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Beschreibung

Stadt und Säkularität werden in der Moderne häufig gleichgesetzt. Der vorliegende Forschungsband differenziert: Nicht nur durch Migrationsbewegungen wird das Spannungsfeld von Religion und Urbanität vielschichtiger und widersprüchlicher, als es noch vor wenigen Jahren schien. Wissenschaftliche Beiträge zu relevantem Thema

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Ludger Hagedorn | Patricia Löwe

Stadt und Religion

Wegzeichen zu einer postsäkularen Urbanität

Die Herausgeber

Ludger Hagedorn, geb. 1967, ist Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Studium der Philosophie und Slavistik an der Freien Universität Berlin, 2002 Dr. phil. (Technische Universität Berlin), von 2005 bis 2009 Purkyně-Fellow der Tschechischen Akademie der Wissenschaften; Lehre u. a. an der Gutenberg-Universität Mainz, Södertörns Högskola (Stockholm), Karls-Universität Prag und der NYU Berlin.

Patricia Löwe, geb. 1989, arbeitet als wissenschaftliche Referentin der Berliner Guardini Stiftung und ist nebenher als freie Autorin tätig. Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Religions-/Kulturwissenschaft in Berlin. 2019 Promotion zum Dr. phil. an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Dissertation zum Thema »Die Erlösung des Cartesianischen Subjekts. Die Philosophie des Cogito als Ausdruck der Zerbrechlichkeit des Menschen«.

Ein Projekt der Nationalen Stadtentwicklungspolitik. Gefördert durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat

Ein Projekt der Guardini Stiftung

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -motiv: Anja Matzker

Lektorat: Dr. Cathrin Nielsen

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara

ISBN E-Book (Epub) 978-3-451-82007-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82008-3

ISBN Print 978-3-451-38676-3

Inhalt

Vorwort des Bundesinnenministers Horst Seehofer für die Abschlusspublikation des NSP-Projektes »Stadt und Religion«

Stadt und Religion. Wegzeichen einer postsäkularen UrbanitätLudger Hagedorn

STADT UND RELIGION – ORTE, FORMATE, SCHAUPLÄTZE

Exkursionsreihe: Das »andere Heilige« in der NachbarschaftPatricia Löwe

Hochschulkooperation: Die »Zeichen der Zeit« erkennen und deuten – Die Stadt als Ort der TheologieChrista Georg-Zöller

Ausstellungen: Heilige und verfluchte OrteFrizzi Krella

RELIGION IM URBANEN RAUM

Religiosität in den Städten. Formierungen zwischen religiösem Pluralismus und SäkularisierungGert Pickel

Das Heiligtum als Strukturmerkmal des urbanen RaumesAndreas Feldtkeller

Stadt und Religion – Dorf und Kirche. Die Dorfkirche von Groß Kölzig/NiederlausitzKristina Wiese und Heinz Nagler

WEGMARKEN DER POSTSÄKULAREN STADT

»Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid?« Bauliche Präsenz von Kirche im Stadtquartier zwischen Abwicklung und EntwicklungJakob Johannes Koch

Die Heilige-Geist-Kirche – eine Kirche im KiezKatrin Rebiger

Islam im städtischen RaumUlrike Freitag

Städtische Formen des islamischen Gesetzes. Traditionelle Strukturen und soziale Werte der mittelalterlichen MedinaHåkan Forsell

Jerusalems zerstörter Tempel und seine Stellvertreter. Stadt und Religion in Jerusalem – irdisch, himmlisch, politisch? Angelika Neuwirth

MYTHOS STADT

Jerusalem und Babylon – und Berlin? Anmerkungen einer Zeitgenossin zu theologischen StadtmythologienEva Harasta

»God’s lonely man«. Die Stadt der Sünde im KinoHans-Joachim Neubauer

Wie heilig ist den Religionen das andere Heilige? Felix Körner SJ

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Abbildungsverzeichnis

Anmerkungen

Vorwort des Bundesinnenministers Horst Seehofer für die Abschlusspublikation des NSP-Projektes »Stadt und Religion«

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die vielfältigen Bauwerke der Religionsgemeinschaften sind fester Bestandteil unserer Städte. Sie dienen nicht nur der Religionsausübung, sondern stellen Orte der Begegnung dar. Als Treffpunkte für Kinder, Jugendliche, Familien und Senioren und als Raum für kulturelle Veranstaltungen ermöglichen sie die Übernahme sozialer Verantwortung in ihren jeweiligen Nachbarschaften und unterstützen die Integration.

Hier setzt das Projekt »Stadt und Religion« an, das im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik gefördert wurde. Es lenkt den Blick auf die gesellschaftsprägende und identitätsstiftende Funktion der Religion und zeigt neue Perspektiven für das Zusammenspiel von Religion und Urbanität auf. Die Ergebnisse werden im vorliegenden Band vorgestellt.

Reflexionen über die erfolgreiche Exkursionsreihe »Ortsbekenntnis – Bekenntnisorte« eröffnen den Band. In den letzten drei Jahren wurden 18 verschiedene Orte religiösen Lebens im Raum Berlin besucht. Dabei konnten eher unbekannte und abgeschlossene Glaubensorte an Sichtbarkeit gewinnen. Bei den Führungen gab es lebhafte Diskussionen zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Politik, Wissenschaft, Architektur, Bürgerschaft und den Glaubensgemeinschaften, vor allem zum Verhältnis von »Stadt und Religion«.

Dieses war auch Gegenstand von Lehrveranstaltungen, Workshops und Exkursionen der BTU Cottbus-Senftenberg (Lehrstuhl für Städtebau und Entwerfen) und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (Studiengang Religionspädagogik/Soziale Arbeit). Die Ergebnisse der Forschungsarbeit sind ebenfalls Teil dieser Publikation.

