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„Staatenlos in Shanghai” erzählt die Geschichte von Liliane Willens, die als Tochter jüdisch-russischer Eltern aus Russland und der Ukraine nach Shanghai floh. Die Familie lebte dort in der ehemaligen französischen Konzession. Detailliert beschreibt Willens die Strukturen dieser Stadt, damals ein internationales Potpourri von Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern. Dennoch trennte sie viel voneinander, die Hierarchien zwischen den einzelnen Ethnien wurden streng eingehalten. Ergänzt werden die Beschreibungen durch Willens‘ persönliche Eindrücke, Erinnerungen und Anekdoten. Leser*innen erfahren, wie Willens als weiße Ausländerin während des Aufwachsens die vielen Veränderungen erlebt hat: Den Zweiten Weltkrieg unter japanischer Besatzung, den chinesischen Bürgerkrieg und schließlich die Gründung der Volksrepublik China.
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Seitenzahl: 460
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LILIANE WILLENS
STAATENLOS IN SHANGHAI
Deutsch von Sophie Sobkowiak
IMPRESSUM
Titel: Staatenlos in Shanghai
Text: Liliane Willens
Titel des Originals: Stateless in Shanghai
Dieses Buch erschien erstmals 2010 bei Earnshaw Books Ltd., Hong Kong
Übersetzung: Sophie Sobkowiak
Lektorat: Maya-Katharina Schulz und Nora Frisch
Redaktion: Nora Frisch
Covergestaltung: Hermann Kienesberger
Layout und Satz: Datagrafix GSP GmbH, Berlin
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
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© 2023 Drachenhaus Verlag
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ISBN: 978-3-943314-76-2
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Begriffserklärung
Kapitel 1 – Benjamins Herkunft
Kapitel 2 – Thaïs’ Geschichte
Kapitel 3 – Eroberung durch die „Barbaren“
Kapitel 4 – Die gescheiterte Revolution
Kapitel 5 – Das „chinesische“ Shanghai
Kapitel 6 – Die ausländischen Kolonialisten in Shanghai
Kapitel 7 – Sozialer Aufstieg
Kapitel 8 – Schulen für „kleine Weiße Teufel“
Kapitel 9 – Kriegsführung in der Schule
Kapitel 10 – Die goldenen Mittdreißiger
Kapitel 11 – Sommerferien
Kapitel 12 – Aufziehender Sturm
Kapitel 13 – Europäische Flüchtlinge
Kapitel 14 – Rückkehr zur „Normalität“?
Kapitel 15 – Die Eroberung durch Japan
Kapitel 16 – Das Leben unter den Japanern
Kapitel 17 – Der Niedergang der Weißen
Kapitel 18 – Der „ausgewiesene Bezirk“
Kapitel 19 – Ausgangssperre, Rationierungen, Angst
Kapitel 20 – Bomben über Bomben
Kapitel 21 – Sieg und Euphorie
Kapitel 22 – Politisches Donnergrollen
Kapitel 23 – Einwanderung und Exodus
Kapitel 24 – Wirtschaftliche und politische Katastrophe
Kapitel 25 – Das Wartespiel
Kapitel 26 – Kommunistische „Befreiung“?
Kapitel 27 – Der Bambusvorhang
Kapitel 28 – Romanze
Kapitel 29 – Der „Polizeieinsatz“ in Korea
Kapitel 30 – Die Jagd nach Papieren
Kapitel 31 – Die Fahrt in die Freiheit
Kapitel 32 – Raus aus „Rot-China“
Kapitel 33 – Hinter dem Eisernen Vorhang
Kapitel 34 – Das Ende der Jagd
Kapitel 35 – Auf nach Amerika!
Nachwort
Weißrussen (englisch: white russians, white émigrés, first-wave émigrés): gemeint sind nicht Belarussen, sondern eine Gruppe von geschätzt 900.000 bis zwei Millionen Auswanderern aus ganz Russland. Auslöser der Flüchtlingswelle war die Oktoberrevolution von 1917. „Weiß“ bezieht sich also auf die Weiße Bewegung in Russland: die pro-zaristischen Weißen flohen nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die bolschewistischen Roten aus Angst vor politischer Verfolgung und verteilten sich auf der ganzen Welt. Diese Gruppe war keinesfalls homogen, so schloss sie Menschen aus allen Gesellschaftsklassen ein, einschließlich Militärs, Kosakenkämpfer, Menschewiki (gemäßigte Revolutionäre) und Bürgerliche. Nicht alle unterstützten aktiv die Weiße Bewegung – viele bezeichneten sich sogar als unpolitisch – sondern waren schlichtweg Opfer der gewaltsamen Ausschreitungen in Russland.
Mein Vater Benjamin hatte meinen Schwestern und mir nie erzählt, dass er in der Ukraine im ehemaligen russischen Zarenreich geboren und in der kleinen Stadt Radomyschl etwa 100 Kilometer westlich von Kiew aufgewachsen war. Meine Mutter verbot uns, ihn über seine Jugend auszufragen, und seine Schwester Sonia, die zusammen mit ihm Russland verlassen hatte, sprach ebenfalls nie über ihre gemeinsame Vergangenheit – und wir Kinder verspürten auch nicht das Bedürfnis nachzuhaken. Wir wussten, dass mein Vater Stalin und die Sowjetunion abgrundtief hasste und vermieden deswegen jede Bemerkung, die mit Russland in Verbindung gebracht werden konnte.
Venjamin (Benjamin) Vilensky wurde 1894 geboren und wuchs während der Regierungszeit des Zaren Nikolaus II. auf, zu einer Zeit, als wirtschaftliche und soziale Unruhen Russland erschütterten und antisemitische Pogrome vom Zar gefördert wurden. Die Žids (ein abwertender Begriff für Juden) wurden als Freiwild betrachtet, das gejagt, gefangen und getötet werden durfte. Die Handlanger des Zaren waren die berittenen Eliteeinheiten der Kosaken und andere Ultra-Nationalisten, die Dörfer und Städte im Ansiedlungsrayon überfielen, eine weitläufige Region, die das heutige Weißrussland, Litauen, Moldawien, Polen und die Ukraine umfasste. Von Ausnahmen abgesehen, mussten hier alle Juden bis zur Oktoberrevolution 1917 leben. Der Rayon war eine Schöpfung Katharinas der Großen im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, nachdem sie mit Überraschung und Widerwillen feststellen musste, dass sie im Zuge ihres territorialen Gewinns aus den polnischen Teilungen auch eine Million Juden „geerbt“ hatte.
Details über das Leben meines Vaters, seiner Eltern und seiner fünf Geschwister erfuhr ich 1992 auf einer Geschäftsreise durch die Ukraine. Unter den Hinterlassenschaften meines Vaters war ich auf einen kurzen Brief von seinem in Kiew lebenden Neffen Leonid Vilensky gestoßen. Ich war mir sicher, dass Bürger der Ex-Sowjetunion selten aus ihren staatlich zugewiesenen Wohnungen auszogen und entschloss mich deswegen, die angegebene Adresse aufzusuchen. Ich stieg fünf Treppenfluchten hinauf, klopfte an eine Tür und wusste sofort, dass ich am richtigen Ort war, als mir ein Mann öffnete, der meinem Vater äußerst ähnlich sah. Ohne Zweifel war dies mein Cousin Leonid. Der war erschrocken, eine offensichtlich ausländische Frau vor seiner Türschwelle anzutreffen, meine westliche Kleidung und mein schwerer Akzent waren unüberseh- und unüberhörbar. Als ich ihm eröffnete, dass ich seine Cousine aus Amerika sei, rief er seiner Frau Lyuda aufgeregt zu, die Götter hätten ihm heute ein großes Geschenk gemacht – zufälligerweise genau an seinem Geburtstag. Nach diesem ersten Zusammentreffen besuchte ich ihn mehrmals nach Arbeitsschluss, um von unseren über die ganze Welt verstreuten Verwandten zu erzählen. Während dieser Treffen berichtete Leonid von unseren Großeltern, Vätern, Onkeln und Tanten, die bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution in Radomyschl lebten. Unser Großvater war ein Kleinunternehmer gewesen und unsere Großmutter hatte sich zu Hause um die Kinder gekümmert, vier Jungen und zwei Mädchen, die alle in Radomyschl geboren wurden. Ihre größte Angst war stets gewesen, dass ihre Söhne vom Militär entführt und für das zaristische Heer rekrutiert werden könnten.
Stolz zeigte mir Leonid einen Regenmantel, den ihm mein Vater in den frühen 1920er Jahren geschickt hatte und den er immer noch tragen konnte. Er war meinem Vater und dessen Schwester Sonia für die finanzielle Unterstützung aus China unendlich dankbar, denn auf diese Weise waren er und seine Geschwister nicht der großen Hungersnot der frühen 1930er Jahren in der Ukraine zum Opfer gefallen. Er erklärte mir, seine Eltern hätten mit diesem Geld Lebensmittel in speziellen Läden, den torgovy syndicat (kommerzielle Geschäfte), kurz torgosin genannt, kaufen können. Die Waren mussten dort in US-Dollar bezahlt werden. Leonid begleitete seine Mutter als Kind mehrere Male in eines dieser Geschäfte. Aus Angst vor Überfällen auf dem Heimweg heuerte seine Mutter stämmige Männer an, um die schweren Einkaufstüten voll mit Mehl, Reis und Fleisch nach Hause zu tragen. Ihre Leibwächter nahmen gerne Lebensmittel als Bezahlung für ihre Dienste an. Als Leonid und Lyuda mir von ihrem schweren Leben unter Stalin, im Zweiten Weltkrieg und später unter verschiedenen kommunistischen Führern erzählten, war ich dem Schicksal für mein eigenes Leben wirklich dankbar.
