdringen, dass diese auch nach seinem Muster organisiert wurden. Der von Europa ausgehende neuzeitliche Kolonialismus war nur aus der Staatsbildung heraus denkbar; er hat sich immer auch als Zivilisierungsmission begriffen, und die Übertragung und Entwicklung der Staatlichkeit in den kolonisierten Regionen war für diese Mission zentral. Auch in Afrika, in Polynesien oder in Südamerika sollten nach dem Willen der Kolonialherren Staaten entstehen und wurde Staatlichkeit entwickelt (wenngleich mit unterschiedlichem Erfolg und anderen Folgewirkungen).
Insofern ist der moderne Staat in seinen Formen und Strukturen ein Phänomen und ein Merkmal der Moderne. Dieses Ausgangspostulat wurde und wird nicht überall geteilt, und gerade in Deutschland, wo der Begriff des Staates eine besondere Schätzung genoss, gab es seit dem 19. Jahrhundert die geradezu kanonische Auffassung, dass der Staat der Neuzeit nur ein besonderer Fall des Umstands sei, dass alle entwickelten Gesellschaften Staaten hervorgebracht hätten.5 Manche Althistoriker operieren selbstverständlich auch für das alte Israel, das Perserreich oder die Kelten mit dem Staatsbegriff.6 Auch für das Mittelalter werden in neuerer Zeit Fragen der Staatlichkeit diskutiert.7 Die west- und südeuropäische Forschung benutzt in diesem Zusammenhang „estado“ oder „stato“ weitaus ungezwungener als die deutsche den Begriff „Staat“. Auch aus der politischen Anthropologie kommen Vorstellungen, „Staat“ als eine Herrschaftsform zu sehen, die die Bildung menschlicher Gemeinschaften seit sehr früher Zeit begleitet hat.8 Und die Globalgeschichte operiert für die großen asiatischen Reiche wie China oder Japan auch für die Zeit der (westlichen) Vormoderne oftmals recht zwanglos mit dem Staatsbegriff.9
In der Tat gibt es gute Gründe, all diesen politischen Ordnungen Momente von Staatlichkeit zu attestieren. Aber es ist eben etwas anderes, den Staatsbegriff in seinem vollen Bedeutungsumfang zu verwenden. Mit „Staatlichkeit“ ist das Bündel an Funktionen gemeint, das, treten sie zusammen auf, einen Staat ausmachen kann, die aber auch für sich oder schwächer ausgeprägt auftreten können. Dazu gehört etwa der Anstaltscharakter, dass also politische Herrschaft nicht mehr von einer Führungsperson abhängig ist; dazu gehören eine Finanzierung durch kontinuierliche Steuern, eine zentral gesteuerte Militärmacht, Gesetze mit Anspruch auf umfassende Geltung, eine Administration, die Aufgaben erfüllen und nicht nur Pfründner versorgen soll. Dazu gehört aber auch eine Einheitlichkeit der Herrschaft, die sich darin äußert, dass man nur diesem (einen) Staat verpflichtet oder unterworfen ist. Generell führt es nicht weit, in allen Gesellschaften mit Herrschaftsstrukturen einen Staat zu vermuten, denn dann kann man die Besonderheit dessen, was neu ist am modernen Staat, nicht mehr erkennen. Aber man kann diese Vor- und Außer-Geschichten nicht unterschlagen, wenn man verstehen will, was so neu und einzigartig am modernen Staat ist.
Dass wir es mit einem neuen Phänomen zu tun haben, erhellt auch aus der Selbstbezeichnung der modernen politischen Ordnungen. Denn erst in der Frühen Neuzeit hat sich der Begriff so herausgebildet, wie wir ihn kennen. Die Begriffsgeschichte kann dieser Selbstbeschreibung nachspüren.10 „Staat“ kommt aus dem Lateinischen „status“ (= „Zustand“, „Stand“) und wird in der Formulierung „status rei publicae“ (= der Zustand des Gemeinwesens) zu einem Begriff, der eine politische Verfasstheit beschreibt. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit meinte vor allem im außerdeutschen Sprachgebrauch „status“ auch ein Landgut, eine Besitzung (das englische Wort für Immobilien „real estate“ verweist darauf). Status war (wie die französische Fassung „état“) zunächst eine Bezeichnung für die mittelalterlichen Stände, die landgebunden waren und über Land verfügten: Ein König, den man John Lackland nannte (= Johann Ohneland 1166–1216: ein bösartiger Spottname. Eigentlich hieß der Mann Plantagenet), war deshalb kein legitimer König. Erst im 17. Jahrhundert bürgerte es sich in Deutschland ein, den Begriff Staat (oftmals auch noch „Stat“ ohne die deklinatorische Nachsilbe „us“ geschrieben) auch für die civitas oder die res publica, also für politische Gemeinschaften zu benutzen. Ein Beispiel sind die niederländischen „Generalstaaten“, d. h. die „Generalstände“, also eine Art Reichstag dieses Gebiets, das sich im 16. Jahrhundert vom Reich losgelöst hatte. Auch heute noch heißt das Parlament der Niederlande „Staten-Generaal“.
Das neue Modell politischer Herrschaft wurde also von neuen Begriffsbildungen begleitet – neue Semantiken verweisen darauf, dass die Welt sich mit den alten Worten nicht mehr adäquat beschreiben lässt. Das gilt schwerpunktmäßig für den deutschen und den romanischen Sprachraum. Für das Heilige Römische Reich hat Robert von Friedeburg argumentiert, dass sich mit „Staat“ schon früh eine institutionelle Vorstellung verband, die auch den Fürsten binden sollte und die mehr bedeutete als nur Sicherheit und Ordnung, sondern auch die „Gute Policey“ einschloss, also die Fürsorge für die Bürger und die aktive Sorge für eine gute Gesellschaft.11 Diese umfassende Bedeutung, die nach Friedeburg ein Lerneffekt aus den Katastrophenerfahrungen des Dreißigjährigen Krieges ist, findet sich im englischen Sprachraum nicht; hier hat der Begriff „state“ lange nicht die Prominenz gewonnen, die „Staat“, „état“ oder „estado“ hat.12 Ein möglicher Grund ist, dass sich in England das, was wir „Absolutismus“ nennen, nicht durchsetzen konnte, und man kann die (mehr oder weniger) absolute personale Herrschaft des Monarchen als ein Übergangsphänomen zur „absoluten Herrschaft“ des überpersönlichen Staates verstehen. Im Englischen wird man viel häufiger den Begriff „government“ finden, der viel breiter verstanden wird als im Deutschen „Regierung“, wenngleich im 20. Jahrhundert (und das heißt: mit der Ausweitung des Kriegs- und des Wohlfahrtsstaates) „state“ auch im englischen Sprachgebrauch gerade der Sozialwissenschaften wieder mehr in den Vordergrund gerückt ist, weil der Staat als autonomer Spieler in gesellschaftlichen Machtbeziehungen wieder ernster genommen werden soll.13 In der politischen Theorie war der Begriff aber anscheinend immer viel mehr im Gebrauch als in der praktischen Politik und im öffentlichen Diskurs.14 Die gewissermaßen metaphysische Bedeutung, die man vor allem in Deutschland dem Staat gab, fand sich sprachlich im Englischen nicht. Die andere Staatlichkeit der angelsächsischen Länder (auf die ich noch eingehen werde) drückt sich in einer anderen Semantik aus.