Ein Rückblick auf drei Fotoausstellungen der Guardini Galerie erweitert die Debatte um eine künstlerische Perspektive. Und schließlich werden elf Konferenzbeiträge der jährlich veranstalteten Fachtagungen von Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen vorgestellt, die das breite Themenspektrum des Projekts abbilden.

Die Publikation bietet mit ihren zahlreichen Beiträgen einen guten Überblick über die Vielgestaltigkeit des religiösen Lebens in unseren Städten. Insbesondere wird die Frage beleuchtet, wie wir das Zusammenleben in einer von religiöser Offenheit und Pluralität geprägten Gesellschaft heute und in Zukunft gestalten wollen. Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre viel Freude und einen offenen Blick auf unsere sich stetig wandelnden Städte!

Horst Seehofer

Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat

Stadt und Religion. Wegzeichen einer postsäkularen Urbanität

Ludger Hagedorn

Einleitung

Religion ist zurück in den Städten. Vielleicht war sie nie verschwunden. Doch heute ist sie in einer Weise präsent, dass die lange für selbstverständlich gehaltene Gleichsetzung von moderner Urbanität und zunehmender Säkularisierung ins Wanken geraten ist. Diagnostizierte die Städteforschung schon vor 15 bis 20 Jahren einen starken Bedeutungszuwachs der Religionen vor allem in den Städten und Megacitys des globalen Südens, so erfahren heute auch die europäischen Metropolen vielfältige neue Einflüsse durch die Religionen. Nicht nur durch Migrationsbewegungen wird das Spannungsfeld von Religion und Urbanität vielschichtiger und widersprüchlicher, als es noch vor wenigen Jahren schien.

Der vorliegende Band versammelt Beiträge aus verschiedenen Disziplinen und Perspektiven, die sich mit dem Wechselverhältnis von Stadt und Religion befassen. Welche Bedeutung hat (haben) Religion(-en) heute noch – oder vielleicht wieder – für die Städte? Und wie wirkt das urbane Milieu zurück auf das Selbstverständnis und die Praxis von Religionen, die sich in den modernen Städten mit einer Vielfalt von Sinn- und Glaubensangeboten konfrontiert sehen?

Bereits in weniger als einer Generation werden wahrscheinlich 70 bis 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Die Vielfalt von Menschen und Gruppen mit verschiedenen sozialen, religiösen und kulturellen Hintergründen stellt neue Anforderungen an die urbanen Gemeinschaften und an die Gestaltung städtischer Räume und Architekturen. In den Metropolen dieser Welt, auch in den europäischen, lassen sich schon heute entscheidende Mentalitätsveränderungen feststellen in einem Umfeld, das neuerdings gern als »postsäkular« beschrieben wird. Religiöse Institutionen und Gemeinschaften wirken in vielfältiger Weise auf das urbane Leben und den städtischen Raum. Sie engagieren sich für das soziale Miteinander, organisieren neue Nachbarschaftsbeziehungen oder wirtschaftliche Netzwerke, sie wirken integrierend oder manchmal gerade im Gegenteil dissoziierend, und sie verändern die Städte auch architektonisch: Kirchenbauten erfahren Umwidmungen, Fabriketagen werden Gebetsräume, religiöse Neubauten entstehen, mit ihnen Gemeindezentren, Vorplätze und öffentliche Aktionsräume. Das Spannungsfeld von Religion und Urbanität ist vielfältig und betrifft eine ganze Reihe von entscheidenden Komponenten des Zusammenlebens in den Städten: sozial, ökonomisch, städtebaulich, im Ausleben von kulturellen und weltanschaulichen Spannungen oder deren Überwindung, in Fragen der Integration oder der Wahrung der Identität von Migrantinnen und Migranten, im Umgang mit Minderheiten sowie in der Kernfrage der religiösen Toleranz und der Unbedingtheit eines Glaubens, der weit in den urbanen Alltag hineingreift und seine Vereinbarkeit mit abweichenden Lebensmodellen zu erweisen hat.

Im Untertitel dieses Buches ist die Rede von den »Wegzeichen« einer postsäkularen Identität. Das ist zunächst ganz wörtlich gemeint: Wegzeichen sind Hinweisgeber, Andeutungen, sie zeigen an, ohne den Weg in allen Details zu erläutern. So können und sollen auch die Beiträge dieses Bandes nur Hinweisgeber, Andeutungen von größeren Zusammenhängen sein, Markierungen von gesellschaftlichen Veränderungen, die das Spannungsverhältnis von Religion und Urbanität betreffen. Wegzeichen können sogar irreführend sein, und insbesondere Wegzeichen, die zukünftige Prozesse andeuten sollen, sind nicht frei von Unwägbarkeiten. Dennoch geht es um etwas Grundsätzliches, um ein Plädoyer vielleicht, ein Plädoyer für die Aufweichung der lang gehegten Überzeugung, dass die Religionen vollständig aus dem urbanen Umfeld der Zukunft verschwinden werden (oder gar sollen?). Wäre es nicht angebrachter zu fragen, welche produktive Rolle die Religionen auch in den gegenwärtigen und zukünftigen Städten spielen werden, und sogar, welche spezifischen Funktionen des Zusammenlebens gerade die Religionen gestalten können? Diese Überlegung bildet die vielleicht grundlegende Hypothese des Bandes – ein Wegzeichen für postsäkulare Urbanität.