Da ich großen Wert darauflegte, den Geburtsort meines Vaters mit eigenen Augen zu sehen, fuhr mich einer von Leonids Verwandten nach Radomyschl, dessen zentraler Platz von einer riesigen Lenin-Statue beherrscht wurde. Leonid zeigte mir die Stelle, an der sein Geburtshaus gestanden war. Nun stand dort ein Restaurant. Die Häuser auf der anderen Seite des Platzes seien aber seinem ehemaligen Zuhause sehr ähnlich, meinte er. Sie wiesen eine typisch russische prärevolutionäre Architektur auf mit ihren niedrigen Dächern, bodentiefen Fenstern und mit kleinen Gemüsegärten auf der Rückseite. Eine weitere Erinnerung an die vergangene Zeit waren Pferdekarren, mit denen die Bauern Gemüse und Obst zum Markt transportierten. Dann besichtigten wir eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtete russisch-orthodoxe Kirche mit einer blauen, zwiebelförmigen Spitze, in deren dunklem Innenraum die Gemeindemitglieder nach orthodoxer Tradition auf die mit tiefer Stimme vorgetragen Gebete des Priesters singend antworteten. Diskret machte ich ein paar Fotos, dennoch stürzte ein kirchlicher Amtsträger gleich auf mich zu und ermahnte mich ärgerlich. Ich konnte ihn wieder beruhigen, indem ich ihm erklärte, ich habe als ausländische Besucherin dieses Verbot nicht gekannt und mich entschuldigte. Unterschiedliche Gefühle wühlten mich auf. Es war so, als ob ich in dem Geheimnis um den Geburtsort meines Vaters, das er sein ganzes Leben lang so gut gehütet hatte, herumschnüffeln würde.
Als ich die Kirche verließ, war es, wie aus einem Gefängnis zu treten. Ich stellte mir alle möglichen Szenarien zu jener Zeit vor, während ich den Platz und den ehemaligen Standort des Hauses meiner Großeltern gegenüber der Kirche betrachtete und fröstelte trotz des sonnigen Wetters. Während der zaristischen Ära läuteten die Glocken täglich, nicht nur um die Gläubigen zum Gottesdienst zu rufen, sondern auch, um die neu erlassenen ukas (Gesetze) des Zaren in Sankt Petersburg anzukündigen. Alle negativen Entwicklungen, seien sie wirtschaftlicher oder politischer Art, wurden den Juden angelastet, und das Kirchenvolk hörte – zweifellos verärgert – zu, wenn die Priester die Juden für alle damaligen Krankheiten, und schlimmer, für die Ermordung ihres Erlösers Jesus Christus verantwortlich machten. So nahe an dieser Kirche zu wohnen musste für die Familie meines Vaters ähnlich gewesen sein wie für Juden in Nazideutschland, deren Wohnungen sich in der Nähe von Gestapo-Dienststellen befanden.
Als Leonid und ich in Radomyschl umherspazierten, sprachen wir über die gewaltsamen antisemitischen Vorkommnisse jener Zeit, als meine Großeltern und Leonids Geschwister in der Ukraine lebten. Später besuchten wir auch noch ein Denkmal, das die Opfer der nationalistischen, antikommunistischen Weißen und der bolschewistischen Roten Armee während des Bürgerkriegs ehrte. Im Kontrast zu dem nahegelegenen, reich gestalteten Ehrenmal für die Opfer des 2. Weltkriegs bestand es lediglich aus einer schlichten Tafel, deren Text erklärte, weiße „Banditen“ seien durch die Stadt gekommen und hätten Einwohner massakriert. Es gab keinen Hinweis darauf, dass die Opfer ausschließlich Juden waren, die von der gewalttätig antisemitischen national-republikanischen Armee der Ukraine und deren Verbündeten, den Kosaken, unter der Führung ihres Atamans (Anführer) Sokolowek getötet wurden.
Es überrascht nicht, dass sich Benjamin dazu entschied, Radomyschl zu verlassen und 1916 nach Wladiwostok zu ziehen, nachdem Zar Nikolaus II. auf der Seite der Alliierten Deutschland den Krieg erklärt hatte. Benjamin, zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt, wusste genau, dass er sofort eingezogen würde, wenn er bliebe. Im weit abgelegenen Wladiwostok aber wäre er sicherer vor den Werbern des zaristischen Heers. Das Interesse der russischen Behörden an Sibirien und Russlands fernem Osten beschränkte sich darauf, Arbeiterkolonien zu errichten oder das riesige Gebiet als Endstation für Gefängnisinsassen und Revolutionäre zu nutzen, die für ihre Opposition mit harter Arbeit in Bergwerken inmitten der Tundra und der eisigen Steppe bezahlen mussten. Benjamin gelang es, seine Schwester Sonia zu überreden, mit ihm gemeinsam Radomyschl per transsibirischer Eisenbahn in Richtung Wladiwostok zu verlassen, Tausende von Kilometern vom europäischen Teil Russlands entfernt.
Benjamin hatte sich aufgrund eines Gerüchts für Wladiwostok entschieden: Es hieß, dort seien einige britische und deutsche Handelsfirmen angesiedelt, weil es ein wichtiger Überseehafen für Waren, die aus der Mandschurei nach Japan oder Korea transportiert werden sollten, sei. Tatsächlich fand er dort Arbeit in einer deutschen Exportfirma und lernte nebenbei auch schnell die deutsche Sprache. Auch Französisch brachte er sich selbst bei. Dank seines sprachlichen Talents sprach er nun somit Russisch, Hebräisch, Deutsch und Französisch und konnte außerdem althebräische Texte lesen. Er konnte nicht ahnen, dass er bald auch noch Englisch werde lernen müssen, und das ausgerechnet in China.
Als der Bürgerkrieg auch Russlands östliches Ende erreichte und zaristische Truppen und die Rote Armee um die Kontrolle des Gebiets zu kämpfen begannen, brach Benjamin auch hier alle Zelte ab und zog 1919 von Wladiwostok nach Harbin in der Mandschurei (Dongbei). Er nahm ein Schiff nach Dairen (Dalian) und dann einen Zug nach Harbin, wo seine Schwester Sonia schon seit zwei Jahren mit einem Apotheker verheiratet war und dank des blühenden Geschäfts ihres Mannes ein bequemes Leben führte.
Harbin war Ende des 19. Jahrhunderts eine russische Provinzstadt geworden, als Russland territoriale Konzessionen von China erhielt, um im Gegenzug die Chinesische Osteisenbahn (auch Transmandschurische Eisenbahn genannt) als Verbindungsstück zwischen Harbin und den Hafenanlagen bei Port Arthur zu bauen. Tausende von russischen Ingenieuren, Architekten und Helfern wurden in der Bahnverwaltung, in Reparaturwerkstätten und in Lagern eingestellt. Man lockte sie mit kostenloser Unterkunft und der Aussicht auf Bildung für ihre Kinder.
Zur Zeit von Benjamins Ankunft stand die Stadt vor einer kulturellen Blütezeit. Es gab neue Konzerthallen, Theater und Opern für die große russische Bevölkerung, die auf 200.000 Menschen angewachsen war, darunter die größte jüdische Gemeinde im Fernen Osten mit 15.000 Mitgliedern. Letztere hatten es geschafft, das Ansiedlungsrayon, die Pogrome und den Bürgerkrieg hinter sich zu lassen, sie waren bis nach Harbin gewandert, wo sie das Recht auf Landbesitz hatten und ihre Kinder ohne Einschränkungen russische Schulen besuchen konnten.
Benjamin fühlte sich intellektuell und kulturell in Harbin heimisch. Er wohnte bei seiner Schwester Sonia und ihrem Mann, konnte jedoch trotz seiner hohen Qualifikation keinen Vollzeitjob als Übersetzer oder Büroangestellter bei Harbins wichtigstem Arbeitgeber, der Chinesischen Osteisenbahn, finden. Juden waren nämlich von vornherein von dem von antisemitischen Weißen betriebenen, quasi-staatlichen Projekt ausgeschlossen. Als er von einem Freund aus Shanghai einen Brief erhielt, in dem dieser erklärte, dass es möglich wäre, in dieser europäisierten, von Amerikanern, Briten und Franzosen kontrollierten Stadt Arbeit finden, entschied sich Benjamin, Harbin wieder zu verlassen. Es war zudem eine gute Gelegenheit, um weiter Abstand zu den schwelenden Konflikten zwischen Japanern und Weißrussen, den politischen Gegnern der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg, zu gewinnen.