Natürlich lässt sich sofort einwenden: Die obige Beschreibung stimmt mit der Realität nur selten und niemals voll überein. Dem mag man nicht widersprechen. Die vielen einschränkenden Klammern, die hinter den obigen Aussagen stehen, deuten darauf. Dieses Modell des modernen Staates ist das, was Max Weber einen Idealtypus nennt: kein „Ideal“, sondern ein Konstrukt, das die einzelnen Merkmale im Dienste einer begrifflichen Reinheit steigert, um einen theoretischen Begriff davon zu gewinnen.15 Ein Idealtypus entwirft eine theoretische Vorstellung, um damit Erkenntnis über die Realität zu erhalten, und dies ist ein Verfahren, das wir auch im Alltag anwenden, um die Welt zu verstehen. Das geschieht in unserem Fall auf zweierlei Weise:
(1.) Einen Staat, der alle diese Merkmale voll ausgeprägt aufweist, gibt es selbstverständlich nicht; aber wir können die Frage, wie nahe dieser oder jener Staat dem Idealtypus des modernen Staates kommt, wie sehr er also „Staat“ in diesem Sinne ist, an einem solchen Idealtypus messen, können sozusagen die Abweichung in der Realität konstatieren. Solches passiert nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik: Wenn ein Staat nicht in der Lage ist, genügend Steuern einzutreiben, um seine Funktionen zu gewährleisten, oder wenn er die gesetzliche Ordnung nicht aufrechterhalten kann, dann attestieren wir ihm eine mangelhafte Staatlichkeit, und im Extremfall nennt man ihn einen „failed state“: Er kann seine Aufgaben nicht erfüllen. Insofern haben wir alle einen Idealtypus im Kopf, wenn wir „Staat“ sagen. Der seit den 1990er Jahren zunehmend beliebtere Begriff der Staatlichkeit meint, dass man unterschiedliche Erscheinungsformen und Intensitäten dieser Durchdringung der Gesellschaft mit Herrschaft empirisch beobachten kann. Besonders in der aktuellen Debatte um die Krise des Staates florieren solche Skalierungen.16 Sie zielen auf eine Relativierung des metaphysischen Begriffs von Staat, der die Diskussion über Jahrhunderte bestimmt hat.
(2.) Man kann aber einen solchen Idealtypus nicht nur von seinen verschiedenen Formen der Realisierung abgrenzen, sondern auch von anderen idealtypisch konstruierten Phänomenen: So können wir nicht nur beschreiben, was „Staat“ im Unterschied zu „Gesellschaft“ oder „Kirche“ ausmacht; sondern wir können auch in der begrifflichen Erfassung des Staates selbst feinere Unterscheidungen treffen; also etwa den Territorialstaat der Frühen Neuzeit (der Wert auf seine territoriale „Arrondierung“ legte) idealtypisch beschreiben und unterscheiden von Begriffen wie „Rechtsstaat“ (der nicht notwendig demokratisch sein musste, sich aber auf ein neutrales Recht stützte), wir können den (polemisch gemeinten, aber dennoch idealtypisch konstruierten) Begriff des liberalen Nachtwächterstaates des 19. Jahrhunderts vom Interventions- oder vom Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts abgrenzen, der die Daseinsvorsorge für die ihm zugehörigen Menschen als eine wichtige Aufgabe erkennt. All diese Begriffe sind Idealtypen, die uns erlauben, bestimmte Merkmale besonders zu betonen und zu beachten.
Idealtypen haben mithin eine doppelte Funktion: Erstens erlauben sie, die Abweichung der festgestellten Realität von der „Idee“ festzustellen, und damit sozusagen die Schwankungsbreite der empirischen Wirklichkeit (und damit am Ende auch die Tauglichkeit des Idealtypus) zu bestimmen: Stimmt es denn, dass der Staat ein geborener Heide ist, wenn er gleichzeitig Kirchensteuer erhebt? Und zweitens erlauben sie eine Strukturierung der sozialen (also auch der historischen) Wirklichkeit, weil sie uns trennscharfe Begriffe zu entwickeln ermöglichen. Damit können wir jenseits aller realen Verwischungen und Vermischungen die verschiedenen Phänomene für unsere Erkenntniszwecke unterscheiden.
Um 1900 hat die deutsche Staatslehre versucht, diesen Begriff des Staates idealtypisch zu bestimmen. Sie hat dabei drei Merkmale betont, die heute noch anerkannt sind:17
(1.) Ein Staat muss über ein Territorium verfügen: ein Staatsgebiet. Ohne Land kein Staat. Dieses Territorium muss so klar abgegrenzt sein, dass man eindeutig sagen kann: Dieses Stück Land gehört zum einen, jenes zum anderen Staat. Im Mittelalter gehörten zum Land im Allgemeinen die Personen, die darauf waren („Land und Leute“); aber mittelalterliche Herrschaften waren territoriale Flickenteppiche. Der moderne Staat hat danach gestrebt, dass auf seinem Gebiet nur sein Recht gilt; und er hat versucht, dieses sein Territorium zu „arrondieren“, also so zusammenzulegen, dass man sich von einem zum anderen Ende bewegen konnte, ohne Landesgrenzen zu überschreiten. Territorium ist Machtausdruck, und neues Territorium zu erobern und dem eigenen einzugliedern, bedeutet Machtzuwachs.
(2.) Ein Staat braucht ein Volk, ein Staatsvolk. Es muss klar sein, wer dazugehört und wer nicht. Dass damit ethnische oder nationale Kriterien verbunden sind („Deutsche“, „Franzosen“), ist nicht notwendig, sondern das Kennzeichen eines spezifischen Typs von modernem Staat, des Nationalstaats. Aus der Zugehörigkeit zum Staatsvolk erwächst einerseits die Figur des Staatsangehörigen (der zu seinem Staat in einem rechtlichen Verhältnis steht, das ihm auch Schutz garantiert – etwa wenn er im Ausland ist) und später die des über lange Zeit selbstverständlich männlich gedachten Staatsbürgers, der über alle politischen Rechte verfügt. Nur Staatsangehörige können zum Militär eines Landes eingezogen werden; nur Staatsangehörige sind wahlberechtigt. Das ist ja nicht selbstverständlich, denn auch diejenigen, die nicht dem Staat angehören, sind von dessen Regeln betroffen, wenn sie auf seinem Gebiet leben, zahlen z. B. Steuern. Andererseits wird damit sehr viel klarer zwischen denen unterschieden, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören: den nicht vollberechtigten Einwohnern, den Ausländern, den Fremden, den Bürgern eines anderen Staates. Diese Grenze scharf zu ziehen und zu begründen, hat sich immer als schwierig erwiesen. Ein Beispiel ist die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft: Muss man dann doppelt Wehrdienst leisten und darf man in zwei Ländern wählen?
(3.) Kein Staat ohne Staatsgewalt. Das ist der schwierigste Begriff, denn er ist mehrdeutig. Zunächst meint er das Monopol des Staates auf legitime Gewaltausübung nach innen, und dieses erwächst aus seiner hoheitlichen Macht über Staatsgebiet und Staatsvolk. Damit sind aber nicht nur Polizei und Gefängnis gemeint, sondern auch Recht und Gesetzgebung, hoheitliche Akte und Urkunden. Seit Thomas Hobbes – also seit dem Englischen Bürgerkrieg der 1640er Jahre – wurde die Staatsgewalt als Folge einer freiwilligen Überlassung interpretiert: Die Menschen treten das ihnen eigene, naturrechtlich gegebene Recht auf Gewalt, das den Krieg aller gegen alle implizierte, an den Staat ab, der ihnen dafür Sicherheit und inneren Frieden liefert. Die Gewalt, über die der Staat verfügt, dient also der Pazifizierung der Gesellschaft. Polizei, Rechtswesen, aber auch Verkehrsregeln reduzieren die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern. Für Max Weber war dieses Monopol der legitimen Gewaltausübung im Grunde das einzige Kriterium, das einen Staat definieren konnte, und alles andere folgte für ihn daraus. „Wenn nur soziale Gebilde bestünden, denen die Gewaltsamkeit als Mittel unbekannt wäre, dann würde der Begriff ‚Staat‘ fortgefallen sein, dann wäre eingetreten, was man in diesem besonderen Sinne des Wortes als ‚Anarchie‘ bezeichnen würde.“18 Nun hat aber die (vor allem linke) politische Theorie seit dem 19. Jahrhundert herausgearbeitet, dass die legitime Staatsgewalt auch dazu führen kann (vielleicht sogar führen muss), dass der solchermaßen ermächtigte Staat ganz erhebliche Gewalt gegen seine eigenen Bürger ausübt, dass er sie drangsaliert und terrorisiert und dass Widerstand gegen diese Staatsgewalt selbst zu einem kriminellen Delikt wird.