Zugleich ist dieser Titel aber selbst ein Hinweis, ein Hinweis auf die berühmten »Wegzeichen« (russ. Wechi), die 1909 in Russland erschienen und ein zentraler Bezugspunkt für die Debatten nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1905 waren. Herausragende Intellektuelle dieser Zeit reflektierten darin über die ideologische Verblendung und die Politisierung einer Intelligenzija, die sich als revolutionär verstand, aber in ihrer moralistischen Attitüde zunehmend autoritär und intolerant wurde. Die »Wegzeichen« sind ein Zeugnis der kritischen Selbstreflexion und der Zurückhaltung im ideologischen Eifer. Ganz in diesem Sinne wäre vielleicht auch heute zu fragen, ob der wechselseitige Ausschluss eines siegreichen aufgeklärten Säkularismus und einer vermeintlich rückständigen Religion nicht zu kurz greift. Es sollte darum gehen, das Zusammenspiel von liberaler Ordnung und religiöser Orientierung neu zu gestalten. Und wie es scheint, sind es heute gerade die Städte, in denen sich möglicherweise neue Verbindungen und neue religiöse Formen ausbilden.

Entwicklung und Bestand einer Stadt sind stets Spiegel politischer und gesellschaftlicher Ereignisse. Über größere – Jahrhunderte währende – Zeiträume betrachtet, wachsen oder verfallen Städte. Die Architekturen, die ihr Gesicht prägen, werden dabei fortgebaut, umgebaut, erweitert, zuweilen zerstört und ersetzt. Erfüllen Gebäude bestimmte Kriterien, erfahren sie Umnutzungen und werden an neue, andere Bedürfnisse angepasst. Das hängt zusammen mit den – gerade in Städten – permanenten Prozessen des Zuzugs und Wegzugs der sie bewohnenden Menschen. In diese historische Perspektive sind auch Geschichten sich verändernder territorialer Zugehörigkeiten einzuschließen. Neue Machthaber, neue politische Systeme, ein anderer Glaube und damit andere Anschauungen über die Funktionen des Glaubens und das Image einer Stadt sind hierfür entscheidend.

Einen Stadtspaziergang durch das heutige Paris mit einem Reiseführer von 1896 in der Hand zu unternehmen, wie das etwa der niederländische Publizist Geert Maak tat, kann in dieser Hinsicht ebenso aufschlussreich sein, wie mit Rose Ausländers Erinnerungen dem ehemals so »buntschichtigen« Czernowitz zu begegnen. Heute sind es die Geschichten von Glaubensarchitekturen wie etwa der Hagia Sophia in Istanbul oder auch der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, die große gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Als symbolhafte Bauten erregen ihre Geschichten weltweites Interesse und kontroverse Debatten. Ähnliches gilt für die Präsenz von Minaretten in europäischen Städten. Doch auch jenseits dieser großen öffentlichen Diskurse um die Architektur gewordene Religion in den Städten besitzen religiös konnotierte Gebäude eine starke Symbolkraft. Selbst wo solche Architekturen nur einen kleinen Wirkkreis haben, in den städtischen Vierteln oder Kiezen, entbrennen teils heftige Kontroversen um die Umnutzung von Sakralbauten oder die Neuentstehung religiöser Orte.

Die Auseinandersetzung mit solchen Prozessen, auch im Kleinen und Lokalen, kann äußerst lehrreich sein und vermittelt grundlegende Erkenntnisse über das Funktionieren urbaner Lebenswelten. Gerade dieser Aspekt kam in dem mehr als dreijährigen Projekt, das der vorliegenden Publikation vorausging, ausführlich zur Geltung. Ermöglicht durch eine Förderung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) wurde das Projekt mithilfe der Berliner Guardini Stiftung realisiert. Einen wichtigen Pfeiler bildete dabei von Beginn an der Besuch von Orten des Glaubens in Berlin, einer Stadt, die den christlichen Kirchen lange als Hochburg des Atheismus erschien, die aber heute, auch bedingt durch demografische Veränderungen, Ort für eine enorme Vielfalt an Religionen und Konfessionen ist.

In sechs Staffeln von jeweils drei Exkursionen erkundete die Reihe »Ortsbekenntnis – Bekenntnisorte« das Interagieren von religiösen Gemeinschaften in Berlin mit dem sie umgebenden urbanen Umfeld. Wie stellen sie sich den Herausforderungen des Zusammenlebens mit anderen? Wie entwickelt sich religiöse Identität gerade im Umfeld der Städte? Was ist ihr Potenzial zur Veränderung der Stadtquartiere? Diese Fragen bestimmten den Besuch bei den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die sich jede auf ihre Weise nicht nur den Bedürfnissen ihrer Gläubigen widmen müssen, sondern auch die städtische Umgebung mit in den Blick nehmen sollten. Manche Ansätze mögen sich als nicht tragfähig erweisen, andere wiederum zeigen, wie gerade Religionen zum Leben der Kieze beitragen können. Eine Art Synthese dieser Exkursionen anhand thematischer Kategorien wie Integration, soziales Engagement, Stadtplanung und interreligiöse Kompetenz liefert Patricia Löwe im nachfolgenden Beitrag. Ihr möchte ich als Projektleiter an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich für die engagierte und kompetente Begleitung, für viele Ideen und zuverlässige Unterstützung danken. Gemeinsam umgesetzt haben wir nicht nur das aufwendige Exkursionsprogramm (die Flyer der einzelnen Reihen sind den Abbildungen beigegeben), sondern auch die Fachtagungen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Stadtgeschichte, Theologie, Film- und Literaturwissenschaft, Soziologie und vielen anderen Disziplinen, die dem Grundthema »Stadt und Religion« seine vielfältigen Perspektiven gegeben haben, wie sie in den nachfolgenden Beiträgen dokumentiert werden.