1920 fuhr Benjamin mit dem Zug von Harbin zum Hafen in Dairen und segelte von dort in Richtung Süden nach Shanghai, voller Hoffnung, in Shanghai eine Arbeit als Bürokraft oder Übersetzer in einer europäischen Firma oder in der britischen und französischen Verwaltung zu finden. Er wollte alle Angelegenheiten, die mit Russland und den Russen zu tun hatten, hinter sich lassen. Kurz nach seiner Ankunft in Shanghai kehrte Benjamin seine Vergangenheit im zaristischen Russland mit seinen Bürgerkriegen und den Bolschewiki unter den Teppich, anglisierte seinen Familiennamen und trug als seinen Geburtsort Kischenau (heute Chișinău) im rumänischen Bessarabien ein. Später würde er für die Fälschung seines Geburtsorts einen hohen Preis zahlen.
Mit seiner neuen Identität als Benjamin Willens und sich als Rumäne ausgebend, war er nun bereit, sich der fremden Kultur in Shanghai zu stellen.
Im Gegensatz zu meinem Vater sprach meine Mutter gerne über ihre frühen Jahre in ihrer Geburtsstadt Nowonikolajewsk, die nach der Revolution in Nowosibirsk umbenannt wurde. Diese Stadt, in der sie 1902 geboren wurde, gab es noch nicht, als Zar Alexander III. 1893 den Bau einer Eisenbahnbrücke über den Fluss Ob für die Zentralsibirische Bahn und für die Weiterführung der Trasse der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok befahl. Zahlreiche Menschen kamen aus benachbarten Marktorten hierher, um beim Bau der Eisenbahn zu helfen oder um Geschäfte zu gründen, sodass die Stadt dank der Transsibirischen Eisenbahn, mit der Waren zwischen Moskau und Wladiwostok hin- und hertransportiert wurden, schnell auf eine Bevölkerungszahl von 20.000 Menschen anwuchs. Nowonikolajewsk wurde in der russischen Geschäftswelt schnell als „Chicago des Nordens“ bekannt.
Als ich Nowosibirsk – heute Russlands drittgrößte Stadt – 2003 besuchte, konnte ich nichts mehr von jener Siedlung aus Holzhäusern, in der von Pferden gezogene Troika (Karren) für Familienausflüge verkehrten, wie es meine Mutter beschrieben hatte, wiedererkennen. Die massive, Ende des 19. Jahrhunderts aus rotem Backstein erbaute Alexander-Newski-Kathedrale, die nahe dem Haus von Thaïs’ Eltern am Ufer des Ob aufragte sowie die kleine Nikolaus-Kapelle, zu Ehren des Zaren Nikolaus II. errichtet, waren jedoch der Zerstörungswut der Kommunisten entgangen.
Meine Mutter sprach oft über ihre Kindheit und besonders häufig über ihren Großvater Pavel Udalevitch, den streng religiösen Patriarchen der Familie, dem seine Enkelkinder mit großem Respekt und Hochachtung begegneten. Mein Urgroßvater Pavel wurde 1820 im heutigen Weißrussland geboren. Im Alter von 18 Jahren wurde er von der russischen Armee zum obligatorischen 25jährigen Militärdienst eingezogen. Wie alle anderen jüdischen Veteranen erhielt auch er für seine lange Dienstzeit die Erlaubnis, außerhalb des jüdischen Ansiedlunsrayons zu leben. Pavel nutzte die Chance, die sich ihm durch diesen Freischein bot, um Abstand zu den zaristischen Behörden zu gewinnen und ließ sich in Sibirien nieder, weit weg von den Pogromen und antisemitischen Ausschreitungen im europäischen Russland. Meine Mutter erzählte mit Stolz in ihrer Stimme, dass er dem immensen Druck, während seiner Dienstzeit zum Christentum zu konvertieren, nie nachgegeben habe und er seinem Glauben stets treu geblieben sei.
Pavel bezog ein Wohnhaus in der kleinen Stadt Tatarsk in Sibirien. Dort heiratete er und hatte zwei Kinder; eines von ihnen, Anna, war meine Großmutter mütterlicherseits. Irgendwann zog Pavel mit seiner Familie in die neu gegründete Stadt Nowonikolajewsk und eröffnete eine Bäckerei, die aufgrund der geringen Konkurrenz sehr erfolgreich war.
Pavels Tochter Anna heiratete den aus Litauen stammenden Samuel Vinokuroff, der wahrscheinlich nach Nowonikolajewsk kam, um nicht in die gefürchtete zaristische Armee einberufen zu werden. Samuel und Anna hatten sechs Töchter, Fanya, Rebecca, Thaïs, Vera, Brania und Bessie, einen Sohn, Boris, und Zwillinge, die im Kleinkindalter starben. Samuel übernahm bald die Bäckerei und als seine Kinder größer wurden, halfen diese in den geschäftigen Sommermonaten im Laden aus. Wenn ihre langweiligen Aufgaben erledigt waren, rannten die Kinder oft zum nahen Ob-Bahnhof, um die Transsibirische Eisenbahn nach ihrer langen Fahrt von Moskau und Sankt Petersburg in die Stadt rattern zu sehen. Es gefiel den Mädchen und ihren Klassenkameradinnen, die aus dem europäischen Teil Russlands kommenden, nach der neusten Mode gekleideten Passagiere zu beobachten, und, was noch aufregender war, den ruhig dasitzenden Studenten durch die Fenster hindurch zuzuwinken. Zur großen Verwunderung der Kinder von Nowonikolajewsk verließen diese jungen Männer mit ihren auffälligen Mützen und den Hemden mit den hohen Krägen ebensowenig wie die jungen Frauen in ihren unscheinbaren Kleidern je ihre Waggons, um sich auf dem Bahnsteig die Beine zu vertreten. Sie begriffen nicht, dass diese jungen Menschen als Revolutionäre zu harter Zwangsarbeit verurteilt worden waren und als politische Gefangene in die Lager und Minen in den eisig kalten Grenzregionen Sibiriens gebracht wurden, ohne Aussicht auf eine Rückkehr in ihre Heimat im europäischen Teil Russlands.
Obwohl Thaïs’ Großeltern, Eltern und Geschwister während der Regierungszeit des von Antisemitismus besessenen Zaren Alexander III. und seines Sohns Nicholas II. lebten, litten sie nicht unter den Konsequenzen der repressiven Gesetze und den Pogromen gegen Juden. Thaïs und ihre Geschwister besuchten eine örtliche russische Schule, was im europäischen Russland nicht möglich gewesen wäre. Obwohl Thaïs’ Großvater und ihre Eltern untereinander Jiddisch sprachen, redeten die Kinder sie auf Russisch an, also in der Sprache, die sie in der Schule lernten und mit der sie sich mit den Gehilfen in der Bäckerei verständigten. Da die jüdische Bevölkerung in Nowonikolajewsk auf kaum mehr als 1000 Köpfe anwuchs und wegen der Einberufungen während des 1. Weltkriegs sogar auf einen Tiefstand von 700 Mitgliedern sank, trat der Antisemitismus eher im Wort als in der Tat zutage. Dennoch wurde Thaïs Bruder Boris in der Schule öfter verprügelt, weil er ein kleiner, schmächtiger Žid war. Seine Schwester wurde seltener behelligt, aber Thaïs erinnerte sich an einen Vorfall, als einige Jungen versuchten, Schweinefett auf ihre Lippen zu schmieren, wohl wissend, dass es Juden verboten war, Schweinefleisch zu essen. Sie berichtete das Ganze ihrem Lehrer und wurde danach nicht wieder geärgert.
Meine Mutter erinnerte sich auch an den Schock, der ihren Freundeskreis erschütterte, als ihr Lehrer 1918 über die Hinrichtung des Zaren Nikolaus II., seiner Frau und ihrer fünf Kinder durch die Bolschewiki in Jekaterinburg berichtete. Als ich sie nach ihrer persönlichen Meinung über den Zaren und seine fanatisch religiöse Frau fragte, antwortete sie ausholend, es sei zwar nicht falsch, den Zaren umgebracht zu haben, aber unmenschlich, die Kinder zu töten.
Als Thaïs größer wurde, heirateten ihre älteren Schwestern Fanya und Rebecca, und die hübscheste der Schwestern, Brania, wurde von einem flotten Mann aus der Handelsmarine namens Joseph umworben. Joseph riet Thaïs’ Eltern Sibirien zu verlassen, da die Zaristen und die Roten um die Kontrolle über die Transsibirische Eisenbahn kämpften und Juden in Landstrichen zwischen der Ukraine und Sibirien von den Soldaten der zaristischen Armee in blutigen Ausschreitungen getötet wurden. Joseph überzeugte Thaïs’ Vater Samuel von der Notwendigkeit, Nowonikolajewsk zu verlassen, bevor diese Armeen ihre Türschwelle erreichten. Samuel ließ sich nicht zuletzt deshalb überzeugen, weil Nachrichten über ein kürzlich durchgeführtes Pogrom in der sibirischen Stadt Bijsk zu ihm durchgedrungen waren und er verständlicherweise Angst vor der Ankunft sowohl der antisemitischen Zaristen wie auch der Roten hatte, die „bourgeoise“ Geschäfte und Privatbesitz im Visier hatten. Ebenso beunruhigend war die realistische Gefahr, dass seine sechs Töchter von Banden undisziplinierter Soldaten belästigt werden könnten. Dennoch war es nicht einfach, seine Frau Anna zu überzeugen, ihr Zuhause und ihr Geschäft zurückzulassen, um nach Osten in die damals russisch kontrollierte Stadt Harbin in der Mandschurei zu ziehen, weit weg von dem Bürgerkrieg, der auf russischem Boden tobte. Anna, die die Ungewissheit fürchtete, wollte auch unter keinen Umständen ihren schon 97 Jahre alten Vater Pavel im Stich lassen. Dieser Nikolayevski Soldat (Soldat des Zaren Nikolaus I.) blieb zurück und starb im Jahr 1924 im hohen Alter von 104 Jahren, im gleichen Jahr wie der legendäre Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin. Thaïs Schwester Fanya blieb mit ihrem Mann ebenfalls zurück, von ihnen hörte man nie wieder.