Auch die Geschichtswissenschaft, vor allem die Frühneuzeitforschung, hat darauf hingewiesen, dass die Staatsgewalt nach innen der Gewaltsamkeit des Staates nach außen korrespondiert. Das Verhältnis ist indes umstritten. Haben die Kriege der Frühen Neuzeit dazu geführt, dass sich gewissermaßen unintendiert Staaten herausbildeten, oder wurden staatliche Strukturen entwickelt zu dem Zweck, Krieg zu führen?19 Damit ist die beunruhigende Frage gestellt, ob der Krieg gewissermaßen Staatszweck sei, umgekehrt: Sind Staaten zum Frieden auf Dauer überhaupt fähig? Die Gewalt, die der europäische Kolonialismus am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, erst recht die Massenkriege des 20. Jahrhunderts beruhten schließlich auf einer historisch unbekannten Zuspitzung von staatlicher Macht.
Vor allem mit der Staatsgewalt verbindet sich der Begriff, der entscheidend für das moderne, europäische Verständnis des Staates ist: Souveränität.20 Der Begriff meint, dass der Staat Herr (!) seiner selbst ist. Nach außen bedeutet das: Er allein kann legitim Krieg führen. Das ist nicht selbstverständlich, denn über weite Teile der Geschichte konnte jeder Krieg führen, der dazu die Mittel hatte. Parallel dazu gab es aber seit dem Altertum die Lehre vom gerechten Krieg; sie trat mit dem Aufstieg souveräner Staaten zurück, weil Souveränität eben im Recht zur (wie auch immer legitimierten) Kriegführung bestand. Für den souveränen Staat gab es ja keine Instanz mehr, die entscheiden konnte, ob sein Krieg gerecht sei, denn über sich erkannte er keinen Richter mehr an. Seit den Kriegen der Frühen Neuzeit sind Staaten in Europa faktisch die Monopolisten auf legitime Kriegführung geworden, und das hieß einerseits, dass alle anderen, die Ähnliches unternahmen, als Aufständische, Guerilla oder Terroristen kriminalisiert wurden. Andererseits hatte die Monopolisierung zur Folge, dass sich eine Form des „gehegten“ Krieges herausbildete, dass auch Kriege nach bestimmten Regeln geführt wurden: Von der Kriegserklärung bis zur Kapitulation, dem Friedensvertrag, dem Verhalten den Besiegten und Kriegsgefangenen gegenüber gab es ein international weithin anerkanntes Regelwerk. Die Frage nach dem gerechten Krieg trat in den Hintergrund gegenüber der Frage, ob der Krieg gemäß den Regeln geführt wurde.21 Dieses Regelwerk wurde indes erst am Ende des 19. Jahrhunderts formalisiert, vor allem in der Haager Landkriegsordnung (1899). Im „Europäischen Bürgerkrieg“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Regeln schon wieder weithin außer Kraft gesetzt. Die asymmetrischen Kriege der letzten Jahrzehnte (meist nennen wir dies „Terrorismus“) haben sich erst recht nicht mehr darum geschert: Heute führen häufig Staaten gegen Nicht-Staaten Krieg.
Nach innen bedeutete Souveränität, dass der Staat den Bürgern Regeln setzen und deren Einhaltung durchsetzen konnte, eben mit Hilfe der Staatsgewalt, wozu auch das Rechtswesen gehört. Der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt hat dieses Konzept noch radikalisiert: Für ihn stand die Souveränität über dem Gesetz. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“22 Souverän ist also der, der das Recht auch außer Kraft setzen kann. Erst wenn das Gemeinwesen ganz existenziell bedroht ist – im Ausnahmezustand –, zeigt sich, wer wirklich die Entscheidungsgewalt hat. Es ist aber deutlich, dass Schmitt bei dieser Formulierung eher eine Person als „den Staat“ im Blick hatte. Er dachte an eine Situation des Bürgerkriegs, in dem einer das Heft in die Hand nahm und sich nicht um etwaige Regeln kümmerte – so wie Hobbes.
In dem Maß, in dem der Staat sich demokratisierte und also die Bürger nicht mehr bloß Objekte, sondern zugleich Akteure staatlichen Handelns waren, wanderte aber auch der Souveränitätsbegriff: War es in der Frühen Neuzeit der Monarch als Person, der souverän war, wurde der Staat als Institution sein Nachfolger. Mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution tauchte aber im späten 18. Jahrhundert ein gänzlich neuer Gedanke auf: dass nämlich das Staatsvolk selbst der Souverän sei. Staatliche Souveränität als Volkssouveränität: Damit war nicht mehr ein Staat „über“ der Gesellschaft denkbar, sondern er war politischer Ausdruck der Gesellschaft. In Großbritannien, das sich bekanntlich früher parlamentarisch organisierte, hat sich deshalb eine besondere Form von Souveränität ausgebildet: Hier ist nicht das Volk, sondern das Parlament (verstanden als beide Häuser, zusammen mit der Monarchie, der crown-in-parliament) der Souverän, als Ausdruck einer Gesamtrepräsentation der Gesellschaft. In neueren Diskussionen im Gefolge der ost- und mitteleuropäischen Revolutionen wird die Verlagerung des Souveränitätsbegriffs hin zum Bürger radikalisiert: Nun ist es nicht das gesamte Volk, sondern es sind die Bürgerinnen und Bürger auch als Individuen, deren Rechte gegenüber dem Staat geschützt werden müssen und die dessen Souveränität konstituieren.23 Die Souveränität ist mit der Demokratisierung also gewissermaßen nach unten gewandert. Ein Staat „über“ der Gesellschaft, der von oben befiehlt, ist damit nicht mehr gut denkbar.
Der hier beschriebene Idealtypus „Staat“ ist zunächst ein Phänomen der europäischen (und damit ist im Sinne Max Webers gemeint: der westlichen) Moderne. „Europa hat den Staat erfunden“ (Wolfgang Reinhard). In Asien, vor allem in China, entstanden gleichzeitig oder vielleicht auch schon früher wohl politische Herrschaftssysteme, die sehr weitreichende Kapazitäten der Mobilisierung und der inneren Durchherrschung aufwiesen.24 Nur in Europa aber entwickelten sich politische Systeme, die (in Max Webers Begrifflichkeit) „Anstaltscharakter“ aufwiesen, die relativ unabhängig waren von den Personen an der Spitze und deshalb stabil. Nur hier bildete sich eine ständige, fachgeschulte Bürokratie heraus, die auf der Basis von Qualifikation und Leistung funktionierte; nur hier gab es (als Folge des Einflusses des römischen Rechts) eine weithin ungebrochene (und staatsübergreifend vergleichbare) Rechtsentwicklung. Hier wurde ein Recht ausgebildet, bei dem der Tatbestand unabhängig von der Person und nach einem festgelegten Verfahren verhandelt wurde. Allerdings beobachteten die Europäer im Zuge der europäischen Expansion teilweise sehr genau die Formen und Strukturen politischer Herrschaft vor allem in Asien und übernahmen manches davon, meist in einem verwickelten Prozess. Es kann keine Rede davon sein, dass all das, was sich in der Neuzeit als Staat herausbildete, allein in Europa erfunden wurde.25
Warum Europa? Dass der moderne Staat sich in Europa herausbildete, heißt noch nicht, dass er sich nur hier herausbilden konnte. Dennoch lohnt es sich, nach den spezifischen Bedingungen der Möglichkeit für diesen Prozess zu fragen. Hier ist zunächst auf die politischen und kulturellen Traditionen des Römischen Reichs und der Römischen Kirche zu verweisen, an die sich insbesondere im Bereich des Rechts anknüpfen ließ. Aber auch die Rechtsfigur des römischen Bürgers, den man als eine Vorform des Staatsbürgers verstehen kann, oder die politischen und kulturellen Traditionen der selbständigen griechischen Polis wirkten fort.