Ganz persönlich darf ich sagen, dass es gerade die Besuche »vor Ort«, die Exkursionen zu den Glaubensgemeinschaften in Berlin waren, die bei mir die stärksten Eindrücke hinterlassen haben. Es sind die Zuwanderer und Migrantinnen aus allen Teilen der Welt, die ihre Glaubensüberzeugungen mit in die Stadt bringen und auf ganz eigene Weise leben. Aber nicht nur das: Es gibt auch grundlegende Mentalitätsveränderungen in einem Umfeld, das man mangels besserer Begrifflichkeit »postsäkular« nennen kann. Gerade die jungen, »hippen« und gut (aus-)gebildeten Menschen aus den Stadtkiezen zeigen sich aufgeschlossen gegenüber neuen (und manchmal alten) Formen religiösen Lebens. Sie feiern Gottesdienste im Programmkino oder im Szeneclub, und einige Veranstaltungen finden inzwischen solchen Zuspruch, dass sich binnen kürzester Zeit Nachahmungen in anderen Bezirken der Stadt etablieren. Diese neuen Bewegungen sind Ausdruck einer Tendenz, die Stadt grundsätzlich anders zu erleben: Sie soll »mehr« sein als der vollkommene ästhetische Ausdruck der globalen Finanz- und Warenströme, »mehr« als der Illusionszauber von Konsum und Unterhaltung, »mehr« als das Funktionieren der viel gepriesenen smart cities und ihrer perfekten Bedürfnisabdeckung.

Ein weiterer Baustein des Projekts waren die Ausstellungen, die (bis zum Pandemie-Jahr 2020) in den Räumen der Guardini Stiftung stattfanden. Diese folgten der Überzeugung, dass ein so breites Thema wie »Stadt und Religion« nicht allein wissenschaftliche und lebensweltliche Perspektiven umfassen sollte, sondern auch dezidiert künstlerische. Die Ausstellungen wurden kuratiert von Frizzi Krella, die im nachfolgenden Beitrag über ihren Blick auf zeitgenössische künstlerische Positionen zum Thema berichtet.

Einen wichtigen Pfeiler des Projekts bildete auch die Kooperation mit dem Lehrstuhl für Religionspädagogik der KHSB Berlin und dem Lehrstuhl Städtebau und Entwerfen der BTU Cottbus-Senftenberg. Beide Fachbereiche haben in diesen Jahren gemeinsam interdisziplinäre Modelle entwickelt, um einerseits Studierende aus dem Bereich Religion für architektonische Räume und Fragen der Stadtplanung zu sensibilisieren, andererseits für Studierende der Architektur und Stadtplanung religiöse Thematiken als gesellschaftsprägenden Faktor erfahrbar zu machen, den es gilt, stärker in die stadtplanerische Arbeit einzubeziehen. Die Kooperation wurde ganz wesentlich von Heinke Fabritius konzipiert, entwickelt und getragen. Ihre idealen Gegenüber fand sie in Prof. Christa Georg-Zöller von der KHSB sowie Prof. Heinz Nagler und Kristina Wiese von der BTU Cottbus. Allen Beteiligten möchte ich sehr herzlich für die gelungene Zusammenarbeit danken. Sie führte zu einer ganzen Reihe von Lehrprojekten, gemeinsamen Veranstaltungen und Exkursionen, wovon die nachfolgenden Artikel von Christa Georg-Zöller) und Kristina Wiese/Heinz Nagler) einen Eindruck vermitteln.

Nicht nur die Lehrveranstaltungen und Exkursionen, auch die geplanten Tagungen, Ausstellungen und alle kleinen Formate des Austausches und der Begegnung, die ein solches Projekt so kostbar machen, litten seit Frühjahr 2020 erheblich unter den Restriktionen der Pandemie. Dass es dennoch gelungen ist, das Programm weitgehend umzusetzen und stärker auf andere Formate wie Podcasts auszuweichen, ist nicht selbstverständlich, und ich möchte dafür allen Beteiligten nachdrücklich danken.

Dennoch bleibt auch am Ende eines solchen Vorhabens fast immer das Gefühl, dass bestenfalls ein Anfang gemacht ist, vieles noch zu tun, vieles noch zu ergänzen wäre, vor allem aber der Eindruck, dass die bestehenden Formate unbedingt fortgeführt werden sollten. Das jedoch wird – zumindest in diesem Rahmen – leider nicht möglich sein. Es bleibt die Überzeugung, dass die Herausforderungen groß, aber auch interessant sind, die es anzunehmen gilt, um zukünftig das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen sozialen, religiösen und kulturellen Hintergründen im urbanen Umfeld zu moderieren und die städtischen Räume zu gestalten. Diese Herausforderungen gelten insbesondere auch für die beiden großen Kirchen in Deutschland, die zwar kontinuierlich an Mitgliedern verlieren, deren Einfluss auf die Stadtentwicklung aber beträchtlich bleibt. Auch für sie halten die diversen Formen urbanen Lebens neue Aufgaben bereit. Das Engagement in den Städten – Verkündigung der christlichen Botschaft, Vermittlung von Werten, Einfluss auf das gesellschaftliche Leben – bestimmt sich nicht allein durch pastorales Handeln und eine dezidiert urbane Pastoral (was eine wesentliche Aufgabe ist und bleibt) oder durch das beachtliche Engagement für Schulen und Sozialarbeit. Entscheidend wird sein, neue Antworten auf fundamentale Fragen zu finden: Wie stellen wir uns das Leben in den Städten des 21. Jahrhunderts vor? Welchen gesellschaftlichen Herausforderungen müssen wir begegnen, und welche Rolle sehen die Kirchen in den globalisierten Metropolen für ihre eigene Botschaft, aber auch für das religiöse Leben überhaupt vor? Was kann spezifisch durch religiöse Fundierung für das Leben in den Städten gewonnen werden? Nur wenn es den Kirchen gelingt, diesen Fragen Raum zu geben, sie offensiv und im Austausch mit anderen Religionen anzugehen, wird die Kirche im Dorf, besser gesagt in der Stadt bleiben.