Mitte 1918 beschaffte Samuel Zugfahrkarten für die überfüllte Transsibirische Eisenbahn, indem er mehrere Beamte in Nowonikolajewsk bestach. Auf Holzbänken durchquerten sie Russland zwei Tage und zwei Nächte lang, bis sie den Transferort Tschita in der Mandschurei erreichten. Der Zug wurde mehrmals von plündernden zaristischen und bolschewistischen Soldaten, die an Bord kletterten und nach Essen und Geld suchten, angehalten. Kosakische Soldaten, die zu jenem Zeitpunkt die Kontrolle über Sibirien hatten, töteten mehrere Männer, die ihr Gepäck nicht durchsuchen lassen wollten und warfen ihre Körper zur Abschreckung für die anderen verstörten Passagiere in die Felder. Immer, wenn die Soldaten jemanden Russisch mit einem jiddischen Akzent sprechen hörten, warfen sie ihm vor, Gold und Silber zu verstecken und wühlten mit ihren Gewehren und ihren Säbeln in den Koffern und Bündeln herum, um nach Wertgegenständen zu suchen. Wie die meisten Reisenden hatten Samuel und seine Familie ihr Geld und ihren Schmuck im Futter und Saum ihrer Kleider versteckt. Die Soldaten, einige noch nicht einmal sechzehn Jahre alt, fanden die Goldketten, Diamanten und Perlenketten nicht, die Samuel nach dem Verkauf des Hauses und der Bäckerei erworben hatte. In Tschita stieg die Familie in die Ostchinesische Eisenbahn nach Harbin um. Die lange Fahrt durch die Mandschurei war von nun an frei von Vorkommnissen, der Bürgerkrieg und die Soldaten blieben in Russland zurück.
In Harbin kaufte Samuel vom Ertrag des Schmucks, einem Impuls folgend, ein kleines Wohnhaus, um es an Flüchtlinge zu vermieten, die aus dem Osten Russlands und aus Sibirien kamen. Der Großteil dieses Flüchtlingsstroms war jedoch sehr arm und Samuels Geschäftsidee ging nicht auf. Er war gezwungen, weiteren Schmuck an die seit vorrevolutionären Zeiten in Harbin ansässigen Bewohner zu verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Doch es war ein zähes Geschäft, weil die potentiellen Käufer unnachgiebig den Preis herunterhandelten. Zwei junge Männer auf ihrem Weg nach Japan überzeugten Samuel, seinen Schmuck zu einem sehr viel höheren Preis in Tokio zu verkaufen. Sie versprachen, so schnell wie möglich mit dem Geld zurückzukommen, ließen sich aber nie wieder blicken. So lebte Samuel und seine Familie jetzt praktisch mittellos in Harbin. Schließlich hielt ihn nichts mehr in dieser Stadt, wo er ohne Geld kein Geschäft auf die Beine stellen konnte und es auch unmöglich war, Arbeit als Bürohilfskraft zu finden, weil er der russischen Schrift kaum mächtig war. Ihm war zu Ohren gekommen, dass die weiter südlich gelegene Stadt Shanghai als sicherer Hafen für Russen, die vor der Revolution geflohen waren, galt. Aufs Neue entwurzelte er seine Familie. 1920 nahmen sie einen Zug von Harbin zum Hafen von Dairen und legten auf einem japanischen Dampfer in Richtung Shanghai ab.
Das geschah im selben Jahr, in dem auch Benjamin nach Shanghai segelte. In eine Stadt, die dem Hörensagen nach von westlichen Mächten verwaltet wurde. Aber genau wie Samuel und seine Familie wusste auch Benjamin nichts über Shanghai – weder über seine Geschichte noch seine Einwohner.
Das Shanghai, in dem Benjamin und Thaïs 1920 ankamen, hatte bereits eine sehr bewegte Geschichte hinter sich. Ausländische Händler durften während des 18. und 19. Jahrhunderts China nicht betreten, das von den Portugiesen verwaltete Aomen (Macau) und das chinesisch-kontrollierte Kanton (Guangzhou) stellten eine Ausnahme dar. Im Hafen von Aomen durften sie auf einem für sie abgegrenzten Landstreifen ein paar Monate im Jahr während der Teehandelssaison leben. Jeglicher Kontakt zwischen Chinesen und Westlern, „Barbaren“ oder „ausländische Teufel“ genannt, war strikt verboten, es sei denn, es wurden offiziell ernannte chinesische Handelspartner, die Co-Hongs, als Mittelsmänner dazwischengeschaltet. Da Tee und Gewürze in Europa sehr begehrt waren, forderten ausländische Händler lautstark die Öffnung der chinesischen Häfen, um einen Zugang zu diesen Waren zu bekommen. Das Handelsungleichgewicht durch den steten Abfluss von Silber aus England vergrößerte sich jedoch rasch. Schiffsbesitzer und Kapitäne entschieden sich daher bald dazu, die leeren Schiffsbäuche auf ihren Reisen nach China mit lukrativer Ware aufzufüllen: Opium aus Britisch-Indien.
Über viele Jahre hinweg ignorierten die englischen Händler das Verkaufsverbot von Opium in China. Kaiser Daoguang schickte deshalb 1839 chinesische Beamte zur Konfiszierung und Vernichtung des Opiumbestands in den kantonesischen Warenhäusern aus und unterband jeglichen weiteren Handel in diesem Hafen. Großbritannien wollte sich das nicht bieten lassen. 1840 übten die Briten mit einer Kriegserklärung an China Vergeltung und schickten eine Kriegsflotte aus, um Shanghai zu erobern. Die Chinesen kapitulierten und unterschrieben im August 1842 den Vertrag von Nanking (Nanjing). Darin wurde die Öffnung von fünf Teehandels-Häfen, – Kanton, Amoy (Xiamen), Foochow (Fuzhou), Ningpo (Ningbo) und Shanghai – für den Außenhandel festgelegt, außerdem sollten in jedem dieser Häfen britische Gesandte stationiert werden. Zusätzlich wurde der Hafen von Hongkong (Xianggang) der Britischen Krone übergeben. Den wirklich großen Gewinn stellte dabei jedoch Shanghai dar, ein sehr geschäftiger Hafen am Flussufer des Whangpu-Flusses (Huangpu Jiang), nahe der Mündung des Jangtse (Chang Jiang), mit leichtem Zugang zum Kaiserkanal und zum Pazifik. Weder waren die abgegrenzten Enklaven für die ausländischen Anwohner Inhalt der Verhandlungen, noch wurden die exterritorialen Privilegien der Nicht-Diplomaten in den fünf Häfen erwähnt. Sie wurden erst in Anschlussverträgen hinzugefügt.
Dieser sogenannte „Opiumkrieg“ bedeute erst den Beginn der Unterdrückung Chinas durch die Westlichen Mächte. Denn wenig später schlossen auch Frankreich und die Vereinigten Staaten Verträge ab, wonach sie ähnliche Rechte und Privilegien wie Großbritannien erhielten. Folglich wurde 1845 das Englische Settlement in Shanghai gegründet, gefolgt im April 1849 von der Französischen Konzession und dem Amerikanischen Settlement im Februar 1854, beide an das Englische Settlement angrenzend. Die Staatsbürger der drei Vertragsmächte genossen in ihren Enklaven exterritoriale Rechte. In zivil- oder kriminalrechtlichen Verfahren galt fortan das Recht ihres jeweiligen Landes, Prozesse wurden nicht mehr vor einem chinesischen Gericht oder nach den chinesischen Gesetzen entschieden. Später beschlossen die Amerikaner in ihrem kleinen Settlement in Hongkou gemeinsame Sache mit ihrem britischen Pendant zu machen: Im Jahre 1863 schlossen sich die beiden Staaten mit weiteren Nationen, die ebenfalls Interesse an Konzessionen hatten, zum Internationalen Settlement zusammen. Die Franzosen nahmen die Einladung, sich ihnen anzuschließen, zunächst an, lehnten aber aufgrund ihres Misstrauens gegen die Angelsachsen am Ende doch ab. Der Vorbehalt galt vor allem den Briten, die tief in den Handel mit China verwickelt waren und bestimmt die führende Rolle in solch einem Zusammenschluss übernommen hätten.
Die exterritoriale Stadt Shanghai war geboren und für die nächsten hundert Jahre wurden zwei Drittel der Stadt von einer internationalen Abteilung, von den dominanten Briten und Amerikanern, und zu einem Drittel von den Franzosen kontrolliert und verwaltet; währenddessen unterstanden die drei Distrikte Chapei (Zhabei), Nantao (Nanshi) und Hongkou der Jurisdiktion der chinesischen Regierung – und manchmal sogar der Kontrolle eines Warlords.