Dass sich daraus aber moderne staatliche Strukturen entwickelten, hat vor allem mit der Konkurrenz zu tun:
(1.) Die relative Kleinräumigkeit in Europa begünstigte eine ständige, oft kriegerische Konkurrenz der Herrschaft, die nicht nur zu militärischer Modernisierung, sondern auch dazu führte, dass über die Zeit die territoriale Homogenität und Integrität ebenso wie die eindeutigen Grenzen betont wurden. Im kleinräumigen, dicht besiedelten Europa waren klar gezogene Grenzen wichtiger als im großräumigen China. Die permanente Gewaltsamkeit dieser einander nahen Gesellschaften, die sich vor allem in den mörderischen Bürgerkriegen der Frühen Neuzeit äußerten, ermöglichten die Konzentration der Gewaltpotentiale, so wie das Thomas Hobbes beschrieben hatte.
(2.) Der moderne Staat ist nicht zu denken ohne den Kapitalismus, der sich ebenfalls zunächst und relativ gleichzeitig in Europa entwickelte. Der Kapitalismus bedurfte für sein Funktionieren eines Modells der friedlichen Konkurrenz, in der man sich auf rechtliche Sicherheiten verlassen und langfristig planen konnte – das konnte der Staat liefern. Gleichzeitig aber hat der Kapitalismus die neuen Staaten mit Ressourcen ausgestattet, ohne die sie niemals so umfassend kriegsfähig gewesen wären.
(3.) Dieser Kapitalismus gedieh in der okzidentalen Stadtbürgergemeinde, die sich im Wesentlichen selbst verwaltete, in der freie Bürger wirtschafteten, politisch teilhabeberechtigt waren und um die Teilhabe mit (meist) friedlichen Mitteln konkurrierten. Hier bildete sich – mühsam und ungleichzeitig – das Modell des freien Marktes aus, das auf dem freien Austausch von Gütern und Arbeitskraft beruht. Die Stadt in diesem Sinne ist ebenfalls ein europäisches Phänomen. Sie war mehr als nur eine relativ große Ansiedlung von Menschen, sondern sie war schon im Mittelalter ein selbständiges politisches Gebilde, das eine Vorform des modernen Staates und der Staatsbürgerlichkeit darstellte – die Stadtrepubliken sind gewissermaßen ein Zwischending. Außerhalb Europas gab es diese städtische Autonomie nicht.
(4.) Und schließlich ist der moderne Staat ein Ergebnis der Konkurrenz zwischen geistlicher und weltlicher Macht, die sich seit dem Hohen Mittelalter entwickelte. Dieser Dualismus, der freilich auf Jahrhunderte hinaus höchst konfliktreich blieb, ermöglichte eine Staatlichkeit, die, anders als überall sonst auf der Welt, keine religiösen Legitimationen mehr benötigte, sondern einerseits dem Individuum Freiräume gewähren konnte; die andererseits auch Ersatzreligionen wie den Nationalismus ermöglichte, welche ihrerseits eine Loyalität und Sterbebereitschaft freisetzen konnten, die religiöser Überzeugung vergleichbar war. Der europäische Staat war kein Gottesstaat.
Seit der Frühen Neuzeit wurde dieser Typ von politischer Herrschaft in die Welt hinaus exportiert, häufig sehr gewalttätig. Dort veränderte er sein Gesicht, weil er auf andere Kontexte traf. Das gilt für Asien (und unter gewissen Umständen ist man geneigt, auch Russland dazuzuzählen) ebenso wie für Afrika, wo tribale Zugehörigkeiten sich nicht leicht mit dem Konzept „Staat“, erst recht nicht mit der erfundenen „Nation“ vertrugen, oder auch für Lateinamerika, wo kolonial geprägte Siedlergesellschaften sich einer Durchstaatlichung der Gesellschaft widersetzten; Gewaltmonopol und Rechtsstaat wurden hier häufig nur prekär entwickelt. In Nordamerika jedoch bildeten die europäisch geprägten Siedlergesellschaften einen europäischen Typ von Staatlichkeit aus, auch um den Preis der Vernichtung der indigenen Völker. Insofern ist der europäische Staat eigentlich welthistorisch ein Sonderfall, eine Ausnahme. Aber er ist eben auch ein Exportartikel und viele seiner Merkmale sind in anderen Regionen implementiert worden.26
Territorium, Staatsvolk, Staatsgewalt: Diese drei Kriterien kann man als Ausgangspunkt für moderne Staatlichkeit nehmen. Für die Epoche seit dem 19. Jahrhundert lassen sich einige weitere Momente erkennen, die sich zwar aus diesen Kriterien ergeben, aber sich nicht von selbst verstehen, dennoch aber unser heutiges Verständnis grundlegend bestimmen. Sie erwachsen aus dem Verhältnis des Staates zu seiner Gesellschaft, genauer: sowohl aus den Ansprüchen, die er an die Gesellschaft stellt, wie auch umgekehrt. Dieses Verhältnis war deshalb neu, weil erst seit dem späten 18. Jahrhundert beide Sphären als unterschieden wahrgenommen wurden. „Gesellschaft“ wird von uns häufig im Sinn von „alles“, der gesamten sozialen Wirklichkeit gebraucht. In einem spezifischeren, historischeren Sinne meint Gesellschaft eine Sphäre, die nicht privat (sondern öffentlich), die aber nicht politisch durchherrscht (also „staatlich“), sondern von der Freiwilligkeit der Akteure und ihrer Handlungen bestimmt ist. Im Altertum und im Mittelalter gab es keine ausdifferenzierte Gesellschaft in diesem Sinn. Eine solche entstand erst in der Neuzeit.27 „Gesellschaft“ – zunächst als „bürgerliche Gesellschaft“ oder „civil society“ – wurde im Gegensatz zum absolutistischen Fürstenstaat gebraucht. Beiden Sphären wurden unterschiedliche Funktionen zugewiesen, wobei die der Gesellschaft, folgt man dem Vordenker Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Sphäre war, wo die (männlichen) Privatleute sich freiwillig trafen: zum geschäftlichen Verkehr, zum Nachdenken und Diskutieren („Räsonnieren“) über gemeinsame Belange, zur Formulierung gemeinsamer Interessen. Aus dieser Sphäre der (Zivil-)Gesellschaft wurden Erwartungen an den Staat formuliert, ebenso wie der Staat sich in seinem Handeln auf diese Gesellschaft richtete.
Ein moderner Staat schafft sich deshalb ein Recht, das die Menschen gleich behandelt – und ihnen sogar die Möglichkeit eröffnet, unter Umständen gegen den Staat selbst zu klagen! Der moderne Staat betreibt sein Geschäft kontinuierlich; dazu braucht er ein ständig arbeitendes, entsprechend ausgebildetes und loyales Personal: Für einen Staat ist ein Staatsapparat, besonders in Gestalt einer Bürokratie, unabdingbar. Für solche Aufgaben bedarf er einer dauerhaften Finanzierung. Während im Mittelalter Steuern nur dann erhoben wurden, wenn besondere Ausgaben (etwa für einen Krieg) zu tätigen waren, entwickelt der moderne Staat eine ständige und möglichst alle erfassende Besteuerung. Man kann dies als Selbstermächtigung eines in seiner Eigenlogik wuchernden Staates sehen; man kann es aber auch verstehen als die Ermöglichung der Erfüllung von Aufgaben, die von ihm erwartet werden und die sich seit dem 19. Jahrhundert explosionsartig ausgeweitet haben.