Am Ende einer Projektlaufzeit zeigen sich auch die Verheißungen, die sich vielleicht nicht erfüllen ließen, die aber gleichwohl als Verheißungen am Horizont bleiben. Für mich persönlich war es die Vorstellung, das Leitthema »Stadt und Religion« sinnbildlich an den acht Toren der Jerusalemer Altstadt festzumachen. Dies ließ sich in der geplanten Form aufgrund zeitlicher und vor allem personeller Ressourcen leider nicht umsetzen. Allerdings bildete diese Idee in einer Art Kleinformat das Thema für die Abschlusskonferenz des Projekts. Ich möchte daher gerne zum Abschluss des Projekts und zur Eröffnung dieses Bandes wenigstens eine Skizze dieses Vorhabens entwerfen, die sich am steinernen Leitfaden der acht Jerusalemer Stadttore orientiert und symbolisch die Grundfragen von »Stadt und Religion« umkreist.

Die 8 Stadttore Jerusalems – 8 Chiffren zum Dialog von Urbanität und Religion

Stadttore sind Orte der Begegnung und der Auseinandersetzung – Orte, an denen Menschen aus der Stadt hinaus- und in die Stadt hereinziehen – Orte der Flucht und Aufnahme – Orte der Vertreibung – Orte, an denen sich die Stadt abgrenzt von der Umgebung. Stadttore markieren die Stelle, wo die Stadt zur Stadt wird – Orte, von denen aus man in alle Richtungen auseinandergeht und aus allen Richtungen auf die Stadt zugeht, Orte auch, wo auf faszinierende wie auf bedrückende Weise die verschiedenen Religionen miteinander in Kontakt kommen.

Jerusalem, die himmlische Stadt – keine andere steht in diesem Maße für die Verbindung von Religion und Stadt. Keine andere steht so für die himmlischen Verheißungen der Religion wie auch für ihre irdischen Bedrängnisse. Keine andere Stadt dieser Welt steht sowohl historisch wie auch aktuell in solcher Weise für das Miteinander ebenso wie für das Gegeneinander der Religionen.

Eine jede eingehende Beschäftigung mit dem Leitthema von »Stadt und Religion« könnte sich sinnbildlich orientieren an den acht Toren der Jerusalemer Altstadt. Jedes der acht Tore, jeder der acht Orte lässt sich verstehen als eine Chiffre, d. h. eine paradigmatisch verkürzte Formel für die zentralen Themen, die für den Dialog von Religion und Urbanität bestimmend sind. Im Umlauf um die acht Tore blickt man dabei thematisch »in alle Richtungen« und umrundet symbolisch die Stadt, die auch als die Stadt schlechthin gelten darf.

Den Ausgangspunkt dieses Rundgangs könnte das Jaffator bilden, auch »Davidstor« genannt. Das Tor ist die Verbindung Jerusalems mit der Welt. Es ist der Ort, an den man vom alten Hafen in Jaffa herkommend (Jaffa ist Teil des heutigen Tel Aviv und gilt als der älteste Hafen der Welt) in Jerusalem anlangt. Es ist der Ort, an dem über Jahrhunderte auch die Pilger die Heilige Stadt Jerusalem erreichten. Als Chiffre steht das Jaffa-Tor sinnbildlich für die Begegnung mit der Stadt, für das Zugehen auf das Thema von Religion und Urbanität. Es ist der Blick auf die Stadt aus der Ferne. Insbesondere steht das Tor dabei für eine Annäherung an die neuen und alten Formen von Religion in den Städten, die oft wenig mit traditionellen Vorstellungen zu tun haben. »Jaffa« als Hinweis auf den Hafen und das pulsierende Leben des heutigen Tel Aviv eröffnet die Grundfrage nach Religion und modernem Lifestyle (Topos: Religion und moderner Lifestyle).

Abb. 1: Die Altstadt Jerusalems

Ihm folgt das Neue Tor, historisch das jüngste aller Stadttore und im Vergleich zu den anderen eher unscheinbar. Es wurde erst 1889 errichtet, um einen leichteren Zugang vom christlichen Viertel der Altstadt zu den neuen Wohngebieten vor den Stadtmauern zu ermöglichen. Es ist ein Stadttor, reduziert auf seine wichtigste Funktion: Verkehr und Austausch zu ermöglichen. Als nachträglich eingefügtes Tor steht es aber auch für den Bruch des Neuen mit der Geschichte. Es versinnbildlicht die Auseinandersetzung mit den neuen Formen urbaner Religiosität, die im Zugang auf das Jaffa-Tor eröffnet wurden. Es gilt, den Blick für Tradition und notwendige Veränderung zu schärfen und zu bestimmen, ob und wie Erneuerung als Hoffnung oder Enttäuschung erfahren werden kann (Topos: Tradition und Erneuerung).