Das Hauptziel dieser drei Vertragsmächte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, den Handel mit dem Westen auszuweiten. Obwohl der Vertrag von Nanking das Opiumverbot nicht aufhob, wurde diese Ware von den westlichen Mächten mit Hilfe von korrupten chinesischen Vermittlern und staatlichen Beamten nach China geschmuggelt. Mit Opium beladene Schiffe kamen aus Britisch-Indien; amerikanische Schiffe konnten hingegen wegen Englands Sorge vor Konkurrenz kein Opium in Indien laden, sie mussten zum Auffüllen ihrer Vorräte nach Smyrna – heute Izmir – in die Türkei fahren. Wegen der wachsenden Nachfrage und weil er für ausländische Händler und deren chinesische Vermittler, die sich in großem Maße selbst bereicherten, so ein lukratives Geschäft darstellte, konnte der Handel mit Opium nicht bis zum endgültigen Verbot 1917 beendet werden.
Ein zweiter „Opiumkrieg“ begann nach mehreren Zwischenfällen, die den Zorn – und den Opportunismus – der Briten hervorriefen. Einmal betraten chinesische Beamte ein britisch registriertes Schiff, die Arrow, mit dem Verdacht auf Schmuggel und Piraterie, nahmen die chinesische Schiffsbesatzung mit und verhafteten sie. Diese Maßnahme gegen den Vertrag von Nanking und die zeitgleiche Ermordung eines französischen Missionars führten 1858 zur Aussendung der anglo-französischen Armada nach Tientsin (Tianjin), die mit einem Angriff auf Peking drohte - es sei denn China mache weitere Zugeständnisse. Das Kaiserhaus unterschrieb den Vertrag von Tientsin unter demütigenden Umständen, dennoch mussten noch mehrere Schlachten bis 1860 gewonnen und die der herrliche alten Sommerpalast (Yuanming Yuan) niedergebrannt werden, bis China endgültig zur Einhaltung der einseitigen Bedingungen gezwungen werden konnte. China musste Kriegsreparationen leisten, elf weitere Häfen für den ausländischen Handel öffnen, den Opiumhandel legalisieren und die Arbeit von katholischen und evangelischen Missionaren erlauben. Außerdem verlangten die Briten, dass Ausländer nicht mehr als „Barbaren“ bezeichnet werden dürften.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren exterritoriale Rechte in Shanghai und anderen Häfen insgesamt zwölf anderen europäischen Ländern und Japan zugesprochen. Das imperiale China wurde durch die ausländischen Mächte zersplittert und finanziell durch Schadensersatzzahlungen, Bürgerkriege, Verschwendung und Korruption ruiniert. Die jahrtausendealte imperiale Ära kam zu einem Ende, als die Qing-Dynastie 1911 gestürzt wurde und China unter Sun Yat-sen, der lange im Exil gelebt hatte, zur Republik erklärt wurde. Er übergab seine vorläufige Präsidentschaft an den mächtigen General Yuan Shi-kai, welcher in Suns Augen in der Lage war, China mit Hilfe des Militärs zu einigen. Dies stellte sich jedoch als Fehleinschätzung heraus. Yuan Shi-kai ernannte sich selbst zum neuen Kaiser Chinas, was eine neue Welle von Revolten nach sich zog und ein tief zersplittertes Land hinterließ, das bis zu Suns Tod im Jahr 1916 von verfeindeten Warlords beherrscht wurde.
Als Thaïs und Benjamin nach Shanghai kamen, war die Stadt wirtschaftlich jedoch nicht von den fortdauernden Bürgerkriegen im Norden betroffen. Immer wenn Gefechte zu nahe an den ausländischen Settlements stattfanden, deklarierten die westlichen Beamten den Notstand und riefen das Shanghaier Freiwilligenkorps zur Bewachung der Settlements herbei. Dieses wurde von Ausländern verschiedener Nationen gebildet und stand unter der Führung von britischen Offizieren. Bei Bedarf wurden sie unterstützt von ausländischen Soldaten, Matrosen und Marinesoldaten, die in der Stadt oder auf den Kriegsschiffen, die im Whangpu vor Anker lagen, stationiert waren.
Die exterritoriale Stadt Shanghai stellte sich als Paradebeispiel der politischen und kulturellen Diskriminierung des chinesischen Volks heraus – zuerst durch die Westler, später durch die Japaner. Benjamin und Thaïs, obwohl staatenlos und den chinesischen Gesetzen unterlegen, konnten von den Vorteilen und den meisten Privilegien der Vertragsmächte profitieren, einfach nur deswegen, weil sie ethnisch „Weiße“ waren.
Benjamins und Thaïs’ erste Eindrücke waren ähnlich, als sie Shanghai erreichten: Der Schmutz, der nie abreißende Straßenlärm und der beißende Gestank waren ein Schock für sie. Bettler saßen in Lumpen gehüllt und mit eitrigen Wunden übersät auf der Straße. Beim Anblick von Westlern wiederholten sie den Refrain: „No Papa, no Mama, no Whiskey Soda“, den sie von den britischen und amerikanischen Soldaten, Seemännern und Marinesoldaten gelernt hatten. Diese bittere Armut erschreckte sie zutiefst. Nichtsdestoweniger mussten die Neuankömmlinge sich auf die herausfordernde Aufgabe konzentrieren, eine Arbeit zu finden, um sich als staatenlose Russen über Wasser halten zu können. Ihre Staatsangehörigkeit hatten sie im Jahr 1921 verloren, als die Sowjets alle Russen die aus dem Rodina (dem Mutterland) während und direkt nach der Revolution geflohen waren, entnationalisierten. Aber für russische Juden wie Thaïs und Benjamin war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie nicht den Launen einer antisemitisch eingestellten Bevölkerung und Regierung ausgeliefert waren. Hier wurden sie von der britischen und der französischen Polizei, die für die beiden Settlements verantwortlich waren, beschützt. Anders als die Chinesen, die als Bürger zweiter Klasse in ihrem eigenen Land behandelt wurden: Kaum niedergelassen, begegneten auch staatenlose Flüchtlinge – genau wie die Bürger der Vertragsmächte – den Chinesen auf diskriminierende Art und Weise.
Thaïs, ihre Eltern und ihre vier Geschwister lebten in den ersten paar Jahren in einer Pension in der Französischen Konzession. Die älteren Schwestern arbeiteten als Verkäuferinnen in kleinen Läden entlang der Avenue Joffre (Huaihai Lu), während Thaïs eine Anstellung als Näherin in einem Kleiderladen fand, der von einer Chinesin für ausländische Kundschaft betrieben wurde. Thaïs und ihre Geschwister lernten schnell Englisch von ihrer ausländischen Klientel und im alltäglichen Umgang mit den Chinesen Pidgin Englisch.
Währenddessen hatte sich Benjamin ebenfalls in einer Pension in der Französischen Konzession niedergelassen. Er arbeitete einerseits als Bibliothekar und übersetzte andererseits die auf Englisch und Französisch verfassten Handelsregulationen der beiden ausländischen Verwaltungen ins Russische. Wegen seiner sprachlichen Begabung lernte er bald richtiges Englisch mit korrekter Grammatik, weil er, pingelig wie er war, nicht gerne Pidgin Englisch sprach. Er war erleichtert über die Entscheidung, sich als Rumäne bei der französischen Polizei registriert zu haben, weil er bald herausfand, dass staatenlosen Russen nicht viel Respekt entgegengebracht wurde – weder von den Ausländern noch von den Chinesen. Dank seiner gepflegten Erscheinung und seiner sauberen Kleidung ging er auch leicht als Franzose oder Engländer durch, ein unglaublich großer Vorteil im klassenbewussten Shanghai.
An einem schwülen Abend im Juni 1924 kam Thaïs mit den anderen Pensionsgästen zum Abendessen herunter. Sofort bemerkte sie den Fremden. Als er aufstand, um sie zu begrüßen, war sie von seinem guten Aussehen, mit den hellbraunen Haaren, die bereits einen ersten weißen Ansatz erkennen ließen, den grünen Augen und seiner Körpergröße von 1,75 Meter bezaubert. Trotz der drückenden Hitze und der Feuchtigkeit trug er einen geglätteten weißen Anzug, ein weißes Hemd, eine dunkle Krawatte und polierte schwarze Lederschuhe. Diese Aufmachung stand in starkem Kontrast zu dem schmuddeligen Aussehen der anderen Männer am Abendtisch. Benjamins ruhiges Verhalten und sein gepflegtes Russisch unterschied ihn von den anderen laut lärmenden jungen Männern, vor allem von den beiden Söhnen der Pensionswirtin, die um Thaïs’ Aufmerksamkeit buhlten.