Darüber hinaus erzieht der Staat seine Bürger. Er sorgt dafür (und erzwingt es), dass sie eine basale Bildung erhalten, auch, damit die Gesellschaft (etwa die Industriewirtschaft) fachkundiges Personal hat, mit dem sie die Mittel erwirtschaften kann, die der Staat wiederum brauchen kann. Auch für diese Aufgaben muss er Ressourcen bereitstellen, z. B. kompetente Lehrer und Schulgebäude. Während die schulische Bildung im 19. Jahrhundert von vielen eher als Zwang verstanden wurde, werden schulische und Berufsausbildung heute weithin als ein elementares Menschenrecht verstanden, das man vom Staat einfordern kann. Der Staat erzieht seine Bürger darüber hinaus zu Staats-Bürgern, die ein Bewusstsein ihrer Rechte und Pflichten haben und die ein Staatsbewusstsein besitzen, das sie freiwillig mittun lässt, so dass der Staat nicht für alles Zwang ausüben muss. Der französische Philosoph Michel Foucault hat diese Art des Regierens, die auch durch die Untertanen selbst geschieht, „Gouvermentalité“ genannt.
In den meisten von diesen Bereichen wurde der Staat seit dem 18. Jahrhundert zum Monopolisten, auch dann, wenn er diese Aufgaben von anderen bearbeiten ließ und sie nur regulierte und kontrollierte (wie etwa bei Privatschulen und -universitäten). Das macht eine weitere europäische Spezialität aus. In den meisten anderen Gesellschaften stand dem Staat, wie auch immer er sich präsentierte, ein mächtiges „Anderes“ entgegen, das solche Funktionen ebenfalls übernahm oder beanspruchte: das islamische Recht, das buddhistische Mönchtum oder auch regionale Kriegsherren, die sich auf Clans und Stammesloyalitäten stützten.28 Dass der Staat zur alleinigen Institution wurde, die Aufgaben und Wohltaten verteilte, Probleme erkannte und bearbeitete – oder von Institutionen bearbeiten ließ, die er kontrollierte – und legitimen Zwang ausübte: Das war europäisch.
Das gilt auch für einen ganz neuen Aufgabenbereich, der seit dem späten 19. Jahrhundert dazukam: den Wohlfahrtsstaat. Er basierte überall auf kommunalen oder selbstorganisierten Instrumenten, die für die jeweiligen Gruppen spezifische Risiken abfedern sollten. Das meist kommunale Armenrecht hat überall in Europa für diejenigen, die nicht für sich selbst sorgen konnten, Sicherungsmaßnahmen vorgesehen – einigermaßen kümmerliche, und meist auf rigider Disziplinierung und Ausschluss beruhend. Oder die Angehörigen einzelner Berufsgruppen schlossen sich zusammen, um miteinander eine Versicherung gegen ihre spezifischen Berufsrisiken zu entwickeln – das waren die ersten Unfall- oder Invalidenkrankenkassen. Der Staat ist also nicht der Erfinder der Sozialpolitik. Von einer subsidiären, unterstützenden Rolle aus hat er die Aufgabe aber weithin an sich gezogen, auch wenn andere Akteure in seinem Auftrag agieren. Dieser Prozess erfolgte in den einzelnen Ländern sehr ungleichzeitig und ungleichgewichtig. Vor allem die Kriege des 20. Jahrhunderts, die auf Massenloyalität basierten, waren der Ausgangspunkt für eine zunehmende Verantwortungsübernahme im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge: Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit, Bildung, Erholung – all diese staatlichen Aufgaben sind historisch neu und kennzeichnen den Staat im 20. Jahrhundert. Am Anfang des 21. Jahrhunderts werden andere mögliche Aufgaben des Staates diskutiert, etwa, in Bezug auf Rassismus, Gendergerechtigkeit oder sexuelle Orientierung Gerechtigkeit herzustellen und dafür auch Zwang auf Unternehmen und öffentliche Institutionen auszuüben.
Was staatliche Aufgaben sein sollen, ist mithin nicht von vornherein umrissen. Staaten haben sich zu unterschiedlichen Zeiten um sehr unterschiedliche Dinge gekümmert und die Streubreite war und ist hoch. Infrastrukturaufgaben haben den Staat von Anfang an begleitet und sind im 20. Jahrhundert noch ausgeweitet worden – aber gerade kommunikative Infrastrukturen sind häufig in Privatinitiative aufgebaut worden.29 Nicht nur sozialistische Staaten rühmen sich einer umfassenden staatlichen Fürsorge; so ist etwa das berühmte Gesundheitssystem in Großbritannien, der National Health Service, seit seiner Gründung 1948 staatlich und durch Steuern finanziert. In den USA sind dagegen die meisten Versicherungsleistungen privat organisiert und der Staat leistet nur ein Minimum. Es gab und gibt Staaten mit einer hohen und solche mit einer niedrigen Steuerquote, in manchen Ländern liegt die Staatsquote (also der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der staatlich erwirtschaftet wird) bei weit über 50 Prozent, in manchen unter 20 (so ausgerechnet im kommunistischen China). Das Verhältnis ist aber immer ähnlich: Der Staat sah sich gesellschaftlichen Forderungen gegenüber, die in irgendeiner Weise mit staatlichen Forderungen an die Gesellschaft korrespondierten. Und wenn nicht alles täuscht, dann ist der historische Trend einer der Ausweitung: mehr Erwartungen an den Staat, aber auch mehr staatliche Organisierung der Gesellschaft.
Lange Zeit galt diese Logik zunehmender staatlicher Zuständigkeit geradezu als historisch unabweisbar. Max Weber hat im Umfeld des Ersten Weltkriegs eine umfassende Verstaatlichung der Gesellschaft als unausweichlich gesehen, durchaus skeptisch; er sah, vor allem mit Blick auf die Bürokratie, ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ am Horizont.30 Er tat das aus der Erfahrung mit den europäischen Revolutionen seit 1917 und in der Erwartung eines sozialistischen Zeitalters. Damit traf er die Funktionsweise des sozialistischen Staates sehr viel genauer als die Prognosen von Marx, Engels und Lenin, die ein Absterben des Staates in der sozialistischen Gesellschaft vorhersagten (diese Prognosen sind übrigens ein frühes Beispiel für das Bewusstsein von der Historizität des Staates). Da war in der Realität des Sozialismus aber sehr viel mehr Staat, in jeder Hinsicht.
Auch jenseits der sozialistischen Welt hat im 20. Jahrhundert die Verstaatlichung der Gesellschaft zugenommen. In der ersten Hälfte geschah das vor allem unter dem Vorzeichen des Kriegsstaates, der die gesamte Bevölkerung mobilisieren wollte. Andererseits haben schon vor 1945, erst recht aber danach, der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der staatlichen Steuerungskapazitäten enorme Zuwächse an Staatlichkeit mit sich gebracht. Das war aber womöglich keine Einbahnstraße, wie von Max Weber prognostiziert. Denn seit den 1970er Jahren hat der Staat sich in ganz (West-)Europa, ausgehend von den USA, aus vielen Feldern wieder zurückgezogen. Die Bahn, die Telekommunikation, die Post, viele Banken, die bis dahin staatlich waren, wurden privatisiert. In manchen Staaten werden auch Aufgaben, die man seit jeher zu den Kerngebieten staatlichen Handelns zählte, privatisiert, wie Gefängnisse oder Kriegführung. Jedoch ist neuerdings wieder deutlicher sichtbar, dass in großen Krisen – seien dies Bankenkrisen, Flüchtlingskrisen, Wohnungsnot, die Klimakrise oder Corona – dem Staat wieder eine besondere Kompetenz für die Problemlösung attestiert wird und massive Eingriffe in Wirtschaft und gesellschaftliche Prozesse akzeptiert werden. Manche befürchten umgekehrt, dass der Staat nach einer solchen Krise das Heft nicht wieder ohne Weiteres aus der Hand geben will und eine neuerliche Verstaatlichung der Gesellschaft droht. Auch die derzeit weltweit sehr erfolgreichen autoritären Regierungsmodelle operieren mit einem Staatsmodell, das – häufig sehr personalistisch – direkt in alle möglichen Bereiche, sei es Finanz-, Rechts- oder Bildungswesen, interveniert und dadurch die Frage nach der Achtung von Grund- und Freiheitsrechten aufwirft.