Das Damaskustor ist das größte und schönste Tor der Altstadt. Es führt sowohl in das christliche wie auch das muslimische Viertel. Das Tor gilt als einer der meist frequentierten und lebendigsten Orte der Stadt. Händler bieten in den Nischen ihre Waren an. An vielleicht keinem anderen Ort treffen auch die verschiedenen Gruppen und Religionen so unvermittelt aufeinander: orthodoxes Judentum, Muslime, säkularisierte Urbanität, verschiedene christliche Konfessionen. Im übertragenen Sinne steht das Damaskustor für das Gelingen wie auch für gewalttätige Auseinandersetzungen und das Scheitern des Miteinanders der drei abrahamitischen Religionen in der für alle Gruppen heiligen Stadt Jerusalem. Das Tor ist Inbegriff für die Heiligkeit dieser Stadt, die von allen geteilt wird. Geteilte Heiligkeit – gibt es eine Toleranz, die aus der Religion selbst erwächst und mehr ist als bloße Indifferenz? (Topos: Heilige Stadt für viele – Segen und Fluch religiöser Vielfalt)

Die Bezeichnung Herodestor, auch »Tor der Wächterin« oder »Blumentor« genannt, stammt von christlichen Pilgern aus dem Mittelalter, die in der Nähe des Tores das Haus von Herodes vermuteten, auch wenn es dafür keine historischen Belege gibt. Die Bibel berichtet, Pontius Pilatus habe Jesus zu Herodes Antipas geschickt, da er diesen hinsichtlich der Gerichtsbarkeit für zuständig hielt. Herodes »freute« sich, so der biblische Bericht, weil er sich von Jesus ein Wunder erwartete. Als Jesus ihm aber nicht antwortete, verspottete er ihn und schickte ihn zurück zu Pilatus. Als Herrscher befand sich Herodes in einem Dauerkonflikt mit den gläubigen Juden. Schon Johannes der Täufer soll ihm öffentlich seinen doppelten Ehebruch vorgehalten haben, woraufhin er hingerichtet wurde. Herodes verkörpert, wie auch Pilatus, die weltliche Obrigkeit, die der Religion mit Unverständnis begegnet. Als Chiffre steht das Herodestor für diese immer wiederkehrende Spannung. Es ist schon ein biblischer Konflikt, dessen wahre Dimension sich aber vielleicht erst in unserem »säkularen Zeitalter« entfaltet, das der Religion überhaupt nur eine Nische einräumen will oder sie mit dem Verdacht von Täuschung und Terrorismus belegt. Doch was bedeutet das in heutiger Zeit, in der das säkulare Weltbild selbst infrage steht? Ist das, was in der modernen säkularen Welt übrig bleibt, dann nur noch ein wasteland of sense and truth, wie es der keineswegs religiöse, aber christlich inspirierte Philosoph Jean-Luc Nancy formulierte? (Topos: Religion und säkulare Moderne)

Das Tor der Stämme, auch »Löwentor« genannt, erhielt seinen Namen wegen zweier Pantherreliefs, die auf der Außenseite der Mauer angebracht sind und fälschlicherweise für Löwen gehalten wurden. Wie bei den meisten Jerusalemer Stadttoren ist aber seine Geschichte mit so vielen weiteren Geschichten verknüpft, dass es im Laufe der Zeit und von den verschiedenen Religionen mit einer ganzen Reihe von Namen belegt wurde: »Benjaminstor«, »Jerichotor«, »Marientor«, »Stephanstor«. Auf Hebräisch gilt es traditionell als das »Tor der Stämme«, weil es allen Stämmen Israels als Zugang in die Stadt diente. Die Stämme entsprangen unterschiedlichen Siedlungsgebieten und waren ethnisch heterogen. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelten sie erst durch und im gemeinsamen Glauben. Die Chiffre Tor der Stämme steht stellvertretend für das religiöse Miteinander verschiedener Völker und Ethnien in den modernen Metropolen. Hat Religion (oder: haben Religionen) auch heute noch das Potenzial, die friedfertige Koexistenz und die Gemeinsamkeit der verschiedenen Völker zu ermöglichen? (Topos: Melting Pot, Segregation, Koexistenz – Stadt und ethnische Differenz)

Das Tor des Erbarmens bzw. »Goldene Tor« liegt im östlichen Teil der Jerusalemer Stadtmauer und ist das einzige, das direkt auf den Tempelberg führt. Nach jüdischer Überlieferung stieg die göttliche Gegenwart durch dieses Tor, aus östlicher Richtung kommend, auf den Tempelberg empor. Es heißt deshalb auf Hebräisch das »Tor des Erbarmens«. Ebenso soll am Ende aller Tage der jüdische Messias hier in die Stadt einziehen. Für das Christentum ist das Tor der Ort, an dem Christus als Messias in die Stadt Jerusalem Einzug hielt. In der Kreuzfahrerzeit wurde deshalb das Tor eigens für die Prozession am Palmsonntag geöffnet. Als Chiffre steht das Tor des Erbarmens für das Erbarmen Gottes mit den Menschen. Was in der Stadt ebenso verlangt wird, ist aber das Erbarmen der Menschen mit den Mitmenschen. Sinnbildlich verkörpert das Tor somit all die sozialen Aufgaben, die für das Gedeihen des Miteinanders in den Städten unerlässlich sind. (Topos: Stadt als soziale Aufgabe)

Das Dungtor oder »Misttor« wird schon in der Bibel erwähnt (Neh 3,14). Nehemia war es, der als Statthalter von Juda dafür sorgte, dass die Stadtmauern Jerusalems wieder aufgebaut wurden. Schon zu dieser Zeit, aber auch noch bis in das 2. Jahrhundert n. Chr. hinein, diente das Tor dazu, Abfälle aus der Stadt hinauszuschaffen. Im übertragenen Sinne steht das Dungtor somit für all das, was die städtische Zivilisation an Problemen aufwirft. Jede Stadt droht an ihrem eigenen Dreck zu ersticken, und seit jeher war die Entsorgung von Müll und Exkrementen eine der dringlichsten Erfordernisse jeder städtischen Siedlung. Daran hat sich bis heute nichts geändert, doch ist die Entsorgung unsichtbar in den Untergrund verbannt, wogegen die Verschmutzung an vielen anderen Stellen dieser Welt sichtbar und fühlbar wird. Muss Urbanität an ihren Rändern zwangsläufig Müll und Verwahrlosung produzieren? (Topos: Die Stadt und der Müll)