Auch Benjamin schien hingerissen von Thaïs zu sein, der jungen, 1,60 Meter großen Frau mit schwarzen Haaren, braunen Augen, hohen Wangenknochen, einer sehr hellen Haut und einem warmen Lächeln. Nach dem Abendessen lud er sie zu einem kostenlosen Konzert im Koukaza Park (Fuxing Gongyuan) in der Französischen Konzession ein. Am nächsten Morgen fragte sie eine enge Freundin am Telefon, ob sie etwas über diesen sehr attraktiven Fremden wüsste. Der Bericht, den sie daraufhin erhielt, fiel nicht sehr gut aus. Man sagte ihr, er lese täglich sämtliche Zeitungen im Jüdischen Club Shanghai, wo er weder Mitglied war, noch jemals Geld ausgab – nicht einmal für eine Tasse Tee oder Kaffee. Die Freundin warnte Thaïs, Abstand zu diesem übertrieben sparsamen Mann zu wahren, der bestimmt ein schwieriger Ehemann wäre. Doch diese ignorierte alle Bedenken und entschied, dass Benjamin derjenige war, den sie heiraten wollte. Je nach Wetter ging sie mit ihm zu kostenlosen Konzerten von lokalen Musikern oder der Militärblasmusik, die in lokalen Clubs, öffentlichen Gärten im Settlement oder im Koukaza Park aufgeführt wurden. Mit dem zurechtgestutzten Rasen, den umstehenden Bäumen und den Blumenbeeten war dieser Park eine Oase für Shanghailänder1 – weit weg vom Schmutz und dem Lärm der Stadt. Es überraschte Thaïs nicht, dass Benjamin diese Umgebung wählte, um nach einem Klassikkonzert um ihre Hand anzuhalten.
Meine Mutter erzählte mir, dass der Koukaza Park für Chinesen gegen Bezahlung zugänglich war, der Zutritt zum Public Garden (heute Huangpo Park) blieb ihnen jedoch verwehrt. Ausnahmen stellten jene Chinesinnen und Chinesen dar, die dort arbeiteten, begleitende Gäste von Ausländern waren oder eine Stelle als „Amah“ innehatten – die Bezeichnung für chinesische Kinderfrauen, die auf kleine „ausländische Teufel“ aufpassten. Der Public Garden gegenüber des britischen Konsulats lag an der Mündung des Sutschou Creeks (Suzhou He) in den Whangpu-Fluss und war der erste im Jahre 1868 vom Verwaltungssitz im Internationalen Settlement angelegte Park für Ausländer. 1917 wurde ein Schild angebracht, dass dieser öffentliche Park für die ausländische Gemeinde reserviert sei. Es besagte, dass Hunde und Fahrräder nicht zugelassen seien. Außerdem stand dort: „… Blumenpflücken, Baumklettern oder das Beschädigen von Bäumen, Büschen oder Gras ist strengstens verboten … für Kinder verantwortliche Amahs dürfen die Sitzplätze während der Musikvorführungen nicht besetzen“. Der Gemeinderat wollte durch das Schild Bettler vom Park fern halten, die ansonsten Parkbesucher belästigten oder die Nacht auf den Parkbänken verbrachten.
Auf meine Nachfrage fügte meine Mutter hinzu, dass sie niemals Schilder mit einer Gleichstellung der Wörter „Chinese“ und „Hund“ gesehen hatte. Das war von Regierenden in China und von chinesischen wie auch ausländischen Schriftstellern wiederholt behauptet worden. „Keine Chinesen oder Hunde erlaubt“ – so ein Schild hatte aus ihrer Sicht niemals existiert. Dennoch wurde (und wird) diese Darstellung von der Kuomintang und der späteren Volksrepublik China immer wieder als Propagandamittel herangezogen, um den Rassismus der Westler während der Kolonialzeit zu illustrieren.
Im Sommer 1924 brach in Shanghai ein Bürgerkrieg aus. Einer der Kriegsherren aus dem Norden Chinas hatte versucht, einem Widersacher den Stadtteil Chapei, dem chinesisch-verwalteten Stadtteil nördlich des Settlements, streitig zu machen. Ihre Armeen begannen an den Grenzen des Internationalen Settlements zu kämpfen und chinesische Soldaten beider Lager fielen in Chapei ein, verwüsteten Häuser und Geschäfte und terrorisierten die Anwohner, die zu Tausenden in die ausländischen Enklaven flohen. Die ausländischen Behörden ließen verlauten, dass sie in diesem lokalen Krieg keine Seite ergreifen würden, warnten die Warlords jedoch davor, das internationale Settlement oder die Konzession zu betreten. Französische und englische Soldaten patrouillierten gemeinsam mit Männern des Multinationalen Freiwilligenkorps durch Shanghais Straßen, während ihre Kanonenschiffe und japanische Kreuzer, die mit Kanonen beladen waren, nahe des Bunds zur Abschreckung ankerten. Solange die Gefechte zwischen machtlosen und unorganisierten chinesischen Armeen, die mal hier, mal da ausbrachen, der örtlichen Wirtschaft nicht schadeten, wurden sie von den Ausländern als kleinere Belästigung abgetan. Die einzige Veränderung, die meine Eltern feststellten, war die größer werdende Anzahl der Bettler und Schutzsuchenden, die in Shanghais Nebenstraßen herumhockten, schliefen oder um Kupfermünzen bettelten.
Auf Benjamins und Thaïs’ Heiratspläne nahm der Bürgerkrieg keinen Einfluss. Sie wurden im Oktober 1924 von einem Rabbi der russischen Gemeinde verheiratet. Nach der Zeremonie kam eine Gruppe von Freunden und Thaïs’ Verwandte zu einem kleinen Empfang in einer privaten Wohnung zusammen. Das frisch verheiratete Paar mietete eine kleine Zweizimmerwohnung auf der Avenue Joffre, über dem von zwei Russinnen betriebenen Spielwarengeschäft Toyland. Benjamin fand eine zusätzliche Arbeit als Übersetzer für Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch. Thaïs hingegen arbeitete weiterhin in dem Kleiderladen und verdiente ein paar chinesische Silberdollars extra, wenn sie Kleider in Kommission bei sich zu Hause schneiderte. Diese Dollars waren zu einer Zeit, als China noch ein Land mit Silberstandard war, eine sicherere Währung als das parallel dazu kursierende Papiergeld und die Kupfermünzen. Dieses Extraeinkommen ermöglichte es ihnen, Vorführungen russischer Musiker zu besuchen und Geburtstagsgeschenke für ihren ständig wachsenden Freundeskreis zu kaufen. Benjamins Schwester Sonia schickte ihnen regelmäßig Päckchen mit Zucker, Honig, Halwa, Kaviar und Marmelade aus Harbin und im Winter Wollmäntel, Handschuhe und Decken, um die Kälte in der klammen und schlecht beheizten Wohnung auszuhalten.
Benjamin und Thaïs begannen ihr soziales Leben in Shanghai zu genießen. Gleichzeitig aber versetzten sie und andere staatenlose Bewohner gewisse politische Vorkommnisse in Besorgnis. Im November 1924 besuchte Dr. Sun Yatsen, der „Vater des modernen Chinas“ die Stadt. Er erinnerte die kommunalen Behörden daran, dass Ausländer, die in Shanghai und anderen Vertragshäfen wohnten, nur „Gäste“ des chinesischen Volks seien und exterritoriale Verträge daher außer Kraft gesetzt werden müssten. Dr. Suns Ansichten kamen bei den Chinesen – vor allem den Shanghaiern – sehr gut an, aber die ausländischen Staatsbürger, die sogenannten Shanghailänder fühlten sich durch die starke Rückendeckung der Vertragsmächte sicher und nahmen seine Aussagen nicht ernst. Sie dachten, Suns Meinung sei von seinen bolschewistischen Beratern beeinflusst, denn China hatte im selben Jahr die sowjetische Regierung anerkannt, im Gegenzug dazu hatte die UdSSR ihre exterritorialen Ansprüche auf den Vertragshafen und auf Harbin zurückzogen.
Suns Nachfolger als Anführer der Kuomintang Partei, Tschiang Kaischek, ermutigten die sowjetischen Berater dazu, Chapei dem dort regierenden Warlord zu entreißen, China zu vereinen und die Anomalität des Exterritorialismus in ganz China zu beenden. Als Sun Yat-sen 1925 starb, fürchteten Frankreich und Großbritannien, dass Tschiang und seine revolutionären kommunistischen Verbündeten nun versuchen würden, sämtliche ausländischen Settlements in China zu erobern. Der wirtschaftliche Erfolg und das Prestige der Vertragsmächte standen auf dem Spiel.
Chinesische Studenten demonstrierten gegen japanische und britische Fabrikbesitzer. Sie warfen ihnen vor chinesische Arbeiter auszunutzen, die für zu wenig Lohn zu lange Arbeitszeiten unter unsicheren und unhygienischen Bedingungen ableisten mussten. Voller Angst sah Thaïs sah die Massen der Demonstranten, die das Volk dazu aufriefen, japanische und britische Produkte zu boykottieren. Außerdem verlangten sie von der japanischen Armee, die Mandschurei zu verlassen. Tausende Arbeiter aus den Fabriken in Hongkou, Putong (Pudong) und Jangtsepu (Yangpu) streikten. Unterstützt wurden sie von Studenten, die große Demonstrationen gegen den japanischen und britischen Imperialismus und den Exterritorialismus veranstalteten.