Gleichzeitig mehren sich die Hinweise, dass die Staatlichkeit, wie wir sie in den letzten Jahrhunderten kannten, womöglich an ein Ende kommt: Zum einen stößt die (national-) staatliche Autorität immer mehr an ihre Grenzen durch die Verschiebung von Macht auf transnationale Wirtschaftsakteure, die sich weder um Staatsgebiet noch um Staatsvolk groß bekümmern und denen mit herkömmlichen Mitteln kaum mehr beizukommen ist. Das prominenteste Beispiel sind die Internetunternehmen, die durch ihre Ansiedlungspolitik trickreich jedwede Steuern zu vermeiden suchen. Und zum anderen konstatiert man eine Krise der Staatlichkeit außerhalb Europas, die mit „kleinen Kriegen“ und parastaatlichen Funktionen bei Drogenkartellen, fundamentalistischen Bewegungen und Warlords einhergeht. Die Failed States sind ein Thema der Politikwissenschaft und es bleibt zu diskutieren, ob das nur ein Phänomen von (aus europäischer Perspektive) peripheren Räumen ist oder ob das Scheitern von Staatlichkeit auch in der westlichen Welt bevorsteht.
Quer dazu steht aber eine neue Form der Staatlichkeit, die sich im 20. Jahrhundert entwickelte und die Max Weber noch kaum absehen konnte: das Regieren „jenseits des Nationalstaats“ (Michael Zürn): Supranationale Organisationen oder suprastaatliche Zusammenschlüsse entwickeln staatsförmige Dynamiken, schließen Verträge ab und setzen Recht. Grenzüberschreitende Aktivitäten in der Wirtschaft, der Kommunikation, der Mobilität erfordern dies, viele Probleme wie Umwelt oder Migration oder die Besteuerung von Internetunternehmen lassen sich nicht auf nationalstaatlicher Ebene lösen. Auch wenn diese Suprastaatlichkeit in den letzten Jahren in die Defensive geraten ist, stellt sie ein neues Moment von Staatlichkeit dar, das vielen Hoffnung macht (weil sie mit der Denationalisierung die Hoffnung auf Pazifizierung verbinden), anderen aber Angst (etwa weil sie um die Identifikationen oder auch um die Leistungen fürchten, die der Nationalstaat bieten kann). Das ist aber eine andere Staatlichkeit als diejenige, die wir kennen, weil sie nicht mehr durch einen allmächtigen Souverän gewährleistet wird, sondern prinzipiell vom guten Willen der Beteiligten, von Verträgen und Kooperation abhängig ist.
Die moderne Geschichtswissenschaft ist parallel zum modernen Staat entstanden. Das hat Themen und Selbstverständnis des Faches tief geprägt. Allerdings kann man auch hier nationale Unterschiede feststellen. Christopher Bayly hat für die englischsprachige historiographische Tradition ein geflissentliches Übersehen des Staates konstatiert.31 Man wird nicht fehlgehen, wenn man einen Grund dafür in der anders gearteten Staatlichkeitsgeschichte findet, die sich auch begriffsgeschichtlich zeigt. Für die deutschen Historiker galt das nicht. Sie haben sich frühzeitig und ausgiebig am Staat abgearbeitet und ihre eigene Profession sehr an ihm gemessen.32 Die folgenden Bemerkungen beziehen sich deshalb vor allem auf die deutsche historiographische Tradition. Ein „Volk“ wurde in diesem Verständnis erst durch den Staat zu dem, was es war, und deshalb konnte es erst dann eine Geschichte haben, wenn es auch einen Staat hatte. Dahinter stand zunächst die ganz einfache quellenkritische Erkenntnis, dass Staaten Akten anlegen und Archive unterhalten – an andere Formen von Überlieferung dachte man damals nicht. Und ohne Akten keine Geschichte. Aber es stand auch eine (besonders in Deutschland wirksame) metaphysische Vorstellung dahinter, die der Historiker Heinrich von Sybel kurz nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs so formulierte: „Die Staatsgemeinschaft ist nicht eine willkürliche Erfindung der einzelnen Menschen, sondern sie ist die angeborene nothwendige Form jedes menschlichen Daseins“:33 Nur durch den Staat konnte sich Menschsein verwirklichen. Der Staat als höchste Form menschlicher Gemeinschaft und als Ziel der Weltgeschichte: Das war ein Gedanke des Philosophen Hegel. Der Althistoriker Eduard Meyer war sogar der Ansicht, dass der Staat logisch wie historisch älter als der Mensch sei. Und tatsächlich sprechen wir ja auch bei Bienen oder Termiten von „Staaten“: Ist der Staat nun älter als die Menschen oder übertragen wir damit nur, unangemessen, einen uns zentralen Begriff?
So historisierend die Historiker des 19. Jahrhunderts auch alles als etwas „Gewordenes“ und insofern Historisches ansahen: Der Staat war für sie eine gleichsam unhistorische Größe; dass er sich entwickelte, war Ausdruck des menschlichen Fortschritts, und wer ihn nicht hatte, der war historisch weniger weit gekommen. Diese Verherrlichung des Staates schloss für viele (und beileibe nicht nur für deutsche) Historiker auch eine Apotheose der Nation ein, weil sich hier, so ihre Meinung, der Staat auf der höchsten Ebene verwirklichte, denn hier kam zusammen, was (scheinbar) zusammengehörte: Menschen gleicher Sprache und Kultur, die sich ein gemeinsames politisches Ziel setzten.
Eine Historisierung des Staates durch die Geschichtswissenschaft kann man eigentlich erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts konstatieren. Max Weber und Otto Hintze begannen, nach der Entwicklung und der Eigenart des Staates zu fragen – beide in bemerkenswerter begrifflicher Übereinstimmung, indem sie den Staat als „Anstalt“, als „Betrieb“ und also abgelöst von der personalen Herrschaft der großen Männer fassten.34 Sie überprüften die Entwicklung der Bürokratie oder des Kriegswesens nicht nur auf ihre historische Entwicklung, sondern auch auf ihre europäischen Besonderheiten hin. Aber noch lange, bis nach dem Zweiten Weltkrieg, hielt sich die Verherrlichung des Staates „an sich“, den die häufig ausgemacht rechtsnationalen Historiker der Weimarer Republik gerne von der Staatsform absetzten: So konnten sie (Gerhard Ritter, Hans Rothfels oder Fritz Hartung, um nur einige zu nennen) an der Staatsidee festhalten und doch die Republik von Weimar ablehnen. Als positives Gegenbild wurde der preußische Staat des 18. und 19. Jahrhunderts gepriesen.
Es waren ausgerechnet NS-affine Historiker, allen voran der Mediävist Otto Brunner, die diesen unhistorischen Staatsbegriff kritisch auf’s Korn nahmen. 1939 wandte Brunner sich dagegen, den modernen Staatsbegriff auf das Mittelalter anzuwenden.35 Er tat das zunächst aus völkischen Gesichtspunkten: Weil ein Staat immer nur die äußere Hülle einer Volksgemeinschaft sei, von der im Mittelalter noch nicht die Rede sein könne. Er führte stattdessen den Begriff der Herrschaft36 ein und verwies auf die für das Mittelalter zentrale personale Dimension von Herrschafts- und Gefolgschaftsbeziehungen, die sich nicht mit der abstrakten Konstruktion von „Staat“ vertrage. Sein Argument ist seither prägend geworden für die Diskussion um den Staat in der Moderne: Für das Mittelalter sind andere Zugehörigkeiten kennzeichnend. „Herrschaft“, „Land“, „Gefolgschaft“ oder „Genossenschaft“ bilden Loyalitätsmuster im Personenverband, als den man eine mittelalterliche politische Gemeinschaft immer kennzeichnen muss. Brunners These, die eine verworrene Rezeptionsgeschichte durchlaufen hat, trug trotz der ideologischen Schieflage seines Autors dazu bei, den Staatsbegriff nach 1945 zu historisieren.