Wie kein anderer steht der Name Zionstor für die Stadt Jerusalem als solche, ebenso wie für das Volk Israel und seinen Bund mit Jahwe. Zion ist eine Formel der Verheißung – sie versammelt im jüdischen Kontext all die Versprechungen der »noch kommenden Welt« wie auch die Erwartung der Endzeit. Ganz ähnlich ist es auch noch im frühen Christentum. Im Namen des Tores verdichtet sich die Bedeutung Jerusalems als himmlische Stadt (»Tochter Zion«). Im weiteren Sinne umgreift das Zionstor also all das, was Religionen, insbesondere die abrahamitischen, an grundlegender Verheißung enthalten. Als Chiffre steht das Zionstor für das elementare Versprechen Gottes, das alle menschlichen Versprechen übersteigt, eine Chiffre für Vertrauen und Erwählung. Jerusalem, Tochter Zion, ist die Stadt, die wie keine andere für dieses Versprechen steht und wie keine andere alle widersprüchlichen Tendenzen in sich vereint. (Topos: Stadt und Verheißung)

Dieser Rundgang umkreist »topologisch« die Stadt in der Orientierung an ihren Toren, beginnend im Westen über die Nordseite in den Osten, von dort über die Südseite wieder zurück in den Westen. Der systematische Fortgang beschreibt symbolisch auch einen Tag, der – in jüdischer Tradition am Abend beginnend – sich durch die Nacht zum morgendlichen Sonnenaufgang im Osten bewegt und dann dem Verlauf des Tages in den Abend folgt.

Da das Projekt »Stadt und Religion« mit dieser Publikation einstweilen an seinem Ende und am Abend angelangt ist, gilt es, den Neuanfang an einem anderen Abend zu wagen.

STADT UND RELIGION – ORTE, FORMATE, SCHAUPLÄTZE

Exkursionsreihe: Das »andere Heilige« in der Nachbarschaft

Patricia Löwe

Auch wenn sich Metropolen der Gegenwart – ohne behaupten zu wollen, eine gliche der anderen – mit einem Blick auf die Statistik und in die soziologische und demografische Literatur zum Thema leicht als Orte religiöser Vielfalt beschreiben lassen, spielt diese Pluralität im Alltag der meisten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner scheinbar kaum eine oder gar keine Rolle. Sicher, die Präsenz verschiedener Kulturen wird etwa durch im öffentlichen Raum gesprochene Fremdsprachen oder aber Geschäfte, Cafés und Lokalitäten mit Besitzerinnen und Besitzern unterschiedlicher Herkunft erfahrbar. Gerade aber Religionsgemeinschaften, die das Sozialleben der Städte sowohl durch Interaktion mit ihrem urbanen Umfeld als auch im interreligiösen Dialog entscheidend prägen, sind mitunter weniger sichtbar.

So war die Planung und Realisierung der Exkursionsreihe »Ortsbekenntnis – Bekenntnisorte« nicht nur eine Herausforderung in interkultureller Hinsicht, sondern auch ein Abenteuer der Entdeckung bisher unbekannter Orte und Welten. Räumlichkeiten für Gottesdienste, Gebet und andere religiöse Belange sind nicht immer auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Das Spektrum reicht von geradezu symbolischer Sichtbarkeit wie z. B. im Falle der Wilmersdorfer Lahore-Ahmadiyya-Moschee oder der griechisch-orthodoxen Gemeinde Christi Himmelfahrt in Berlin-Steglitz bis hin zu totaler Unsichtbarkeit. Menschen versammeln sich zu Gebet und Feier an den unterschiedlichsten Orten: in Privatwohnungen, Kinos, Galerien, Hinterhöfen oder umgenutzten Räumlichkeiten anderer Gemeinschaften – auch da, wo es niemand für möglich gehalten hätte, blüht das religiöse Leben.

In einem Zeitraum von dreieinhalb Jahren organisierte die Guardini Stiftung unter der Leitung von Dr. Ludger Hagedorn und unterstützt durch die Projektreferentin Dr. Patricia Löwe insgesamt 18 Exkursionen zu Religionsgemeinschaften im Raum Berlin, eineinhalb Jahre lang unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Pandemie. Alle Beteiligten erschlossen dabei gemeinsam und einander neue Räume, die sich in vielen Fällen als weniger fremd herausstellten als erwartet. Die Neuartigkeit der Erfahrungen entdeckte jedoch nicht nur das Fremde, sondern wies auch neue Wege zum Verständnis des Eigenen in der Differenz zum Anderen.