Am 30. Mai 1925 demonstrierte eine Gruppe von Studenten und Arbeitern vor der kleinen Polizeistation Louza auf der Nanking Road im Internationalen Settlement. Nachdem sie mehrmals dazu aufgefordert worden waren, den Platz zu räumen, befahl der diensthabende Offizier, der einzige Brite in der Station, seinen Männern – Chinesen und indischen Sikhs – auf die Demonstranten zu schießen. Ein Dutzend Menschen wurde getötet und viele andere verletzt. Nach diesem blutigen Zusammenstoß gingen 50.000 Studenten nicht mehr zum Unterricht. Sie demonstrierten zwei Tage lang und riefen erneut zu Streiks und zur Vergeltung für den Mord an unschuldigen Arbeitern auf. Innerhalb einer Woche befand sich Shanghai in einem Zustand der Belagerung: Ausländische Soldaten und Seemänner der verschiedenen Garnisonen und Schiffe patrouillierten durch die Stadt und das Shanghaier Freiwilligenkorps war in ständiger Bereitschaft. Arbeiter weigerten sich, in ihre Fabriken zurückzukehren und Läden schlossen vorübergehend, weil die Besitzer Plünderungen und Aufstände fürchteten.
Eine ganze Woche lang gingen Benjamin und Thaïs nicht zur Arbeit, sie wagten sich nicht einmal aus ihrer Wohnung. Der Handel in Shanghai kam zum Erliegen. Die Studenten, die ihr Anliegen „Bewegung des 30. Mai zu Ehren der getöteten Männer der Louza Station“ nannten, legten den ausländischen Behörden eine Liste mit 17 Forderungen vor. Diese umfassten die bessere Behandlung von Fabrikarbeitern, den Abzug der britischen und japanischen Kanonenboote vom Bund, eine chinesische Repräsentation im Shanghaier Stadtrat und, am allerwichtigsten, das Ende des ungerechten und erniedrigenden Systems des Exterritorialismus. Nach mehrmonatigen Demonstrationen und zunehmendem politischen und wirtschaftlichen Druck wurden zwar einige dieser Forderungen erfüllt, doch die Kanonenboote wurden nicht abgezogen und auch am Status des Exterritorialismus wurde nichts geändert. Die Arbeiter kehrten schließlich in ihre Fabriken zurück und in Shanghai kehrte wieder Friede ein.
Inmitten all dieser aufregenden Vorkommnisse bemerkte Thaïs, dass sie schwanger war. Ihre Gedanken drehten sich nun umso mehr um die drohenden Gefahren: Krawalle könnten erneut ausbrechen oder schlimmer noch, Tschiang Kai-scheks Armee könnte sich Shanghai nähern und die internationalen Settlements erobern. Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten trafen Vorkehrungen, um ihre Staatsbürger im Ernstfall auf die Kriegsschiffe zu evakuieren, die in der Nähe vor Anker lagen. Benjamin, Thaïs und andere staatenlose Russen hatten jedoch keinen Zufluchtsort.
Im Juli 1925 erhielt Benjamin ein Telegramm von seiner Schwester Sonia aus Harbin. Während er las, begann er plötzlich laut zu weinen und fiel schließlich in Ohnmacht: Sein Vater und seine Schwester Rebecca waren sechs Jahre zuvor im Jahr 1919 bei einem Pogrom von Kosaken und der rebellischen zaristischen Armee in Radomyschl getötet worden. Der Rest der Familie war glücklicherweise schon davor in den Kaukasus gegangen. Es dauerte, bis Neuigkeiten aus dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Russland zur Außenwelt durchdrangen.
Benjamin sprach nie mehr über dieses tragische Ereignis. Er verbarg seinen Schmerz und seine emotionale Verbindung zu Russland, und versteckte sich hinter seiner vorgeblichen rumänischen Staatsbürgerschaft.
Thaïs gebar 1925 eine Tochter im Hôpital Sainte Marie. Das hoch angesehene Lehrkrankenhaus war 1908 von der französischen Kommunalverwaltung gegründet worden, und diese finanzierte auch die französischen Ärzte und Nonnen des Saint Vincent de Paul Ordens, die dort arbeiteten. Thaïs wurde von Dr. René Santelli betreut. Der Mediziner war auch als Professor an der berühmten jesuitischen Université Aurore tätig. Im Geburtenverzeichnis des Krankenhauses wurde vermerkt, dass am selben Tag noch zwölf andere Babys geboren wurden: französische, portugiesische, italienische und – chinesische. Der religiöse französische Orden diskriminierte niemanden in seinen Hospitälern und Krankenhäusern und konnte daher auch von Chinesen in Anspruch genommen werden, wenn sie die entsprechenden Gebühren bezahlten. Außerdem wurde eine Klinik für mittellose Chinesen eingerichtet, für die keine Voranmeldung nötig war.
Benjamin und Thaïs nannten ihre kleine Tochter in Erinnerung an Benjamins ermordete Schwester Rebecca. Die frischgebackenen Eltern waren über ihre sanftmütige, pummelige Erstgeborene mit den grünen Augen und dem Büschel schwarzer Haare überglücklich. Schon bald riefen sie sie bei ihrem russischen Spitznamen, Riva. Thaïs hatte Angst davor, der Aufgabe, sich alleine um das Neugeborene kümmern zu müssen, nicht gewachsen zu sein. Daher entschloss sie sich, eine Amah anzustellen. Nun, da die kleine Familie um das Neugeborene und die Amah angewachsen war, unternahm Benjamin große Anstrengungen, um einen Vollzeitjob zu finden. Die Aussichten schienen nicht schlecht, da sich die Geschäfte in Shanghai langsam wieder erholten. Doch Benjamins Hoffnungen wurden gedämpft, als Tschiangs Nationalistische Armee im Juli 1926 in einem Feldzug begann, gegen die Warlords in Nordchina vorzugehen. Seine Soldaten fielen in die britische Konzession Hankow (Hankou) und Kiukiang (Jiujiang) am Jangtse Fluss ein, während Mitglieder lokaler Banden einige der Ausländer töteten, die dort wohnten. Großbritanniens Protest war umsonst: Da die Briten den revolutionären Truppen Tschiangs unterlagen, mussten sie ihre beiden exterritorialen Industriezentren aufgeben. Zudem wurden britische Waren boykottiert und fremdenfeindliche Gefühle verstärkten sich in allen Vertragshäfen.
Trotz dieser aufgewühlten Zeit wurde Benjamin im Februar 1927 als Büroassistent in der Zentrale einer britischen Firma namens S. Behr and Methew, Ltd. angestellt. Diese Firma war von dem Boykott nicht betroffen und konnte noch ihr Handelsgut, getrocknetes Eigelb, in seine anderen Stützpunkte in Paris, Hamburg, Berlin und Glasgow verschiffen. Als im folgenden Monat bekannt wurde, dass Tschiangs Armee entlang des Jangtse-Tals in Richtung Shanghai vorrückte, herrschte ein kriegsähnlicher Zustand in Shanghai. Die ausländischen Kommunalverwaltungen riefen den Notstand aus und 30.000 britische, französische, spanische, italienische und japanische Truppen gingen in Shanghai von ihren Kriegsschiffen an Land, um das Internationale Settlement und die Französische Konzession zu verteidigen. Dazu kamen 1.500 amerikanische Marinesoldaten zu dieser internationalen Truppe. Barrikaden aus Sandsäcken und Zäune von Stacheldraht wurden um die ausländischen Enklaven errichtet, Busse und Straßenbahnen fuhren nicht mehr, die großen Einkaufshäuser schlossen ihre Türen und das Kriegsrecht mit strikten Ausgangssperren wurde verhängt. Ausländern wurde geraten, im Haus zu bleiben, um Auseinandersetzungen mit Chinesen zu vermeiden. Außerdem empfahl man denjenigen, die einen ausländischen Pass besaßen, pro Person einen Koffer für eine eventuelle Evakuation vorzubereiten.
Genau wie die anderen staatenlosen Russen konnten Benjamin und Thaïs nichts anderes tun als zu beten, dass es den Nationalisten nicht gelingen würde, das „ausländische“ Shanghai zu erobern. Da die Stadt weder ein Settlement noch eine Kolonie war, konnten Russen keine französische oder britische Staatsbürgerschaft bekommen, selbst wenn sie als Bewohner der beiden exterritorialen Enklaven registriert waren. Sehr wenige von ihnen hatten einen Antrag auf den „Nansen-Pass“ des Völkerbunds gestellt, ein „laissez-passer“, um in Länder, die es ihnen erlaubten, einzureisen und sich niederzulassen. Die Russen, schon einmal aus ihrem Land geflohen, wollten nicht erneut das Leben, an das sie sich gewöhnt hatten, hinter sich lassen. Benjamin und Thaïs mussten für sich selbst sorgen und im unsicheren Territorium verweilen, obwohl es mit einem Kind und mit dem zweiten unterwegs, schwieriger sein würde.
Als Tschiang Kai-scheks Armee auf Shanghai zumarschierte, unterwanderten seine Verbündeten, die Kommunisten, die Fabriken und zettelten massive Streiks und Arbeiter- und Studentendemonstrationen an. Die Stadt stand still. Benjamin und Thaïs konnten das Grollen von Gewehrfeuer hören und Rauchschwaden über den Dächern von Chapei aufsteigen sehen. Sie wussten nicht, dass Tschiang die Frage des Exterritorialismus mit friedlichen Mitteln beilegen wollte. Das hatte er bereits den Vertragsmächten und den wohlhabenden chinesischen Geschäftsmännern versichert. Er hatte keinerlei Absicht, die Macht mit seinen kommunistischen Verbündeten zu teilen.