Das geschah allerdings nur zögerlich. Denn einerseits waren nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die ohne die zerstörerische Kraft der Staatsmacht nicht zu denken sind, die Historiker lange Zeit sprachlos – sie sprachen nicht über das Versagen des Staates als historischer Kraft, sondern eher wie der Freiburger Historiker Gerhard Ritter über die „Dämonie der Macht“ und über die Staatsidee „als solche“. Die Vorherrschaft einer solchen Politikgeschichte hat dazu geführt, dass sich seit den 1960er Jahren eine Sozialgeschichte als Gegenbewegung herausbildete, die auf den Staatsbegriff weitgehend verzichtete und lieber von „politischer Herrschaft“ in einem soziologischen Sinn sprach. Und das in einer Zeit, in der eine enorme Ausweitung der Staatstätigkeit vonstattenging, der Sozial- wie der Interventionsstaat immer bedeutender wurde und (man vergisst das gerne) im Zeichen des Kalten Krieges auch der Kriegsstaat eine Konjunktur erlebte. Das Ende der Blockkonfrontation und die Wiedervereinigung, die ein Ansteigen der Staatstätigkeit und einen Wandel der internationalen Politik mit sich brachte, hat die Gewichte zwischen beiden Polen verschoben, weil nun eine Friedensdividende zu verteilen war und damit der Interventionsstaat eine neue Bedeutung erhielt, die man in den neoliberalen Konzeptionen der 1980er Jahre nicht erwartet hatte.
Neuere Anregungen zur Beschäftigung mit der Geschichte von Staat und Staatlichkeit sind eher von außen gekommen. Die Historische Soziologie, die vor allem in den USA beheimatet ist und zu Modellbildungen neigt, hat sich seit jeher an den langen Prozessen der Staatsbildung interessiert gezeigt. Vor allem Charles Tilly war hier ein Anreger. Er hat seit den 1970er Jahren in international vergleichenden Längsschnittstudien zur Entstehung des Nationalstaats und zum Zusammenhang von Staat und Gewalt gearbeitet.37 Die Ausweitung der Perspektive über die Nationalgeschichte hinaus, die Öffnung zur Europäischen und zur Globalgeschichte hat es mit sich gebracht, dass der Staat der europäischen Moderne wieder neu auf die Agenda gekommen ist, dieses Mal aber weniger als ein Modell denn vielmehr als ein welthistorischer Sonderfall. Es verwundert nicht, dass vor allem aus der Geschichte der Frühen Neuzeit wichtige Impulse gekommen sind. Im angloamerikanischen Raum waren es vor allem die Geschichte von Empires und ihre Formen von Staatlichkeit, die das Interesse der Globalhistoriker geweckt haben.38 In der deutschen Geschichtswissenschaft ist auf Wolfgang Reinhard zu verweisen, der seine Forschungen zur Entstehung des Staates in der Frühen Neuzeit frühzeitig mit einem Interesse an Kolonial- und Dekolonisierungsgeschichte verbunden hat und dem die folgenden Ausführungen viel verdanken.39 In nationalgeschichtlicher Perspektive hat Pierre Rosanvallon die Geschichte des Staats in Frankreich seit dem 18. Jahrhundert untersucht und dabei betont, dass „der Staat als solcher“, als allgemeiner Typus, verschwimmt, wenn wir nahe genug an unseren Gegenstand herantreten, dass wir es dann eigentlich immer mit Sonderwegen und eigenen Ausformungen zu tun haben.40 Dies gilt es in der Tat zu bedenken, und es wird im Folgenden immer wieder aufscheinen, dass „Staat“ in England, Frankreich oder Deutschland ein unterschiedliches Gesicht haben konnte. Allerdings wird immer eher mit Typologien als mit jeweils besonderen Fällen argumentiert, um auch das Gemeinsame an der modernen Staatsbildung (das auch Rosanvallon zugesteht) in den Blick zu bekommen.
Aus der Sicht der Unterschichten und damit eher in seiner repressiven Seite, aber auch in seiner begrenzten Durchsetzungsfähigkeit ist der Staat seit den 1980er Jahren vor allem im Rahmen der alltagsgeschichtlich orientierten Sozialgeschichte untersucht worden; Alf Lüdtke ist hier in Deutschland sicher der einflussreichste Stichwortgeber gewesen.41 Die wichtigste Neuentwicklung der letzten Jahrzehnte dürfte sich allerdings dem Einfluss des französischen Philosophen Michel Foucault verdanken, der sich für Macht als eine Praxis interessiert hat, die in der Mikrodimension wirkt, und der in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Wissen als Machtressource betont hat. Ein wissensgeschichtlicher Zugriff auf die Geschichte des modernen Staates hat demgemäß vor allem danach gefragt, wie Staatlichkeit auf der zunehmenden Generierung von Wissen über Bürger und Territorium beruht hat, und hat sich demzufolge für die Geschichte der Statistik, von Gesundheitspolitik als Wissenspolitik, für Volkszählungen und Demoskopie interessiert.
Will man eine große Tendenz der Forschung resümieren, so lässt sich vielleicht sagen, dass inzwischen ein ungleich skeptischerer Blick auf den historischen Erfolg des Staats herrscht; das betrifft sowohl den Erfolg nach innen im Sinne einer erfolgreichen „Zurichtung“ der Bürger als auch den Erfolg nach außen im Sinne eines welthistorischen Modells. Zu vermerken ist aber auch der deutlich schärfere Blick auf den Staat als Gewaltorganisation, die stärker in Spannung zu den benevolenten Seiten des Staates gesetzt wird. Das hat wohl nicht nur mit neueren Entwicklungen wie der Konjunktur der Kolonial- oder Geschlechtergeschichte zu tun, sondern auch mit dem schlichten Umstand, dass nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts die meisten Historiker den Krieg und den Machtstaat nicht mehr für einen unhintergehbaren historischen Fortschritt halten.
Dieses Buch versteht sich als eine einführende Synthese für Studierende und Forschende, die vor allem diesen einen Zweck verfolgt: den modernen Staat als ein historisches und zu historisierendes Phänomen zu untersuchen. Es bezieht sich auf Europa, weil hier dieses Phänomen entstanden und als „Zivilisationsmission“ – mehr oder minder erfolgreich – in die Welt hinausgetragen wurde. Dass dieses Unterfangen angesichts der thematischen und epochalen Breite, die in eklatantem Missverhältnis zum Umfang des Buches steht, nur in groben Strichen geschehen kann, wird hoffentlich auf Verständnis stoßen. Wer sich tiefergehend mit einzelnen Themen beschäftigt, wird wahrscheinlich enttäuscht sein. Viel einschlägige Forschungsliteratur und viele interessante, oftmals verwickelte Forschungsdiskussionen habe ich nicht genauer zur Kenntnis nehmen können, noch weniger davon konnte ich zitieren. Es wird auch deutlich, dass ein gewisser Schwerpunkt auf den größeren westeuropäischen Staaten liegt, häufig mit einem vergleichenden Blick nach den USA, weil hier das europäische Modell der Staatlichkeit eine sehr eigene Umsetzung gefunden hat. Weniger beachtet werden die europäischen Peripherien, vor allem Ost- und Südeuropa; zum Teil, weil sich hier meine Kompetenz in engen Grenzen bewegt, aber auch, weil Frankreich und Großbritannien für die Staatsbildung auch dort als Pioniere und Vorbilder fungiert haben. Deutschland erhält einen vielleicht unverdient wichtigen Platz zum einen, weil es wegen seiner föderalen Struktur eine Ausnahme, aber doch auch ein Vorbild und Exerzierfeld war; zum anderen, weil die reale und diskursive Tradition des Staates, seine historische Überhöhung hier die prägendsten Auswirkungen auf Denken und Schreiben der Geschichtswissenschaft hatte. Auch der Blick auf die Leserschaft dieses Buches legt einen deutschen Schwerpunkt nahe. Aus diesem Grund wurde auch darauf verzichtet, den Fußnotenapparat und die Bibliographie ausufern zu lassen, und es wurden nur deutsch- und englischsprachige Titel aufgenommen.