Der wissenschaftliche Diskurs und die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit kultureller und religiöser Pluralität sind vielfältig und schwer zu überschauen. Die Exkursionsreihe verlangte den Organisatorinnen und Organisatoren sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf praktischer Ebene Kompetenzerwerb in dieser Hinsicht ab. Was gilt es bei Anfragen zu berücksichtigen? Welche Feiertage müssen in die Terminplanung miteinbezogen werden? Welche Verhaltensregeln herrschen in den jeweiligen Räumlichkeiten? Gibt es thematische oder sonstige Tabus? Im Verlauf der Jahre stellte sich heraus, dass die Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit sich in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht komplizierter gestaltete als mit nicht-religiösen Institutionen. Die meisten Gemeinschaften im urbanen Raum sind erfahren und offen im Umgang mit Besucherinnen und Besuchern; häufig stehen sie in engem Austausch mit anderen Religionsgemeinschaften und betreiben karitative und soziale Arbeit – nicht nur für ihre Mitglieder. Religiöse Räume sind Räume der Begegnung; häufig unterstellte Exklusionspraktiken spielen weniger eine Rolle als Austausch und Miteinander, sowohl innerhalb der jeweiligen Religion als auch mit Gästen und Fremden. Fragen, die sich auf theoretischer Ebene stellen – Was ist die korrekte Haltung gegenüber dem Heiligen der anderen Religion bzw. dem Heiligen überhaupt? Welche Verhaltensregeln gelten in Bezug auf das eigene Bekenntnis oder Nicht-Bekenntnis? Wie ist ein Miteinander verschiedener, sich scheinbar ausschließender Wahrheiten möglich? –, spielen für solche Begegnungen weniger eine Rolle als Kommunikation, Neugierde und, nicht zu unterschätzen, die Einhaltung von Höflichkeitsregeln.

Die Tatsache, dass ein solches Resümee nach dieser langen Zeit möglich ist, hängt sicher auch damit zusammen, dass nur diejenigen Gemeinschaften in die Reihe aufgenommen werden konnten, die von vornherein die notwendige Offenheit für Veranstaltungen dieses Formats an den Tag legten. Bei der Organisation tauchten jedoch kaum Schwierigkeiten hinsichtlich Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit auf, sodass beinahe alle von den Veranstaltenden angefragten Institutionen schließlich zu Exkursionszielen wurden.

Der Versuch, die religiöse Vielfalt im Raum Berlin in einer Reihe von nur 18 Veranstaltungen erschöpfend abzubilden, muss notwendig scheitern, wenn man bedenkt, dass Schätzungen zufolge über 250 verschiedene Religionsgemeinschaften innerhalb der Stadtgrenzen ihre Orte gefunden haben.[1] Es wurde bei der inhaltlichen Konsolidierung dennoch Wert darauf gelegt, so viele Facetten des Religiösen wie nur möglich in unterschiedlichen Stadtteilen und Kiezen einzufangen. Das Spektrum reichte von christlichen Gemeinden diverser Konfessionen über jüdische und muslimische Gemeinschaften bis hin zu einem buddhistischen Gemeindezentrum. Aber auch historische Aspekte der Formung des Stadtbildes durch religiöse Symbole und Prägungen spielten eine Rolle, beispielsweise bei den Veranstaltungen zu Preußischem Protestantismus und Schlesischem Katholizismus in der Geschichte Berlins. Schließlich wurden soziale Aspekte religiöser Praxis beim Besuch des Internationalen Pastoralen Zentrums Neukölln, der Berliner Stadtmission und der Franziskanischen Suppenküche in Pankow zu Schwerpunkten innerhalb der Reihe. Besonders viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen zu Veranstaltungen an Orten, die nicht ohne weiteres auf eigene Faust entdeckt und erschlossen werden können – etwa in der Synagogengemeinde Sukkat Schalom und derjenigen am Fraenkelufer oder im Alevitischen Versammlungshaus (Cemevi) in Berlin-Kreuzberg.

Die erste Schwierigkeit, die sich bei der Vorbereitung und Planung der Reihe schon zu Anfang der Projektlaufzeit ergab, war die Bestimmung der inhaltlichen Schwerpunkte des Formats. Das Organisationsteam zielte von Beginn an darauf ab, nicht nur religiöse Vielfalt abzubilden, sondern schwerpunktmäßig zu untersuchen, inwiefern religiöse Vielfalt das Bild einer scheinbar so säkularen oder gar atheistischen Großstadt wie Berlin prägt – sowohl in sozialer und gesellschaftlicher als auch in architektonischer und stadtplanerischer Hinsicht. Kirchen und andere religiöse Gebäude sind noch immer wichtige Wegmarken im urbanen Raum und prägen Stadtsilhouetten sowie die Gestalt von Kiezen und Quartieren. Religionsgemeinschaften übernehmen wichtige soziale Aufgaben, denen Stadtverwaltung und Politik in diesem Umfang kaum nachkommen können. Sie engagieren sich für Benachteiligte und Verfolgte, für Kranke und Bedürftige, für Kinder und alte Menschen etc. Diese Themen und Fragestellungen spielten bei jeder der 18 Veranstaltungen eine zentrale Rolle. Entsprechend wurde das Format konzipiert: Zwei bis drei Vortragende, jeweils eine Person aus der Gemeinde selbst und mindestens eine externe Expertin bzw. ein externer Experte aus Politik, Wissenschaft oder anderen gesellschaftlichen Bereichen wurden angefragt. Zu allen Exkursionen gehörten die Besichtigung der Räumlichkeiten, ein moderiertes Gespräch zwischen den Referierenden und schließlich die Gelegenheit zu Austausch und Fragen. Dieser Dreischritt sollte eine möglichst umfassende Entdeckung der Bekenntnisorte ermöglichen, nicht zuletzt in der Form des lockeren Zusammenseins, die den »Begegnungsraum« als solchen zum Gegenstand der Erfahrung werden ließ.

Im Laufe der Jahre ergaben sich die folgenden (bereits angedeuteten) inhaltlichen Schwerpunkte bei der Begegnung mit Religionsgemeinschaften und -institutionen:

1. Soziales Engagement – auch für Anders- oder Nicht-Gläubige