Tschiang Kai-schek hielt sein Versprechen. Am 12. April 1927 griffen seine Soldaten die kommunistischen Kader, Studenten und Arbeiter an und töteten in einem zweiwöchigen Blutbad 5.000 von ihnen. Dem jungen kommunistischen Agitator Chou En-lai (Zhou Enlai), der später einer der Führer der Volksrepublik China wurde, gelang die Flucht aus Shanghai nur mit Mühe. Während der Periode des „weißen Terrors“, wie sie bald darauf genannt wurde, rührten sich Benjamin und Thaïs nicht vom Fleck. Thaïs war sehr darüber besorgt, ob sie ihr zweites Kind im Hôpital Sainte Marie zur Welt bringen könne. Denn wenn Tschiang die ausländischen Settlements angriff, würden die französischen Ärzte und Nonnen evakuiert werden.
Tschiangs Kehrtwendung und sein darauffolgender Sieg über die Kommunisten waren ein Segen für die Ausländer, vor allem für die staatenlosen russischen Bewohner. Sie konnten nun alle zu ihrem normalen Leben zurückkehren. Der Bürgerkrieg um Shanghai war beendet, die Kommunisten waren dezimiert. Tschiang Kai-schek hatte augenscheinlich die Kontrolle über China und war in der Lage, Einigkeit herzustellen. Benjamin und Thaïs mussten nicht ins Ungewisse fliehen. Die Situation in Shanghai stabilisierte sich.
1927 war das düsterste Jahr für die „Roten“, da sie eine Serie von Rückschlägen in den südlichen und süd-westlichen Provinzen erlitten. Erfreut las Benjamin am 5. August in einer Ausgabe der North-China Daily News, dass Tschiangs Feinde in die Flucht geschlagen worden waren.
Benjamin, der seine Zeitungen sonst sehr gewissenhaft studierte, überprüfte sie an diesem Tag jedoch nicht nach anderen Neuigkeiten. Der Grund dafür war ein äußerst fröhliches Ereignis, das an jenem Tag stattfand.
1 Wortspiel des englischen Begriffs „highland“ bzw. „highlander“, welches die ausländische „Expat“-Gemeinde beschreibt (A.d.Ü.)
Am 5. August 1927 gebar Thaïs ihr zweites Kind (mich) – allerdings nicht im Hôpital Sainte Marie, denn das Krankenhaus war nach dem von der Kuomintang im April angerichteten Blutbad noch nicht wieder vollständig mit Personal besetzt. Stattdessen brachte sie mich in der Wohnung in der Avenue Joffre zur Welt. Wenige Wochen nach meiner Geburt stellte meine Mutter eine zweite Amah ein, die meine Eltern „Alte Amah“ nannten, weil sie mit Ende dreißig älter als andere Ammen war. Sie war eine große, dürre und recht streng aussehende Chinesin aus einer Bauernfamilie. Ihre Haare waren zu einem Knoten zusammengebunden und sie trug stets eine makellose, für Amahs typische „Uniform“: eine mit Häkchen zusammengehaltene weiße Jacke, eine schwarze Baumwollhose und ebenso schwarze Stoffschuhe. In Shanghai hatten Amahs normalerweise ein eigenes Zimmer – oft ohne Fenster – in einem für das Personal reservierten Teil des Hauses. Außerdem erhielten sie einen Lohn, von dem sie einen Teil ihren Familien schickten. Im Gegensatz zu anderen Shanghaiern genossen sie den Luxus, ihre Mahlzeiten nicht draußen kochen zu müssen. Andere Chinesen bereiteten ihr Essen auf dem Bürgersteig zu, wobei sie auf kleinen Hockern saßen und darauf achteten, dass das Feuer in den mit Briketts angeheizten Lehmöfen nicht ausging. Ein weiteres Privileg der Amahs waren Seife und heißes Wasser. So mussten sie nicht jeden Morgen mit großen Thermoskannen für heißes Wasser vor überfüllten Geschäften anstehen. Wenn es keine anderen Angestellten gab, passte die Amah nicht nur auf die Kinder auf, sondern wusch auch Geschirr und Kleider und half beim Zubereiten der Mahlzeiten. Obwohl Amahs ein wenig verdienten und oft wochenlang keinen Tag frei hatten, schätzten sie sich glücklich, ein festes Dach über dem Kopf zu haben und statt für eine reiche chinesische Familie für Ausländer zu arbeiten. Hier bekamen sie ein höheres Gehalt und es war weniger wahrscheinlich, dass sie von ihrem Master oder ihrer Missee geschlagen wurden.
Im Laufe meiner Kindheit wurden Alte Amah und ich unzertrennlich. Sie kümmerte sich um mich („Leelee“) und meine Schwester Riva, die sie „Leeva“ nannte, fütterte und badete uns und zog uns die Kleider an, die meine Mutter nun kaufte und nicht mehr selber zu nähen brauchte. Das Einkommen meines Vaters erhöhte sich Ende 1927 deutlich, als er eine Anstellung als Vertreter der Sun Life Insurance Company erhielt, einer kanadischen Versicherung mit Sitz in Montreal. Wenig später zogen wir in eine größere Wohnung in einem kleinen Wohnkomplex auf der Route Ratard (Julu Lu), wo Alte Amah ein eigenes Zimmer im Dienstbotentrakt zugewiesen wurde. Sozial gesehen stieg unsere Familie auf – und Alte Amah mit uns, jedenfalls in den Augen ihrer Freunde.
Alte Amah bestand darauf, uns Stoffschuhe zu besorgen. Sie erklärte meiner Mutter, Lederschuhe seien nicht gut für unsere Füße („veely no good“), weil die Knoten der Schnürsenkel sich schnell lösen und uns zum Stolpern bringen würden. Mit den neuen Stoffschuhen konnte ich der Alten Amah leicht davonrennen die mit ihren (im Verhältnis zur Körpergröße) winzigen Füßen einen federnden Gang hatte.
Während meine Schwester fast nie Unfug anstellte, ärgerte ich im Alter von fünf Jahren die Mädchen, mit denen ich im Park spielte, kämpfte mit den Jungen aus unserem Wohnkomplex und streckte den chinesischen Kindern auf der Straße die Zunge heraus. Alte Amah beschützte mich vor Schelte und Prügel und beruhigte meine Mutter mit den Worten: „When Missee Leelee big, she good like Leeva“. Obwohl ich einige Worte im Shanghaier Dialekt aufgeschnappt hatte, sprach Alte Amah mit mir intuitiv immer Pidgin-Englisch. Meine Eltern wollten genau wie andere Europäer nicht, dass ihre Kinder Chinesisch lernten. Es bestand für Ausländer dazu auch gar keine Notwendigkeit, denn die chinesischen Dienstboten mussten immer bruchstückhaft die Sprache der Hausherren beherrschen, sei es Pidgin-Englisch, Französisch, Russisch oder Deutsch.
Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, ließ mich meine Mutter Alte Amah auf ihren Einkaufsgängen in den Straßen des „chinesischen“ Shanghais begleiten. Ich lernte eine Welt kennen, die grundverschieden von der meinen war. Gleichzeitig war ich froh um den Abstand zu meiner kleinen, lauten Schwester Jacqueline, die als „Lärmbelästigung“ ein Jahr zuvor in mein Leben getreten war. Dieses Kind, von uns allen Jackie genannt, zog (meiner Meinung nach?) viel zu viel Aufmerksamkeit meiner Eltern und ihrer Freunde auf sich. Sie konnten sich nicht darauf einigen, ob Jackie mehr von meiner Mutter oder meinem Vater hatte. Klar war nur, dass sie ihren beiden älteren Schwestern nicht ähnelte. Riva hatte das Aussehen meines Vaters und seine ruhige Art geerbt, während ich meiner Mutter ähnlich sah und ihr Temperament hatte – ich war ein sehr aktives Kind.
Auf dem Weg zum Markt kamen Alte Amah und ich durch ärmliche Stadtviertel, wo wir jedes Mal einem älteren Mann begegneten, der eine große Holzkarre vor sich herschob. Er zog durch die Gassen, wo die Chinesen in Mietshäusern und Hütten ohne Toiletten lebten, und sammelte die Eimer mit menschlichen Exkrementen, die sich über Nacht angehäuft hatten, ein. Wenn dieser Moo-Dong-Mann sein Kommen ankündigte, eilten die Frauen mit Eimern aus Holz herbei, die er dann mit Schwung in die auf seinem Karren fixierten Bottiche entleerte. Wenn sie bis zum Rand voll waren, verschloss er sie mit einem Deckel und schob den überladenen Karren langsam aus der Stadt hinaus, um den Inhalt als Dünger an die Bauern zu verkaufen. Während der schwülen Sommermonate im Juli und August, wenn die Temperaturen manchmal auf fast 40° Celsius kletterten, hing der üble Geruch dieses Karrens den ganzen Morgen über in der Luft.