Wenn ein Neuzeithistoriker über die Geschichte des Staates schreiben und dabei bis in die Antike zurückgreifen will, dann kann er sich an eine solche Aufgabe nicht wagen ohne die großmütige Beratung und Kritik von kompetenten Kolleginnen und Kollegen, die den Text in Teilen oder ganz lasen und dabei hilfreiche Anmerkungen und Fehlerkorrekturen anbrachten. Ohne die Expertise von Christoph Lundgreen, Barbara Schlieben, Jörg Feuchter, Matthias Pohlig, Paul Nolte, Christian Jansen und Hartmut Kaelble hätte ich nicht gewagt, dieses Manuskript aus der Hand zu geben. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Aber natürlich geht alles, was sachlich falsch oder zu kritisieren ist, auf meine Rechnung.
Ein solches Buch schreibt sich nicht ohne Unterstützung. Unglaublich hilfreich und engagiert haben mir Charlotte Meiwes und Giulia Ross unter die Arme gegriffen: Sie haben aufopfernd Bücher ausgeliehen, PDFs organisiert, Hinweise auf Themen und Literatur gegeben sowie das Manuskript in eine abschließende Form zu bringen geholfen. Kai Pätzke und Oliver Schwinkendorf vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht darf ich für die gute und unkomplizierte Betreuung danken. Und schließlich ist Dank an meine Frau Ruth Rumke abzustatten für ihre Geduld und ihre Bereitschaft, dies zu ertragen. Versprochen: In den nächsten Urlaub kommt keine Bücherkiste mit – zumindest keine mit Staatsbüchern. ☺
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1Dank an Paul Nolte für diese Anregung.
2Als ein Überblick über die verzweigte Diskussion zu diesem Thema: Dipper, Moderne.
3Vgl. Peter Brandt u. a., Einleitung, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, 23–34; Peter Brandt, Gesellschaft und Konstitutionalismus in Amerika 1815–1847, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, 11–30; Peter Brandt, Gesellschaft und Konstitutionalismus in Amerika 1848–1870, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 3, 11–33.
4Zit. n. Dreier, Staat ohne Gott, 12.
5Zur Diskussion der ideengeschichtlichen Linien (schon mit deutlicher Skepsis gegenüber der emphatischen Ladung des Begriffs „modern“): Skalweit, Der ‚moderne Staat‘; Schieder, Wandlungen des Staats.
6Demandt, Antike Staatsformen.
7Vgl. Stefan Esders, „Staatlichkeit“, Governance und Recht im (westlichen) Mittelalter, in: Schuppert (Hg.), Von Staat zu Staatlichkeit, 77–100.
8So etwa Breuer, Der Staat.
9Vgl. die Begriffsdiskussion bei Wolfgang Reinhard, Einleitung: Weltreiche, Weltmeere – und der Rest der Welt, in: ders. (Hg.), 1350–1750, 18–20.
10Zum Folgenden: Boldt u. a., „Staat und Souveränität“.
11Friedeburg, Luthers Vermächtnis.
12Hierzu begriffsgeschichtlich Skinner, Genealogy of the Modern State.
13Evans u. a., Bringing the State Back In.
14Mit einem Schwerpunkt auf der politischen Theorie und konzentriert auf Frankreich und Deutschland in Abgrenzung zu Großbritannien: Dyson, The State Tradition in Western Europe, 186–196, 209 f.
15Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 10.
16Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Von Staat zu Staatlichkeit. Konturen einer zeitgemäßen Staatlichkeitswissenschaft, in: ders. (Hg.), Von Staat zu Staatlichkeit, 11–39.
17Zum Folgenden Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 394–396.
18Weber, Politik als Beruf, 506.
19Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg als frühmoderner Staatsbildungskrieg; Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt.
20Hierzu: Hans Boldt u. a., „Staat und Souveränität“, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, 1–154.
21Michael Bothe, Krieg im Völkerrecht, in: Beyrau, Formen des Kriegs, 469–478.
22Schmitt, Politische Theologie, 13.
23Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, 520–555.
24Die 1368 etablierte Ming-Dynastie gilt hier als Wasserscheide. Vgl. Sabine Dabringhaus, Geschichte Chinas 1279–1949, München 20153. Zur Personalität der Kaiserherrschaft unter den Ming: Frederick W. Mote, Introduction, in: The Cambridge History of China, Bd. 7: The Ming Dynasty 1368– 1644, Part I, hg. v. Frederick W. Mote u. Denis Twitchett, Cambridge 1998, 1–10.
25Flüchter/Richter, Structures on the Move. Christopher Bayly verweist auf hybride Staatsformen, die dabei entstanden: Bayly, Die Geburt der modernen Welt, 317–321.
26Reinhard, Verstaatlichung der Welt; Osterhammel, Verwandlung der Welt, 818–906.
27Aloys Winterling, Über den Sinn der Beschäftigung mit der antiken Geschichte, in: Karl-Joachim Hölkeskamp u. a. (Hg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, 403–419; Paul Nolte, Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsgeschichte. Umrisse einer Ideengeschichte der modernen Gesellschaft, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, 275–298.
28Bayly, Die Geburt der modernen Welt, 312.
29Dirk van Laak, Infrastruktur, in: Voigt, Handbuch Staat, 1019–1027.
30Vgl. Anter, Webers Theorie des modernen Staates, 227 f.
31Bayly, Die Geburt der modernen Welt, 306–309.
32Im Weiteren folge ich Metzler, Der Staat der Historiker. Außerdem, mit Konzentration auf die Frühneuzeitforschung: Martin P. Schennach, Frühmoderne Staatlichkeit, in: Schuppert, Von Staat zu Staatlichkeit, 41–76.
33Zit. n. Metzler, Der Staat der Historiker, 20.
34Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 815–868; Otto Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats, in: ders., Staat und Verfassung, 470–496.
35Otto Brunner, Land und Herrschaft.
36Den er allerdings anders verwendete, als ich es hier tue – ich spreche in diesem Fall immer von Legitimität, so wie Max Weber den Begriff verstanden hat: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124 f. Es geht also immer um die Umstrittenheit oder die Akzeptanz der Herrschaft. Brunner sprach von einer „konkreten Ordnung“, in anderen Worten: Hierarchie war ein immer geltendes, quasi „natürliches“ Prinzip.
37Vgl. v. a.: Tilly, The Formation of National States.
38Bayly, Die Geburt der modernen Welt; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt; Maier, Leviathan 2.0.
39Reinhard, Staatsgewalt.
40Rosanvallon, Der Staat in Frankreich.
41So z. B. Lüdtke, „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“.
Historiker konstruieren gerne Kontinuitäten. Die Vorstellung von Brüchen ist ihnen eher fremd. Aber nicht nur, wenn wir den modernen Staat ansehen, müssen wir konstatieren, dass hier die Nähen zur Antike sehr viel auffälliger sind als zum Mittelalter. Die Historiker des 19. Jahrhunderts haben diese Geschichte eher als eine mehr oder weniger lineare Entwicklung gesehen. Die neuere Forschung betont zum einen die größere Nähe von Antike und Moderne; der berühmte Althistoriker Christian Meier war hier Vorreiter. Meier war es aber auch, der vor einer „leichtfertigen Übertragung des Staatsbegriffs auf die Antike“ warnte. Denn dabei würden Vorstellungen aus der Moderne in die Antike projiziert, die dort nicht hingehörten.1 Andere wie Christoph Lundgreen dagegen vertreten die Anwendbarkeit solcher Begriffe als analytische Konzepte. Er insbesondere ist der Ansicht, dass „Staatlichkeit“ den starren Begriff des Staates ersetzen könnte.2 Festzuhalten bleibt die Einigkeit der verschiedenen Positionen: Die Wurzeln des modernen Staates liegen in Griechenland und in Rom – wenngleich man protostaatliche Momente auch in vorderasiatischen Monarchien oder in den phönizischen Handelsstädten der Levante ausmachen kann.
Etwa seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden in der kleinräumlichen, küstennahen Landschaft Griechenlands poleis, Stadtstaaten, die sich zu Stadtrepubliken entwickelten. Sie stützten sich auf eine Schicht freier Bürger (polites), für die das